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REPRESSION/1712: Frontex - Übles gebiert Schlimmeres ... (SB)



Die Institution Frontex muss auf den Prüfstand. Die Beweise gegen Frontex zeigen die Schwachstelle der Agentur. Die internen Kontrollmechanismen der Agentur reichen nicht aus, um für den Schutz der Menschenrechte an den Grenzen der EU zu garantieren. In den wenigen Berichten, die Beamt*innen ordnungsgemäß verfassen, vertuscht die Führungsspitze die Rechtsbrüche gezielt. Entgegen der entsprechenden gesetzlichen Grundlage haben Menschenrechtsverstöße an den EU Außengrenzen noch nie dazu geführt, dass die Agentur ihre Aktivitäten eingestellt hätte.
Menschenrechtsorganisation Pro Asyl [1]


Als Kettenhund der EU wurde die Agentur Frontex in Stellung gebracht, die Drecksarbeit an den Außengrenzen der "Festung Europa" zu erledigen und gemeinsam mit den nationalen Grenzpolizeien für illegal erklärte geflohene Menschen fernzuhalten. Das dafür erforderliche Vorgehen mit harter Hand ist integraler Bestandteil des europäischen Grenzregimes, das an vielen Fronten und mit variantenreichen Mitteln Krieg gegen Flüchtlinge führt. Seit Jahren werden Vorwürfe wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen gegen Frontex erhoben, ohne dass dies Konsequenzen gehabt hätte. Die Führung der Agentur unter ihrem Direktor Fabrice Leggeri hat gemauert, vertuscht und geleugnet, was das Zeug hielt, und damit im Grunde die ihr zugedachte Funktion durchaus erfüllt. Dass Leggeri nun ins Fadenkreuz anwachsender Kritik geraten ist, liegt nicht so sehr an Eigenmächtigkeit und Fehlverhalten des Frontex-Chefs, als vielmehr am Aufbrechen der inneren Widersprüche einer Flüchtlingspolitik, die jegliche Grausamkeiten verübt und dabei die Menschenrechte im Munde führt.

Sollte Leggeri zu Fall gebracht und Frontex abermals reformiert werden, was nicht auszuschließen ist, wird dies als angebliche Säuberung vorgehalten und wenn irgend möglich zur Legitimation und Stärkung der EU-Grenzschutzagentur genutzt werden. Es steht also zu befürchten, dass Erfolge im Kampf gegen die aktuelle Führung von Frontex einem Pyrrhussieg gleichen, der dem eigenen Anliegen einen Bärendienst erweist. Das spricht nicht im Geringsten dagegen, Fabrice Leggeri und die Agentur aufs Korn zu nehmen, zumal damit das wiedererwachte mediale Interesse an den Greueltaten gegen Geflohene genutzt werden kann. Es gilt jedoch, auch in diesem Kontext beharrlich Ross und Reiter zu nennen und sich die Initiative nicht von jenen aus der Hand nehmen zu lassen, die das Grenzregime samt Frontex durchaus gutheißen, sofern es sich nur runderneuern und in präsentablem Gewand inszenieren lässt.


Aufschrift 'Refugees Welcome' auf Kampnagel - Foto: © 2015 by Schattenblick

Willkommensgruß wider das innere und äußere Grenzregime
Foto: © 2015 by Schattenblick


Kriegführung gegen geflohene Menschen

Die ebenso ambitionierten wie irreführenden Prognosen der Vereinten Nationen, Hunger, Durst, Krankheit und Armut in der Welt ließen sich binnen weniger Jahre spürbar vermindern, sind Makulatur. Klimakatastrophe, Kriege und Krisen als unmittelbare oder indirekte Folgen raubgestützter Herrschaftsverhältnisse und expansiver Wirtschaftsweisen führen dazu, dass absehbar nur eine Minderheit der Menschheit mit einem Überleben in bislang erreichten Fristen und Formen rechnen kann, wie sie ohnehin nur für Teile der globalen Metropolen existieren. Wenn schon in der vergleichsweise reichen Bundesrepublik die Lebenserwartung auf Hartz IV angewiesener Menschen deutlich unter dem Durchschnitt der Bevölkerung liegt, nimmt diese Kluft der Klassen im globalen Maßstab noch weit extremere Ausmaße an.

Drängt das Millionenheer fliehender Menschen in Richtung der reicheren Weltregionen, um sich einen Bruchteil des zuvor Geraubten zurückzuholen, wird es auf grausame Weise abermals mit der unantastbaren Eigentumsfrage konfrontiert. Nachdem der unerklärte Krieg ökonomischer Übermacht und humanitärer Intervention zu massenhafter Flucht geführt hat, soll diese mit einem unerklärten Krieg gegen die Flüchtlinge zurückgeschlagen werden. Humanität, Ehrbarkeit und Erbarmen erschöpfen sich auch für die Regierungen Europas insbesondere darin, die Festung abzuschotten, so dass die Flüchtlinge zurückgedrängt werden, im Meer ertrinken oder in der Wüste verdursten, versklavt oder getötet werden.

Um zu verschleiern und auszublenden, dass Menschen in der EU ihr Überleben und Wohlergehen nicht zuletzt aus der Verelendung und Vernichtung von Menschen in auswärtigen Ländern speisen, wird ein Diskurs über humanitäre Fragen in den Kategorien des Almosens geführt, wonach der Reiche dem Armen einigen Brosamen abgeben sollte, an deren Größe sich heftiger Streit entzündet. Und da längst auch wachsende Bevölkerungsteile in den Metropolen den Gürtel enger schnallen müssen, weil sie von sozialem Abstieg bedroht oder bereits in Armut gestürzt sind, wird ihre Suche nach Schuldigen in dieser Misere gegen geflohene Menschen gewendet, die man als Fressfeinde zu identifizieren habe.


Afrika im neokolonialen Würgegriff

In den kommenden Jahren wird ein enormer Bevölkerungszuwachs auf dem afrikanischen Kontinent erwartet, wo Prognosen zufolge im Jahr 2050 bis zu 2,6 Milliarden Menschen leben werden. Zugleich sind dort gravierendste Auswirkungen des Klimawandels zu befürchten. Unterdessen plündert die Afrikapolitik der Europäischen Union und der Bundesrepublik insbesondere mittels der Freihandelsabkommen namens EPAs (Economic Partnership Agreements) die afrikanischen Länder aus, die mit einer Wirtschaft wie der deutschen nicht konkurrieren können. Freihandel und EU-Importe gefährden bestehende Industrien und führen dazu, dass zukünftige gar nicht erst entstehen. Die EPAs verwandeln die einheimischen Märkte in Müllhalden für europäische Produkte, während sich Spekulanten der Rohstoffe wie Erdöl, Metalle, Holz oder Kakao bemächtigen.

Afrika als der "schlafende Riese der Weltwirtschaft" soll nach dem Willen der EU nicht kampflos den Chinesen und Indern überlassen werden, deren Handel mit afrikanischen Ländern seit Jahren an Bedeutung gewinnt. Dem hegemonialen Anspruch der Europäischen Union wie auch der Bundesregierung zufolge sollen künftig noch mehr europäische Waren die afrikanischen Märkte überfluten. Dabei entwickeln sich die Handelsbeziehungen längst schon zu Ungunsten Afrikas. Während in den meisten afrikanischen Ländern die Importe aus Europa und vor allem aus Deutschland leicht steigen, gehen die afrikanischen Exporte nach Europa in den meisten Ländern in der Summe zurück.

Dass ein unbeschränkter Handel mit Europa die Wirtschaft Afrikas weiter schwächen wird, ist die Ratio und Stoßrichtung auf europäischer Seite - es sei denn, man träumt den Mythos eines fairen Handels, dessen Profite gewissermaßen dem Nirwana entspringen, da angeblich niemand dabei über den Tisch gezogen wird. Massive Exportsubventionen für europäische Güter sind die wirkmächtigste Waffe im Handelskrieg, wobei insbesondere Agrarsubventionen natürlich nicht nur in Europa gängige Praxis sind. Nordamerika, Europa, Japan und China subventionieren ihre Landwirtschaften mit Milliardenbeträgen, doch die höchsten staatlichen Subventionen kassieren Agrokonzerne und Bauern in Europa.

Deren Überschüsse landen billig auf den afrikanischen Märkten und konkurrieren die einheimischen Produzenten nieder. Dies hat dazu geführt, dass dort inzwischen 80 Prozent des Nahrungsmittelverbrauchs aus Importen stammt. Dazu steht nicht in Widerspruch, dass nach Erdöl und Erdgas landwirtschaftliche Produkte die wichtigsten afrikanischen Exportgüter nach Deutschland und Europa sind. Die Erzeugung von Rohstoffen zur Ausfuhr und die massenhafte Vernichtung bäuerlicher Existenzen sind Geschwister im neokolonialen Würgegriff.

Hinzu kommen nichttarifäre Handelshemmnisse, also versteckte protektionistische Maßnahmen, die nicht durch Steuern und Subventionen erzielt werden. So müssen afrikanische Exporteure die Gesundheits-, Sicherheits- und technischen Standards einhalten, die auf EU-Ebene festgelegt werden und eine hohe Hürde darstellen. Außerdem verteuern künstlich überbewertete afrikanische Währungen, die an den US-Dollar oder den Euro gekoppelt sind, afrikanische Exportprodukte auf dem Weltmarkt und verhindern Auslandsinvestitionen in Afrika. Zugleich behindert dies die einheimische Industrialisierung, da die afrikanischen Unternehmen auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig werden können.

Dieser Handelskrieg ist ein wesentlicher Treibriemen der Migration, von dem die Bundesregierung natürlich am allerwenigsten etwas hören will, wenn sie die Bekämpfung der Fluchtursachen im Munde führt. Der Klimawandel wird zwar erwähnt, und auch die Prognose, dass er die Subsaharastaaten veröden und eine beispiellose Massenwanderung verhungernder Menschen in Richtung Norden auslösen wird. Das veranlasst Berliner Politik jedoch keineswegs dazu, als hochindustrialisiertes Land die maßgebliche Mitverantwortung für den Ausstoß klimawirksamer Gase zu übernehmen und beispielsweise die Kohleverstromung sofort einzustellen.

Das vielbeschworene deutsche und europäische Wertesystem lässt ohne Weiteres eine Zusammenarbeit mit den repressivsten Regimen und ärgsten Despoten zu, wenn es denn der Flüchtlingsabwehr dient. De facto werden diese Regime dafür bezahlt und aufgerüstet, dass sie Sperren errichten und Kontrollen in ihren Ländern etablieren. Dadurch werden die Flüchtlingsbewegungen, die früher im Falle von Ernteausfällen und Naturkatastrophen ungehindert von einem Land ins andere und oftmals später wieder zurück wechselten, massiv eingeschränkt. Die Europäer bezahlen und trainieren libysche Sklavenhalter, unterstützen brutale Machthaber, um die wichtige Fluchtroute zwischen dem Horn von Afrika und dem Mittelmeer zu schließen, bilden Grenzschützer und Polizeien aus, liefern technische Hilfen und Rüstungsgüter.

Die Strategie Europas, seine Außengrenzen tief in den afrikanischen Kontinent hinein zu verschieben, erfordert geradezu eine Zusammenarbeit mit Regimen und Milizen, die solche Abkommen aufgrund ihrer Macht, Brutalität und blutigen Erfahrung am effektivsten umsetzen können. Soweit es Diktatoren, Schlächter, Sklavenhändler, Folterer oder Schlepper sind, qualifiziert sie das um so mehr für ihre Handlangerdienste im Auftrag der Europäer. Deren Leitwerte laufen also unter dem Strich darauf hinaus, die existenzielle Überlegenheit der Menschen in Europa zu Lasten afrikanischer Menschen zu sichern und auszubauen.


Abschottung, Abschiebung, Abwehrstaffel

Die Drangsalierung fliehender Menschen seitens der Europäischen Union unter deutscher Federführung wird mit militärischen, polizeilichen und administrativen Mitteln vorgetragen. Deutschland, das in Europa die mit Abstand meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, treibt zugleich das Regime gestaffelter Abschottung, Abschiebung und vorgelagerter Abwehr am Nachhaltigsten voran. Die systematische Abriegelung der europäischen Außengrenzen hat zu einem beispiellosen Massensterben im Mittelmeer und in der Wüste geführt. Obgleich sich nur ein Bruchteil der weltweit 60 Millionen Flüchtlinge auf den Weg nach Europa macht, ereignen sich hier zwei Drittel der weltweit dokumentierten Todesfälle. Und da auf vielen Routen keine verlässlichen Daten vorliegen, dürfte die tatsächliche Opferzahl noch weit höher liegen.

Nachdem das Flüchtlingsabkommen mit der türkischen Regierung ausgehandelt war, ließ diese Mauern und Zäune an der Grenze zu Syrien errichten und die Grenzübergänge abriegeln. Seither haben türkische Grenzpolizisten und Soldaten zahlreiche Flüchtlinge erschossen und viele weitere misshandelt oder abgeschoben. Die Abriegelung der Balkanroute und der Ägäis hat die Flüchtenden auf die wesentlich gefährlicheren Routen über Ägypten oder Libyen nach Italien oder über Marokko nach Spanien abgedrängt. Der durch die NATO erzwungene Regimewechsel in Libyen hat das Land ins Chaos gestürzt, so dass die Flüchtlinge dort nur Gewalt und Misshandlung erleben. Vielerorts sind geflohene Menschen in Internierungslagern eingepfercht, leben Zehntausende unter katastrophalen Bedingungen.

Die von der Bundesregierung geschlossenen "Migrationspartnerschaften" sollen nach offizieller Lesart die Fluchtursachen bekämpfen. Dabei geht es jedoch nicht etwa darum, die ökonomische und militärische Kriegführung europäischer Staaten und der EU in diesen Ländern zu beenden und die Lebensverhältnisse nachhaltig zu verbessern, sondern darum, Menschen gewaltsam an der Flucht zu hindern und massenhaft zu deportieren. So werden autoritäre Machthaber in Afrika finanziell erpresst, indem die Zahlung von Entwicklungshilfe an die Rücknahme von abgeschobenen Flüchtlingen und die Schließung der Grenzen gekoppelt wird. Zudem sollen nach den Plänen der Bundesregierung mit den repressiven Regimen in Ägypten und Tunesien ähnliche Abkommen wie mit der Türkei geschlossen und die Flüchtlinge in nordafrikanischen Lagern interniert werden. Und während das Auswärtige Amt dringend vor Reisen nach Afghanistan warnt und die Bundeswehr ihren Abzug aus dem Desaster am Hindukusch vorbereitet, werden abgelehnte Asylbewerber zur Rückkehr in das Kriegsgebiet gezwungen.

Etwa doppelt so hoch wie die Zahl der Abgeschobenen ist jene der sogenannten "freiwilligen Rückkehrer". Bei diesem Verfahren wird abgelehnten Asylbewerbern das Ultimatum gestellt, entweder das Land mit einer geringfügigen Unterstützung selbst zu verlassen oder bei zwangsweiser Abschiebung die Kosten oftmals selber tragen zu müssen und ein Einreiseverbot zu bekommen. Mitunter wird auch ein Teil der Familie abgeschoben, so dass die übrigen Familienmitglieder folgen. Von der unterstellten Freiwilligkeit kann also keine Rede sein.

Hierzulande gibt es keine riesigen Internierungslager mit Zehntausenden Menschen, geschweige denn zeitweise geduldete wilde Flüchtlingslager wie die längst geräumte "Hölle von Calais". Die deutsche Handhabung der sogenannten Flüchtlingskrise ist subtiler, strategischer und in der Konsequenz wirkmächtiger als brachialer anmutende Praktiken in anderen europäischen Ländern. Deutsche Vorherrschaft in Europa, Finanzstärke und administrative Effizienz entfalten eine unabweisliche Wucht, Probleme umzulasten und auszulagern, Flüchtlinge weit im Vorfeld zurückzuschlagen und hierzulande durch behördliche Mühlen zu quetschen. Die Grausamkeit hat viele Gesichter, und wie die Geschichte lehrt, gehen die Deutschen auch dieses Handwerk mit kaum zu überbietender Gründlichkeit an.


Hölle der libyschen Flüchtlingslager

Welchen Torturen fliehende Menschen in Libyen ausgesetzt sind, erfuhr die hiesige Öffentlichkeit spätestens Anfang 2017, als ein interner Lagebericht deutscher Diplomaten "KZ-ähnliche Verhältnisse" in libyschen Flüchtlingslagern anprangerte. Laut einer diplomatischen Korrespondenz der deutschen Botschaft in Nigers Hauptstadt Niamey kommt es in "sogenannten Privatgefängnissen", in denen Schlepper ausreisewillige Migranten festhalten, zu "allerschwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen". Die Berichte waren durch authentische Handy-Fotos und -Videos belegt. "Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste sind dort an der Tagesordnung", hieß es in dem Schreiben der Diplomaten, das an das Bundeskanzleramt und mehrere Ministerien ging. "Augenzeugen sprachen von exakt fünf Erschießungen wöchentlich in einem Gefängnis - mit Ankündigung und jeweils freitags, um Raum für Neuankömmlinge zu schaffen, d.h. den menschlichen 'Durchsatz' und damit den Profit der Betreiber zu erhöhen."

Wie alle durch westliche Interventionen zerschlagenen Staaten ist auch Libyen ein in diverse Bruchstücke fragmentiertes Gebilde, in dem rivalisierende bewaffnete Milizen um die Vorherrschaft kämpfen. Die vordem vergleichsweise hochentwickelte Gesellschaft ist in Elend und permanente Unsicherheit zurückgeworfen. Dass Schlepperbanden die Flüchtlinge auf grausamste Weise ausbeuten und umbringen, ist nicht zuletzt eine Folge des erzwungenen Regimewechsels. Wenn deutsche Regierungspolitik Flüchtlingen zwar einen Schutzanspruch einräumt, ihnen aber den Anspruch auf einen Ort ihrer Wahl abspricht, meint sie solche Internierungslager etwa in Nordafrika, für die sie seit längerem wirbt. Werden weitere Lager eingerichtet, ist mit identischen oder ähnlich grausamen Verhältnissen zu rechnen, wie sie der Bericht deutscher Diplomaten für Libyen beschrieb.

Wie schon das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gezeigt hat, ist man in Berlin und Brüssel hinsichtlich der Partner nicht wählerisch, sofern sie nur die Abschottung garantieren. Bekanntlich wünscht man sich für diese und andere Zwecke in Libyen eine starke Einheitsregierung, deren letztendliche Beschaffenheit jedoch nachrangig ist. Auch arbeitet die Bundesrepublik mit Ägypten eng zusammen, in dem ein Militärregime an der Macht ist, wie auch Tunesien und Marokko einbezogen werden, um den Kordon der vorgelagerten Abschottung zu komplettieren. Wenn davon die Rede ist, Transitländer darin zu unterstützen, Strukturen eines Aufnahmelandes zu entwickeln und eigene funktionsfähige Asylsysteme aufzubauen, spricht das den realen und sattsam bekannten regionalen Verhältnissen Hohn. Grundsätzlich gilt als umstritten, ob eine Rückführung ohne Asylprüfung in Europa überhaupt mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Alle seriösen Experten dürften sich zudem darin einig sein, dass in den nordafrikanischen Staaten eine Aufnahme unter formalen EU-Standards in absehbarer Zeit unmöglich zu erreichen ist.


Transparent 'Make Borders History!' im rheinischen Klimacamp - Foto: © 2017 by Schattenblick

Antikolonialismus gegen die globale Klassenschranke
Foto: © 2017 by Schattenblick


Flüchtlinge in der griechischen Falle

In Griechenland sitzen Zehntausende Flüchtlinge fest, viele von ihnen auf den Inseln Lesbos, Leros, Samos, Kos und Chios, von wo sie im Rahmen des europäisch-türkischen Flüchtlingspakts zurück in die Türkei geschickt werden sollen. Ihre Lage ist verzweifelt. Das Dublin-System der Europäischen Union, dem zufolge ein Flüchtling einen Asylantrag in dem EU-Land stellen muss, das er zuerst betritt, war mit der Ankunft von Millionen Flüchtlingen im Sommer 2015 zusammengebrochen. Die meisten der Ankommenden waren damals über Griechenland in Richtung Deutschland und Nordeuropa weitergereist. Nach der Schließung der Balkanroute wurde Griechenland im Rahmen des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei dazu verpflichtet, seit dem 20. März 2016 alle eingereisten Flüchtlinge im Lande unterzubringen, bis ihre Asylansprüche geklärt sind. Abgelehnte Asylbewerber auf den Inseln sollten zügig in die Türkei zurückgeführt werden, die EU-Staaten wollten Griechenland zahlreiche Flüchtlinge abnehmen, es wurde genügend Personal zugesagt, um die Asylanträge rasch zu bearbeiten.

Die Realität sah bekanntlich ganz anders aus. Nichts davon ist im angekündigten Umfang geschehen. Die sogenannten Hotspots auf den Inseln sind um ein Vielfaches überbelegt, die Verhältnisse absolut menschenunwürdig und lebensbedrohlich. Die Insassen der Lager stecken in einer erbärmlichen Falle fest. Es fehlt an Unterkünften, Schlafplätzen, sanitären Anlagen, ausreichender ärztlichen Versorgung, zügiger Essensausgabe, bei Regen steht alles unter Wasser, es kommt zu sexuellen Übergriffen und die Corona-Pandemie grassiert. Es kam zu Zusammenstößen zwischen Migranten und Rechtsextremisten, in den Lagern wuchs die Verzweiflung, Ausschreitungen und Proteste waren die Folge.

Als das berüchtigte Lager Moria auf Lesbos im vergangenen Sommer bei einem Großbrand zerstört wurde, waren über Nacht rund 10.000 Schutzsuchende völlig obdachlos. Daraufhin wurde das neue Flüchtlingslager Kara Tepe errichtet, in dem die Zustände jedoch teils noch schlimmer als in dem verrufenen Moria sind. Rund 6000 Menschen, davon ein Drittel minderjährig, leben dort auf engem Raum, nur acht Duschen stehen ihnen zur Verfügung. Wasserversorgung, sanitäre Anlagen, medizinische Hilfe, Bildungsmöglichkeiten und Ausstattung für behinderte Menschen sind völlig unzulänglich, zudem ist das Lager noch abgeschotteter als Moira es war, so dass die Selbstorganisierung der Gefangenen verhindert wird. Deren Perspektivlosigkeit führt dazu, dass viele Menschen, darunter nicht wenige Kinder, versuchen, sich das Leben zu nehmen.

Im großen Bogen des Abkommens zwischen der EU und der Türkei, mit dem sich die Westeuropäer die Flüchtlinge an dieser Flanke gewaltsam vom Hals halten, ist für Griechenland die Rolle einer Pufferzone vorgesehen, in der die zwangsläufigen Unwuchten des Systems ausschwingen und ausschlagen sollen - zu Lasten der Griechinnen und Griechen, die nichts zu sagen, sondern nur zu tragen haben, und um so mehr der Flüchtlinge. Sie in Lager zu stecken und in Lebensgefahr zu bringen ist kein Versagen der EU. Es ist nicht nur ein gebilligter Kollateralschaden, sondern gezielt eingesetzte Abschreckungs- und Abschottungspolitik, deren Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern sich mit administrativer Grausamkeit paart.

Diese Strategie wurde von der Syriza-Regierung mitgetragen und wird nun unter Führung der konservativen Nea Dimokratia in verschärfter Form durchgesetzt. Griechenland dient sich abermals als Scherge der EU an, indem die geflohenen Menschen auf brachialste Weise drangsaliert werden. Das kommt in Brüssel und bei den europäischen Regierungen sehr gut an, die Athen der Form halber milde rügen, aber zugleich lobend dafür auf die Schulter klopfen, dass die schmutzige Arbeit so energisch erledigt wird.


Abschottung der Fluchtrouten über das Mittelmeer

Während die mit EU-Geldern aufgerüstete libysche Küstenwache Schiffbrüchige wieder ans Festland zurückbringt, beteiligt sich auch die italienische Marine mit Schiffen, Flugzeugen und Drohnen an der Abschottung zur See. Private Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Save the Children, Moas, Sea-Eye, Sea-Watch, SOS Méditerranée, Jugend Rettet oder Proactive Open Arms, die einen erheblichen Anteil aller Menschen in Seenot vor dem Ertrinken retten, werden mit administrativen Zwangsauflagen in ihrer Arbeit eingeschränkt. Es werden Schiffe festgesetzt, Strafen angedroht und Anklagen erhoben, Einfahrten in Häfen verwehrt, Operationsräume beschnitten und Einsatzmöglichkeiten reduziert. Man bezichtigt die NGOs, Flüchtlinge aufs offene Meer zu locken, Schlepper zu begünstigen oder gar mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Wie dieser Komplex an Anfeindungen und Diffamierungen zeigt, geht es der italienischen Regierung natürlich nicht darum, Menschen aus Seenot zu retten. Vielmehr genießen wie überall entlang des europäischen Festungswalls auch hier Abschottung und Abschreckung höchste Priorität. Dies rührt in der Kette der Teilhaberschaft insbesondere daher, dass Länder wie Griechenland, Italien oder Spanien, in denen die Flüchtlinge zuerst in Europa ankommen, von den anderen EU-Staaten mehr oder minder gezielt mit dem Problem im Stich gelassen werden. Das begünstigt wiederum den Aufstieg rechtsgerichteter Kräfte und Regierungen, die ihrerseits die Flüchtlingspolitik massiv verschärfen.

Nachdem Italien unter dem rechtsradikalen Innenminister Matteo Salvini eine weitgehende Abschottung durchgesetzt und selbst Schiffen von Hilfsorganisationen mit aus Seenot geretteten Menschen das Anlegen in italienischen Häfen bei Strafe verboten hatte, verlagerte sich die Fluchtbewegung in Richtung Spanien. Dieser Effekt setzt zwangsläufig immer dann ein, wenn bestimmte Fluchtrouten sehr viel schärfer überwacht oder ganz geschlossen werden. Als immer mehr Flüchtlinge aus Marokko die Meerenge von Gibraltar überquerten und spanischen Boden erreichten, schloss die spanische Regierung ein Abkommen mit Marokko, worauf die Zahlen sofort zurückgingen. In Madrid bediente man sich der bewährten Blaupause, die Herkunfts- und Transitländer zu bestechen, Flüchtlinge gewaltsam zurückzuhalten oder aber zurückzunehmen, soweit sie bereits Europa erreicht haben. Im Gegenzug bekommen diese Länder für ihre Verhältnisse viel Geld, militärisches Gerät und Visa-Erleichterungen für ihre Staatsbürger. Derartige Abkommen zwischen einzelnen EU-Ländern und Drittstaaten wurden in beträchtlicher Zahl abgeschlossen, allein Spanien hat mit 16 Ländern Rücknahmeabkommen vereinbart, wobei die EU dieses System vereinheitlichen und verschärfen möchte.


Offizielle und klammheimliche Schergen

Als Recep Tayyip Erdogan im Frühjahr 2020 die Flüchtlingskarte kurzfristig ausspielte und ein gewisses Kontingent an die griechische Grenze transportieren ließ, nahm EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vom Hubschrauber aus die Lage vor Ort in Augenschein. Sie dankte dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis dafür, "in diesen Zeiten unser europäisches Schild zu sein". Sie lobte die Grenzpolizisten für ihren "unermüdlichen Einsatz" und erklärte, dass dies "nicht nur eine griechische Grenze sei, sondern eine europäische". Zog man in Betracht, dass vor ihren Augen gerade griechische Grenzsoldaten Frauen und Kinder mit Tränengas beschossen, ließ die Eindeutigkeit der Position von der Leyens nichts zu wünschen übrig. Dass damals mit Griechenland erstmals ein europäischer Staat das Asylrecht offiziell suspendierte und damit einen seit Jahren vorangetriebenen Prozess per Regierungsverfügung legitimierte, wurde von Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel und EU-Parlamentspräsident David Sassoli ausdrücklich gebilligt.

"Alle europäischen Länder, die ihre Grenzen für Flüchtlinge geschlossen haben und versuchen, sie durch Schläge, ein Versenken ihrer Boote oder sogar Schüsse zurückzudrängen, treten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit Füßen", erklärte ausgerechnet Präsident Erdogan dazu. "Wenn die europäischen Länder das Problem lösen wollen, müssen sie die politischen und humanitären Bemühungen der Türkei in Syrien unterstützen", forderte er abermals Unterstützung für seine dortigen Kriegszüge und Greueltaten ein. Indem die Regierungen Europas unterstrichen, dass auch für sie die Menschenrechte nichts weiter als eine Karte sind, die im Poker des Machtkampfs je nach Bedarf gezogen oder abgeworfen wird, stellten sie unmissverständlich klar, wie einig sich beiderseits die Eliten in der Vernutzung oder Vernichtung der vor ihren Raubzügen fliehenden Menschen sind.

Wie jedes repressive System hat auch dieses seine legalen und illegalen, uniformierten oder klammheimlichen Aufseher und Kapos, die als Grenzschützer, Polizisten, Lagerverwalter und Bürokraten oder Schleuser, Menschenhändler, Folterer und Plünderer auf die eine oder andere Weise daran partizipieren, geflohene Menschen einzusperren, zu drangsalieren, auszunehmen oder umzubringen. Empörter Protest, man verabscheue selber diese Missstände und Auswüchse zutiefst, werde aber keinesfalls alle über einen Kamm scheren, greift zu kurz. Das sogenannte Flüchtlingsproblem kann nicht gelöst werden, solange sich alle maßgeblichen politischen Ansätze auf die Verschiebung, Auslagerung und Umlastung beziehen. Die europäischen Regierungen und Mehrheitsbevölkerungen wollen keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen, weshalb sie auch jegliche Formen der Abschreckung und Zurückweisung nicht nur hinnehmen oder dulden, sondern direkt betreiben oder mittelbar gutheißen.


Hand in Hand bei den Pushbacks in der Ägäis

In Griechenland geht die Regierung Mitsotakis mit harten Bandagen gegen Asylbewerber vor. Athen baut den Grenzzaun am Evros-Fluss aus, stockt das dort stationierte Personal erheblich auf, stellt diesem Hubschrauber, Drohnen und Wärmebildkameras zur Verfügung. Die Nea Dimokratia macht geflohenen Menschen das Leben so schwer wie möglich. Das Asylgesetz wurde verschärft und erstmals fanden dokumentierte Pushbacks aus dem Landesinnern und sogar aus einem Flüchtlingslager ohne jedwedes formale Abschiebeverfahren statt. Nachgewiesen wurden auch systematische Pushbacks in der Ägäis, wo Neuankömmlinge ausgeplündert und auf Rettungsflößen ohne Motor oder Paddel in türkische Gewässer gezogen wurden. Dies kommt nach Berichten von Flüchtlingen und NGOs so häufig vor, dass es von griechischen Behörden genehmigt und der EU bekannt sein muss. Die Regierung in Athen weist das natürlich vehement zurück und behauptet, die Vorwürfe zu Menschenrechtsverletzungen durch griechische Sicherheitskräfte seien falsch und böswillig erfunden.

Diese Argumentationslinie erinnert nicht von ungefähr an Fabrice Leggeri und Frontex. Nun hat die Menschenrechtsorganisation Front-Lex vor dem Europäischen Gerichtshof Klage gegen die EU-Grenzschutzbehörde eingereicht, da diese in Form sogenannter Pushback-Aktionen gegen die Rechte von Asylsuchenden und das internationale Recht verstoßen habe. Bei den konkreten Fällen handelt es sich um eine Frau aus Burundi und einen 15 Jahre alten Jungen aus der Demokratischen Republik Kongo, die im vergangenen Jahr auf der griechischen Insel Lesbos Schutz gesucht hatten. Laut den Anwälten von Front-Lex seien die beiden ausgeraubt, festgenommen und auf dem Meer sich selbst überlassen worden. Es sei das erste Mal im 17-jährigen Bestehen von Frontex, dass die Behörde sich vor dem Europäischen Gerichtshof verantworten müsse. Die Grenzschutzbehörde hat die Vorwürfe zurückgewiesen und sprach von einer "Aktivisten-Agenda, die sich als juristischer Fall ausgibt". Frontex-Sprecher Chris Borowski behauptete, Ziel sei es, die Entschlossenheit der EU zum Schutz ihrer Grenzen zu untergraben. [2]

Es sind jedoch zahlreiche Fälle belegt, in denen die griechische Küstenwache Geflüchtete aufs offene Meer zurückgetrieben hat. Meist zerstört sie den Außenbordmotor der Flüchtlingsboote, um diese manövrierunfähig zu machen. Dann ziehen die Grenzschützer die Geflüchteten auf ihren Booten oder auf aufblasbaren Rettungsflößen aufs offene Meer hinaus. Dort setzen sie die Menschen aus, die keine Chance haben, aus eigener Kraft die rettende Küste zu erreichen. Bei solchen Aktionen bedrohen griechische Grenzschützer die Geflüchteten mit Waffen, nicht selten fallen Schüsse. Bisweilen schleppen sie sogar Menschen aufs Meer, die es schon auf die griechischen Inseln geschafft hatten.

Frontex-Einheiten stoppen immer wieder Flüchtlingsboote und übergeben sie noch auf dem Meer an die griechische Küstenwache. Die Frontex-Einheiten, darunter deutsche Bundespolizisten, unterstehen in der Ägäis der griechischen Küstenwache. Sie werden so zu Gehilfen der Griechen, die bei ihren illegalen Aktionen nicht einmal besonders vorsichtig vorgehen. Leggeri weiß von den Rechtsbrüchen, seine Beamten haben sie mehrmals aus der Luft beobachtet und an ihn gemeldet. Trotzdem verteidigte und verharmloste er die Praktiken der griechischen Küstenwache und verschwieg dem Europaparlament die Pushbacks über Monate. [3]


Rückentransparent 'Push Back Frontex' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Antikapitalistische Demo beim Kongress 'Selbermachen' in Berlin
Foto: © 2017 by Schattenblick


Kollaboration mit der libyschen Küstenwache

Doch das ist noch längst nicht alles. Wie aus gemeinsamen Recherchen des ARD-Magazins Monitor mit Lighthouse-Report, dem Spiegel und der Zeitung Libération hervorgeht, spielt Frontex auch eine entscheidende Rolle bei den Rückführungen von Flüchtlingen nach Libyen. Für ihre monatelange Recherche analysierten Reporterinnen und Reporter die Flugrouten der Frontex-Flugzeuge, verglichen diese mit den Rückführungen der libyschen Küstenwache und den Daten von Handelsschiffen in unmittelbarer Nähe. Sie sichteten Videos, sprachen mit Augenzeugen und auch Frontex-Beamten. Bei mindestens acht solcher Rückführungen aus der maltesischen Such- und Rettungszone kreiste demnach zuvor ein Frontex-Flugzeug in der Nähe der Boote.

Ein Beispiel: Am 4. März 2020 entdeckt ein Flugzeug von Frontex ein Flüchtlingsboot mit etwa 50 Menschen an Bord in Seenot, weil der Motor ins Wasser gefallen ist. Die Seenotleitstellen in Italien und Malta sind informiert, doch es passiert nichts, obwohl mehrere Handelsschiffe in der Nähe waren. Erst zehn Stunden später erscheint ein Schiff der libyschen Küstenwache und bringt die Menschen aus der maltesischen Such- und Rettungszone zurück ins Bürgerkriegsland Libyen. Gegenüber dem EU-Parlament erklärte Frontex am 4. März 2021, man habe noch nie direkt mit der libyschen Küstenwache kooperiert. Entdecke man ein Boot in Seenot, würden sofort alle nationalen Seenotleitstellen informiert, darunter auch jene in Libyen. Die zuständigen Seenotleitstellen seien dann für die Koordinierung der Rettung verantwortlich, nicht jedoch Frontex.

Laut Mateo de Bellis von Amnesty International spielt Frontex jedoch eine wichtige Rolle bei Rückführungen im zentralen Mittelmeer: "Frontex ist zum 'game changer' geworden. Ohne deren Informationen könnte die libysche Küstenwache niemals so viele Flüchtlinge abfangen." Allein in den ersten drei Monaten diesen Jahres habe die libysche Küstenwache mehr als 4500 Menschen abgefangen und zurückgebracht - mehr als doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Die Flüchtlinge, die zurückgeschleppt werden, landen dann oftmals in Gefängnissen, wo ihnen laut den Vereinten Nationen und der EU Folter, Misshandlungen und der Tod drohen. "Das Ziel ist es, die Flüchtlinge zu sichten, und die Libyer erledigen dann den dreckigen Job. Das heißt, sie bringen die Menschen zurück nach Libyen, was für die Europäer illegal wäre." Menschen nach Libyen zurückbringen zu lassen, sei mit dem Völkerrecht und den europarechtlichen Vorgaben zu Frontex unvereinbar. Es sei im Grunde Beihilfe zu schwersten Menschenrechtsverletzungen, so die Völkerrechtlerin Nora Markard von der Universität Münster.

Auf Anfrage erklärte die EU-Kommission, man sehe in der Übermittlung von Informationen über Boote in Seenot an die libysche Behörde keinen Verstoß gegen EU-Recht, da diese von der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation als zuständige Behörde anerkannt sei. Dass Frontex aber auch direkt mit der libyschen Küstenwache kommuniziert, belegen die Aussagen von fünf libyschen Küstenwächtern. Gegenüber dem Rechercheteam bestätigten sie, dass Frontex ihnen Koordinaten von Flüchtlingsbooten geschickt habe, die im zentralen Mittelmeer unterwegs waren. Dennoch setzt die EU weiter auf die Zusammenarbeit von Frontex mit der libyschen Küstenwache: In einem internen Bericht des Europäischen Auswärtigen Diensts wird die Arbeit der libyschen Küstenwache im zweiten Halbjahr 2020 bilanziert. Darin heißt es: "Die Effektivität der libyschen Küstenwache konnte gesteigert werden und exzellente Ergebnisse erzielen." [4]

Dabei verstößt Frontex gleich gegen mehrere Gesetze: Gegen das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (Artikel 98, Paragraf 1), in dem die Pflicht zur Hilfeleistung bei Seenot formuliert ist. Gegen europäisches Recht, dem zufolge "jeder, der vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden in seinem Herkunftsland flieht", das Recht hat, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Und gegen das Verbot von Kollektivausweisungen, wie es in der Grundrechtecharta der EU vermerkt ist. [5]


Frontex rüstet massiv auf

Vorgeworfen werden Frontex zudem Treffen mit Vertretern der Rüstungsindustrie, die aus mehreren Gründen problematisch sind. Zum ersten, weil das EU-Parlament mehrfach danach gefragt, aber Frontex geleugnet hatte, dass solche Treffen stattfinden. Zweitens hatten Frontex-Beamte zum Zeitpunkt der Treffen noch gar keine Befugnis, Waffen zu tragen. Und drittens stellt sich natürlich die Frage, ob eine EU-Grenzpolizei, die offensichtlich kaum kontrolliert wird, die Macht haben sollte, tödliche Waffen zu tragen.

Wie massiv die Grenzschutzagentur aufrüstet, zeigt insbesondere der Vertrag zur Beschaffung großer Drohnen, der 2019 ausgeschrieben wurde. Den rechtlichen Rahmen bildete die 2016 erneuerte Frontex-Verordnung, wonach die Agentur nach Beschluss des Exekutivdirektors eigene technische Ausrüstung erwerben oder leasen darf. Die Fahrzeuge, Schiffe, Luftfahrzeuge oder Überwachungsgeräte können anschließend laut Artikel 38 für gemeinsame Aktionen, Pilotprojekte oder Soforteinsätze zu Grenzsicherungszwecken eingesetzt werden. Den Zuschlag erhielt der deutsche Ableger des Rüstungskonzerns Airbus mit der Drohne Heron 1, die bereits vor zwei Jahren in einem Pilotprojekt auf Kreta für Frontex geflogen wurde.

Die Heron 1 wird vom israelischen Rüstungskonzern Israel Aerospace Industries (IAI) hergestellt und kann etwa 24 Stunden in der Luft bleiben. Nach Angaben der Bundeswehr beträgt die Einsatzreichweite rund 1.000 Kilometer, die typische Einsatzhöhe beträgt dabei rund 6.000 Meter. Zur Ausstattung gehören elektrooptische und Infrarot-Sensoren und ein Synthetic Aperture Radar (SAR) zur tageslichtunabhängigen Überwachung. Gewöhnlich verfügt die Drohne außerdem über einen Lasermarkierer, der für Frontex etwa verdächtige Boote für Kontrollen durch die Küstenwache beleuchten kann.

Airbus soll außerdem Bodenstationen für den Empfang der Aufklärungsdaten bereitstellen, darüber werden sie in Echtzeit ins Hauptquartier von Frontex nach Warschau übertragen. Der Vertrag umfasst außerdem ein Remote Information Portal, um die Informationen mit weiteren Küstenwachen zu teilen. Auf diese Weise können die Bilder auch Behörden in Nordafrika zur Verfügung gestellt werden. Die Heron 1 sollen offenbar in Malta stationiert werden und können in einem Radius von rund 500 Kilometern auch die Küsten von Tunesien, Libyen und Ägypten überfliegen. Die Drohnen ergänzen den bemannten Luftaufklärungsdienst, mit dem die Grenzagentur derzeit die Luftaufklärung für die libysche Küstenwache übernimmt. Zudem will Frontex für zwei Millionen Euro insgesamt 20 Quadrokopter für Einsatzorte an Land- und Seeaußengrenzen der EU beschaffen. Die Nutzlast der kleinen Geräte soll rund sieben Kilogramm betragen. [6]


Supranationale Dominanz der EU-Agentur

Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) mit Sitz in Warschau wurde 2004 gegründet und hat derzeit rund 1.000 Mitarbeitende, wovon etwa ein Viertel von den EU-Mitgliedsstaaten entsandt ist und nach der Dienstzeit ins Heimatland zurückkehrt. Frontex soll die Außengrenzen der EU schützen und zu diesem Zweck unter anderem die Grenzbereiche überwachen und die verschiedenen Grenzpolizeien sowie den Einsatz zusätzlicher Grenzschutzfachleute koordinieren. Außerdem sammelt Frontex Daten, zum Beispiel zur "illegalen" Migration oder zum Menschenhandel, und wertet diese aus. Um diese Aufgaben zu erfüllen, erhält die Agentur Geld von den EU-Staaten, in diesem Jahr beträgt das Budget rund 544 Millionen Euro. Noch wird vorwiegend im Team gearbeitet, da Frontex-Beamte, Entsandte aus den Mitgliedsländern und die Grenzpolizeien vor Ort zusammenwirken. Bis zum Jahr 2027 soll Frontex jedoch 10.000 eigene Beamte für Grenzschutz und Küstenwache haben, die dann auch über eigene Ausrüstung wie Uniformen, Waffen und Hubschrauber verfügen werden. Die EU hat das Budget fast jedes Jahr erhöht und plant von 2021 bis 2027 jährlich 1,3 Milliarden Euro dafür ein.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte 2016 auf dem Wiener Treffen als einflussreichste Protagonistin einer konsistenten EU-Politik erwirkt, dass einseitig verfügte nationale Grenzschließungen aufzuheben und durch deutlich ausgeweitete Kompetenzen der Grenzschutzagentur Frontex zu ersetzen seien. Deren Einsatz war bis dahin bei einigen EU-Staaten auf heftige Gegenwehr gestoßen, die darin eine Besatzungstruppe sahen, die unter Brüsseler Oberbefehl gegen die Interessen der betroffenen Staaten handeln könnte. Die hegemonialen Ambitionen der EU unter deutscher Führerschaft gründen jedoch nicht zuletzt auf offenen Binnengrenzen und einem einheitlichen Management an den Schengen-Außengrenzen. Frontex wurde in der Folge rasant ausgebaut, das Budget wuchs enorm.

Doch die finanzielle, materielle und personelle Aufstockung war nur eine Komponente erheblich wachsenden Einflusses. Nach der weitreichenden Reform musste die Zentrale in Warschau die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten nicht mehr um Zusammenarbeit bitten, sondern kann diese unter Androhung von Konsequenzen einfordern. Seither müssen die Mitgliedsstaaten ein festgelegtes Kontingent an Grenzschützern für die Agentur abstellen und sich einen sogenannten Stresstest ihrer Grenzen gefallen lassen. Dabei wird unter anderem geprüft, ob die Regierungen alle angeforderten Daten und Fakten zur Verfügung stellen können.


Wer kontrolliert Frontex?

Da nun angesichts wachsender Kritik die Frage aufgeworfen wird, wer Frontex eigentlich kontrolliert, wird deutlich, dass eine Kontrolle strukturell nur bedingt vorgesehen ist. Um supranationale Dominanz der EU-Agentur zu gewährleisten, wurden Eingriffsmöglichkeiten der Mitgliedsländer systematisch beschnitten. Parlamentarisch wird die Agentur nur durch das Europaparlament kontrolliert, das sich zunehmend von Leggeri in die Irre geführt fühlt. Deshalb wurde eine neue Prüfgruppe eingesetzt, die sich intensiver mit Frontex beschäftigen soll. Abgelöst werden kann Leggeri allerdings nur durch den Verwaltungsrat, in dem neben zwei Vertretern der EU-Kommission weitgehend unbekannte Vertreter der europäischen Grenzschutzbehörden und Innenministerien sitzen. Der Verwaltungsrat tagt fünfmal im Jahr, von den geheimen Sitzungen dringt kaum etwas nach außen. Das Gremium genehmigt den Haushaltsplan, der Direktor muss dem Verwaltungsrat gegenüber Rechenschaft ablegen. Außerdem kann ihn das EU-Parlament zur Befragung einladen, ohne dass er jedoch verpflichtet wäre, auch tatsächlich zu erscheinen. Im Verwaltungsrat eine Mehrheit für die Änderung der Grenzpolitik herbeizuführen, ist sehr schwierig, da jedes Land nur eine Stimme hat und der Vertreter jenes Landes, dem man beispielsweise Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen vorwirft, in dem Gremium selbst mitentscheidet. Man könnte also verkürzt, aber nicht unzutreffend bilanzieren, dass sich Frontex im wesentlichen selbst kontrolliert.

Dass das dem EU-Parlament mehrheitlich nicht gefällt, liegt angesichts der aktuellen Zuspitzung der Vorwurfslage gegen Frontex auf der Hand. Wegen der schleppenden Aufklärung wurden wiederholt Rücktrittsforderungen an die Adresse Leggeris laut, der Abschlussbericht einer deswegen eingesetzten Arbeitsgruppe kam zu keinem klaren Ergebnis. Der Bericht des Parlaments listet eine Reihe weiterer Mängel auf. So sei Frontex schon 2019 beauftragt worden, 40 Grundrechtsbeobachter einzustellen, was bislang nicht geschah. Darüber hinaus ermittle die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf zu Vorwürfen im Zusammenhang mit Mobbing und Belästigung, Fehlverhalten und Zurückweisungen von Migranten. Das schärfste Mittel des EU-Parlaments bliebe noch eine Budgetkürzung, und so stimmte eine breite Mehrheit der Abgeordneten dafür, die Entlastung für das zurückliegende Haushaltsjahr vorerst nicht zu erteilen. Auf diese Weise soll der Druck erhöht werden und die Agentur zwingen, bis zum Herbst für Aufklärung und Verbesserungen zu sorgen.

Frontex wurde erst 2019 durch eine neue Verordnung reformiert, doch die nachfolgenden Ereignisse erzwingen es geradezu, die Agentur als Ganzes schärfer unter die Lupe zu nehmen. Trotz der sich anhäufenden Beweise soll Leggeri in einer Dringlichkeitssitzung des Frontex-Management-Boards zu den vorgeworfenen Menschenrechtsverstößen im November 2020 sinngemäß gesagt haben: Wo es keine Berichte gibt, gibt es auch keine Rechtsverstöße. Zu diesem Zeitpunkt schien er sich der Rückendeckung von höchster Ebene völlig sicher zu sein, täuschte er doch Unkenntnis vor und stritt jegliche Vorwürfe entschieden ab, die er als frei erfundene Angriffe von NGOs, welche den Grenzschutz zu sabotieren trachteten, zu diffamieren versuchte. Schließlich war ihm bewusst, dass illegale Pushbacks ungehindert vor den Augen deutscher Marinebesatzungen erfolgten, die im Rahmen der Mission "Standing NATO Maritime Group 2" in der Ägäis patrouillieren. Die Besatzung der deutschen Fregatte "Berlin" wurde mehrfach Zeugin von Pushbacks, griff jedoch nicht ein.

Nicht lange darauf belegten Berichte die Beteiligung der Bundespolizei, die im Rahmen der Frontex-Mission in der Ägäis eingesetzt ist. Am 10. August 2020 hielt das Schiff "Uckermark" ein überfülltes Boot von Schutzsuchenden in griechischen Gewässern an. Doch anstatt sie aus Seenot zu retten und nach Griechenland zu bringen, wartete die deutschen Besatzung auf die griechische Küstenwache, die sich des Falls annahm. Die Schutzsuchenden wurden zwei Stunden später in türkischen Gewässern durch die dortige Küstenwache gerettet.


Kosmetik für eine verrufene Grenzagentur

In Reaktion auf die veröffentlichten Rechercheergebnisse zu Frontex fordert die Bundestagsfraktion der SPD eine tiefgreifende Reform der europäischen Grenzagentur und die Ablösung ihres Direktors Fabrice Leggeri. Dieser leite die Agentur seit 2015 und sei maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Rechte von Migranten und Flüchtlingen nicht genügend beachtet würden. Ein neuer Frontex-Direktor müsse verloren gegangenes Vertrauen wiedergewinnen. Zudem solle eines neues parlamentarisches Kontrollgremium geschaffen werden, das aus Mitgliedern nationaler Parlamente und Europaparlamentariern besteht. Dieses soll dem Frontex-Chef im Zweifelsfall auch das Vertrauen entziehen können. Der bestehende Verwaltungsrat sei intransparent und behindere die Kontrolle durch das Europaparlament, weshalb auch er reformiert werden sollte. Dazu müsse die Grundrechtebeauftragte der Agentur gestärkt und eine robuste und unabhängige Beobachtungsstelle für Grundrechte an den EU-Außengrenzen eingerichtet werden. Dass jeder Mitgliedstaat menschenrechtlich bedenkliche Vorfälle, die im eigenen Verantwortungsbereich liegen, selbst untersucht, reiche nicht aus, heißt es in dem SPD-Papier.

Wenngleich Frontex auf eine Weise konzipiert ist, welche die Grenzschutzagentur de facto unter eigene Kontrolle stellt und äußere Einflussmöglichkeiten weitgehend reduziert, ist nicht auszuschließen, dass wachsender Druck der Öffentlichkeit eine erneute Reform erwirkt. Die Menschenrechtsverletzungen von Frontex wurden in letzter Zeit so intensiv in den Medien thematisiert, dass die Agentur und ihr politisches Umfeld unter Zugzwang geraten. Soweit Leggeri unverfroren über die Stränge geschlagen hat, geschah dies in Ausgestaltung der Agentur und ihrer Führung mit der ihr von der EU zuerkannten weitreichenden Machtbefugnis und Intransparenz. Sofern er seines Amtes enthoben werden sollte, geschähe dies nicht zuletzt deshalb, weil unter seiner Ägide zuletzt offenkundig geworden ist, was bei der Konstruktion der Agentur vorgesehen war, doch gerade deswegen besser hinter den Kulissen belassen worden wäre.

Worum es beim Ruf nach einer weiteren Reform der Agentur geht, hebt der Forderungskatalog der SPD beispielhaft hervor. Leggeris Kopf müsse rollen, damit ein Nachfolger verloren gegangenes Vertrauen wiedergewinnen könne. Ein personeller Neuanfang samt gewissen einhegenden Gremien soll die Kritik zum Schweigen bringen und die Akzeptanz in der Öffentlichkeit aufpolieren. "Eine Agentur der Europäischen Union muss über alle Zweifel erhaben sein, was Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung von Menschenrechten angeht", warb der migrationspolitische Sprecher der SPD, Lars Castellucci, für die Fortsetzung des vorgeblichen Spagats. Grundsätzlich bekenne sich die SPD zu einem gemeinsamen Schutz der EU-Außengrenzen. Gerade deshalb aber brauche es eine funktionierende Grenzschutzagentur, die sich an die Werte und Gesetze der EU halte.

Der argumentative Salto rückwärts unter vollständiger Ausblendung fundamentaler Widersprüche im Kontext des EU-Grenzregimes soll offensichtlich der naheliegenden Forderung nach Abschaffung der Agentur Frontex den Boden entziehen, würde diese Stoßrichtung doch geradezu zwangsläufig dazu führen, die gesamte Flüchtlingspolitik der EU konsequent ins Visier zu nehmen.


Fußnoten:

[1] www.proasyl.de/news/beteiligung-von-frontex-und-deutschen-einsatzkraeften-an-pushbacks-muss-konsequenzen-haben/

[2] www.zeit.de/politik/ausland/2021-05/frontex-front-lex-seenotrettung-klage-push-back

[3] www.spiegel.de/ausland/frontex-skandal-spd-fordert-tiefgreifende-reform-der-grenzschutzagentur-a-6a951a12-9ac0-47cb-a5b2-72f

[4] www.tagesschau.de/investigativ/monitor/frontex-rueckfuehrungen-libyen-101.html

[5] www.galileo.tv/life/frontex-eu-agentur-kritik-aufgaben-kontrolle/

[6] www.netzpolitik.org/2021/erster-test-in-malta-frontex-drohnen-im-anflug/

1. Juni 2021


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