Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2021
Mensch und Tier unter der Lupe
von Uwe Groenewold
STUDIE. Seit 1997 werden Erwachsene aus Vorpommern in der Langzeitstudie SHIP (Study of Health in Pomerania) regelmäßig medizinisch und zahnmedizinisch untersucht. Der Erkenntnisgewinn ist groß, die Ergebnisse werden immer differenzierter. Jetzt werden sogar die Haustiere der Probanden in die Analyse einbezogen.
"Zahnfleischschwund fördert Demenzrisiko" lautet die jüngste
Schlagzeile, die an SHIP beteiligte Wissenschaftler Anfang Juni
produzierten. In einer im Journal Alzheimer's & Dementia
veröffentlichten Studie (DOI: 10.1002/alz.12378) konnten sie einen
Zusammenhang von entzündlicher Parodontitis und beginnender
Alzheimer-Erkrankung nachweisen. Dabei verglichen sie 177 parodontal
behandelte und 409 unbehandelte Patienten. Als Indikator für eine
beginnende Demenz wurden während der Studie erhobene MRT-Daten
verwendet, die mit MRT-Bildern der amerikanischen Alzheimer's Diesease
Neuroimaging-Initiative abgeglichen wurden. Appell der Studienautoren:
Prävention und rechtzeitig Behandlung von Parodontose, von der
Schätzungen zufolge allein in Deutschland 11,5 Millionen Menschen
betroffen sind, um Zahnverlust und schwerwiegende Folgen wie
Demenzerkrankungen oder andere Einschränkungen des Wohlbefindens zu
vermeiden.
Um den Zusammenhang zwischen Risikofaktoren und Krankheiten besser zu verstehen, werden die Menschen in Vorpommern seit mehr als 20 Jahren regelmäßig befragt und untersucht. SHIP ist damit so etwas wie die deutsche Antwort auf die Framingham Heart Study, die zeitlich am längsten dauernde Untersuchung überhaupt. 1948 wurden die mehr als 5.000 Bewohner der Kleinstadt in Massachusetts, USA, erstmals befragt und untersucht, um Ursachen und Risiken von koronarer Herzkrankheit und Arteriosklerose auf die Spur zu kommen. Diese systematische Untersuchung wurde in der Folge vielfach wiederholt und befindet sich inzwischen in der dritten Generation. Mehr als 3.000 wissenschaftliche Publikationen stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Framingham-Studie. Die gewonnenen Erkenntnisse - erhöhter Blutdruck, zu hohe Cholesterin- und Glukosespiegel, Übergewicht, Bewegungsmangel und Zigarettenrauchen erhöhen das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen - sind längst Grundlage aller Präventionsbemühungen weltweit.
Die Studie in Vorpommern steht der Framingham-Studie in nichts nach. Ganz im Gegenteil, hat sie sich eigenen Angaben zufolge doch über die Jahre zur Studie mit dem "weltweit umfangreichsten Untersuchungsprogramm in einer Bevölkerung" entwickelt. Die Studienergebnisse haben "viele grundlegende und komplexe medizinische Zusammenhänge aufgedeckt"; etwa, dass Zahnfleischschwund das Herzinfarktrisiko erhöht, eine Leberverfettung das Diabetesrisiko fördert und eine Schilddrüsenfehlfunktion das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen erhöhen kann. Im Mai starteten nun Befragung und Untersuchung der dritten Bevölkerungsgruppe mit 4.000 zufällig ausgewählte Probanden aus den Kreisen Vorpommern-Rügen und Vorpommern-Greifswald. Die erste Gruppe von 1997, initial über 4.300 Teilnehmer, wurde in der Folge bislang vier Mal erneut untersucht, die zweite, 2008 gebildete Gruppe mit über 4.400 anderen Teilnehmern wurde zwei Mal untersucht und befragt.
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Info
Die Bedeutung der Langzeituntersuchung ist in den vergangenen Jahren
stetig gewachsen. An der Uni Greifswald ist die Abteilung
SHIP/Klinisch-Epidemiologische Forschung mit 88 Mitarbeitenden die
größte Forschungseinheit, nahezu alle Institute und Kliniken der
Universität sind in das Projekt eingebunden. Dazu gibt es zahlreiche
nationale und internationale Kooperationen, in Schleswig-Holstein zum
Beispiel mit Depressionsforschern und Epidemiologen am UKSH-Campus in
Kiel. In Brasilien und Polen laufen seit Jahren ähnlich angelegte
Schwesternstudien mit 3.000 und 5.000 Teilnehmern und in Mecklenburg
haben sich rund um SHIP weitere Schwerpunktprojekte für die
Bevölkerungsforschung entwickelt.
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Ausgangspunkt der Studie war die Wiedervereinigung Deutschlands, besser gesagt die in der Folge rasch festgestellten Unterschiede in der Lebenserwartung: Westdeutsche lebten länger als Ostdeutsche, und die im Nordosten beheimateten Menschen noch einmal kürzer als Thüringer oder Sachsen. "Vor diesem Hintergrund wurde Mitte der 1990er Jahre der Forschungsschwerpunkt Bevölkerungsmedizin an der Universität Greifswald aufgebaut", erläutert SHIP-Studienleiter Prof. Henry Völzke. In dem Projekt wollten die Wissenschaftler anfangs untersuchen, ob ein besonders ausgeprägtes Risikofaktorenprofil die hohe Mortalität im Nordosten erklären kann. In der Tat, die erste Erhebung Ende der Neunziger wies für Adipositas, metabolisches Syndrom, Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie und Gallensteinleiden teils alarmierende bundesweite Spitzenwerte nach. Gesellschaftliche Veränderungen, eine verbesserte sozioökonomische Situation und eine bessere medizinische Versorgungsstruktur führten in den Folgejahren jedoch zu einer Angleichung an gesamtdeutsche Zahlen, so das Ergebnis einer Untersuchung (DOI: 10.3238/arztebl.2015.0185). Alkoholkonsum und Tabakrauchen waren deutlich rückläufig, körperliche Aktivität nahm bei den über 40-Jährigen zu, die Adipositas- und Diabetesprävalenz allerdings auch - ein weltweiter Trend. Die Erwachsenenbevölkerung Nordostdeutschlands sei nicht mehr als besondere Risikopopulation anzusehen, bilanzierte das Team um Völzke im Jahr 2015, verhaltensbezogene Gesundheitsrisiken und Lebenserwartung hätten sich dem Bundesdurchschnitt angeglichen.
In der Folge wurden die angestrebten Ziele von SHIP immer detaillierter: Magen- und Darmgesundheit, Knochenstoffwechsel, Hormonstatus - über all das geben die gewonnenen Daten detailliert Auskunft. Auch dient die Langzeitstudie zur Bestimmung von Referenzwerten für Laboranalysen, körperliche Belastbarkeit oder Organgrößen. Jetzt ist die Untersuchung der dritten Bevölkerungsgruppe (SHIP-NEXT) an den Start gegangen, in den kommenden vier Jahren werden 4.000 zufällig ausgewählte Bewohner zwischen 20 und 79 Jahren untersucht. Die Bedeutung des epidemiologischen Forschungsvorhabens ist unbestritten, SHIP-NEXT wird mit insgesamt 8,8 Millionen Euro unter anderem vom Land Mecklenburg-Vorpommern sowie von DFG, BMBF und EU gefördert.
Im Fokus von SHIP-NEXT stehen Lebensbedingungen, Umwelt und Gesundheit der Probanden, die anhand von Daten der Einwohnermeldeämter zur Studienteilnahme eingeladen werden und dafür unter anderem eigene Untersuchungsergebnisse, eine Aufwandsentschädigung sowie ein Anschreiben an Arbeitgeber mit Bitte um Freistellung erhalten. "Mit der neuen Stufe des SHIP-Projektes eröffnen wir eine neue Dimension in der Bevölkerungsforschung und betreten echtes Neuland. Wir integrieren nicht nur innovative medizinische Untersuchungen und neue methodische Konzepte, sondern binden erstmals in einer so umfassenden Gesundheitsinitiative auch die Haustiere der Menschen ein", betonte Studienleiter Völzke.
Das bis zu zwölfstündige Untersuchungsprogramm setzt sich aus einem Kernprogramm und weiteren Untersuchungen zusammen, es beinhaltet neben medizinischen Basisuntersuchungen etwa eine Fußdruckmessung, die Bestimmung von Körpermaßen im Bodyscanner, mehrere Ultraschalluntersuchungen, eine siebentägige Messung der Alltagsaktivitäten, Schlafuntersuchung, Ganganalyse, Messung der Blickbewegungen, zahnärztliche Untersuchungen, eine Bewertung der Stimmqualität und eine Reihe von Laboruntersuchungen, inklusive einer Haar- und Nagelanalyse. Dazu kommen ein persönliches Interview und verschiedene thematische Fragebögen. Zu den Zusatzuntersuchungen gehören etwa ein Ganzkörper-MRT, Untersuchungen der Herz-Kreislauf-Lungenleistung, ein Fahrradbelastungstest, ein 3D-Herzultraschall, eine Pulswellenanalyse, eine bioelektrische Impedanzanalyse zur Bestimmung der Körperzusammensetzung sowie spezielle Ultraschalluntersuchungen des Herzens und weiterer Organe.
"Der Gedanke dahinter ist, die Gesundheit von Menschen nicht isoliert, sondern zusammen mit der Gesundheit von Tieren und der Umwelt zu betrachten", erläutert Völzke. Vielschichtige Fragen sollen geprüft werden: Welchen Einfluss hat Tierhaltung auf die körperliche und seelische Gesundheit des Menschen und inwiefern hängt das von der Bindung zum Tier ab? Welchen Einfluss haben Haltungs- und Fütterungsbedingungen des Tieres sowie das Verhalten von Menschen und Tieren auf das Übertragungsrisiko von Zoonosen? Die Tiere der Probanden werden durch qualifizierte Tierärzte in ihrer häuslichen Umgebung untersucht; es werden Abstriche und Blutproben entnommen, um Krankheitserreger, die auch eine Bedeutung für den Menschen haben können, nachzuweisen. Ergänzt werden die Untersuchungen durch Fragebögen und Vor-Ort-Interviews. "Ziel ist es, konkrete Informationen über die Bedeutung von Tieren und deren Haltung für die Gesundheit von Mensch und Tier zur Verfügung zu stellen. Dadurch wollen wir ein stärkeres Bewusstsein für einen gesunden Umgang mit Hunden, Katzen, Geflügel und Tauben im Privathaushalt schaffen", erläuterte Bevölkerungsforscher Völzke.
Weitere Informationen:
http://ship.community-medicine.de
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2021
74. Jahrgang, Seite 32-33
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 26. Oktober 2021
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