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FESTIVAL/377: Streuobst - Was von der Berlinale übrig blieb (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 157 - Heft 3/17, 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Streuobst
Was vom Filmfest übrig blieb

Von Ilse Eichenbrenner


Ist denn noch was übrig geblieben von der Berlinale? Meine Nachlese könnte sich für alle Filmknäcke-Fans lohnen. Bereits besprochen habe ich jene Filme, die ich Ihnen für die Erntezeit im Herbst ans Herz lege. Damit Sie es bis dahin nicht vergessen, hier noch einmal die Titel: »On Body and Soul«, »Ana, mon amour«, »Die beste aller Welten« und »Maudie«. Diese Filme haben einen Verleih gefunden und werden mit Sicherheit in die Kinos kommen. Vielleicht ändert sich der eine oder andere Titel - es lohnt sich also, aufmerksam zu sein.

Bei manchen Filmen ist es noch immer unklar, ob und wann sie in die Programme kommen. Trotzdem möchte ich Ihnen diese besonderen Früchte nicht vorenthalten.


Inflame/Kaygι (Zweifel)

Bei der diesjährigen Berlinale gab es nur diesen einen türkischen Beitrag, angekündigt als »Studie über Paranoia«. Die hübsche junge Hasret arbeitet bei einem Istanbuler Fernsehsender als Cutterin. Ihr Arbeitsplatz ist eine fast künstliche, hermetisch abgeschlossene Welt. Sie wird von einem Arbeitsplatz zum anderen versetzt und eckt immer häufiger an - bei ihrer reichlich übergriffigen Vorgesetzten, den Kolleginnen und Freunden. Sie wird gemobbt. Ständig gibt es neue Vorgaben und Regeln. Schließlich wird sie vom Dokumentarfilm zu den Nachrichten versetzt und bleibt zu Hause. Schon in den letzten Tagen hatte sie sich immer wieder in einem Park aufgehalten und die Menschen beobachtet. Manche kommen ihr plötzlich bekannt vor. Kann sie ihrer Erinnerung trauen? Hasret zieht sich in ihre Wohnung zurück, sie verschanzt sich. Sie lässt sich nur widerwillig auf ein Gespräch mit einzelnen Freunden ein, die besorgt nach ihr schauen. Sie wiegelt ab, sie verweigert den Kontakt. Es ist dunkel in der Wohnung; sie stöbert in alten Briefen, Musikkassetten und Bildern. Schließlich bricht sie den Kontakt zur Außenwelt ganz ab.

Vieles erinnert den psychiatrieerfahrenen Zuschauer an eine beginnende Psychose. Die Bewusstseinsveränderung ist akustisch und visuell brillant umgesetzt. Die Realität schwindet, oder bricht eine andere Realität in Hasret ein? Sie hat Albträume, in denen sie Feuer sieht. Sie hört eine Melodie aus der Vergangenheit oder sieht ein brennendes Haus. Hasrets Vater und Mutter sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Aber stimmt das überhaupt? Sie zweifelt. Immer stärker drängen sich die Träume in ihr Bewusstsein. Die Wohnung scheint sich zu verändern. Oder rücken die Wände tatsächlich zusammen?

Was Hasret erlebt, und was uns die Regisseurin Ceylan Özgün Özçelik zeigen will, ist das Gegenteil einer Psychose. Das psychotische Erleben ist hier kein Verlust der Realität, sondern die historische Wahrheit drängt aus dem Unterbewusstsein mit Macht in das Bewusstsein der Protagonistin. Die Vergangenheit werde genauso in der Türkei verdrängt, das beklagt sie bei der Pressekonferenz. Der Film hat immerhin viele Journalisten so beeindruckt, dass auch Wochen später Interviews mit der Regisseurin publiziert werden. Denn die Situation in der Türkei steht im Brennpunkt. Bleibt zu hoffen, dass dieser Film in die deutschen Kinos kommen wird.

Inflame/Kaygι
Türkei 2017; 94 Min.;
R: Ceylan Özgün Özçelik;
D: Algi Eke, Özgür Çevik

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Masaryk

Der Spielfilm »Masaryk« war in der Reihe »Berlinale Special« zu sehen. In der Tschechoslowakei hat der Film bereits 14 Nominierungen für den Filmpreis Tschechischer Löwe erhalten. Der Filmstart in Deutschland steht noch nicht fest.

Jan Masaryk ist der Sohn von Thomas Masaryk, Nationalheld und Gründer der Tschechoslowakei. Kurz nach dem Tod seines Vaters wurde das Münchner Abkommen geschlossen und das Sudetenland an Deutschland abgetreten. Bis dahin residierte er als Botschafter in London, saß gerne am Piano und tanzte leidenschaftlich. 1939 flieht er vor der politischen Situation zunächst nach London, dann weiter in die USA - England und Frankreich haben sein Land im Stich gelassen. Er hat versagt. In seiner Verzweiflung trinkt er immer mehr Alkohol und konsumiert Kokain, bis er im Vineland-Sanatorium landet. Dort wird er ausgerechnet von dem ebenfalls geflüchteten deutschen Psychiater Dr. Stein behandelt. Dessen Vertreter steckt Masaryk zunächst in ein Dauerbad, und Stein droht seinem prominenten Patienten mit Lobotomie, wenn er weiterhin passiv bleibe. Masaryk stellt sich peu à peu der Wirklichkeit, auch dank einer neuen Frau in seinem Leben, der Schriftstellerin Marcia Davenport. Dr. Steins Therapieziel ist die politische Aktivierung von Masaryk, der wieder Verantwortung für sein Land übernehmen soll. Er schubst ihn mit teilweise harschen und originellen Methoden zurück nach London in das Amt des Außenministers im Exil. Masaryks Leben endet 1948 mit einem bis heute ungeklärten Fenstersturz.

Von dieser opulenten Produktion profitieren vor allem historisch Interessierte. Mich erfreute besonders der Schauspieler Hanns Zischler, der ab und zu durch Charlottenburg radelt, in seiner Rolle als Dr. Stein, die er äußerst erfrischend ausgestaltet. Für sein Buch »Kafka geht ins Kino« wird Zischler in Filmkreisen geradezu verehrt. Die Neuauflage enthält eine DVD mit Filmszenen, die Kafka gesehen hat und die ihn inspiriert haben dürften.

Masaryk
Tschechische Republik/Slowakische Republik
2017; 114 Min.;
R: Julius Sevcík;
D: Karel Roden, Hanns Zischler

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Ghost Hunting/Istiyad Ashbah

Erstmals wurde bei der diesjährigen Berlinale ein Silberner Bär für den besten Dokumentarfilm verliehen. Der Preis ging an »Ghost Hunting«, auf keinen Fall zu verwechseln mit den klamaukigen »Ghost Buster«-Filmen. Die Dokumentation erinnert vor allem an zwei Arbeiten der letzten Jahre, in denen das »Reenactment« von Völkerverbrechen in Indonesien im Mittelpunkt stand. »The Act of Killing« aus der Täterperspektive und »The Look of Silence« aus der Opferperspektive sind wegen der spekulativen Inszenierung umstritten. In »Ghost Hunting« geht es um das berüchtigte MoskobiyaUntersuchungsgefängnis in Jerusalem, das der Regisseur Raed Andoni mit ehemaligen Gefangenen nachbildet.

Andoni hat palästinensische Männer gesucht, die sowohl das Verhörzentrum der Israelis in Jerusalem kennen als auch Erfahrungen als Handwerker oder Schauspieler haben. Der Film zeigt den Regisseur in der Rolle des Regisseurs. Zunächst befragt er die Bewerber, er castet seine Schauspieler, er bespricht mit ihnen den Aufbau der Kulissen. Wer eine Rolle als Schauspieler möchte, muss sich also ein intensives Verhör zutrauen - als Täter oder Opfer. Die ausgewählten Handwerker bauen das Bühnenbild, sie nageln und sägen und diskutieren. Wie genau sahen die Zellen aus? Wie waren die Türen gestrichen? Das technische Vorgehen wird ausgehandelt. Wie genau wurde man gedemütigt und erniedrigt? Wer traut sich den Part des sadistischen Vernehmers zu?

Der Film beginnt kühl, nicht nur in seiner Ästhetik. Die Handwerker agieren professionell, die Schauspieler machen Rollenspiele. Die ausgewählten Protagonisten setzen sich ein zweites Mal der Verhörsituation aus, mal vor, mal hinter dem Schreibtisch. In den abgehärteten Männern tauchen Erinnerungen auf, einige erzählen, dass sie sich das erste Mal mit diesem Teil ihres Lebens konfrontieren. Es kommt zu Retraumatisierungen, aber auch zu erstaunlichen Zeichen des inneren Widerstands. Einige gebrochene Männer betonen die Bedeutung ihrer Familie, und am Ende kommen Ehefrauen und Kinder in die grausigen Kulissen, um ihre Väter wieder in die Gegenwart abzuholen.

Da der Film prämiert wurde, rechne ich fest mit einem Kinostart.

Ghost Hunting/Istiyad Ashbah
Dokumentarfilm; Frankreich/Palästina/Schweiz/Katar
2017; 94 Min.;
R: Raed Andoni

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Insyriated

In der Sektion »Panorama« wurde ein Spielfilm gezeigt, der nur schwer zu verkraften war. Das lag sicher an der eindringlichen Inszenierung und an dem zugespitzten Plot, aber auch daran, dass Szenen wie diese in jedem Krisengebiet der Welt tatsächlich geschehen. Wir alle wissen das, und doch ist es Alltag, und wir können es nicht verhindern. 24 Stunden im syrischen Bürgerkrieg.

Eine Mutter versucht mitten im umkämpften Damaskus mit aller Strenge den Alltag ihrer großen Familie aufrechtzuerhalten. Stromund Wasserzufuhr sind gekappt; Kanister müssen transportiert werden. Der Vater ist abwesend, wird aber erwartet. Die philippinische Haushaltshilfe muss putzen; Söhne und Töchter haben Freunde zu Besuch und spielen oder fummeln. Der Opa unterrichtet seinen Enkel. Einer Nachbarin wurde mit ihrem Partner Unterschlupf gewährt - sie hat gerade ein Baby bekommen; ihr Mann plant die Flucht der kleinen Familie. Zu den Mahlzeiten versammeln sich alle am großen Esstisch. Die Wohnung befindet sich in einem großen Neubaublock, den fast alle Bewohner bereits verlassen haben. Wir kennen diese Wohnblocks, mehr oder weniger beschädigt, aus den Nachrichten. Marodierende Banden ziehen durch die Gegend, und wenn es klopft, zucken alle zusammen. Wer steht vor der Tür? Schließlich gelangen doch bewaffnete Männer in die Wohnung. Was wollen sie? Wer die Wohnung verlässt, wird vielleicht von Scharfschützen erschossen. Wer in der Wohnung bleibt, wird vielleicht verletzt oder vergewaltigt. Im Verlauf der atemberaubenden Handlung geschieht all dies, beklemmend realistisch, unspektakulär. Schüsse fallen. Die Mutter versucht ihre Kinder zu schützen, um jeden Preis. Gibt es in dieser Lage richtig und falsch? Können Menschenleben gegeneinander aufgewogen werden? Der Film demonstriert, dass extreme Lebenslagen extremes Verhalten provozieren. Natürlich kann in jeder Situation ein moralisches Dilemma konstruiert werden, nicht nur im Krieg. Hier erhöht der moralische Konflikt die ohnehin prekäre Situation. Nicht alle Rezensenten fanden diese dramatische Zuspitzung legitim. Doch die Zuschauer waren überwältigt.

»Insyriated« gewann auf der 67. Berlinale den Panorama-Publikumspreis für den besten Spielfilm sowie das Europa Cinemas Label als bester europäischer Film der Sektion. Das europäische Kino-Netzwerk gibt finanzielle Anreize, um den Film in den europäischen Kinos zu zeigen. Wir werden sehen.

Insyriated
Belgien/Frankreich/Libanon
2017; 85 Min.;
R: Philippe Van Leeuw;
D: Hiam Abbass, Diamand Abou Abboud

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Almost Heaven

In der Dokumentation »Almost Heaven« porträtiert die englische Filmemacherin Carol Salter ein junges Mädchen in China, das in einem riesigen Bestattungsinstitut für spezielle Dienstleistungen ausgebildet wird, die gerade für eine zahlungskräftige Klientel in Mode gekommen sind: Der Leichnam wird aufgebahrt, gewaschen und sorgfältig massiert, wobei einfühlsam - wie bei einem guten Arzt - jeder Schritt erklärt wird: »Jetzt säubere ich deine Nase, jetzt verbinde ich deine Füße.« Die Familienmitglieder der Verstorbenen, sehr einfache Leute, stehen etwas verwundert um die aufgebahrte Leiche herum, die mit technischer Raffinesse gewaschen und getrocknet wird. Die junge Auszubildende ist aus einer fernen Provinz gekommen, die mehrere Tagesreisen entfernt liegt; im Mehrbettzimmer des Wohnheims entstehen erste Freundschaften. Doch sie ist unglücklich und kann ihre Eltern überreden, diese mehr als gewöhnungsbedürftige Ausbildung abbrechen zu dürfen. Die Abschlussszene zeigt sie zwischen vielen Weißkitteln: Sie wird nun Krankenschwester.

Almost Heaven

Dokumentarfilm;
Großbritannien 2017; 75 Min.;
R: Carol Salter

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Theater of Life

Jetzt kann ich es Ihnen ja verraten: Ich durfte in diesem Jahr das erste Mal schon vor der Berlinale etliche Filme der Berlinale sehen. Irgendwie bin ich in einen mysteriösen Verteiler gerutscht - ein Sechser im Cineasten-Lotto. Auch einige Filme der Sektion »Kulinarisches Kino« durfte die Presse vorab goutieren. Diese Filme waren für mich bisher schon aus thematischen Gründen tabu. Außerdem sind die Filme dieser Reihe, die stets in Kombination mit einem hochkarätigen Menü serviert werden, beim Festival immer sofort ausverkauft. Pressevorführungen sind nicht vorgesehen. Nun konnten wir uns also mit unserer Stullenbüchse und einem Kaffee aus der Presskanne im schummrigen Arsenal gleich auf mehreren Sitzen breitmachen. Das ist Luxus!

Ich hatte mir den Dokumentarfilm »Theater of Life« auserkoren. Immerhin sollte es hier nicht nur um Drei-Sterne-Köche, sondern auch um Obdachlose gehen. Also würde Filmknäcke sein Thema nicht ganz und gar verfehlen. Das Motto sprach mich an: What if food waste could feed the hungry?

Mailand 2015: Der italienische Meisterkoch Massimo Bottura hat eine Idee. Er will aus den übrig gebliebenen Lebensmitteln der EXPO Mahlzeiten für obdachlose und arme Menschen herstellen. Das möchte er nicht alleine machen, sondern gemeinsam mit 40 Spitzenköchen aus der ganzen Welt. Es gelingt ihm tatsächlich, Ferran Adrià, René Redzepi, Alain Ducasse, Daniel Humm und viele mehr für seine Idee zu begeistern. Es findet sich ein aufgelassenes Theater, das für die Aktion hergerichtet wird. Jeden Tag karrt ein Team die Lebensmittel an, sie werden gesichtet, und dann wird daraus ein Menü komponiert. Häufig stehen Brot und Brötchen im Mittelpunkt; es wird geröstet, eingeweicht, und mehr oder weniger originell verarbeitet. Milchprodukte, Eier, Eis, Gemüse und manchmal sogar Fleisch kommen dazu. Helfer machen sich in Mailand auf den Weg, um Menschen zu suchen, die obdachlos waren oder es immer noch sind. Viele von ihnen sind Migranten. Der Koch des Tages steht in der Küche, er schmeckt ab und rührt und unterweist seine Helfer. Dann sitzen die Gäste um den schlichten Holztisch und verzehren die Speisen, die ihnen formvollendet serviert werden. Manche von ihnen vermissen den Alkohol, nicht wenige finden die Portionen ein wenig zu klein und hätten gerne Nachschlag. Manchmal geschieht dieses Wunder von Mailand.

Der Filmemacher begleitet die Obdachlosen zu den Orten, an denen sie wohnen oder hausen, an denen sie sich aufhalten. Besonders viel Aufmerksamkeit erhält ein Paar, das am Bahnhof lebt und dort partout bleiben will. Die Frau schiebt ihren Rollator, der Mann spielt auf der Gitarre und singt dazu. Eine Notunterkunft wird ihnen angeboten; ein Helfer will sie begleiten und unterstützen. Doch wir ahnen schon: Obdachlose sind eigensinnig. Die beiden wollen ihre Freiheit, freuen sich aber über den täglichen Transport zu den Mahlzeiten im »Theater des Lebens«. Die Sterneköche zeigen, wie rasant sie schneiden und hacken und rühren können. Zwischendurch geben sie ein pathetisches Statement ab: Man wolle den Menschen ihre Würde zurückgeben. Die Aktion sei ein Zeichen, ein Statement, eine wichtige Geste. Alle sind gerührt, ab und zu wird eine Träne weggewischt. Man herzt sich und applaudiert.

Ich greife nach einer weiteren Stulle, obwohl mir der Appetit eigentlich vergangen ist. Die Armen von Mailand dienen nicht nur mir als Alibi, um nicht ganz mein Thema verfehlt zu haben. Die Obdachlosen von Mailand sind auch das Alibi für die Sterneköche. Sie werden benutzt und vorgeführt. Ich bin erleichtert, als einer der Männer genau dies vor der Kamera konstatiert: Man interessiere sich nicht wirklich für sie, sondern nur für ihren Status. Sie sind Statisten. Es spricht für den Film, dass diese Sequenz nicht geschnitten wurde. Mahlzeit!

Theater of Life
Dokumentarfilm; Kanada 2016; 93 Min.;
R: Peter Svatek;
D: Massimo Bottura, Ferran Adrià

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Happy Burnout

Das war's vom Filmfest - doch das Kinojahr geht weiter, und Anfang Mai wünscht Wotan Wilke Möhring von allen Werbeflächen »Happy Burnout«. Er ist im gleichnamigen Spielfilm ein Alt-Punk namens Fussel, Bezieher von Hartz IV, seit es Hartz IV gibt, und beliebt bei allen Nachbarn und ganz besonders bei Frau Linde, seiner Sachbearbeiterin im Jobcenter. Die gerät im Rahmen eines Controllings unter Druck; von ihrem Schwager, einem Psychiater, hat sie sich eine Klinikeinweisung für ihren Lieblingskunden Fussel ausstellen lassen. Sie überreicht ihm außerdem das Fachbuch »Burnout für Dummies« und schickt ihn in Therapie. In dem kleinen Schloss begrüßen ihn Anke Engelke als hochkompetente Pflegefachkraft und Ulrike Krumbiegel als kritische Psychiaterin. Er teilt sich das Zimmer mit Günther, dem innerlich und äußerlich verbrannten Besitzer einer Kette von Sonnenstudios. Fussel übersteht die obligatorische Morgenrunde und greift beim Mittagessen tüchtig zu; er bringt im Park die anderen Patienten auf Trab, weil er von Natur aus empathisch und unverzagt ist. Doch das Fachpersonal kommt ihm auf die Schliche - Fussel ist ja total gesund! Großzügig wird ihm angeboten, seine Fähigkeiten sozusagen als Undercover-Therapeut auszuleben. Dieser Schlenker der Handlung bietet Gelegenheit für viele originelle und glücklicherweise nicht nur klamottige Aktivitäten, stets fachpolitisch korrekt, aber durchaus charmant. Da gibt es Merle, die erschöpfte Mutter von vier Kindern, und den Banker, bei dem ein psychosoziales Flexibilitätsdefizit diagnostiziert wurde. Eine Patientin mit Tinnitus stößt sich einen Stift ins Ohr, und schließlich erweitert sogar Frau Linde vom Jobcenter, inzwischen total ausgebrannt, die Kohorte. Fussel kümmert sich personenzentriert; mal führt er ein vertrauliches Gespräch auf dem Fußboden, mal entführt er zwei Patienten zum Bierchen in die Dorfkneipe. Das fremde Elend macht ihm die Leerstellen seiner eigenen Existenz bewusst, und in einer weiteren konstruierten Kehrtwendung wird Fussel mithilfe seiner neuen Freunde endlich erwachsen. »Happy Burnout« ist lustig, ohne sich lustig zu machen. Das ist schon die halbe Miete. Die gut gelaunt agierende Schauspielerriege übernimmt den Rest.

Happy Burnout
Deutschland 2017; 102 Min.;
R: André Erkau;
D: Wotan Wilke Möhring,
Michael Wittenborn, Anke Engelke

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 157 - Heft 3/17, Juli 2017, Seite 50 - 53
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2017

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