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PRESSE/140: Qualität lebt von Langsamkeit und Reflexivität (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

Qualität lebt von Langsamkeit und Reflexivität
Boulevardisierung der Qualitätspresse

Von Rudolf Walther


Je schlechter die wirtschaftliche Lage von Zeitungen, desto mehr muss in Zeitungsredaktionen gespart werden und desto stärker werden Redaktionsstellen gestrichen und die Zahl der freien Mitarbeiter verringert. Und trotzdem ist überall von Qualitätszeitungen und Qualitätsjournalismus die Rede. Das müsste eigentlich den Verdacht schüren, hier stimme etwas nicht, denn um Qualitätsstandards zu halten oder zu verbessern, sind Einsparungen kein geeignetes Mittel.


Der Widerspruch zwischen Sparrunden und Qualitätsbeschwörung fällt nicht sofort auf, weil fast alle Qualitätszeitungen längst von Trends geprägt werden, die die journalistische und intellektuelle Qualität der Zeitungen gefährden. Diese Trends kann man benennen als Boulevardisierung, Personalisierung, Provinzialisierung und Niveauverlust als Resultat von Beschleunigung im Zeichen der medialen Konkurrenz von Print- und Online-Journalismus.

Die Boulevardisierung hat viele Gesichter. Es gibt Tageszeitungen, deren tägliche Berichterstattung über Klatsch und Personality-Klimbim - wie sie bislang den bunten Blättern und Illustrierten vorbehalten war - umfangreicher ist als das Feuilleton. Der Leser muss nicht mehr zur Bunten greifen, er kann auch auf den Magazinseiten - etwa der Frankfurter Rundschau - regelmäßig lesen, um rundum informiert zu sein darüber, wer gerade mit wem kann oder nicht mehr kann, über das Neueste aus dem Leben von Prominenten, über Sexpraktiken von Skandalnudeln oder über die besten Enthaarungsmethoden, Tätowierungen, Geschichten über schmierige Veranstaltungen wie den European Song Contest.

Zugegeben, die home-stories in den Magazinteilen von Tageszeitungen werden etwas weniger üppig bebildert als in den klassischen Boulevardmedien, gleichen sich aber sonst aufs Haar. Auch die Boulevardteile in den Qualitätszeitungen unterscheiden sich im Umfang. Die Bulimie-Geschichte über eine spanische Prinzessin umfasst in der FAZ nicht gleich eine Doppelseite wie in anderen Blättern. Im ZEIT-Magazin erscheint unter dem anspruchsvollen Titel "Gesellschaftskritik" eine Kolumne, die dem Anspruch, etwas mit Kritik und Gesellschaft zu tun zu haben, geradewegs ins Gesicht schlägt. Es geht in dieser Kolumne regelmäßig nur um Mode, Klatsch und Tratsch über prominente Personen - das übliche Yellow-Press-Futter.

Der Trend zur Boulevardisierung spiegelt sich nicht nur in der Behandlung schlüpfriger Themen, sondern auch in der intellektuellen Verflachung. Ein starkes Stück in dieser Richtung riskierte jüngst Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der ZEIT. Er bot dem Fälscher und Täuscher Karl Theodor zu Guttenberg in einem Interview auf vier vollen ZEIT-Seiten mit neun Fotos Gelegenheit zur Selbstdarstellung und Selbstrechtfertigung und zur Verharmlosung der Plünderung fremder Leistungen. Der völlig vernagelte und uneinsichtige Freiherr bekam so publizistische Rückkehrhilfe und durfte obendrein für sein neues Instant-Buch die Werbetrommel rühren - auf Kosten des Rufs der Qualitätszeitung und im Gleichschritt mit BILD, dem Leitmedium des Boulevards. Hier verbünden sich zwei Zeitungen, die sonst nicht viel verbindet, zu Spanndiensten für einen ehrgeizigen Hasardeur.

Wie zügig die Boulevardisierung voran schreitet, kann man vor allem an den Medienseiten in den Tageszeitungen ablesen. Genau genommen sind das keine Medienseiten, sondern Vorschauen auf das vorabendliche und abendliche Fernsehprogramm. Was sich auf dem weiten Feld des Medienbetriebs weltweit wirklich abspielt, kommt auf diesen Seiten praktisch nicht vor, dafür werden triviale Sendungen und Serien von der Stange - fast ausschließlich aus dem deutschen Fernsehen - breit vorgestellt und kommentiert, während in Israel, Ungarn und Italien Mediengesetze erlassen werden, die politische Grundrechte schmälern. Diese Blindheit gegenüber ausländischen Entwicklungen im Medienwesen ist schlicht beschämend.

Die Personalisierung, ein weiterer Index für den Niedergang der Qualitätszeitungen, tritt hauptsächlich in zwei Varianten auf. Einmal verklebt die Beschreibung von Personen und Ambiente die Sache, um die es geht, und zwängt sich penetrant vor die Sache. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ist für diese Art Journalismus so etwas wie Stil- und normbildend: "Eva Menasse sitzt im mintgrünen Pullover bei Toast und Apfelschorle in einem Wiener Kaffeehaus in Berlin und erzählt." Worüber, ist schon restlos nebensächlich und geht im Stimmungsgebrabbel unter.

Die zweite Form der Personalisierung radikalisiert die Ich-Form und verlegt sich - im Stil der BILD-Kommentare - auf die direkte Ansprache des Lesers: "Liebe Zeitungsleser, die Voraussetzungen, damit ich Karriere mache, sind nicht schlecht. Ich bin weder besonders begabt noch ausgebildet. Gehen mir Geduld und Argumente aus, beginne ich, um mein Leben zu quasseln." Ideale Voraussetzungen für eine ebenso überflüssige wie banale Meinungskolumne in einer der meinungsfreudigen überregionalen Tageszeitungen. Bei einer solchen leitete eine Zeitlang ein Mann das Feuilleton, der gleich sich selbst und seine Familie regelmäßig zum Hauptthema machte und Familiäres buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre - von der Geburt des Enkels bis zum Tod der Mutter - unters Volk brachte: "Neben Willy Birgel stand ich einmal, da war ich 16. Ich lege die DVD zu meinen Rasierklingen. Am nächsten Morgen - die Sonne treibt mich um 5.30 Uhr aus dem Bett - ich sehe mir den Film an." Oder: "Nächste Woche Dienstag soll ich Opa werden. Man sagt mir, ich werde mich freuen - ach, was heißt freuen, begeistert werde ich sein - über das Kind, ich werde es lieben und vom ersten Augenblick an verwöhnen." Und schließlich: "Guten Tag. Meine Kollegin möchte, dass ich etwas über Sex and the City schreibe, aber ich weiß nicht mehr, was. Und ich bin spätestens in zwei Stunden im Urlaub. Also schreibe ich halt einfach etwas. Kein Problem. Leider habe ich Sex and the City noch nie gesehen. Schlimm?" Das stand wörtlich so am 26.5.2010 in einer "Qualitätszeitung" wie das folgende Zitat: "Ich war gerade in Berlin und sah Bettler und Schlaglöcher und Hartz-IV-Billigdiscounter und dachte. Und ihr müsst Europa retten! Wahnsinn."

Der Intention nach sollen mit dem Umbau der Qualitätszeitungen neue, vor allem jüngere Leserinnen und Leser gewonnen werden. Aber wer will derlei Prosa lesen und dafür auch noch Abonnementgebühren bezahlen? Mit solchen Texten brachten sich Qualitätszeitungen in den letzten Jahren um die Reste ihres Ansehens bei den herkömmlichen Leserschichten, weil sich die Zeitungen immer mehr dem ordinären Netzgeschwätz der Bloggerszene annähern. Natürlich sind die verschiedenen Ressorts von solchen Boulevardisierungstrends unterschiedlich betroffen. Das Feuilleton und der Sportteil sind für modische Verwahrlosung stärker anfällig als Innen- und Außenpolitik.

Provinzialisierung und Niveauverlust der Qualitätszeitungen hängen direkt mit dem wirtschaftlichen Druck zusammen, dem die Unternehmen ausgesetzt sind. Die Zahl der Auslandskorrespondenten wurde bei den meisten Zeitungen ebenso abgebaut wie jene der freien Mitarbeiter. Die Qualitätszeitungen werden dadurch eindimensionaler und gleichförmiger. Trendiger Schrott von Charlotte Röche bis zu Helene Hegemann schaffte es in alle Feuilletons, während anspruchsvolle neue Literatur ein Schattendasein führt. Die Konkurrenz zwischen Print- und Online-Journalismus führt zu einer unerhörten Beschleunigung der Textproduktion, was auf das Niveau drückt und Oberflächlichkeit befördert. Geschwindigkeit und Qualität korrespondieren selten, im Journalismus gar nie. Völlig heruntergekommen sind die Standards im Rezensionswesen. Sammelbesprechungen, in denen 3.500 Druckseiten von sechs Büchern auf gerade einmal zwei Schreibmaschinenseiten "besprochen" werden, sind keine Ausnahme und in allen Qualitätsblättern mittlerweile üblich - zuletzt beim 200. Todestag von Kleist und beim 300. Geburtstag Friedrichs II. zu besichtigen. Eine andere Variante der Verwahrlosung sind "Besprechungen" in der Form von Autoreninterviews als kaschierte Eigenwerbung. Die enorme Beschleunigung des Betriebs führt auch dazu, dass es schlechte, zuweilen richtig liederliche politische Bücher und Sachbücher bis auf die Bestenlisten schaffen, während solide Arbeiten kaum besprochen werden.

Wenn Qualitätszeitungen überleben wollen, müssen sie sich auf ihre Stärken besinnen. Gegenüber der Schnelligkeit und der Üppigkeit von Bild- und Tonmedien können Printmedien nur ihre Kraft der Reflexion und der begründeten Kritik mobilisieren. Darin bestehen ihre Stärken und nicht in greller bildlicher Auflockerung und Versimpelung der Stoffe und Themen bis hinunter zu Süffigkeit und Seichtigkeit. Historisch-analytische und kontradiktorische Vertiefung von Themen durch Essays und Debatten, aber nicht die forcierte Bebilderung oder erschlichene Unmittelbarkeit durch Interviews, die meistens nur noch der Selbstprofilierung dienen, sichern die Qualität von Zeitungen.

Rudolf Walther (* 1944) ist Historiker und freier Publizist. Er arbeitet für Schweizer und deutsche Zeitungen und lebt in Frankfurt/M. Im Oktober Verlag erschien kürzlich die Essaysammlung Aufgreifen, begreifen, angreifen als erster von drei Bänden.
(rudolf.walther@t-online de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 86-88
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2012