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HERRSCHAFT/1906: DGB - Meinungsfreiheit im Zweifelsfalle nicht ... (SB)



Zwei Autoren der elektronischen Tageszeitung Klasse gegen Klasse, die sich als Stimme der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO) versteht, wurden aus der Facebook-Gruppe DGB-GewerkschafterInnen geworfen, weil sie eine Auflistung mutmaßlich rassistisch motivierter Tötungen der deutschen Polizei gepostet und unter anderem zum Ausschluß der Gewerkschaft der Polizei (GdP) aus dem DGB aufgefordert hatten. Konkreter Anlaß zum Ausschluß aus der FB-Gruppe war offensichtlich ein Artikel, in dem unter dem Titel "Aufklärung aller Todesfälle! Ende der Straffreiheit bei der deutschen Polizei!" [1] 18 exemplarische Fälle von 1994 bis 2019 durch die Polizei umgebrachter Menschen nichtweißer Herkunft dokumentiert wurden. Zudem wurde auf die Angabe der Rechercheinitiative Death-in-Custody [2] verwiesen, die 159 Todesfälle von People of Colour in Polizeigewahrsam seit 1990 dokumentiert hat.

Des weiteren wurde daran erinnert, daß zwischen 1990 und 2017 in der Bundesrepublik fast 300 Personen durch die Polizei erschossen wurden, während von 1990 bis 2016 fast 3000 Menschen in Justizvollzugsanstalten zu Tode kamen, die meisten davon durch Suizid. Politisch dafür verantwortlich gemacht wurde der deutsche Staat, dem zudem durch Waffenlieferungen und Kampfeinsätze in aller Welt angeheizte Kriege sowie Zehntausende im Mittelmeer ertrunkener Flüchtender angelastet wurden. In einem zweiten, aus dem Englischen übertragenen Artikel der sozialistischen Zeitung Left Voice wurde unter dem Titel "Sozialistische Gesundheitsarbeiter*innen fordern: Polizei raus aus unseren Gewerkschaften und Krankenhäusern!" [3] dokumentiert, warum einige ArbeiterInnen im Gesundheitswesen der USA nicht mit der Polizei ihres Landes zusammenarbeiten und vor allem nicht mit ihnen gemeinsam gewerkschaftlich organisiert sein wollen.

Für sie sind die großen Polizeigewerkschaften des Landes, allen voran die Fraternal Order of Police (FOP) mit 340.000 Mitgliedern, ausführende Organe desjenigen Systems, das rassistische Gewalt in erster Linie hervorbringt. So setzt sich die FOP auch für die Aufrechterhaltung jener Immunitätsrechte der Polizei ein, die dafür verantwortlich sind, daß sich TäterInnen in Polizeiuniform weitgehender Straflosigkeit auch bei Tötungsdelikten sicher sein können. Der Widerspruch zwischen repressiver Staatsgewalt, mit der die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung kapitalistischer Gesellschaften durchgesetzt wird, und häufig nichtweißer GesundheitsarbeiterInnen, die sich meist für geringe Entlohnung im medizinischen Reparaturbetrieb dieses auch ganz physisch verschleißintensiven Systems verdingen, ist während des im Ausnahmezustand der Coronapandemie losgebrochenen antirassistischen und antikapitalistischen Aufstandes in den USA besonders deutlich hervorgetreten.

Wer in dieser Auseinandersetzung Position gegen die bewaffneten Kräfte des Staates bezieht und dies auf einer von über 7000 GewerkschafterInnen besuchten Plattform tut, sollte in Anbetracht dessen, daß die organisierte Arbeiterschaft zumindest historisch in einem antagonistischen Verhältnis zum Kapital steht, beanspruchen können, dies als Beitrag zum offenen Diskurs tun zu können, ohne zensiert zu werden. Gleiches gilt für Kritik am sozialpartnerschaftlichen Kurs des DGB und des vom Deutschen Gewerkschaftsbund mitgetragenen Burgfriedens, der unter anderem zur Folge hat, daß in deutschen Rüstungsfabriken Kriegsgüter hergestellt werden, die etwa beim militärischen Übergriff der Türkei auf den Nordirak und der Bombardierung kurdischer Flüchtlingslager zum Einsatz kommen können.

Wer streitbare linke Wortmeldungen unterdrückt, anstatt die durch sie angegriffene Position inhaltlich zu verteidigen, gibt Anlaß zu dem Verdacht, nicht über genügend triftige Argumente zu verfügen. Was in einer öffentlichen Versammlung nur unter Anwesenheit zahlreicher ZeugInnen möglich wäre, erfolgt in FB-Gruppen und vergleichbaren Plattformen auf anderen sozialen Netzwerken fast geräuschlos. Die undemokratischen Strukturen dieser Diskussionsforen, in denen gerade auch während der Coronapandemie ein Großteil des verbliebenen demokratischen Diskurses stattfindet, leisten einem Konsensmanagement Vorschub, das nicht besser dazu geeignet sein könnte, gesellschaftliche Widersprüche und soziale Konflikte zugunsten herrschender Verhältnisse zu verdecken. Wo selbstherrlich agierende ModeratorInnen mißliebige Postings unter willkürlicher Auslegung der Forenregeln unterdrücken und sogar Gruppenmitglieder ausschließen, wird auch der bloße Schein eines demokratischen Diskurses obsolet.

Vorfälle wie diese zeigen, in welche Falle eine Linke zu gehen droht, die meint, den politischen Kampf von der Straße und aus den Betrieben in die virtuelle Welt informationstechnischer Systeme verlagern zu können, ohne dabei wirksam in ihren Absichten neutralisiert zu werden. Die transnationalen Akteure des IT-Business verfügen nicht nur über die Auswahl dessen, was in den von ihnen administrierten Netzwerken an Informationen und Diskussionen sichtbar gemacht wird oder unsichtbar bleibt, sie können die dabei akkumulierten Daten auch staatlichen Organen überlassen, die Menschen, wie nicht nur in der Türkei oder China üblich, für das Gutheißen und Verbreiten staatskritischer Ansichten in den Knast werfen können. Es liegt ganz bei ihnen, im eigenen Interesse am Bestand der sie begünstigenden kapitalistischen Staats- und Gesellschaftsordnung für die maximale Zerstreuung und Befriedung sozialen Widerstandes zu sorgen.

Doch auch staatliche Akteure haben großes Interesse daran, soziale Netzwerke unter Kontrolle zu bringen, so etwa in Form von Löschanweisungen, die den Einfluß mit ihnen konkurrierender Regierungen begrenzen [5]. Zugleich werden Praktiken normativer Gesinnungskontrolle entwickelt, die unter dem Neutralität suggerierenden Anspruch, den Wahrheitsgehalt von Texten und audiovisuellem Content mithilfe sogenannter Faktenchecks zu überprüfen, Formen ideologischer Stigmatisierung produzieren können. Angesichts dessen, daß diverse SozialwissenschaftlerInnen antikapitalistische Fundamentalkritik unter der Kategorie der Verschwörungstheorie oder des Verschwörungsmythos subsumieren, bleibt auch die radikale Linke nicht von derartigen Ausgrenzungsstrategien verschont.

Das steht nur scheinbar im Widerspruch dazu, daß die Initialzündung des Aufstandes in den USA durch die schnelle Verbreitung des Videos vom Lynchmord an George Floyd über soziale Netzwerke erfolgte. Diese von Produktwerbung, gesponsorten Beiträgen und der kommerziellen Verwertung der Daten der NutzerInnen finanzierten Plattformen sind keine neutralen Anbieter von Kommunikationsdienstleistungen, sondern Surrogate aller menschlichen Begegnung und physischen Aktion, die sich nicht den Kontrollroutinen und Interventionen panoptischer IT-Observanz unterwerfen lassen. Bedeutsame revolutionäre Entwicklungen der bekannten Geschichte bedurften weder Facebooks noch Twitters, sie resultierten aus akuten Widerspruchslagen und entwickelten sich im direkten Kontakt davon betroffener Menschen so organisch, wie ein Brand entfacht wird, wenn die dazu erforderlichen Bedingungen eine bestimmte Temperatur erreicht haben. Verfügte das Mitte der 1990er Jahre als basisdemokratische Verheißung gefeierte Internet auch nur annähernd über die ihm angedichtete transformatorische Qualität, dann ständen die Menschen heute nicht mehr vor Problemen, deren Überwindung seit Jahrzehnten verschleppt wird und deren bedrohliche Qualität währenddessen nicht etwa ab-, sondern zugenommen hat.


Fußnoten:

[1] https://www.klassegegenklasse.org/aufklaerung-aller-todesfaelle-ende-der-straffreiheit-bei-der-deutschen-polizei/?fbclid=IwAR2CCbqK7KmckyQxXpIXGXpXM9TOzQloYqQhjOdTfMzp5mcrDwGCO9hBQsg

[2] https://deathincustody.noblogs.org/recherche/

[3] https://www.klassegegenklasse.org/sozialistische-gesundheitsarbeiterinnen-fordern-polizei-raus-aus-unseren-gewerkschaften-und-krankenhaeusern/?fbclid=IwAR2d267VeatsvnMdeg54htv6RFCSg_cZroOQVFM204VhlJpsmVki9_ud5bc

[4] https://www.facebook.com/KlasseGegenKlasse/posts/10157103795626771?__tn__=K-R

[5] https://www.jungewelt.de/artikel/380210.digitaler-feldzug.html

16. Juni 2020


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