Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KRIEG/1796: Schleichweg zu globalen Fronten ... (SB)



Nach dem Ende des Kalten Krieges, der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und der Wiedererlangung unserer vollen Souveränität haben wir uns in einer neuen Weise der internationalen Verantwortung zu stellen. Einer Verantwortung, die unserer Rolle als wichtiger europäischer und transatlantischer Partner, aber auch als starke Demokratie und starke Volkswirtschaft im Herzen Europas entspricht. [...] Gerade wir Deutschen haben nun auch eine Verpflichtung, unserer neuen Verantwortung umfassend gerecht zu werden. Das schließt - und das sage ich ganz unmissverständlich - auch die Beteiligung an militärischen Operationen ausdrücklich ein.
Kanzler Gerhard Schröder am 11. Oktober 2001 im Bundestag [1]


Angesichts seiner reichhaltigen Erfahrung im Umgang mit Niederlagen sollte es dem deutschen Militarismus auch nach dem fluchtartigen Abzug vom Hindukusch nicht sonderlich schwer fallen, sich in die nächsten Waffengänge zu stürzen. Wie ein Dieb in der Nacht musste sich die Bundeswehr aus Afghanistan fortschleichen, um nicht beim klammheimlichen Abflug noch verlustreich verabschiedet zu werden. Die letzten deutschen Transportmaschinen verließen das Feldlager Camp Marmal mit ausgeschalteten Transpondern, aus Angst von den Taliban abgeschossen zu werden. Das gern kolportierte Motto der NATO "Gemeinsam rein - gemeinsam raus" nahm im Zuge einer Fahrt aufnehmenden Absetzbewegung wie insbesondere des geheim gehaltenen Abgangs der US-Truppen doch eher die Form eines "Rette sich wer kann!" an, auch wenn ein ums andere Mal betont wurde, dass von Parallelen zu Saigon überhaupt keine Rede sein könne.

Ohnehin war der weitaus längste Krieg mit deutscher Beteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik hierzulande weitgehend in Vergessenheit geraten. Allenfalls wenn alljährlich im März die Verlängerung des Mandats anstand und der Bundestag im eingeübten Schlagabtausch darüber debattierte, riefen obligatorische Medienberichte einen flüchtigen Seitenblick wach. Bedrängt von Sorgen, die um das eigene Wohlergehen kreisen, taucht nur das im Visier der Gefahrenabwehr auf, was die Überlebensperspektive unmittelbar zu beeinträchtigen droht. Woraus sich der hiesige Lebensstandard speist, der trotz seines Verfalls für immer mehr Menschen und begründeten Abstiegsängsten bis tief in die Mittelschichten hinein immer noch weit in den Schatten stellt, was für die allermeisten anderen Länder gilt, ist keines Gedankens wert, der Konsequenzen nach sich zöge. Für die Kumpanen der Räuberbande, die vielerorts durch Handel und Waffengewalt mordet und plündert, scheint die Welt so weit in Ordnung zu sein, dass man besser nicht daran rührt, sie zu verändern.


Fronttransparent 'Bring the troops home' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Anti-NATO-Demo in Bonn am 3. Dezember 2011
Foto: © 2011 by Schattenblick


Im Würgegriff 20 Jahre währender Okkupation

Außerdem ist ja auch gar nicht ausgemacht, dass der deutsche Expansionismus an diesem Kriegsschauplatz tatsächlich verloren hat. Zumindest konnte die Truppe mit dem achselzuckenden Fazit abrücken, dass es sich irgendwie nicht gelohnt hat, und zwar verdrossen, aber wohlbehütet an die heimischen Fleischtöpfe zurückkehren. Ganz anders sieht es zwangsläufig für die Menschen in Afghanistan aus, die größtenteils in Armut und Elend leben. Ihre Lage ist schlimmer denn je. Nach Angaben der Weltbank existiert die Hälfte der Bevölkerung unter der von den Vereinten Nationen definierten Armutsgrenze, die bei einem Dollar pro Tag angesetzt wird. Afghanistan gehört zu den Ländern mit der niedrigsten Bildungsrate weltweit - nach Angaben der UNESCO können unter den über 15-jährigen nur drei von zehn lesen und schreiben. Jedes vierte Kind muss seinen Eltern bei der Arbeit helfen, statt zur Schule zu gehen, weil die Familien anders nicht überleben können.

Rund drei Millionen Binnenvertriebene gibt es in Afghanistan, allein seit Jahresbeginn kamen fast 300.000 Menschen hinzu. Die Sicherheitslage ist im Laufe der Besatzungszeit immer schlechter geworden. Seit Beginn der Militärintervention von USA und NATO stieg die Zahl ziviler Opfer nahezu Jahr für Jahr weiter an, wovon Kinder in immer größerem Ausmaß betroffen waren, und die mit der Regierung verbündeten Kräfte hatten einen erheblichen Anteil daran. Neben Selbstmordanschlägen verursachten Luftangriffe jeweils die größte Zahl an zivilen Opfern. Kabul ist einer der gefährlichsten Orte der Welt. Bombenanschläge, Raketenangriffe, Entführungen - das alles ist Alltag in der afghanischen Hauptstadt. Dem "Costs of War Project" zufolge, das sich auf registrierte Todesfälle stützt, starben in Afghanistan und Pakistan mindestens 238.000 Menschen in direkter Folge von Kriegshandlungen, über 71.000 davon Zivilistinnen. Nach der Analyse der IPPNW-Studie "Body Count" liegt die tatsächliche Zahl der zivilen Opfer jedoch vermutlich fünf- bis achtmal so hoch. Hinzu kommt eine noch weit höhere Zahl von Verwundeten. [2]

Der Marionettenregierung steht das Wasser bis zum Hals, da ihre Existenz ganz und gar von westlichen Truppen und Geldern abhängt. Zwar verkündete Präsident Aschraf Ghani, ein Rückzug der Amerikaner würde keine Auswirkung auf die Sicherheit in Afghanistan haben, da die Regierung die vollständige Kontrolle im ganzen Land ausübe. Absurder konnte die Durchhalteparole nicht sein, da die Taliban schon jetzt so weite Teile des Landes kontrollieren wie seit 2001 nicht mehr. In den meisten ländlichen Gebieten und Provinzen haben sie die Vorherrschaft erlangt oder die Kontrolle bereits vollends übernommen, nur in den Städten und Distriktzentren kann sich die Regierung noch teilweise militärisch behaupten. De facto droht nach dem Ende der 20-jährigen westlichen Okkupation eine Machtübernahme der Taliban, die das Land bis auf die Hauptstadt Kabul im Grunde bereits in der Hand haben. Dazu gehören auch viele Gebiete im Norden, die in den 90er-Jahren nie von ihnen erobert worden waren. Die Provinzhauptstädte sind größtenteils eingekreist und werden in absehbarer Zeit fallen. Für die Regierung und deren Milizen gibt es kein Rückzugsgebiet mehr. [3]

Nie haben sich islamistische Kämpfer aus Afghanistan auf den weiten Weg nach Europa gemacht, woran sich auch nach dem absehbaren Sieg der Taliban nichts ändern wird. Enorme Auswirkungen hat dieser jedoch insofern, als abermals sehr viele Menschen die Flucht ergreifen werden - sei es aus politischen Gründen oder weil das Elend im Land, das derzeit von einer ungeheuren Dürre heimgesucht wird, weiter zunimmt. Vergleichbar mit Syrien im Jahr 2015 dürfte es aus Afghanistan zu einem weiteren großen Exodus von Menschen kommen, die versuchen, europäische Länder zu erreichen.


Transparent 'Schluss mit der Bombardierung der Zivilbevölkerung in Afghanistan' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Blutzoll westlicher Menschenrechtskrieger
Foto: © 2011 by Schattenblick


"Wir lassen euch nicht im Stich ..."

"Wir lassen euch nicht im Stich", lautete das Versprechen der Bundesregierung an die afghanischen Helfer der Bundeswehr. Inzwischen sind die deutschen Truppen heimgekehrt, doch die sogenannten Ortskräfte größtenteils schutzlos zurückgeblieben. Dolmetscher, Elektriker, Fahrer, Küchenhelfer oder Sicherheitspersonen - wer für die Bundeswehr gearbeitet oder mit ihr Geschäfte gemacht hat, sieht sich akuter Bedrohung ausgesetzt. Er muss die Rache der Taliban fürchten, doch unter Umständen auch, dass seitens Regierungskreisen alte Rechnungen beglichen werden. Viele haben bereits ihr Haus, ihren Landbesitz oder gar Angehörige verloren, eine Rückkehr an ihren Heimatort, wo sie jeder kennt, ist oftmals unmöglich.

Nach langem Streit innerhalb der Bundesregierung, bei dem vor allem Horst Seehofers Innenministerium gemauert hatte, war der Kreis der grundsätzlich Ausreiseberechtigten auf alle seit 2013 für die Bundeswehr Beschäftigten ausgeweitet worden. Rund 2400 solcher Visa sind erteilt, was jedoch nichts daran ändert, dass Hunderte oder gar Tausende weiterer Afghanen mit der Angst leben müssen, dass die Taliban sie aufspüren, bevor sie die rettende Reise nach Deutschland antreten können. Die Lösung, Ortskräfte mit der Bundeswehr sicher auszufliegen, wurde systematisch verschleppt. Sie sollen sich nun selbst Flugtickets besorgen und ihre Ausreise organisieren. Das Verfahren der "eigenverantwortlichen Ausreise" habe sich bewährt, stellte das Innenministerium auf Nachfrage zynisch klar. Für die Zurückgelassenen gibt es keine Anlaufstelle, da das angekündigte Ortskräftebüro in Masar-i-Sharif nie eröffnet wurde. Das einzig verbliebene deutsche Büro befand sich noch in Kabul, doch der Weg dorthin durch von den Taliban kontrolliertes Gebiet ist lebensgefährlich. [4]


Rückenaufdruck 'I hate war as only a soldier who has lived it can' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Konsequenzen eines Veteranen
Foto: © 2011 by Schattenblick


Milliarden befeuern den Stellvertreterkrieg

Wer glaubt noch den Treppenwitz hiesiger Kriegspropaganda, dass die Bundeswehr am Hindukusch gewesen sei, um Demokratie zu bringen, die Infrastruktur aufzubauen oder die Mädchen und Frauen vom patriarchalen Joch zu befreien? Sie repräsentierte dort deutsche Interessen mit Waffengewalt, sich Einfluss in der Region zu verschaffen. So war die Lehre aus dem Massaker von Kundus, das auf deutschen Befehl verübt wurde, nicht der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan oder wenigstens eine angemessene finanzielle Entschädigung der Hinterbliebenen. Oberst Klein wurde entlastet und bald darauf zum General befördert, hatte er doch den ausstehenden Beweis erbracht, dass auch die deutsche Truppe handfest Krieg führen kann. Es wurden Milliarden in die Kriegsführung investiert und weitere Milliarden ins Land gepumpt, um kleine und große Warlords und Statthalter zu alimentieren, die im Interesse rivalisierender Regional- und Großmächte einen Stellvertreterkrieg anheizen. Die Bevölkerung wird von allen mit Füßen getreten, und dabei mischt auch Deutschland kräftig mit, indem Potemkinsche Dörfer diverser Ausbildungs- und Aufbauprojekte vorgehalten werden, deren Finanzierung in den Taschen lokaler Schutzherren oder Marionetten landet.

Afghanistan gilt als der Inbegriff eines Landes, das von Armut, Elend und Krieg ohne Aussicht auf ein Ende dieser Verheerungen geprägt ist. Nach Jahrzehnten der Eskalation lebensfeindlicher Verhältnisse drängt sich der Eindruck auf, dass das am Hindukusch nie anders gewesen und gleichsam das Wesensmerkmal einer rückständigen Gesellschaft ist, die aufgrund der ihr innewohnenden Strukturen den Anschluss an die Moderne zwangsläufig verfehlt hat. Dass diese kolonialistische Sichtweise trügt, bezeugen Berichte aus den 1960er- und 70er-Jahren, die eine differenzierte Perspektive eröffnen und zumindest ahnen lassen, dass eine andere Entwicklung möglich gewesen wäre, hätten ausländische Interventionen nicht ihre Ansätze zerstört und das Land bis heute mit imperialistischer Aggression überzogen.

Angesichts seiner zentralen geographischen Lage ist Afghanistan Brückenkopf und Drehscheibe des Ringens der Großmächte um geostrategische Positionen, Rohstoffe und deren Transportwege, in jüngerer Zeit auch reichhaltige Vorkommen weltweit begehrter Bodenschätze. Für die westlichen Okkupanten ist das Land ein nach Zentralasien weisender Keil zwischen China und Russland, den beiden Widersachern in den finalen Schlachten um globale Vorherrschaft. Für Deutschland ging es dabei nicht nur um konkret realisierten ökonomischen Zugewinn, sondern in einer Kette sukzessive ausgeweiteter Kriegsbeteiligungen um günstige Ausgangsbedingungen für den nächstfolgenden Waffengang. Denn wer dabei nicht mitzieht droht auf der Strecke zu bleiben.

Die kurzschlüssige Faustformel, wonach das Engagement der westlichen Mächte gescheitert sei, weil anstelle von Fortschritten nur eine Verschlimmerung der Verhältnisse eingetreten ist, hieße indessen, der Propaganda vorgehaltener Einsatzziele bereitwillig auf den Leim zu gehen. NATO-Staaten haben Afghanistan, den Irak, Libyen und Syrien bedrängt und überfallen, um Staatswesen zu zerschlagen, nicht um sie nach demokratischen Maßgaben zum Wohle der Bevölkerung aufzubauen. Sie sind auch nach Kabul gekommen, um zu bleiben, wobei sie den Blutzoll auf die einheimischen Sicherheitskräfte umlasten und ihre Präsenz zurückfahren, aber keineswegs völlig aufzugeben trachten. Weder Washington noch Berlin ist bereit, Russland, China, dem Iran oder einem anderen Rivalen Einfluss auf das strategisch wichtige Land zu überlassen. Wenngleich die Kampftruppen abgezogen werden, um sie an anderen Kriegsschauplätzen einsetzen zu können, bleibt ein gewisser Bodensatz an sogenannten Beratern und privaten Söldnern im Land, wie auch der Krieg aus der Luft mit Drohnen und Flugzeugen nicht endet. Auch werden regionale Verbündete des Westens wie die Türkei, aber auch Pakistan, ermutigt, den Konflikt am Kochen zu halten. Die Intervention hat viele Gesichter und keines davon lächelt dem jahrzehntelang drangsalierten Land versöhnlich zum endgültigen Abschied zu.

Anfang des Jahres waren noch etwa 10.000 reguläre Soldaten aus insgesamt 40 NATO-Ländern und -Partnerstaaten in Afghanistan stationiert, darunter auch rund 1000 aus Deutschland. Nachdem sich die USA als größter Truppensteller gegen einen weiteren Verbleib in dem Land entschieden hatten, beschloss die NATO im April, den Abzug aus Afghanistan einzuleiten. Denn für die Partner wäre eine Fortführung des Einsatzes nur unter gravierenden Zusatzkosten und enormen Risiken möglich gewesen. Die letzten deutschen Soldaten kehrten am 30. Juni in die Heimat zurück. Zu den wenigen ausländischen Streitkräften im Land zählen neben einigen US-Amerikanern unter anderem noch Türken und Norweger. Die Türkei sichert derzeit den Flughafen von Kabul und die Norweger betreiben ein Feldkrankenhaus. Ein sicherer Betrieb des Flughafens gilt zusammen mit einer medizinischen Versorgung als Voraussetzung dafür, dass Botschaften und internationale Vertretungen im Land bleiben können. [5]


Transparent 'no nato. no war. no capitalism. Kampf der deutschen Kriegspolitik' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Zusammenhänge auf den Punkt gebracht
Foto: © 2011 by Schattenblick


Deutscher Militarismus drängt an die Front

Am 7. Oktober 2001 griff die US-Armee Afghanistan mit der fingierten Begründung an, die Taliban müssten gestürzt werden, weil sie Osama bin Laden Zuflucht gewährten und daher zur "Achse des Bösen" gehörten. Die anderen westlichen Mächte ließen sich nicht lange bitten, und auch Deutschland zog unter Kanzler Schröder in "uneingeschränkter Solidarität" mit. Sich vorgeblich vom Bündnis rufen oder drängen zu lassen gehörte stets zu den bevorzugten Mechanismen des deutschen Strebens nach Vorherrschaft, zumal sich die Kriegsbeteiligung auf diese Weise an der Heimatfront gut verkaufen ließ. In Wirklichkeit hatte die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und seinem Außenminister Joseph Fischer Washington die deutsche Kriegsbeteiligung regelrecht aufgedrängt. Der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bestätigte später auf einer Pressekonferenz, dass Berlin nie um die Bereitstellung von Soldaten gebeten worden sei, wie die Bundesregierung behauptet hatte.

Am 11. Oktober 2001, vier Tage nach Beginn der amerikanischen Kriegshandlungen in Afghanistan, kündigte Kanzler Schröder vor dem Bundestag eine grundlegende Neuorientierung der deutschen Außenpolitik an. Einen Monat später beschloss der Bundestag die Bereitstellung von 3900 Bundeswehrsoldaten für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Schröder verknüpfte die Abstimmung mit der Vertrauensfrage, was höchst ungewöhnlich war, zumal angesichts der Unterstützung von Union und FDP auch bei Gegenstimmen aus dem eigenen Lager eine Mehrheit garantiert gewesen wäre. Doch der Kanzler wollte sicher gehen, dass SPD und Grüne geschlossen für den größten deutschen Militäreinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg stimmen. Auch Fischer drohte mit Rücktritt, falls sich die Grünen-Fraktion gegen den Afghanistaneinsatz wenden sollte. Diese Drohungen erwiesen sich als überflüssig. Ein SPD-Parteitag stimmte drei Tage später mit 90 Prozent der Kriegspolitik zu, und auf dem Bundesparteitag der Grünen stellten sich mehr als zwei Drittel der Delegierten hinter den Kriegsbeschluss.

So wurde der erste Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan am 22. Dezember 2001 beschlossen, die ersten deutschen Kräfte erreichten das Land im Januar 2002. Zunächst umfasste der Einsatz die militärische Beteiligung an der Operation Enduring Freedom und an der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF bis 2014. Danach blieben Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Rahmen der NATO-Folgemission Resolute Support im Land. Nach der Ankündigung der US-Regierung, im Mai 2021 US-Truppen aus Afghanistan bis spätestens zum 11. September 2021 abzuziehen, begannen auch die anderen NATO-Truppen, das Land zu verlassen. Am 29. Juni 2021 verließen die letzten deutschen Soldaten und Soldatinnen das Einsatzgebiet. Damit endete ein fast 20-jähriger Einsatz der Bundeswehr, die das zweitgrößte Kontingent nach den USA gestellt hatte. Insgesamt waren über 150.000 deutsche Soldaten und Soldatinnen am Hindukusch präsent, viele wurden mehrfach eingesetzt. 59 von ihnen kamen in Afghanistan ums Leben, wovon 35 im Gefecht oder durch Anschläge getötet wurden. Tausende weitere trugen Verletzungen davon, und ungezählt bleiben jene, die traumatisiert und unter Umständen lebenslang an den Folgen ihres Einsatzes zu leiden haben. Allein die militärischen Kosten des Kriegseinsatzes beliefen sich auf 12 Milliarden Euro.

Dabei führte die Bundeswehr angeblich gar keinen Krieg, sondern bohrte Brunnen, pflanzte Bäume und sorgte für Mädchenschulen. Ein Bundespräsident musste sogar noch zurücktreten, als er das Offensichtliche offen aussprach, dass deutsche Wirtschaftsinteressen weltweit militärisch gesichert werden müssten. Ein Verteidigungsminister stolperte über Kundus, doch so wurde Zug um Zug die Legitimation deutscher Intervention vorangetrieben. Seit 2015 handelte es sich offiziell nicht mehr um einen Kampfeinsatz, sondern eine "Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission". Wenngleich es Washington und Berlin nicht gelungen ist, in Kabul ein stabiles Marionettenregime zu installieren, hat der Krieg doch aus deutscher Sicht einen wichtigeren Zweck erfüllt und der Rückkehr des Militarismus den Weg gebahnt. Darauf lässt sich aufbauen. So unternahm die Große Koalition 2014 einen weiteren Anlauf, als Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der 2001 als Kanzleramtschef vermutlich bereits Schröders Kriegsrede geschrieben hatte, fast wortgleich eine größere militärische Rolle in der Weltpolitik ankündigte. Seither sind die Militärausgaben von 32 auf über 50 Milliarden Euro je Haushaltsjahr massiv gestiegen und Steinmeier ist Bundespräsident.


Großbuchstaben am Bonner Rheinufer 'End the war in Afghanistan' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Botschaft vom jenseitigen Ufer ...
Foto: © 2011 by Schattenblick


Vom Interventionskrieg zum Großmachtkonflikt

Die westlichen Militärinterventionen haben vielerorts ganze Regionen ins Elend gestürzt, ohne dass der angestrebte Zweck in vollem Umfang erreicht worden wäre, weshalb allenthalben von einem Scheitern die Rede ist. In Mali, wo das größte deutsche Kontingent stationiert ist, weiten sich nach acht Jahren Krieg Aufstände und dschihadistische Überfälle zum Flächenbrand in der gesamten Sahelzone aus. Frankreich hat das Ende seines Kampfeinsatzes angekündigt. In Libyen herrscht nach dem Waffenstillstand lediglich die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Maßgeblichen Einfluss üben dort nicht die westlichen Mächte, sondern die Türkei, Russland und die Vereinigten Arabischen Emirate aus. In Syrien ist es nicht zum Regime Change gekommen, Russland, die Türkei und der Iran sind mit jeweils eigenen Interessen in die Bresche gesprungen. [6]

Damit dürfte die Ära der klassischen westlichen Interventionskriege wohl ihren Zenit überschritten haben. Der Rückzug von Kampftruppen aus Afghanistan diente indessen nicht zuletzt dem Zweck, sie an anderen Fronten einzusetzen. Da der sukzessive Vormarsch in die Region zwischen Russland und China ins Stocken geraten ist, wurde die Wende zum unmittelbaren Großmachtkonflikt auf die Tagesordnung gesetzt. Wie seit langem strategisch geplant, wenden sich die USA nun massiv der Konfrontation mit China zu, um dessen Aufstieg zur führenden Weltmacht gewaltsam zu verhindern. Der deutsche Militarismus ist auch in Ostasien und im Südchinesischen Meer zunehmend mit von der Partie, insbesondere jedoch in Osteuropa gegen Russland aufgestellt. Mit dem Rückzug aus Afghanistan wurde allenfalls eine Front gewechselt, nicht jedoch vom ultimativen Argument massiver Waffengewalt Abstand genommen.


Fußnoten:

[1] www.wsws.org/de/articles/2021/07/02/afgh-j02.html

[2] www.heise.de/tp/features/Die-letzten-Bundeswehr-Streitkraefte-haben-Afghanistan-verlassen-6124328.html

[3] www.deutschlandfunk.de/journalist-zur-lage-in-afghanistan-taliban-haben-faktische.694.de.html

[4] www.tagesschau.de/inland/ortskraefte-afghanistan-103.html

[5] www.n-tv.de/politik/NATO-Einsatz-in-Afghanistan-ist-Geschichte-article22687305.html

[6] www.jungewelt.de/artikel/405432.am-abgrund.html


26. Juli 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 165 vom 31. Juli 2021


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang