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REZENSION/042: Carsten Prien (Hg.) - Die Stimme der Revolution. Rudi Dutschke in zwölf Originalaufnahmen (SB)



Carsten Prien (Hg.)

Die Stimme der Revolution



Rudi Dutschke in zwölf Originalaufnahmen


Ausdrucksstark in Mimik und Gestik - Foto: Hans Peters/Anefo, Public domain, via Wikimedia Commons

Rudi Dutschke beim Vortrag an der Katholischen Hochschule Tilburg am 12. Februar 1976
Foto: Hans Peters/Anefo, Public domain, via Wikimedia Commons

Dass es von Weisheit zeuge, aus der Geschichte zu lernen, wird allenthalben unterstrichen und gern kolportiert. Dabei fällt freilich nicht selten die skeptische Nachfrage unter den Tisch, was genau darunter zu verstehen sein soll. Denn bei näherem Nachfassen zeichnet sich zunächst ab, dass niemand sich selber als geschichtsvergessen einstufen würde - es sind immer die anderen, die auf diese Weise ermahnt, belehrt und verwarnt werden, nur ja nicht die alten Fehler aufs Neue zu begehen. Und selbst der wohlmeinende Rat, man müsse das Rad ja nicht immer wieder neu erfinden, kommt kaum ohne die Fuchtel andernfalls drohender Verdammnis aus, der geschichtsresistenter Ignoranz zwangsläufig blühe. Hinzu kommt natürlich als grundsätzliches Hindernis, dass von "der Geschichte" im Sinne eines umfassend und objektiv belegten Archivs keine Rede sein kann. Was als historisch relevant einzuschätzen und zu bewahren sei, ist erstens eine nachträgliche Festschreibung die zweitens interessengeleitet vorgenommen wird. Dass Geschichte von den Siegern geschrieben werde, legt zwar die Richtung weiterführender Überlegungen nahe, läuft aber seinerseits Gefahr, nur unter umgekehrtem Vorzeichen die Wahrheitsfindung ebenfalls allein für sich zu reklamieren. Wer aber wollte schon auf die Wahrheit als letztgültige Richtschnur verzichten, obgleich sich diese doch unversehens als Würgeschlinge erweisen könnte. Wiederum tritt die Deutungsmacht auf den Plan, zu verfügen, was richtig oder falsch sei.

Ist dies ein Plädoyer für Beliebigkeit, da vermeintliche historischen Fakten bloßes Resultat willkürlicher Auslegung seien? Das wäre eine voreilige Interpretation, die dem Scheine nach allseitige Pluralität unterstellt, um den herrschenden Verhältnissen die Hintertür offen zu halten. Jenseits allen Leistungszwangs im schulischen Geschichtsunterricht, karriererelevanten akademischen Strebens oder nischenverhafteten Historikerstreits könnten indessen auch eigenständige Gründe erwachsen, angesichts unerträglicher Bedingungen die Machtfrage zu stellen und voranzutreiben - nicht weil Vorväter dies festgeschrieben haben, kirchliche und weltliche Glaubenshüter es gebieten oder erfolgversprechende Perspektiven daraus erwachsen. In diesen zu führenden Kämpfen wäre nicht auszuschließen, Menschen wie Rudi Dutschke insofern zu begegnen, als übereinstimmende Fragen und Auseinandersetzungen geeignet sein könnten, zeitliche Distanzen zu tilgen. Handelte es sich um denselben noch nicht entschiedenen Streit, bliebe Vergangenheit als ihrem Wesen nach Unzugängliches ebenso auf der Strecke wie hilflos-nostalgische Rückschau auf bessere Zeiten samt der bloßen Hoffnung auf deren Wiederkehr.

Es kann also nicht darum gehen, sich in der Kontroverse einzufinden, wer oder was Rudi Dutschke "wirklich" war, und der Vermächtnisdebatte eine weitere Wendung anzufügen. Ob er uns heute noch etwas zu sagen hat oder nicht spiegelt zuerst und vor allem den Drang wider, sich seiner zur Bestätigung der eigenen Auffassung im positiven oder negativen Sinn zu bemächtigen. Und das gilt nicht nur für journalistische Platzhirsche von Spiegel bis Springer, die Tiraden und Expertisen über die 68er-Zeit und deren prominenteste Personen absondern. Es gilt nicht minder für die Kampfgefährten und Mitstreiterinnen jener Tage, die dafür einstehen, sich rechtfertigen oder in Abrede stellen müssen, was sie seinerzeit gedacht und getan haben.

Was heute kein Mensch mehr weiß, der die damalige gesellschaftliche Stimmungslage nicht miterlebt hat, war die in linken Kreisen bis tief ins bürgerliche Lager hinein anwachsende Erwartung, dass eine revolutionäre Umwälzung möglich sei, wenn nicht gar vor der Tür stehe. Das später geprägte Bild, es habe sich lediglich um eine kleine radikale Minderheit gehandelt, deren agitatorischer Eifer hochgespielt und weit überschätzt worden sei, verkörpert die ideologische Komponente einer Restauration, welche den massiven Schub repressiver Staatlichkeit zur Reaktion auf linksextremistische Gewalt ummünzte, was sich zur zentralen Scheidelinie zwischen verwerflichem Sägen an tragenden Teilen und lobenswerter Aufbauarbeit am gesellschaftlichen Gefüge auswachsen sollte.

All diejenigen, die damals dabei waren und wie Rudi Dutschke um Mittel und Wege rangen, das ungeachtet aller vehement ausgetragenen Diskussionen und Kontroversen noch als gemeinsames Anliegen erachtete Vorhaben in die Tat umzusetzen, mussten sich seither der Frage erwehren, was aus diesem Bestreben und nicht zuletzt ihnen selbst geworden ist. Wenngleich es nur wenige so weit treiben konnten wie Joseph Fischer, der von der Frankfurter Putztruppe zum Pudel Madeleine Albrights und kriegstreibenden Außenminister aufstieg, um sich auf seine alten Tage pfauengleich als Elder Statesman zu gerieren, fielen doch auch sonst genug Karrieren oder wenigstens gutbürgerliche Existenzen dabei ab, wenn es galt, auf dem Rückzug tief zu vergraben, was einst aus der Seele sprach, und dies mit vergessensgetränkten Umdeutungsschüben zu versiegeln.

Setzen wir also den Spaten an, nicht um historische Artefakte zu bergen und zu musealen Ausstellungsstücken aufzuhübschen, sondern zu lauschen, ob "die Stimme der Revolution" tatsächlich verklungen ist, wie behauptet wird. In diesem Sinne könnte es sich als fruchtbar erweisen, in die zwölf Originalaufnahmen mit Rudi Dutschke einzutauchen, die der Ousia Lesekreis in einer Box mit fünf Audio CDs sowie einer MP3-Bonus-CD veröffentlicht hat. Sie enthält zudem zwei umfangreiche Booklets, in denen Gretchen Dutschke sowie die beiden SDS-Historiker Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker zu Wort kommen, aber auch ein Glossar, das wesentliche Stichworte aus den Tondokumenten erläutert und somit Verständnis und Einordnung der Beiträge unterstützt. Herausgeber ist Carsten Prien, der sich dem Vermächtnis Dutschkes verschrieben und ein nach dem SDS-Theoretiker Hans-Jürgen Krahl benanntes Institut in Schleswig-Holstein gegründet hat.

Seit Dutschkes Tod am 24. Dezember 1979 wurden diverse Versuche unternommen, das Geheimnis seiner außergewöhnlichen Bedeutung und Wirkung in dieser prägenden Epoche der Bundesrepublik zu entschlüsseln. Dokumentarfilme, Biografien und Tondokumente wie etwa eine 2008 von dem Dutschke-Biografen Ulrich Chaussy herausgegebene vierteilige Box riefen die Erinnerung wach, zogen aber in wesentlichen Einschätzungen Schlüsse, die nicht unwidersprochen blieben. Unter dem Deckel für jeweils letztgültig erklärter Deutungsmacht, so scheint es, sind die Gärungsprozesse unabgegoltenen Aufbegehrens gegen die herrschenden Verhältnisse nie restlos versiegt.

Hat Rudi Dutschke als Christ und Marxist, aus der DDR entwichen, doch im Westen nicht angekommen, als Führungsperson in SDS und APO, aber mit dezidiert kollektiver Positionierung zwischen allen Stühlen gesessen, wie oftmals Bilanz gezogen wurde? Von westlichen und östlichen Geheimdiensten überwacht, hier als Kommunist, dort als Anarchist, Trotzkist oder Maoist zum Zwecke der Diskreditierung abgestempelt, trifft doch wohl eher zu, dass er fortgesetzt darum rang, sich auf keinen der etablierten Stühle zu setzen. Im legendären Interview mit Günter Gaus, das am 3. Dezember 1967 von der ARD zur besten Sendezeit vor einem Millionenpublikum ausgestrahlt wurde, brachte er dies mit den Worten zum Ausdruck:

Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte, die unfähig sind, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. [1]

Obgleich ein Wellenschlag des Aufstands in Frankreich, wo Studierende, Schülerinnen und Arbeiter für eine kurze Frist gemeinsam auf die Straße gingen und den Staat erschütterten, wuchs sich doch auch das Aufbegehren in der Bundesrepublik zu einem aus Sicht der Herrschaftssicherung bedrohlichen Eigenleben aus. Noch konnten traditionelle Marxisten, Anarchisten, Maoisten, Trotzkisten, Sozialrevolutionäre, linke Sozialdemokraten und Christen, vor allem aber junge Menschen in rasant wachsender Zahl, die sich in diesem Aufbruch einzufinden versuchten, miteinander reden. Sie lehnten zu allererst das "Establishment" in Gestalt ihrer Eltern, Lehrer und Lehrherrn ab, dessen Zwänge sie tagtäglich verspürten. Es debattierten und stritten Studenten mit Professoren und Dekanen, namhafte Theologen, Schriftsteller und hochrangige Politiker waren involviert, der gesellschaftliche Konsens nach dem Ende des Wirtschaftswunders stand zu Disposition.

In dieser Gemengelage ragte Rudi Dutschke insofern heraus, als er dank langjährigen Bemühens ein außergewöhnlicher Redner geworden war, aber auch die theoretische Auseinandersetzung entschieden vorantrieb. So sehr man ihm Ausstrahlung und Überzeugungskraft attestieren kann, war er doch nicht der begnadete Demagoge oder charismatische Heilsprediger, zu dem man ihn zu verteufeln oder zu glorifizieren trachtete, um seine verstörende Präsenz einzuhegen. Er blieb den Menschen zugewandt und hörte zu, ohne mit seiner Auffassung hinter dem Berg zu halten, so dass sich seine Wirkung wohl am zutreffendsten darin zum Ausdruck bringen lässt, dass er glaubwürdig war.

Die hier vorliegenden Originalaufnahmen aus den Jahren 1966 bis 1979 zeugen nicht nur von Dutschkes bemerkenswerter sprachlicher Ausdruckskraft, sondern ebenso von seiner ausgeprägten Auseinandersetzung mit der für ihn unverzichtbaren Theoriebildung angesichts dramatisch zu nennender Veränderungen der Lebensverhältnisse und des gesellschaftlichen Klimas in der damaligen Bundesrepublik. Dabei wird deutlich, wie viele der heute für eine emanzipatorische Bewegung relevante Fragen schon damals und zumeist wesentlich umfassender wie auch radikaler aufgeworfen und weiterentwickelt wurden. Auch was die diskutierten und praktizierten Aktionsformen betrifft, dürfte manches durchaus anschlussfähig für gegenwärtige Organisierungsweisen von Protest und Widerstand sein.

In einem Radiointerview vom Dezember 1966 zum Thema "Die studentische Linke" weist Dutschke den Vorwurf der Rädelsführerschaft als Ausdruck einer Agententheorie zurück und hebt das Wechselspiel von Führung und Basis auf Grundlage einer Selbsttätigkeit der Menschen hervor. Der SDS habe kein Programm, sondern rufe zu intensiver theoretischer Arbeit wie auch Aktionen mit praktischen Folgen auf. Als Beispiel für eine Aktionsform nennt er den "Spaziergangsprotest" als Antwort auf Polizeirepression gegen geschlossene Demonstrationszüge, so dass die Teilnehmenden ihr Ziel ohne frontale Konfrontation mit den Absperrungen und Knüppeln der Ordnungsmacht erreichen. Der SDS stelle das etablierte Gleichgewicht in Frage, in dem diverse gesellschaftliche Gruppen keine Repräsentanz hätten. Ausgangspunkt in der Bundesrepublik seien jedoch nicht verelendete Massen, es gehe vielmehr um einen Bewusstwerdungsprozess, wobei die Minderheit der Mehrheit nicht vorschreiben könne, wie sie zu leben hat. Diese Minderheit praktiziere Neues, jedoch nicht als Avantgarde, sondern organisiere sich in Form freier Assoziation von Individuen. Es gelte im Alten Keimzellen des Neuen zu entwickeln, wozu es einer revolutionären Wissenschaft bedürfe. Er strebe eine ununterbrochene Revolution an, denn die gesellschaftliche Entwicklung komme zu keinem Ende, weshalb jeder Abschluss zu negieren sei. Der Kampf um bessere Formen des Zusammenlebens müsse unablässig fortgeführt werden.

In diesem Interview umreißt Dutschke also einen Entwurf, der dem Ausbleiben traditioneller Klassenkämpfe Rechnung trägt, dem von ihm als Bürokratie kritisierten Realsozialismus eine Absage erteilt und das Prinzip der Kaderpartei verwirft. Der politische Aufbruch, wie er ihn verstand, zeichnete sich durch die innovative Frische und Dynamik eigenständigen Protests und Aufbegehrens ohne den Kniefall vor einem Establishment gleich welcher Couleur aus. Zugleich verzichtete er aber keineswegs darauf, marxistische, anarchistische, trotzkistische oder maoistische Studien vorzunehmen, um sie einzubeziehen. Während die Marxisten-Leninisten vergeblich der Arbeiterklasse harrten, die damals zumeist aller Unordnung abhold war, fasste Dutschke die Frage des revolutionären Subjekts neu und anders. So sprach er in einer ebenfalls in der Box dokumentierten Diskussion mit Herbert Marcuse im Juli 1967 an der FU Berlin davon, dass angesichts der ungleichen Entwicklung in Europa nicht die proletarische, sondern die menschliche Revolution als Gesamtrevolution gegen das System auf der Tagesordnung stehe.

Diese Auffassung kommt auch in einer Kontroverse mit Jürgen Habermas zum Ausdruck, der sich damals als Marxist verstand, aber der antiautoritären Bewegung mit Argwohn begegnete und nur absolut gewaltlose Kritik an der bestehenden Ordnung akzeptierte. Er nahm zwar den Vorwurf des "linken Faschismus" später zurück, meinte aber mit Marx zu argumentieren, wenn er darauf beharrte, dass es nicht genüge, dass der Gedanke zur Wirklichkeit dränge, die Wirklichkeit müsse auch zum Gedanken drängen. Damit meinte er im Klartext, die Zeit sei objektiv noch nicht reif für eine Revolution. Darauf erwiderte Dutschke bei der Beerdigung Benno Ohnesorgs im Juni 1967:

[...] Die materiellen Voraussetzungen für die Machbarkeit unserer Geschichte sind gegeben. Die Entwicklungen der Produktivkräfte haben einen Prozesspunkt erreicht, wo die Abschaffung von Hunger, Krieg und Herrschaft materiell möglich geworden ist. Alles hängt vom bewussten Willen der Menschen ab, ihre schon immer von ihnen gemachte Geschichte endlich bewusst zu machen, sie zu kontrollieren, sie sich zu unterwerfen, das heißt: Professor Habermas, Ihr begriffsloser Objektivismus erschlägt das zu emanzipierende Subjekt. [2]

Bei einer Protestveranstaltung im Januar 1968 in Baden-Baden mahnte Dutschke die Einbeziehung von Schülern und Auszubildenden an. Er beharrte darauf, kein Führer der Bewegung zu sein, da diese mit der Selbsttätigkeit der Menschen stehe und falle. Der Formaldemokratie sei eine Realdemokratie entgegenzusetzen. Die faschistische Gefahr gehe nicht nur von der NPD aus, sondern sei insbesondere in der Struktur der Institutionen verankert, welche die Restauration und Aufrüstung vorantrieben. Den Ost-West-Konflikt revolutionär zu überwinden laufe nicht auf einen Sieg der DDR hinaus, sondern auf ein sozialistisches Gesamtdeutschland.


Mit brennender Fackel und weiteren Demonstrierenden - Foto: Kroon, Ron/Anefo, Public domain, via Wikimedia Commons

Rudi Dutschke am 21. Februar 1968 bei der Anti-US-Demonstration in Amsterdam
Foto: Kroon, Ron/Anefo, Public domain, via Wikimedia Commons

Zu den zentralen Elementen und Impulsgebern der 68er-Bewegung gehörte der Internationalismus wie insbesondere der Protest gegen den Vietnamkrieg. Ein weiterer Höhepunkt der vorliegenden Audiosammlung ist denn auch eine mitreißende Rede, die Dutschke im Februar 1968 bei dem von ihm maßgeblich organisierten Internationalen Vietnam-Kongress in der TU Berlin hielt. Die Krise des Kapitalismus münde in globale Rückzugsgefechte des Imperialismus, gegen den sich sozialrevolutionäre Kämpfe in aller Welt formierten. Während die USA ihren Vorsprung zu sichern versuchten, vereine die Globalisierung der revolutionären Kräfte die Erhebung der leidenden Völker. Dutschke geht auf den wachsenden Widerspruch zwischen dem Akkumulationsmodell und der technischen Entwicklung ein, wodurch der permanente Hunger nach Verwertungsmöglichkeiten immer weniger gestillt werden könne, und ruft zum antiimperialistischen Kampf in den Metropolen auf. Die BRD arbeite eng mit den USA und Regimen zusammen, weshalb es gelte, mit Befreiungsbewegungen zu kommunizieren wie auch Aktionen zu planen und durchzuführen. Der Kampf des vietnamesischen Volkes erlange weltgeschichtliche Bedeutung, denn der neue Mensch des 21. Jahrhunderts im Sinne Che Guevaras und Frantz Fanons sei das Resultat eines schmerzlichen Kampfes voller Höhen und Tiefen. Die gegenwärtige kulturrevolutionäre Phase in der Bundesrepublik sei eine vorrevolutionäre Phase, in der man nicht auf Parteien warten dürfe, sondern Zirkel bilde und sich organisiere. Es gelte die antiautoritäre, eine wahrhaft freie und somit sozialistische Gesellschaft zu erkämpfen. Wie die Aufstände in Vietnam, Spanien oder Griechenland zeigten, sei die Erhebung an jedem Ort möglich. Revolutionäre Solidarität mit dem vietnamesischen Volk bestehe im Kampf in den Zentren des Imperialismus selbst. "Es lebe die Weltrevolution!", schloss Dutschke seine emphatische Rede.

Der Internationale Vietnamkongress war einer der Höhepunkte und zugleich ein Wendepunkt der Studentenbewegung. Hier traten noch einmal fast alle Fraktionen gemeinsam auf, doch schon wenige Monate später gewann nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 auf dem Kurfürstendamm die Fraktionierung der Linken endgültig die Oberhand. Neben der moskautreuen DKP wurden marxistisch-leninistische und maoistische K-Gruppen gegründet, während sich Vertreter des undogmatischen Flügels in Basisgruppen organisierten.

Die weiteren Tondokumente stammen aus den Jahren 1974 bis 1979, setzen also nach der Zäsur ein, die Dutschkes Genesungsprozess erzwang. Erforderlich ist beim Zuhören folglich auch ein gedanklicher Sprung, da die zwischenzeitlichen Ereignisse die Bedingungen der politischen Intervention erheblich verändert haben. Der linke Aufschwung hat seine Bündelung zu einer gemeinsamen Stoßrichtung verloren, verläuft in die Breite und weicht unter Grabenkämpfen gegen andere Fraktionen bereits zunehmend zurück in weniger riskante Betätigungsfelder und Kampfesweisen oder versandet im langen Marsch durch die Institutionen. Letzterer ein von Rudi Dutschke geprägter, in der Folge aber in sein Gegenteil verkehrter Begriff: Sah sein Ansatz vor, raus aus der Universität und rein in die Institutionen zu gehen, um sie aufzubrechen, so wurde daraus zunehmend eine Integration in Erwerbsweisen und Laufbahnen unter Legitimation reformistischer Beteiligung und womöglich sogar erfolgreichen karrieristischen Aufstiegs in administrative oder politische Spitzenfunktionen. Während der Staat sein Gewaltmonopol unter Waffeneinsatz und dem forcierten Ausbau eines repressiven Arsenals bis hin zu Folterhaft und physischer Vernichtung der Gefangenen mit Zähnen und Klauen durchsetzte, gesellte sich zu dem Zurückschrecken vor dieser exekutierten Übermacht die Beteiligung an den herrschenden Verhältnissen mittels legalistisch zurückgestutzter Denkweisen und Ausdrucksformen.

Über die Schwierigkeiten einer kritischen Solidarität unter Linken spricht Dutschke im November 1974 in der TU Berlin nach einem Gefängnisbesuch bei Jan Raspe, der als politischer Gefangener im Hungerstreik gegen die Isolationshaft stand. Ungeachtet bestehender Differenzen in der Einschätzung der gesellschaftlichen Lage gelte es Solidarität zu üben und den Kampf der Gefangenen zu unterstützen. Die Repression gegen die RAF ziele auf die Prävention einer massenhaften sozialen Revolution.

Wenn zwischen den verschiedenen sozialistisch-kommunistischen Richtungen nicht ein vermittelndes Mindestmaß an kritisch-solidarischen Verkehrsformen - ohne Manipulation hinter dem Rücken - lebendig ist, wird die politische Qualität im Rahmen der objektiven Möglichkeiten nicht umgesetzt werden können. [...] Die Auswirkungen sind bisher eine Serie der Wiederholung von Frustrationen, aber kein Lernprozess. [3]

In Auseinandersetzung mit der damals regierenden SPD unter Helmut Schmidt analysiert er die Funktion der Sozialdemokratie zwischen Reform und Repression. Wenngleich die These des Sozialfaschismus grundfalsch sei, erweise sich die SPD immer wieder als Handlanger des Kapitals, so dass ihre Bewegung nach "links" immer unwahrscheinlicher werde. Die grundlegende Gewalt der bürgerlichen Gesellschaft bestehe im Eigentumsverhältnis, also dem naturwüchsigen Verhältnis von ausbeutendem Kapital und Mehrwert schaffender Lohnarbeit. Aus diesem Strukturzusammenhang entstehe in verschiedenartiger Erscheinungsform die politische Gewalt der herrschenden Klasse. Im Sinne emanzipativer Gegengewalt müsse zugleich das Verhältnis von Marxismus und Anarchismus neu durchleuchtet und beiderseits eine Naturwüchsigkeit von Fehlern eingeräumt werden. Dutschke spricht von einer schweren Niederlage der Neuen Linken, die er zum Abschluss so charakterisiert:

Ja, wir sind keine liberalen Humanisten, wir sind revolutionäre Humanisten. D. h. bei uns gibt es ein Verhältnis von "Liebe" und "Hass", wir hassen die Verhältnisse und wir lieben die "Unterdrückten und Beleidigten", allerdings auch unsere eigene Menschenwerdung. Wir lieben nicht den Tod. Der ist immer nur das Ende der Menschenwerdung des Einzelnen, die "Gattung lebt weiter". Und wie wichtig ist da die Länge! Holger Meins wird ihn mit Sicherheit auch nicht gewünscht haben, darum trifft die Herrschenden eine eindeutige Schuld! [4]

Holger Meins war am 9. November 1974 im Hungerstreik gestorben. Am folgenden Tag wurde der sozialdemokratische und antifaschistische Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann von der Bewegung 2. Juni erschossen, was Dutschke verurteilte.

Als eigenständiger Wanderer zwischen den Blöcken des Kalten Krieges beschäftigte sich Dutschke auch mit der Entwicklung in Jugoslawien. Im April 1975 geht er in einer Podiumsdiskussion an der Uni Frankfurt auf die Repression gegen kritische Wissenschaftler der Belgrader Praxisgruppe ein. Es stehe stalinistischer Positivismus einem schöpferischen Marxismus, Bürokratismus einer demokratischen Selbstverwaltung gegenüber. Der jugoslawische Revolutionsprozess sei als ein von Partisanen angeführter Massenaufstand in ländlichen Regionen eine Erhebung gegen die Okkupation, aber keine proletarische Revolution gewesen. Obgleich es kein Sieg der Arbeiterklasse gewesen sei, habe Tito den traditionellen Weg der Industrialisierung eingeschlagen, der in Akkumulation und Ausbeutung mündete. Verbrechen bleibe Verbrechen, der Zweck der Produktionsmaximierung rechtfertige unterdrückerische Mittel nicht. Aus der Partisanenmaschine sei die Parteimaschine erwachsen, Marxismus diene der Legitimation, doch die Realität sei eine andere. Kritische marxistische Positionen würden denunziert und angegriffen, weil sie eine Gefahrenzone für die Herrschaftsverhältnisse darstellten.

In einem Radiointerview vom Oktober 1976 spricht Dutschke, der dem Sozialistischen Büro beigetreten ist, über die von ihm beworbene Gründung einer sozialistischen Rätepartei. Die junge Generation sei nicht bereit, SPD oder DKP zu wählen, das SB ein Ansatz, sich zu organisieren und aktiv zu werden. Bewegungsräume in Institutionen wie 1967/68 seien nicht mehr gegeben, die Krise gefährde Berufsperspektiven und lasse die Arbeitslosigkeit anwachsen, Reformen würden zurückgefahren. Auf eine Periode der Rebellion folge wie so oft der Konter, dem linke Splitterfraktionen nicht gewachsen seien. In Westeuropa stünden demokratische Sozialisten vor der Aufgabe, außerparlamentarische Klassenkämpfe zu führen, ohne parlamentarische Wege zu missachten. Der kritische Materialismus im Sinne einer Kritik jeglicher Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes Wesen ist, sei in Deutschland nicht zuletzt durch die historische Erfahrung einer Befreiung nicht durch Klassenkämpfe, sondern durch äußere Mächte, kaum entwickelt.

In einer kurzen Rede bei der Beerdigung Ernst Blochs Anfang August 1977 in Tübingen kontrastiert Dutschke diese mit dem pompös inszenierten Staatsbegräbnis des von der RAF getöteten Jürgen Ponto, was unter einigen Anwesenden Empörung auslöst. Rudi Dutschke, der mit Ernst und Karola Bloch in Freundschaft verbunden war, würdigt den Verstorbenen als gelebtes Prinzip Hoffnung und gelebte Kontinuität des aufrechten Gangs. Er habe die Neue Linke maßgeblich mitgeprägt und in der Tradition der Befreiung den Zusammenhang zwischen Menschenrecht und Sozialismus stets hervorgehoben.

Ebenso unterhaltsam wie aufschlussreich ist das Tondokument einer Talkshow mit Rudi Dutschke, Henri Nannen und Ulla Meinecke, die Anfang September 1977 in der Kieler Druckerei stattfand. Drei Tage nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF, die den Auftakt zum Deutschen Herbst markiert, der sich zu diesem Zeitpunkt abzeichnet, zeigt sich Dutschke den paternalistischen bis aggressiven Übergriffen des Stern-Chefredakteurs nicht nur gewachsen, sondern argumentativ klar überlegen. Als Nannen die BRD als "freiesten Staat, den wir je hatten" hochlobt, erwidert Dutschke lachend, dasselbe habe Fidel Castro kürzlich über die Sowjetunion gesagt. Herr Nannen habe seine Freiheit, Rudi Dutschke eine andere samt Überwachung und abgehörtem Telefon. Freiheit habe doch etwas mit Egalisierung und Sozialisierung zu tun, während die Löhne und Lebensmöglichkeiten in dieser Gesellschaft höchst ungleich verteilt seien. Was seine eigenen Einkünfte betreffe, sei jüngst ein vom Stern bei ihm angefragter Artikel über Gewalt im politischen Kampf dann doch nicht abgedruckt worden. Als Nannen behauptet, der Beitrag sei eben zu kompliziert und unverständlich gewesen, erwidert Dutschke ironisch, so könne man sich auch herausreden. In belehrendem Ton legt der Chefredakteur nach, wo denn der sozialistische Staat sei, in dem Arbeitnehmer mehr Rechte als in der BRD hätten. Damit handelt er sich jedoch Ausführungen über Produktivkräfte, technologische Entwicklung und selbsttätige Fortschritte der Menschen, aber auch den Zusammenhang von direkter und parlamentarischer Demokratie ein, die zu widerlegen ihm die Mittel zu fehlen scheinen. Ohne sich zu empören oder zu ereifern pariert Dutschke alle Versuche, ihn mit Bezichtigungen in die Enge zu treiben, geradezu entspannt und mit hörbarer Freude am Streitgespräch.

Aus dem Dezember 1977 datiert ein Interview mit zwei Studenten in Groningen, in dem Dutschke einen neuen Faschismus in der BRD nach dem Muster des NS-Staats als Fehleinschätzung bezeichnet. Wenngleich der autoritäre Staat anwachse, unterliege er doch spezifischen Bedingungen wie der Amerikanisierung oder der Entspannungspolitik zur Einhegung des Marktes in Osteuropa in Reaktion auf die ökonomische Krise. Begriffe dürften nicht zu Propagandazwecken aufgepfropft werden, sie sollten aus einer Analyse erwachsen. Die Verelendungstheorie wies er als zutiefst antisozialistische Auffassung zurück, wesentlich seien doch die Erfahrungen im Klassenkampf und die Autonomie des Menschen. Auch hier geht er auf die Gründung einer linken Partei ein, die ihre eigene Geschichte haben sollte und nicht bei der SPD räubern dürfe, die keine sozialistische Perspektive aufweise.

Fast zwei Jahre später schließlich im November 1979 eine Diskussion über "Marxistische Pluralität und kommunistische Systemerhaltung" mit dem DDR-Dissidenten Rudolf Bahro, dem 83-jährigen kommunistischen Soziologen Karl August Wittfogel und dem SPD-Abgeordneten Conrad Ahlers. Wittfogel, einst KZ-Insasse und Emigrant, hat bereits in den 50er-Jahren die These einer asiatischen Despotie aufgestellt, welche die Entwicklung in der Sowjetunion maßgeblich geprägt habe. Auch Dutschke zieht diese doch recht befremdlich anmutende Einlassung zur Erklärung des Stalinismus heran, während Bahro ihr nicht ganz abgeneigt ist, aber historische Errungenschaften der UdSSR anführt, die das Feindbild des Westens sei. Rudi Dutschke spricht von einer stalinistischen Tradition selbst in der SPD, wofür er Gustav Noske als Beispiel anführt. Ahlers weist diesen Vorwurf zurück und versteigt sich sogar zu einer Verteidigung Noskes, worauf er den östlichen Despotismus in der Abschaffung des Privateigentums verortet und das dortige Wirtschaftssystem für gescheitert erklärt. Man muss indessen die These einer etwa durch Polen verlaufenden Grenzscheide zwischen byzantinischem und römischem Einflussbereich, asiatischem Despotismus und westlicher Geistesgeschichte als Achse der Erklärung nicht teilen, um Dutschkes Forderung zu würdigen, dass sozialistischer Pluralismus auch die Erbschaft der bürgerlichen Revolution aufweisen oder zurückgewinnen müsse.

Bleibt noch die beigefügte Bonus MP3-CD mit der ORF-Sendung Club 2: "1968 - Das Jahr des Aufstandes" vom Juni 1978 zu nennen. Gastgeber Günther Nenning diskutiert mit Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit sowie Matthias Walden und Kurt Sontheimer. Es trafen also auf neutralem Boden in Österreich deutsche Kontrahenten von damals nach einem Jahrzehnt abermals aufeinander, um die verbalen Klingen zu kreuzen. Walden, scharfer Kommentator in Springers Tageszeitung "Die Welt", und der sozialdemokratische Politologe und Extremismusforscher Sontheimer haben die Wucht des staatlichen Konters als vorgeblichen Erfolgsbeleg auf ihrer Seite, was die beiden Kontrahenten in dieser Debatte jedoch nicht daran hindert, die Bezichtigung als "Generation der Gescheiterten" und "Wegbereiter des Terrorismus" nach besten Kräften aus dem Feld zu schlagen.

In seiner Magisterarbeit der Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz gelangt Daniel Hacker 2013 zu der abschließenden Wertung:

Dutschke [kann] als Revolutionär im Spannungsfeld der widersprüchlichen bundesrepublikanischen Gesellschaft verortet werden, weil es ihm um eine Praktizierung eines utopischen Sozialismus in der Tradition eines Georg Büchner, anderer SozialrevolutionärInnen in anarchistischer und rätedemokratischer Tradition [und um eine] Wiederaneignung von oppositionellen Lehrmeinungen innerhalb der Linken ging.

Dutschke bezog sich in seinem Argumentationsstrang auf traditionell-kommunistische TheoretikerInnen, etwa auf Karl Marx oder Wladimir Lenin, was nicht als Kanonisierung dieser Lehrmeinungen gedacht sein soll, sondern es ist als typisierende Charaktereigenschaft Dutschkes zu sehen, dass er sich mit allen Lehrmeinungen auseinandersetzte, die er in kritisch-reflektierender Analyse auf die realen gesellschaftlichen Verhältnisse überprüfte. [5]

Rudi Dutschke war zweifellos ein brillanter Rhetoriker, aber zugleich auch ein ernstzunehmender Theoretiker des Sozialismus, der die Umsetzung in die Praxis gesellschaftlicher Veränderung nie aus den Augen verlor. Wer sein antiautoritäres Leitmotiv einer emanzipatorischen Menschwerdung teilt, dürfte in dieser Präsentation ausgewählter Tondokumente gewiss anspornenden Erkenntnisgewinn finden und zu schätzen wissen.


Fußnoten:

[1] Die Stimme der Revolution, Texte, S. 21

[2] ebd. S. 23

[3] ebd. S. 41

[4] ebd. S. 49

[5] unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/234144/full.pdf

6. September 2021


Carsten Prien (Hg.)
Die Stimme der Revolution
Rudi Dutschke in zwölf Originalaufnahmen
Ousia Lesekreis Verlag Seedorf, 2021
5 Audio CDs, 1 MP3-Bonus-CD, 2 Booklets mit 128 S.
35,90 EUR
ISBN 978-3-944570-64-8

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 167 vom 11. September 2021


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