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SUCHT/717: Die substitutionsgestützte Behandlung Opioidabhängiger - anspruchsvoll, bereichernd und befriedigend (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 11, November 2021

Anspruchsvoll, bereichernd und befriedigend

von Hans-Georg Hoffmann, Kiel


SUBSTITUTION. Die substitutionsgestützte Behandlung Opioidabhängiger ist geprägt vom Engagement der Ärzte. Hans-Georg Hoffmann aus Kiel ist einer von ihnen. Hoffmann beschreibt in einem Rückblick Fortschritte und Rückschläge und den Einfluss gesetzlicher Maßnahmen und zieht ein persönliches Fazit.


Bis Ende der 80er Jahre war der Königsweg in der Behandlung der Opioidabhängigkeit in der Bundesrepublik wie bei allen anderen Suchterkrankungen die stationäre Abstinenztherapie mit vorgeschalteter Motivationsprüfung und Nachsorge. Sowohl die Ärzteschaft als auch die Drogenhilfe waren strikt gegen die substitutionsgestützte Behandlung mit Methadon, obwohl es durchaus positive Berichte der beiden New Yorker Psychiater Dole und Nyswander gab, die bereits 1964 opioidabhängige Patienten mit Methadon behandelten.

Einem Arzt, der in der BRD Opioidabhängigen Methadon verschrieben hätte, welches dem Betäubungsmittel(BTM)gesetz unterstellt war, drohte der Entzug der Approbation. Einige Ärzte nutzten eine Gesetzeslücke und verschrieben Opioidabhängigen Codein und Dihydocodein, allerdings in großen Mengen. Die Krankenkassen weigerten sich in der Regel, die Kosten zu übernehmen. Ein Kieler Allgemeinmediziner wurde mit zahlreichen Regressprozessen überzogen. Auch die stark ansteigende Zahl der Drogentoten, eine deutlich sichtbare Drogenszene in deutschen Großstädten und zunehmende Beschaffungskriminalität führten zunächst nicht zu einem Umdenken. Die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern eines Methadonprogramms nahm an Schärfe zu. Erst die rasante Ausbreitung der Infektionen mit dem HI-Virus, das im Endstadium zur Immunschwächekrankheit AIDS führt, führte in den 80er Jahren zu einem gewissen Umdenken. Der intravenöse Konsum von Drogen wurde neben Sexualkontakten als wesentliches Übertragungsrisiko erkannt. Mitte der 80er Jahre wurde in Nordrhein-Westfalen ein wissenschaftliches Methadonprogramm installiert, kurz darauf auch in Hamburg, Bremen und Berlin. Die Erfolge wurden zunächst als negativ bewertet, weil dauerhafte Abstinenz nur sehr selten erreicht werden konnte. 1987 beschloss die Gesundheitsministerkonferenz, dass die Verordnung von Methadon an AIDS-kranke Drogenabhängige unter strenger ärztlicher Kontrolle zulässig sei. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) stimmte einer Finanzierung zu, und die Kassenärztliche Bundesvereinigung entwickelte die NUB-Richtlinien (Richtlinien über neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden.) 1992 wurde das BTM-Recht revidiert. Bis 2002 akzeptierten die Kassen die Heroinabhängigkeit nicht als alleinige Indikation, sondern es musste zusätzlich eine weitere schwere chronische Erkrankung vorliegen wie AIDS, Hepatitis C oder eine Schwangerschaft. Dies führte dazu, dass viele Drogenabhängige eine Infektion mit Hepatitis C bewusst riskierten, da das Hepatitis C-Virus ein weniger gefährliches Image hatte als das HI-Virus, um so an die begehrten Plätze eines Substitutionsprogramms zu kommen. In den 90er Jahren substituierten vorwiegend sozialpsychiatrisch engagierte, niedergelassene Allgemeinmediziner, z. T. in Schwerpunktpraxen. Psychiater beteiligten sich nur selten, und wenn, in Ambulanzen oder Kliniken, obwohl Sucht - auch die Drogensucht - eine psychiatrische Erkrankung ist (ICD 10: F11.2).

Heute stellt sich die Situation so dar: Die Substituierten werden immer älter, mit zunehmender somatischer und psychiatrischer Komorbidität. Neben dem illegalen Heroin spielen legale Opioide wie Oxycodon, Tramadolol, Tilidin und Fentanyl eine zunehmende Rolle, auch auf dem Schwarzmarkt gehandelte Substitute. Dies gilt insbesondere in Regionen, in denen der nächste substituierende Arzt schwer zu erreichen ist und eine begrenzte Aufnahmekapazität hat. Auch die substituierenden Ärzte werden älter, das Durchschnittsalter liegt aktuell bei 58,5 Jahren. Sie finden oft keinen Nachfolger, der die Substitution fortführen will.

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Zu den Zielen der substitutionsgestützten Behandlung zählen: die Sicherstellung des Überlebens, die Stabilisierung und Besserung des Gesundheitszustandes, die Unterstützung der Behandlung somatischer und psychischer Begleiterkrankungen, die Reduktion riskanter Applikationsformen von Opioiden, die Reduktion des Konsums unerlaubt erworbener oder erlangter Opioide, die Reduktion des Gebrauchs weiterer Suchtmittel, die Abstinenz von unerlaubt erworbenen oder erlangten Opioiden, die Verringerung der durch die Opioidabhängigkeit bedingten Risiken während einer Schwangerschaft sowie während und nach der Geburt, die Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, die Reduktion der Straffälligkeit und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und am Arbeitsleben. Ob und in welchem Zeitrahmen diese Ziele auch jeweils einzeln erreicht werden können, hängt wesentlich von der individuellen Situation des Opioidabhängigen ab. Die aufgeführten Ziele sind nicht konsekutiv zu verstehen.
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Derzeit befinden sich 81.300 Menschen in der BRD in einer substitutionsgestützten Behandlung, bei geschätzten 166.000 Opioidabhängigen. 2020 wurden in Schleswig-Holstein 3.434 Patienten von 119 Ärzten substituiert. An der regelmäßig stattfindenden Fortbildung "Suchtmedizinische Grundversorgung" der Ärztekammer Schleswig-Holstein nehmen ca. 25 - 30 Ärzte teil. Diese Fortbildung ist u. a. Voraussetzung dafür, substituieren zu dürfen. Von den Teilnehmern kommen die wenigsten aus Schleswig-Holstein. Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv, zur Substitution entschließen sich jedoch nur sehr wenige. Folgende Bedenken der Ärzte sind die Gründe:

• Die Notwendigkeit, anwesend sein zu müssen,

• Schwierigkeiten, im Urlaubs- oder Krankheitsfall, Vertretungen zu finden,

• Respekt vor den vielen Gesetzen und Richtlinien,

• Angst vor Regress und Strafverfolgung.

Diese Fälle gingen mehrfach durch die Presse. Ärzten wurde zum Vorwurf gemacht, nicht energisch genug das bis 2002 obligatorische Behandlungsziel der Abstinenz verfolgt zu haben, und sogenannten Beikonsum toleriert zu haben. Allgemeinmediziner beklagen, dass es wenig Möglichkeiten zur Kooperation mit niedergelassenen Psychiatern gibt, die sich an der Behandlung der psychiatrischen Komorbidität beteiligen. Immer weniger Apotheken sind bereit zur Vergabe der Substitute in Apotheken. Auch die nächste Suchtberatung, v. a. auf dem Lande, mit der man kooperieren könnte, liegt oft nicht um die Ecke. Die 2013 abgeschlossene Premos Studie der TU Dresden zeigt beeindruckend, dass die Substitution Opiodabhängiger effektiv ist und überwiegend die primären Ziele erreicht: 7 Jahres-Haltequote 70 %, mit 1 % niedriges Mortalitätsrisiko, deutliche Verringerung des Schweregrads der Abhängigkeit, Reduktion des kritischen Beigebrauchs auf 10 %, die somatische Komorbidität wird stabilisiert, die chronische Hepatitis sogar gebessert. Die psychiatrische Komorbidität bleibt allerdings weitgehend unverändert. Die substituierenden Ärzte geben an, dass bei 70 % der Patienten die individuell gesetzten Therapieziele erreicht werden. In der Präambel der Richtlinien der Bundesärztekammer wird 2002 noch formuliert: "Das alleinige Auswechseln des Opiats durch ein Substitut stellt keine geeignete Behandlungsmethode dar und ist von der Leistungspflicht nicht erfasst. Oberstes Ziel ist die Suchtmittelfreiheit." 2017 werden sowohl die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung als auch die Richtlinien der Bundesärztekammer dem aktuellen Stand der Wissenschaft angepasst. Die Präambel der BÄK lautet jetzt so: "Die Opioidabhängigkeit ist eine schwere chronische Krankheit. Sie bedarf in der Regel einer lebenslangen Behandlung, bei der körperliche, psychische und soziale Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen sind." Die substitutionsgestützte Behandlung ist eine wissenschaftlich gut evaluierte Therapieform und stellt für die Mehrheit der Patienten die Therapie der Wahl dar. Tim Pfeiffer-Gerschel, Leiter der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, formulierte 2011 den heute noch gültigen Satz: "Die medikamentengestützte Substitution in Kombination mit psychosozialer Betreuung gilt unbestritten als die wirksamste Option für die Behandlung von Opiatabhängigen."

Eine persönliche Bilanz: Von 2004 bis 2019 war ich als Psychiater in der zu Beginn "Drogenambulanz Schleswig-Holstein", zuletzt "DIAKO Fachambulanz-Kiel" genannten Einrichtung tätig. Fachkollegen äußerten ihre Verwunderung, dass ich eine leitende Funktion in einer der ersten Tageskliniken in Schleswig-Holstein gegen eine Tätigkeit in der Drogenmedizin eintauschte. Weder im Studium noch in der Facharztweiterbildung noch in Tätigkeiten in Klinik und Tagesklinik hatte ich mit Drogenabhängigen zu tun, zumindest nicht wissentlich. Nicht selten wurde eine Aufnahme abgelehnt, wenn die Drogenproblematik bekannt wurde. Privat hat mich das Thema allerdings interessiert. Ich habe in der zweiten Hälfte der 70er Jahre in Berlin studiert, mit einer deutlich sichtbaren Drogenszene und der ersten stationären Therapieeinrichtung für Drogenabhängige. Nach dem Abitur hatte ich viele Länder im mittleren und fernen Osten bereist, in denen der Konsum von Drogen, v. a. von Cannabis, zur Kultur gehörte wie bei uns der Konsum von Alkohol, aber mit deutlich weniger sozialen und psychiatrischen Problemen. Schon am ersten Tag meiner neuen Tätigkeit war ich vom hohen Anteil somatischer und psychiatrischer Komorbidität überrascht und von der hohen Zahl der Kinder unserer Patienten. Positiv überrascht war ich von der Freundlichkeit und Höflichkeit der allermeisten Patienten. Allerdings wurde wohl auch in den ersten Wochen getestet, wo meine Grenzen waren, z. B. in der Gewährung sogenannten Take-Home-Rezepte. Der Einstieg in die neue Tätigkeit wurde mir wesentlich erleichtert durch ein Team aus Arzthelferinnen, Sozialarbeitern und einem Psychologen mit langjähriger Erfahrung in diesem Bereich. Kollegen, die sich neu für diese Tätigkeit entscheiden und die nicht auf ein erfahrenes Team zurückgreifen können, sollten vor Beginn bei einem erfahrenen Kollegen hospitieren und sich einem Qualitätszirkel anschließen. Wichtig ist auch ein Netz mit Kollegen verschiedener Fachrichtungen, Hepatologen, Dermatologen u. a., die diese Patienten vorurteilsfrei annehmen. Entscheidend für den Erfolg der Behandlung ist eine vertrauensvolle, akzeptierende Beziehung. Dies fängt schon mit dem Aufnahmegespräch an, in dem der um Unterstützung bittende Mensch nicht auf sein Suchtproblem reduziert wird, sondern in dem man sich als Behandler für die ganze Person, sein ganzes Leben, seine Herkunft, die Stationen seines Lebens interessiert. Dies nimmt vor allem Ausländern Ängste. Therapieziele sollte man mit den Menschen individuell vereinbaren. Bei Rückfällen sollte man nicht strafend und moralisierend reagieren, schon gar nicht die Behandlung abrupt beenden, sondern den Patienten durch Krisen begleiten. Tödliche Überdosierungen sind nicht selten die Folge, auch wenn Ämter oder Gerichte zur Abstinenz drängen. Kritische Situationen wie Beschimpfungen und aggressives Verhalten sind selten und oft durch Entzug zu erklären, wenn der Patient die Vergabe verpasst hat oder ihm das Substitut verweigert wird, weil er etwas Alkohol in der Atemluft hat. Die meisten Patienten haben hochempfindliche Antennen gegenüber Stigmatisierung, die sie schon oft erlebt haben. Die Novellierungen der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung § 5 und der Richtlinien der Bundesärztekammer haben dem wissenschaftlichen Stand Rechnung getragen und die rechtlichen Hürden wesentlich entschärft, z. B. durch Erhöhung der Dauer eines Take-Home-Rezeptes auf bis zu 30 Tage, wenn der bisherige Verlauf es ermöglicht. Das gilt z. B. für Berufstätige auf Montage oder in der Seefahrt oder Fischerei; auch besteht die Möglichkeit der Vergabe in Pflegeheimen und in Drogenberatungsstellen oder die Möglichkeit der Erhöhung der Substitution im Konsiliarverfahren.

Ich habe die Substitution als eine anspruchsvolle, aber sehr befriedigende, bereichernde Tätigkeit erlebt. Es gibt nicht viele medizinisch-psychiatrische Tätigkeiten, in denen Patienten über Jahre begleitet werden können, ohne durch Fallpauschalen oder Verweildauern begrenzt zu werden. Ich bin 14 Jahre jeden Tag gerne zur Arbeit gegangen und hätte diese Tätigkeit gerne fortgesetzt, wenn Alter und Gesundheit mir nicht Grenzen gesetzt hätten.

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Für eine substitutionsgestützte Behandlung qualifizieren sich Ärzte mit dem Erwerb der Zusatz-Weiterbildung "Suchtmedizinische Grundversorgung." Die Inhalte der Zusatz-Weiterbildung Suchtmedizinische Grundversorgung sind integraler Bestandteil der Weiterbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder Psychiatrie und Psychotherapie. Erfüllt ein Arzt nicht die Mindestanforderungen an eine suchtmedizinische Qualifikation, muss er sich zu Beginn der Behandlung mit einem suchtmedizinisch qualifizierten Arzt abstimmen sowie sicherstellen, dass sich sein Patient zu Beginn der Behandlung und mindestens ein Mal in jedem Quartal bei dem suchtmedizinisch qualifizierten Arzt im Rahmen einer Konsiliarbehandlung vorstellt (Begrenzung auf 10 Substitutionspatienten).
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Rechtliche Grundlage für die Substitution sind u. a. das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) und die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV), die die Grundlage für die Verschreibung und Abgabe von Betäubungsmitteln regelt, insbesondere der § 5 Substitution, Verschreiben von Substitutionsmitteln. Im Jahr 2017 wurde diese umfassend novelliert, um mehr Rechtssicherheit für substituierende Ärztinnen und Ärzte zu schaffen. Der Bundesärztekammer wurden darin weitreichende Kompetenzen zur Ausgestaltung des Behandlungsrahmens auf Grundlage des medizinisch-wissenschaftlichem Erkenntnisstandes übertragen. Sachverhalte, die unmittelbar ärztlich-therapeutische Bewertungen betreffen, wurden aus § 5 des BtMVV in die "Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger" übertragen. Hinsichtlich des in der Vergangenheit geforderten Therapieziels der Abstinenz heißt es in § 5 Absatz 2 BtMVV: "Im Rahmen der ärztlichen Therapie soll eine Opioidabstinenz des Patienten angestrebt" werden.
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 11, November 2021
74. Jahrgang, Seite 10-12
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 7. Dezember 2021

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