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KULTUR/235: Aufführung "Der Zauberberg" - Schwindet vertraute Zeit auch im Gesundheitswesen? (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2021

Schwindet vertraute Zeit auch im Gesundheitswesen?

von Horst Kreussler


AUFFÜHRUNG. "Der Zauberberg" wurde zehn Mal für zehn Zuschauer als mahnendes Stück in Geesthacht aufgeführt - mit ganz besonderen szenischen Darstellungen nach Thomas Manns Romanvorlage. Der alljährliche "Kultursommer am Kanal" im Kreis Herzogtum Lauenburg hatte seinen Schlusspunkt am 11. Juli auf dem historischen Sanatoriengelände Edmundsthal-Siemerswalde am hohen Elbufer.


Es ging Regisseurin Karina Häßlein und Intendant Frank Düwel auch um Parallelen von damals zu heute: eine um sich greifende Lungenkrankheit (Schwindsucht versus COVID-19), eine Art "Stillstand der Zeit" damals und eine lähmende Ereignislosigkeit 2020; viele Worte, aber zu wenig abgewogene hilfreiche Maßnahmen, insgesamt eine "schwindende", untergehende Epoche vor dem Ersten Weltkrieg - heute eine Zeitenwende?

Vor der Kulisse des längst geschlossenen und teils zugewachsenen Lungen-Sanatoriums "Thekla-Haus" von 1899 wurden die Zuschauer durch das Gelände mit drei Plätzen für gemeinsame "Liege-Kuren" und weiteren Szenen auf dem Weg geführt. Die Liegekuren sollten - so die Regisseurin - die Zuschauer einladen, den gedankenreichen Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen selbst zu erleben und sich in Zeitlosigkeit zu verlieren. Dabei zogen romantische Pianoklänge in ihren Bann: eine meditative Musik, die im Laufe des Rundgangs passend zur Verstrickung des Romanhelden Hans Castorp immer moderner und brüchiger wurde und am Ende verstörend im Geschützdonner des beginnenden Krieges endete. Auch eine Anspielung auf die einst größte Sprengstoff- und Munitionsfabrikation der Welt (Alfred Nobel) wenige Meter entfernt?

Zu Beginn lernen wir den jungen Schiffbauingenieur Hans Castorp aus Hamburg kennen, der bei Thomas Mann seinen kranken Vetter Joachim Ziemßen im abgeschiedenen Gebirgssanatorium besuchen will, jedoch durch die beeindruckenden Mitpatienten und die magische Atmosphäre so gefesselt wird, dass er das Zeitgefühl verliert und sieben Jahre auf dem "Zauberberg" bleibt. Seine "Lehrmeister" werden Ludovico Settembrini, der rational bestechende Philosoph, und sein Gegenspieler Dr. Leo Naphta, ehemaliger Jesuit und späterer Kommunist. In Geesthacht hangelt sich Hans zwar immer wieder an einem der roten/Roten Fäden entlang, an dem Fieberthermometer hängen, die wichtigsten Instrumente für jeden Patienten. Doch schon bald verheddert er sich in den Fäden wie in einem Spinnennetz - Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen. Dazu und zur Paradoxie des Zeitempfindens bei äußerster Langeweile eine Stimme aus dem Off über Kopfhörer: "...große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen: wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein." ("Der Zauberberg", S. 146)

Auf dem Weg zur nächsten "Liegekur" führt Hans die Gruppe rasch im Gänsemarsch durch den Wald, immer wieder "Fragen über Fragen" rufend wie zum Beispiel "Ist das Leben Krankheit?" und, sich dem "Skigebiet" nähernd: "Führt diese Piste ins Verderben?" Nicht gezeigt, aber angedeutet wird, dass Hans sich im Schneesturm in eine Hütte retten kann. Dort im Fiebertraum stemmt er sich seinen tiefen Ängsten auf dem "Zauberberg" entgegen: "Ich will gut sein. Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken! Denn darin besteht die Güte und die Menschenliebe, und in nichts anderem!" (S. 679, gilt als Kernstelle des Romans) Auf dem Weg zur 3. Liegekur, Hans besorgt mit der Hand an seinem "Roten Faden": "Was ist, wenn der Faden reißt?" Das geschieht dann tatsächlich, allerdings im rhetorischen Duell der beiden Lehrmeister Settembrini (mit erhobenem Buch) und Naphta (mit erhobenem Kruzifix), als dieser den Faden mit einer Schere durchschneidet. Hans verliert zwar nicht sein Leben wie sein Vetter Joachim und andere, doch er verstrickt sich mehr und mehr in "hochphilosophischen Gedankenknäueln" und wird handlungsunfähig - und dies in einer höchst politischen Zeit. Dem überwiegend jungen Team der "norden theaterproduktion" und der Hochschule für Musik und Theater Hamburg gelang mit der Umsetzung von Weltliteratur in die südholsteinische Provinz ein schöner Erfolg. Drei Akteure bestanden ihre Abschlussarbeiten "mit Bravour" (Intendant Düwel). Könnte es für andere Akteure im Gesundheitswesen Anregung und Mahnung sein zum Überdenken ihrer Grundhaltung zu Krankheit, Gesundheit, Leben und Tod - und Menschlichkeit?


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Info

Heute gibt es auf dem historischen Gelände am Rand von Geesthacht zwei getrennte Rehakliniken. Im oberen Teil mit Elbblick die Gebäude der Johanniter-Klinik für Geriatrie mit 67 Betten und 26 Tagesklinikplätzen. Außerdem im schönen alten "Susannenhaus" (früher um 100 Betten) die Vamed Klinik Geesthacht, Neurologische Reha für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Die Vorgängereinrichtungen beider Kliniken waren lange zusammen unter dem Dach der "Stiftung Hamburgisches Krankenhaus Edmundsthal-Siemerswalde" und hatten um die Jahrtausendwende Existenzsorgen nicht zuletzt wegen ihrer Position sozusagen zwischen den Krankenhausplänen von Hamburg und Schleswig-Holstein.
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2021
74. Jahrgang, Seite 41
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 26. Oktober 2021

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