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INTERVIEW/476: Sozialer Kampf statt Klassenkampf ...    Raina Zimmering im Gespräch (SB)


Gespräch am 15. September 2021


Prof. Dr. Raina Zimmering ist Historikerin, Politologin, Soziologin und Lateinamerikanistin. Sie hat unter anderem Peru, Mexiko, Chile und Argentinien im Rahmen von Forschungs- und Studienaufenthalten besucht und erhielt 2005 den Ruf einer Professorin an der Nationaluniversität von Kolumbien, Bogotá. 2006 wurde sie an die Johannes Kepler Universität in Linz berufen, wo sie von 2007 bis 2013 Universitätsprofessorin und Abteilungsleiterin für Politik- und Entwicklungsforschung war. 2009 gründete sie zusammen mit Professoren und Forschern aus Österreich, Deutschland und lateinamerikanischen Universitäten die internationale Forschungsgruppe Soziale Bewegungen und Transformation in Lateinamerika.

Seit Ende ihrer Arbeit an der JKU ist sie freie Autorin in Berlin und veröffentlichte wissenschaftliche Artikel und Bücher zur Transformations- und Demokratieforschung, politischen Kulturforschung, zu emanzipatorischen Bewegungen, Migration und sozialer Gerechtigkeit und der politischen Psychologie. Einen Schwerpunkt ihrer Arbeiten bildet die Untersuchung der aufständischen indigenen Bewegung in Mexiko, der Zapatisten. Sie war viele Jahre Mitglied der Internationalen Zivilen Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte in Mexiko (CCIODH).

Raina Zimmering wird bei der internationalen Konferenz "Militarismus und Frieden in Lateinamerika und der Karibik" am 23./24. Oktober 2021 im Gewerkschaftshaus Frankfurt/Main einen der Eröffnungsvorträge halten und ein Panel moderieren. Im Vorfeld der Konferenz beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu dieser Tagung und Themen in deren Zusammenhang.


Schattenblick (SB): Im Oktober findet im Gewerkschaftshaus in Frankfurt/Main die internationale Konferenz "Militarisierung und Frieden in Lateinamerika und der Karibik" statt. Welche Impulse könnten von dieser Konferenz ausgehen, der zunehmenden inneren und äußeren Militarisierung in dieser Weltregion etwas entgegenzusetzen?

Raina Zimmering (RZ): Militarisierung und Aufrüstung werden in aller Regel mit den USA wie auch den weiteren führenden Militärmächten China, Russland und Europa in Zusammenhang gebracht, während Lateinamerika dabei keine große Rolle spielt. Wir halten es für wichtig, den Blick auch auf Lateinamerika zu richten. Wir - das heißt das International Peace Bureau (IPB), das Netzwerk Cuba in Deutschland, die Kubanische Gesellschaft in Österreich (ÖKG) und die Vereinigung Schweiz-Cuba (VSC). Lateinamerika ist Teil der weltweiten Militarisierung und Aufrüstung, in erster Linie durch die USA. Es wird in die Nato hineingezogen, beispielsweise hat Kolumbien einen Beobachterstatus und Brasilien hat zwar noch keinen direkten Beobachterstatus, arbeitet aber mit der Nato zusammen und schickt auch immer seine Vertreter. Dadurch hat sich die kontinentale Sicherheitsstrategie der USA etwas geändert. Sie sind von dem Kontinent insgesamt graduell abgerückt und setzen nun Schwerpunkte insbesondere in Ländern, die bereit sind, mit der Nato zusammenzuarbeiten wie Kolumbien, Brasilien und einige zentralamerikanische Staaten. Die USA konzentrieren sich zudem auf ihre Militärstützpunkte.

Deutschland spielt insofern eine bedeutende Rolle, als es vor allem Waffen liefert. Heckler & Koch und Rheinmetall AG sind da zu nennen, insbesondere Kleinwaffen von Heckler & Koch werden in Konfliktregionen geliefert, was eigentlich laut Verfassung in Deutschland verboten ist. Darauf wollen wir aufmerksam machen. Ein bekanntes Beispiel ist die Ermordung von 43 Studenten in Mexiko, wobei Waffen von Heckler & Koch zur Anwendung kamen, die gar nicht in diese Konfliktregion Guerrero hätten geliefert werden dürfen. Weder die deutsche noch die mexikanische Regierung hat diese Lieferung überprüft. Hinzu kommen sogenannte Sicherheitsabkommen, in deren Rahmen die Polizei "gestärkt" wird, obgleich diese nachweislich korrupt ist und mit dem organisierten Verbrechen zusammenarbeitet, wie das nun Präsident Lopez Obrador mehrfach thematisiert hat, was ihn veranlasste die Nationalgarde zu gründen und diese nun in zivilen politischen Konflikten agiert. Solche Sicherheitsabkommen stärken nur die aggressiven rechten Kräfte in der Region.

Bei der Konferenz werden neben Mexiko, wozu ich einen Vortrag halte, auch andere Länder wie Kolumbien oder Chile angesprochen, in denen es gravierende Konflikte gibt, bei denen Waffen gegen soziale Bewegungen und die protestierende Bevölkerung eingesetzt werden. In Mexiko und Zentralamerika werden besonders Nationale Befreiungsbewegungen mit militärischer und paramilitärischer Gewalt bekämpft. Es ist ja bekannt, dass während der Proteste in Chile Polizei und Militär auf die Menschen geschossen haben, von denen viele ihr Augenlicht verloren. Das ist seit Beginn der Proteste im Jahr 2019 bekannt und wurde vor internationale Gerichte bis hin zum Menschenrechtsgerichtshof gebracht.

Neben dieser negativen Seite, auf die wir aufmerksam machen wollen, ist auch eine positive Entwicklung in Lateinamerika hervorzuheben, von der bedeutende Impulse gegen den Trend zur Militarisierung ausgehen. Zum einen sind dies Abkommen auf Regierungsebene, die teils schon lange Bestand haben wie der Vertrag von Tlatelolco, die weltweit erste kernwaffenfreie Zone, der fast alle lateinamerikanischen Staaten angehören. Das hat einen gewissen Vorbildcharakter, da man froh wäre, wenn es so etwas auch in Europa gäbe. Wie sich stets herausstellte, vertreten progressive Regierungen eine friedlichere Außenpolitik als Diktaturen oder rechtsgerichtete Regime. Beispielsweise hatten Argentinien und Brasilien während der Militärdiktatur in den 70er und 80er Jahren Atomwaffenprogramme, die nach der Transition zur Demokratie sofort eingestellt wurden. Heute hat Bolsonaro sein Kabinett mit zahlreichen Militärs besetzt und richtet militärische Potentiale beispielsweise gegen Venezuela. Auch Kolumbien ist in diese militärische Intervention involviert und unterstützt bestimmte gewalttätige Gruppen im Nachbarland. Wenngleich es noch nicht zu einer offiziellen militärischen Intervention gekommen ist, wurden doch entsprechende Pläne entwickelt und Gruppierungen bewaffnet und finanziell unterstützt. Demgegenüber finden vielerorts Massenproteste statt, die für eine friedliche Solidarität zwischen den Ländern und unter den Völkern eintreten.

Bei der Konferenz werden Wissenschaftler und Aktivisten auftreten wie Leo Gabriel aus Österreich, ein Journalist, Friedensaktivist und Wissenschaftler, der dem Internationalen Rat des Weltsozialforums angehört, oder der kubanische Historiker Dr. Alberto Prieto Pozos, der einen historischen Überblick zur Frage der Militarisierung in Lateinamerika gibt. Ich werde über die Militarisierung nach innen sprechen und Mexiko als Beispiel wählen. Zu diesen Themen finden am Nachmittag vertiefende Diskussionen in Panels statt. Am Samstagabend wird Monica Valente aus Brasilien, die Generalsekretärin des Foro Sao Paulo, einen Vortrag zum Thema halten. Am Sonntag erwarten wir Subcommandante Insurgente Galeano (ehemals Marcos) zu einem Beitrag über Frieden und Befreiung am Beispiel der Zapatisten. Reiner Braun vom International Peace Bureau referiert über die europäische Perspektive zu Frieden und Gerechtigkeit in Lateinamerika und der Karibik. Özlem Demirel von der Partei Die Linke wird in einer Gesprächsrunde mit Leo Gabriel, Julieta Daza aus Kolumbien und Kristine Karch präsent sein. Das wird sicher eine spannende Konferenz, die dieses Thema, das in jüngerer Zeit weniger angesprochen wurde, obwohl es bitter nötig wäre, wieder ins Blickfeld der Aufmerksamkeit rückt. Soziale Bewegungen haben immer wieder die Frage der deutschen Waffenlieferungen aufgegriffen und thematisiert, was man der deutschen Außenpolitik, die sich in die Konflikte Lateinamerikas einmischt, entgegensetzen könnte. Darüber wollen wir sprechen. Ich freue mich auf diese Konferenz und bin sehr gespannt, was wir dort diskutieren werden.

SB: Die hoffnungsvoll als "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" bezeichnete Trendwende in Lateinamerika schien den hegemonialen Übergriff der USA erfolgreich zurückzudrängen und wurde auch aus Sicht emanzipatorisch gesinnter Menschen in Europa mit Wertschätzung verfolgt. Es folgte jedoch ein Rollback, der die Errungenschaften auf breiter Front zunichte zu machen drohte. Zeugen jüngere Entwicklungen wie etwa die Wahlergebnisse in Bolivien oder Peru davon, dass die Restauration zunehmend Gegenwehr auf den Plan ruft?

RZ: Den zweiten Teil der Frage kann ich bejahen, den ersten in dieser Form nicht. Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ist im Grunde eine ganz spezielle Bezeichnung, die auf einen Russen, Buzgalin, zurückgeht und eine postsowjetische Bezeichnung ist, die vor allem von Heinz Dieterich und Hugo Chávez aufgegriffen wurde. Dieterich ist ein deutsch-mexikanischer Soziologe, der in Mexiko-Stadt und Puebla unterrichtet hat. Die Begriffsbildung entstand aus der Enttäuschung angesichts des Untergangs des Realsozialismus in Europa und der Sowjetunion. Dieterich hat eine Art Äquivalenztheorie entwickelt, bei der er sich von der marxistischen Theorie des Warentauschs entfernt und mehr über Arbeitszeit gesprochen hat - es ist also eine ziemlich utopische Theorie - dann von der Internetdemokratie ausgegangen ist, die für alle gleich sei und in der alle ihre Meinung frei äußern könnten, so dass die ärmeren Schichten nicht länger ausgeschlossen seien. Er hat den Begriff einer partizipativen Demokratie entwickelt, an der alle teilhaben und das Volk der Hauptakteur ist. Das wurde jedoch von den anderen lateinamerikanischen Regierungen in dieser progressiven Zeit der 2000er Jahre nicht so aufgenommen. Man kann nicht sagen, dass Präsident Lula in Brasilien einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" praktiziert hätte, was er auch nicht behauptet hat. Der einzige, der das wirklich angenommen hat, war Hugo Chávez, wobei er sich später mit Heinz Dieterich überworfen hat.

In Argentinien unter Kirchner konnte man von einer Mitte-Links-Regierung sprechen, aber nicht von einem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts". Die noch etwas linkeren Regierungen in Bolivien unter Evo Morales und Ecuador unter Rafael Correa bezogen sich zwar manchmal auf dieses Konzept, sprachen aber eher vom plurinationalen Staat, in dem soziale Bewegungen, Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle relevant waren. Die partizipative Demokratie spielte indessen bei allen progressiven Regierungen eine große Rolle und wird auch bis heute als solche bezeichnet im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie, bei der man nur bei Wahlen entscheidet, während zwischendurch die Partizipation auf ganz niedrigem Niveau stattfindet, wie das in unseren westlichen Demokratien der Fall ist. Man kann zwar verschiedene Dinge tun, hat aber kaum noch Entscheidungsgewalt. In der partizipativen Demokratie hat die Bevölkerung auch zwischen den Wahlen über Volksversammlungen die Entscheidungsgewalt, am deutlichsten ist das bei den Zapatisten ausgeprägt.

Der zweite Teil der Frage stimmt natürlich. Diese progressiven Mitte-Links-Regierungen in Argentinien, Brasilien, Bolivien, Ecuador, Peru und auch Uruguay haben einen Niedergang erfahren und wurden von neoliberalen Regierungen abgelöst, obgleich sie teils erhebliche Erfolge hatten. Beispielsweise hat Lula in Brasilien die arbeitende Bevölkerung wie auch die Ausgeschlossenen einbezogen, ein eigenes Ministerium für soziale Bewegungen eingerichtet und diesen ein gewisses Mitspracherecht gewährt. Er hat aber auch mit den Unternehmen zusammengearbeitet und ein extraktives Wirtschaftsmodell entwickelt. Er wollte Brasilien zum Saudi-Arabien des genveränderten Soja machen. Dieses extraktive Modell führte dann wieder zu größerer Abhängigkeit vom Weltmarkt und transnationalen Unternehmen und zur massiven Vertreibung der Bevölkerung aus den Regionen, in denen der Sojaanbau ausgeweitet wurde. Gleiches ist auch in Argentinien unter den Kirchners, in Bolivien und Ecuador der Fall gewesen. Sie konnten sich diesem extraktiven Wirtschaftsmodell nicht entziehen. Die durchaus für die Bevölkerung sichtbaren zwischenzeitlichen Erfolge wurden zum Teil wieder zunichte gemacht und waren schädlich für das Land angesichts der Abhängigkeit vom Weltmarkt. Daher wuchs die Unzufriedenheit in der Bevölkerung und es kam zu breiten sozialen Bewegungen gegen die progressiven Regierungen. Wo eigentlich eine partizipative Demokratie herrschen sollte, sahen sich die Menschen wieder ausgeschlossen durch Abkommen mit den großen Unternehmen und der WTO. Sie waren enttäuscht und gaben ihre politische Aktivität auf oder schlossen sich Protestbewegungen gegen die Regierung an. Es kam zu einem relativ flächendeckenden Sturz progressiver Regierungen, so dass einige ein Scheitern dieses Weges eingeläutet sahen. Ulrich Brand sprach vom Ende der progressiven linken Entwicklungen in Lateinamerika.

SB: In Chile zeugen Massenproteste von einem Aufbegehren gegen die seit der Diktaturzeit verankerte extrem neoliberale Wirtschaft und Sozialordnung. In kolumbianischen Städten schließen sich verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen im Widerstand gegen staatliche Übergriffe zusammen. In Brasilien wächst der Unmut über Bolsonaro und dessen Militärputschgelüste. Wie kam es zum Wiederaufleben progressiver sozialer Protestbewegungen gegen die neoliberalen Zumutungen?

RZ: Wir sehen in der Tat ein Wiederaufleben der sozialen Protestbewegungen. Die Menschen haben gemerkt, was Regierungen anrichten können, deren Verheißungen sie zunächst auf den Leim gegangen sind. Beispielsweise hat die Regierung Macri in Argentinien mehr Freiheit und weniger Korruption versprochen - Korruption ist dann immer so ein Zauberwort, das linken Regierungen unablässig angehängt wurde, dafür war ja auch Lula im Gefängnis und Dilma Rousseff wurde in einem kalten Putsch entmachtet. Auch die Kirchners wurden angegriffen, und eine ganze Reihe von Leuten in der Bevölkerung haben dem Glauben geschenkt und gedacht, die neuen Regierungen seien nicht korrupt. Auch Bolsonaro trat mit der Behauptung auf, die linken Regierungen seien korrupt und wollten den Kommunismus einführen. In Argentinien merkten die Leute, was das bedeutet. Die Regierung Macri legte wieder ein neoliberales Modell auf, das die Armut enorm ansteigen ließ und die sozialen Sicherungssysteme abbaute. Er konnte sich schließlich nur noch auf eine relativ kleine Anhängerschaft in der Mittelschicht und die Agrarlobby stützen, deren Geschäfte noch recht gut liefen. Aber im Allgemeinen ging es der Bevölkerung sehr viel schlechter. Die Privatisierung machte das Wasser für viele unbezahlbar, besonders in den ärmeren Stadtteilen, wenn sie nicht sogar ganz von der Versorgung abgeschnitten wurden. Auch Strom verteuerte sich, da im Zuge der Privatisierung alles an ausländische Unternehmen verschachert wurde. Das führte letztendlich dazu, dass Alberto Fernández 2019 gewählt wurde. In Brasilien gibt es eine Massenbewegung gegen Bolsonaro, und man nimmt an, dass er bei den Wahlen im nächsten Jahr keine Chance mehr haben wird, was ziemlich gefährlich ist, weil ein Militärputsch zu befürchten steht.

Für Lateinamerika sind solche Wellen der Entwicklung zwischen Links und Rechts typisch. Das hat etwas mit dem schwachen ökonomischen System und der Abhängigkeit von den USA, von China und vom Weltmarkt insgesamt zu tun. Es existieren wenig eigene Wirtschaftskapazitäten, politische Parteien sind eher Lobby-Vereinigungen, was aus der Geschichte kolonialer Abhängigkeit herrührt. Diese Abhängigkeit und innere Entwicklungsschwäche führt dazu, dass politische Systeme labil und einem heftigen Pendelschlag unterworfen sind. Hinzu kommt das politische Einwirken insbesondere der USA von außen, das nach wie vor eine große Rolle spielt. Sobald sich linke Regierungen Fehler leisten, was aufgrund dieses Wirtschaftssystems nicht ausbleiben kann, wird die Opposition von außen unterstützt, so dass es zum Zusammenbruch der progressiven Regierungen kommt. Ich hoffe, dass man aus der Vergangenheit gelernt hat und die gegenwärtige Welle von progressiven Entwicklungen anhalten wird.

Dabei spielt das indigene Moment eine bedeutende Rolle. Die Indigenen haben funktionierende Gemeinschaften - ganz im Gegensatz zu den nationalen Gemeinschaften, die in den meisten Ländern aufgrund der großen Unterschiede zwischen Arm und Reich und den daraus resultierenden Konflikten zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die von Rassismus und Hass geprägt sind, nicht funktionieren. Hingegen agieren die indigenen Gemeinschaften sehr geschlossen und haben eigenständige Bewegungen entwickelt, die beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung der Länder insgesamt haben und eine Art Vorbildfunktion ausüben. Dabei sind die indigenen Bevölkerungsschichten jene, die am meisten ausgebeutet werden. Sie sind die Ärmsten und in der gegenwärtigen Phase des Neoliberalismus am stärksten dem Land Grabbing zum Zweck des Anbaus beispielsweise genveränderter Produkte unterworfen und im Grunde völlig ungeschützt. Sie fordern jetzt ihre Rechte ein, zumal die meisten Regierungen UNO-Verträge unterzeichnet haben, wonach die indigene Bevölkerung gefragt werden muss, ehe in diesen Gebieten investiert werden kann, was jedoch immer wieder unterlaufen wird. Sie wollen ihre Rechte in der Verfassung verankert sehen und verstehen sich in plurinationalen Staaten wie Bolivien als eigene Nation, die bei Entscheidungen gefragt und beteiligt werden muss. Nicht nur Parteien sollen entscheiden, es sollen auch Vertreter indigener Nationen wie in Bolivien und Ecuador oder eigener Völker wie in Mexiko mitbestimmen können. Diese erfreuliche Entwicklung lässt erwarten, dass die Militarisierung durch eine friedliche Politik ersetzt wird.

SB: In jüngerer Zeit haben antikoloniale und antirassistische Bewegungen wie auch die länderübergreifenden Kämpfe der Frauen bedeutende Zeichen des Widerstands gesetzt. Sie greifen fundamentale Konfliktlagen auf und sind mit Menschen auf anderen Kontinenten vernetzt. Könnte man in diesem Zusammenhang von Internationalismus unter neuem Vorzeichen sprechen?

RZ: Auf staatlicher Ebene gibt es viele regionale Zusammenschlüsse. Aktuell tagt gerade die CELAC, die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten. Der mexikanische Präsident Lopez Obrador hat eine Initiative angestoßen, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), das Bündnis zwischen Lateinamerika, Kanada und den USA, durch die CELAC zu ersetzen. In der OAS wurden häufig Militärinterventionen und auch der Ausschluss Kubas beschlossen, woran sich Mexiko allerdings nie gehalten hat, das insofern außenpolitisch relativ unabhängig von den USA ist, obwohl die beiden Länder eine gemeinsame Grenze haben. In bestimmten Fragen wie der Wirtschaft und dem Bevölkerungsaustausch ist Mexiko indessen sehr abhängig von den USA. Trotzdem betreibt es traditionell eine unabhängige Außenpolitik, wodurch es immer wieder zu Konflikten zwischen den beiden Staaten kommt. Zudem gibt es die Gemeinschaft Südamerikanischer Staaten (MERCOSUR) mit Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Chile. Sie war ziemlich progressiv, als Mitte-Links-Regierungen an der Macht waren. Brasilien hat diese Organisation inzwischen aufgemischt, aber die übrigen Mitglieder erfinden sich wieder neu. Uruguay hat in der Vergangenheit ein ausgleichendes Moment dargestellt, wird aber derzeit neoliberal regiert. Die Integrationsprojekte in Lateinamerika haben eine große Tradition und stärken die beteiligten Regierungen. Ein relativ neuer Entwurf ist die ALBA zwischen Kuba, Venezuela und karibischen Staaten, die in erster Linie nicht wie die anderen nur auf Freihandel, sondern auf Solidarität basiert. Es werden nicht nur Waren ausgetauscht. So hat Kuba Ärzte nach Venezuela geschickt und im Gegenzug Erdöl bekommen. Das ist im Moment angesichts der schwierigen Situation in Venezuela zwangsläufig eingeschränkt, das kaum noch Öl liefern kann, während es die Kubaner kaum noch verarbeiten können, weil ihnen dazu das Equipment fehlt.

Auf der anderen Seite haben sich auch soziale Bewegungen zusammengeschlossen, besonders die indigenen, die über die Grenzen hinaus agieren, gemeinsame Treffen veranstalten und dafür eine Organisation aufgebaut haben. Diese Bewegungen sind in ganz Lateinamerika von großer Bedeutung, außer in Ländern wie Kuba oder Uruguay, wo es keine oder fast keine Indigenen mehr gibt. In den Andenländern stellen Indigene jedoch die Bevölkerungsmehrheit dar, auch in Chile, Ecuador und Venezuela gibt es indigene Gemeinschaften, und sie gewinnen an Einfluss. Sie sind nicht in jedem Fall progressiv, aber die meisten sind es einfach deswegen, weil sie auf dem Kontinent am stärksten ausgebeutet werden. Sie verfügen über eine Art Selbstverwaltung, und in den Verfassungen der meisten Länder, sogar in Kolumbien, ist ein Autonomierecht verankert. Bei den Protesten in Kolumbien hat die Guardia Indigena in Cali eine wichtige Rolle gespielt. Sie ist dort als eine gewaltfreie Bewegung aufmarschiert, die keine Waffen, aber Stöcke trägt, die sie auch ab und zu einsetzt. Sie agiert vor allem als Beobachterin von Konflikten und meldet es weiter an internationale Organisationen, wenn die Regierung internationale Menschenrechtsverträge, die mit der UNO geschlossen wurden, nicht einhält. Menschenrechte werden von den USA oft missbraucht, um einen Regimewechsel zu erwirken, indem sie eine Verletzung von Menschenrechten als Vorwand ins Feld führen. Wenn demgegenüber die Indigenen auf Verletzungen der Menschenrechte hinweisen, wo beispielsweise die Polizei mit Schusswaffen gegen unbewaffnete und friedliche Demonstrierende vorgeht, die auf der Straße ihr Missfallen hinsichtlich der Regierungspolitik zum Ausdruck bringen, wie das in vielen Ländern wie zuletzt insbesondere in Kolumbien und Chile der Fall war, ist das etwas völlig Anderes. Die monierten Vorfälle widersprechen der Charta der Menschenrechte und sie anzuzeigen zeugt von einer neuen Form der Diplomatie von unten, die durchaus wirksam ist, weil diese Länder mögliche Restriktionen befürchten. Dies war in Mexiko beim nun ausgelaufenen Rahmenvertrag mit der EU der Fall, da Freihandelsverträge häufig eine Menschenrechtsklausel enthalten. Wird auf internationaler Ebene von NGOs, die von der UNO zugelassen sind und Fragerecht haben, wie auch von Parteien, mit denen sie in der EU zusammenarbeiten, viel Druck gemacht, kann es zu meist befristeten Sanktionen kommen. Insofern ist es wichtig, dass die Indigenen dieses Instrument entwickelt haben.

SB: Sie sind durch wiederholte Aufenthalte in Mexiko und als Menschenrechtsbeobachterin mit den dort herrschenden Verhältnissen vertraut und haben insbesondere zu den Zapatistas als einer Basisbewegung geforscht, die der Antiglobalisierungsbewegung wichtige Impulse gegeben hat. Nun macht eine Delegation der Zapatistas von sich reden, die per Segelschiff eine antikoloniale Reise angetreten und in Europa angelegt hat. Ein weiterer Teil der Delegation ist gestern auf dem Luftweg nach Wien gekommen. Wie sind Sie mit dieser Bewegung in Berührung gekommen und wie bedeutsam ist deren Gegenentwurf einer möglichen gesellschaftlichen Entwicklung von unten nach wie vor?

RZ: Indigene Gruppen wie die Guardia Indigena und eben auch die Zapatisten stehen in der vordersten Reihe des Aktivismus für soziale Gerechtigkeit und einen Wandel in Lateinamerika. Die Zapatisten üben das schon viele Jahre aus und waren meines Erachtens die Ersten, die das in dieser Form gemacht haben. Ich habe sie über eine internationale zivile Menschenrechtskommission in Mexiko (CCIODH) kennengelernt. Diese Kommission hatte sich bereits in den 90er Jahren nach einem Massaker herausgebildet, als sich verschiedene Solidaritätsgruppen aus aller Welt zusammengeschlossen haben und dort hingereist sind. Sie machten Interviews mit allen Seiten des Konflikts, wobei es nicht nur um die Zapatisten, sondern auch um Femizide ging, über die wir als erste Menschenrechtsgruppe berichtet haben. Wir haben auch Gespräche mit der Regierung, sogar mit dem Innenminister, geführt wie auch staatliche und nichtstaatliche Menschenrechtsorganisationen vor Ort getroffen und selbst Paramilitärs nicht ausgespart. All das floss in Berichte ein, die auf Pressekonferenzen in Mexiko vorgestellt und an die Menschenrechtskommission der UNO sowie die nationalen Regierungen, die auf irgendeine Weise beteiligt waren, und die mexikanischen Botschaften in den verschiedenen Ländern übergeben wurden.

Zunächst hegten wir durchaus Zweifel, ob das funktionieren würde, wenn Zivilisten dorthin reisen und überall herumschnüffeln. Wir wurden jedoch von allen Akteuren empfangen, und es kam zur Entlassung von Häftlingen aus dem Gefängnis, die dort teilweise jahrelang ohne jede Vernehmung und angeblich nur befristet eingesessen hatten. Wir konnten auch Folter nachweisen, und unsere Vorgehensweise lässt sich auf andere Länder übertragen. So ist mir bekannt, dass es auch in Kolumbien solche Kommissionen gibt. Mexiko musste zu diesen Vorgängen vor der UNO und der EU Stellung nehmen, und in den Rahmenvertrag zwischen der EU und Mexiko wurde die Menschenrechtsklausel eingefügt. Als wir jedoch abermals in die Region reisten, um mögliche Auswirkungen dieser Klausel zu überprüfen, stellten wir fest, dass alles eher schlimmer als besser geworden war. Wir berichteten auch darüber auf die beschriebene Weise, worauf die Klausel verschärft und eine jährliche Berichterstattung eingefügt wurde. Leider ist diese Menschenrechtsklausel in dem neuen Vertrag zwischen der EU und Mexiko nicht mehr enthalten. Der Kampf beginnt also wieder von vorn, und ich denke, es bleibt ein ständiger Kampf um Verbesserungen, bei dem man immer nur vorübergehende Resultate erzielt.

Auf diese Weise habe ich die Zapatisten kennengelernt. Genaugenommen lief das über eine akademische Arbeit, in der es um den Revolutionsmythos in Mexiko ging. Auch Zapata ist ein Mythos, den sich die Regierung angeeignet hat, der aber auch von der sozialen Bewegung der EZLN in Anspruch genommen wurde. Ich wollte das für meine wissenschaftliche Arbeit auswerten, habe dann aber vor allem Aktivistenarbeit mit den Zapatisten gemacht und bin in der Folge zusammen mit der Kommission immer wieder dorthin gefahren. Zuletzt war ich mit meinen Studenten aus Österreich von der Johannes Kepler Universität in Linz in Mexiko und habe praktisch die Reise der Menschenrechtskommission nachvollzogen. Wir haben die verschiedenen Orte sozialer Bewegungen besucht und waren unter anderem eben auch bei der EZLN. Das hat die Studierenden sehr beeindruckt, wobei sie erstmal schockiert waren. Sie kamen aus dem österreichischen Land, wo alles sehr gemäßigt mit hohem Lebensstandard und familiärer Absicherung zugeht, und wurden mit einem völlig anderen Milieu konfrontiert. Sie kannten die Konflikthaftigkeit der Gesellschaft nicht, die sie nun miterlebten, und verfielen wohl zum Teil in eine Schockstarre. Als sie aber wieder zurück waren, hat sich das alles gesetzt. Ich habe dort als Soziologin Erfahrungsberichte schreiben lassen, in die einging, was sie alles in den zapatistischen Gemeinden gesehen hatten. Viele von ihnen haben dann ihre Master- und Diplomarbeiten über die Zapatisten geschrieben. Und sie haben eine Soli-Organisation zu Mexiko gegründet, die sich Contraviento nannte, also Gegenwind, und insbesondere über die Zapatisten informierte und Soliaktionen durchführte. Das war sehr erfrischend, hat nur leider meinen Weggang von der Universität nicht überdauert.

Jetzt kommen die Zapatisten hierher, was mich unheimlich freut, zumal sie auch Deutschland besuchen werden. Es ist gewissermaßen eine Umkehrung des Kolonialismus, aber natürlich nicht gewaltsam, sondern als Zeichen: Wir leben noch! Ihr konntet uns nicht vernichten. Die Zapatisten arbeiten viel mit Symbolen, und dies ist ein weiterer symbolischer Akt. Am 13. August, dem 500. Jahrestag der Eroberung Tenochtitlans durch die Spanier, standen sie in Madrid. Es war nur eine Vorhut von sieben Personen, die in Umkehrung der Conquista mit dem Segelschiff nach Spanien gereist sind. Ich habe bei dieser Reise mitgezittert, weil das deutsche Schiff, das sie mitgenommen hatte, etwas klapprig schien. Daher habe ich die Daumen gedrückt, dass sie in keinen Orkan geraten. Die Vorhut stand für die Inhalte der Zapatisten: Escuadron 421 hat sie sich genannt. Die 4 steht für vier Frauen - sie sind stark von der Frauenbewegung beeinflusst, der sie ihrerseits Impulse geben. 2 steht für zwei Männer und die 1 für eine Transperson. Dieses Symbol steht für Vielfalt, eine Präsenz der Ausgeschlossenen und ein selbst befreites und organisiertes Leben. Gestern sind über hundert Zapatisten mit dem Flugzeug in Wien eingetroffen, auch dies überwiegend Frauen, einige Kinder sind auch dabei. Sie wollen sich austauschen und über die Kämpfe informieren, die hier in Europa stattfinden. Sie wollen darüber hinaus alle fünf Kontinente bereisen, wobei die Aktivistinnen wechseln. So ist die Vorhut am 11. September wieder nach Mexiko zurückgekehrt, nachdem sie vor allem Spanien bereist hatte. Nun werden sich die Zapatisten auf verschiedene europäische Länder aufteilen und dort mit linken Basisgruppen sprechen, nicht jedoch mit Parteien, die sie aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen ablehnen. Es geht um das gemeinsame Anliegen, eine Alternative zum Kapitalismus zu entwickeln und insbesondere gegen den Neoliberalismus in der heute herrschenden Form vorzugehen. Die Frauenbewegung spielt eine sehr wichtige Rolle, es geht um die Einbeziehung ausgeschlossener Gruppen, auch um mentale Selbstverwaltung, so dass man sich nicht von dem System vereinnahmen lässt. Es geht um Vielfalt, um den Schutz der Natur, sie sprechen von der Mutter Erde. Darüber wollen sie sich austauschen mit Gruppen, die sich hier organisieren, um ein anderes Leben zu führen.

SB: Das war ein schönes Schlusswort. Frau Zimmering, ich bedanke mich für dieses ausführliche Gespräch.



27. September 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 168 vom 2. Oktober 2021


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