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Z/277: Diskurs und linke Strategie


Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 121 - März 2020

Diskurs und linke Strategie

von Dieter Klein


In der gegenwärtigen Phase tiefgreifender Umbrüche, deren Ausgang offen ist, gewinnen Diskurse erstrangige Bedeutung. Aber im Widerspruch dazu ist die plurale Linke, die Linkspartei eingeschlossen, in den öffentlichen Debatten nur schwach wahrnehmbar (Candeias 2019). Mehr denn je ist die Linke gefordert, ihren eigenen Diskurs öffentlich wirksam als "strategischen Diskurs" zu führen. "Denn der Diskurs ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht." Er besitzt eine "schwere und bedrohliche Materialität" (Foucault 1974: 8; 7). Er bestimmt in starkem Maße, in welcher Richtung Menschen denken und handeln.

Seit dem vorläufigen Höhepunkt der Mehrfachkrise 2008/09 verläuft der Diskurs anders als zuvor. Die Brüchigkeit der neoliberalen Gestalt des Kapitalismus und der neoliberalen Ideologie wurde offenbar. Sozialismus wird wieder öffentlich erwägbar. Ein Fenster für eine Diskurswende hat sich geöffnet. Die Linke muss das nutzen. Jetzt! Dazu gehört zunächst eine Analyse der Diskurslandschaft, der verschiedenen Diskursrichtungen (siehe Klein 2019).

Der neoliberale Diskurs

Der neoliberale Diskurs verläuft differenzierter als häufig wahrgenommen. Aber er stößt deutlich an die Grenzen der eigenen Dogmen. Er lotst die Machteliten in Sackgassen. Er offenbart deren Konzeptionsarmut.

Prominente Exponenten des neoliberalen Diskurses wie Bert Rürup und Dirk Heilmann (2012) bedienen die aus der Endzeit der DDR wohlbekannte Neigung der Machteliten zur Realitätsverweigerung. Die "Idee" der Autoren ist, dass ohne größere Veränderungen der Politik die Zukunft für Deutschland durch die Exportexpansion gesichert sei. Wachsende Teile der jungen Generation, mit Fridays for Future auf den Straßen, wissen das besser.

Karl-Heinz Paqué (2010) meint zum Klimawandel: Je stärker das Wachstum, desto höher der Wohlstand und desto größer die Bereitschaft, umweltbewusst zu leben. Natürlich werde es eine Weile dauern bis dahin. Aber: "Da jeder zusätzliche Ausstoß von Kohlendioxid in der Erdatmosphäre eine sehr lange Verweildauer hat, ist es tatsächlich für die langfristige Wirkung nur von begrenzter Bedeutung, ob die Verringerung des Ausstoßes 'heute' oder 'morgen' (sagen wir, in 30 Jahren) erfolgt." (ebd.: 104) In zahllosen Studien wurde das Gegenteil bewiesen. Eine Position wie die Paqués ist nicht nur ignorant, sie scheint leider nicht ohne Wirkung auf den "Klimaschutzplan 2030" der Bundesregierung geblieben zu sein.

Hans-Werner Sinn sieht im Gegensatz zu Rürup und Paqué den Finanzmarktkapitalismus in einer gefährlichen Krise; "fast eine Kernschmelze" sei die jüngste große Krise gewesen. Er kritisiert unter anderem die zu geringen Eigenkapitalquoten der Banken, die hohen Bestände toxischer Papiere und den "Laschheitswettbewerb der Staaten" um die niedrigste Regulierung der Märkte. Die Machteliten brauchen eben auch ein Vorwarnpotenzial und Korrektive. Für besonders gefährlich hält Sinn zu Recht die weitgehende Beschränkung der Haftung von kapitalistischen Eigentümern für die Folgen ihres Wirtschaftens durch das Rechtsinstitut der Haftungsbeschränkung. Diese Regelung verleite nur zu risikoreichen Transaktionen.

Aber dann führen auch ihn die Grenzen neoliberalen Denkens in eine Sackgasse. Die Aktionäre, meint Sinn, würden ihr Kapital nämlich gar nicht investieren, wenn sie für das ganze Geschäftsrisiko haften müssten: "Wer die Dynamik des kapitalistischen Systems will ..., muss also die Kapitalgesellschaft wollen und die Haftungsbeschränkung auf sich nehmen. So gesehen ist die Haftungsbeschränkung ein notwendiges und segensreiches Institut." (Sinn 2012: 114) Kritik verkehrt sich in Absegnung. Und im Übrigen: "Bei der Analyse der Systemfehler geht es umgekehrt auch nicht um die Systemfrage an sich, wie manche meinen. Die Finanzkrise ist keine Krise des Kapitalismus, sondern eine Krise des angelsächsischen Finanzsystems, das zum Kasino-Kapitalismus mutierte und leider auch in Europa immer mehr Nachahmer gefunden hat." (ebd.: 14) Nie ist der Kapitalismus selbst die Wurzel der Übel, sondern allenfalls sind es Fehler in seiner Ausgestaltung - und noch dazu Fehler außerhalb der eigenen Verantwortung.

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Diskurs ermöglicht Schlussfolgerungen für den strategischen Diskurs der Linken:

• Der neoliberale Diskurs bleibt - selbst in finanzmarkt- und austeritätskritischer Gestalt oder grün modifiziert - letzten Endes jenem Weiter so verhaftet, das die Krisen der Gegenwart verursacht hat. Mit den Dogmen des Neoliberalismus begegnen die Machteliten den Jahrhundertaufgaben geistig entleert. Probleme werden verdrängt oder sie sollen mit der Beschleunigung jenes unkontrollierten Wachstums gelöst werden, das seit Jahrzehnten die Umweltkrise vertieft.

Diese konzeptionelle Leere ist die Chance für eine Diskursoffensive von links. Die Linke muss sie nutzen, ohne Zeitverzug!

• In den Diskursen der Machteliten werden die systemischen Ursachen der ungelösten Probleme geleugnet. Es fällt der Linken zu, den Diskurs ins Systemische zu wenden, die Schuldigen an Klimawandel, Kriegen, Armut, Ungerechtigkeit und Rechtsentwicklung beim Namen zu nennen, Eigentums und Machtfragen zu thematisieren und auch für sie zeitgemäße Antworten auf den Weg zu bringen.

Es geht um einen sozial-ökologischen Richtungswechsel, der das Ganze betrifft. Zuständigkeitshalber ist die Linke, in Deutschland nicht zuletzt die Linkspartei, in die Auseinandersetzung darum gerufen.

• Als Beleg für die angebliche Alternativlosigkeit des Kapitalismus wird gebetsmühlenartig auf die Desaster des Staatssozialismus verwiesen. DIE LINKE hat in einer Vielzahl von Konferenzen und Publikationen wie keine andere Partei die Ursachen dafür analysiert und sich vom Stalinismus als System unwiderruflich distanziert. Das wird sie auch weiter tun. Nach vom geöffnet beginnt in der Linken gerade eine neue Welle der Diskussion über mögliche Konturen eines demokratischen grünen Sozialismus (Dörre 2019; Krüger 2016; Brie 2014; Klein 2013). Die Linke ist dabei, jene Charaktere einer solidarischen menschengerechten Gesellschaft herauszuarbeiten, die das Gegenbild zu Staatssozialismus und Kapitalismus ausmachen könnten.

Eine wichtige Dimension des linken strategischen Diskurses ist, den Erzählungen der Neoliberalen und der Neuen Rechten eine an den Interessen, Wünschen und Hoffnungen der Bevölkerungsmehrheit anknüpfende moderne linke Erzählung entgegen zu setzen, die aus den vielen Erzählungen der Menschen das sozial und ökologisch Gemeinsame herausfiltert und verdichtet.

Erst wenn im Bewusstsein der pluralen Linken und bei großen Teilen der Gesellschaft angekommen sein wird, was einen demokratischen grünen Sozialismus im Innersten ausmacht - erst dann wird diese Diskursaufgabe gelöst sein.

Hoffnung im linken Diskurs

Der Diskurs der Linken hat die Hoffnung auf seiner Seite. Ernst Bloch verstand das von ihm umfassend begründete "Prinzip Hoffnung" nicht als bloßen Traum, nicht als Flucht vor der Wirklichkeit, nicht als Trost allein. "Hoffnung nicht als Affekt, mit dem Gegensatz Furcht, sondern Hoffnung als ein kognitiver Akt, als ein Akt der Erkenntnis" (Bloch 1977:72). "Hoffnung ist keine Zuversicht, sondern ein Aufruf an uns Menschen, die wir doch an der Front des Weltprozesses stehen und die Aufgabe haben, die Welt zu modernisieren (ebd.: 97). Bloch fasste Hoffnung nicht zuletzt als eine verpflichtende Haltung für kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, als Aufforderung an die Art und Weise ihrer Forschung auf. Uneingeschränkt gilt das auch für linke Zukunftsdiskurse.

Das ist der Gegenpol zu einem Diskurstyp eigener Art, der als "Diskurs ohne Hoffnung" bezeichnet werden könnte. Wolfgang Streeck, langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaflsforschung, erwartet einen langen qualvollen Niedergangsprozess des Kapitalismus ohne Lösung der Probleme, gekennzeichnet durch den Zusammenbruch der Sozialintegration auf der Ebene der Gesellschaft. Die einzelnen nur noch verwiesen auf sich selbst, die Gesellschaft "unterregiert" voller Unsicherheit und in einer finalen Krise, aber ohne dass sich eine Alternative abzeichne. Streeck sieht nirgendwo Gegenkräfte als taugliche Träger einer Gesellschaftsalternative Keine Hoffnung - nirgends (Streeck 2013). Erst seit den jüngsten verstärkten Protestbewegungen beginnt er entgegen der Logik seiner eigenen Analyse und Theorie selbst Alternativen zu entwickeln (Streeck 2019).

Auch Frank Schirrmacher, bis zu seinem Tod der Herausragende unter den Herausgebern der FAZ, verkörpert diesen pessimistischen Diskurs. In seinem Buch "Ego. Spiel des Lebens" steht im Mittelpunkt, dass ein "mentaler Imperialismus" die Seele des Menschen erobert habe. Der Kapitalismus zerstöre das Menschsein im Menschen, indem er ihn in ein bloßes Konkurrenzwesen verwandle. Die Strategien des Kalten Krieges wurden, so Schirrmacher, aus den Denkfabriken des Pentagon in die Wirtschaft transferiert, in der sich die Menschen als konkurrierende Ego-Wesen verhalten und ihre dunklen Seiten - Egoismus, Gier, Rücksichtslosigkeit, Aggressivität und Gefühlsarmut - gegeneinander zur Geltung bringen müssen. Er fasst seine Analyse in der grundpessimistischen Frage zusammen: "Wie soll man so ein Leben leben?" Eine Antwort wusste er nicht. Nirgendwo sah er - selbst der medialen Machtelite zugehörig - Akteure, die eine Antwort geben könnten.

Auch von diesem Diskurstyp ist die Linke herausgefordert:

• Mobilisierung und Organisierung von progressiven Akteuren - das ist ein entscheidendes Moment linker Diskurs- und Handlungsstrategien. Das ist die Erfahrung aus den Kämpfen gegen TTIP, von Fridays for Future und Ende Gelände, aus Initiativen von Pflegekräften wie an der Berliner Charité, aus der Mieterbewegung und aus dem Miteinander gegen rechts. Die Zeit ist gekommen, die Endlichkeit des Kapitalismus zu Ende zu denken. Eine linke Offensivstrategie hat konkrete Schritte zu diesem Ende hin zu markieren und Machtoptionen für diese Schritte zu schaffen.

• Hoffnung ist Gebot für linke Zukunftsdiskurse, allerdings begründet in der Wahrnehmung von Keimen einer künftigen sozialistischen Gesellschaft, schon in der Gegenwart, als Entfaltung solchen "Vor-Scheins" des künftig Möglichen, etwa in Gestalt des Non-Profit-Sektors, der Commons, wachsender Bedeutung der Care-Arbeit, der Fortschritte feministischer und anderer sozialer Bewegungen.

• Demokratischer grüner Sozialismus und der Weg dahin sind die menschengerechte Antwort auf Schirrmachers Frage, wie das Leben weitergehen soll. Aber diese Antwort erfordert, dass die Linke in ihren eigenen Strukturen und in der Gesellschaft Solidarität, Toleranz, Empathie, Anerkennung, Zuhören, Pflege des Arguments und Nächstenliebe voll zur Geltung bringt und ihren Zustand und ihre Konzepte daraufhin überprüft. Der Diskurs der Linken sollte das Verständnis der kommenden Transformation als moralische Revolution, wie von Uwe Schneidewind vertreten (Schneidewind 2018), auflehnen, allerdings ohne dessen Unterbewertung von Eigentums- und Machtverhältnissen zu übernehmen. Seit Jahrzehnten war nicht so wichtig, dass die Linke dem Wärmestrom positiver Emotionen Raum gibt und mit ihrer Rationalität verbindet. Denn:

Linker Diskurs - Gegenpol zur völkischen Erzählung des Rechtsextremismus

Der Diskurs der extremen Rechten mobilisiert alle negativen Seiten im Menschen - Menschenverachtung, Rassismus, Nationalismus und Gewalt. Er ist vor allem deshalb gefährlich, weil er damit die Entwicklung des gegenwärtigen Kapitalismus zu Barbarei und Entzivilisierung öffnet und vorantreibt.

Viele AfD-Anhänger haben diese Partei als Ausdruck von Protest gewählt, mehr als die Hälfte jedoch auch, weil sie der völkischen Ideologie zustimmen. Für linke Politik bedeutet das, sozialen Problemen als Grund für rechtsgerichtete Protesthaltungen größte Aufmerksamkeit zu widmen und zugleich einen kompromisslosen ideologischen Kampf gegen die Erzählung der Rechtsextremen zu führen.

• Gegen die Umdeutung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit und anderer Herrschaftsstrukturen in einen Konflikt zwischen dem "Wir" - dem angeblich von "Entvölkerung" durch den "Ansturm" der "asiatischen Mongoliden", durch "Afrikanisierung" und "Islamisierung" bedrohten deutschen "Volk" - und "den Anderen", den "Ausländern" vor allem, muss die LINKE eine neue verbindende Klassenpolitik setzen, die das Gemeinsame in der Lage der höchst differenzierten Lohnabhängigen und Mittelschichten gegen die Machteliten zur Geltung bringt.

• Nicht weiter hinnehmbar ist, Solidarität mit Migrant*innen und Ausbau des Sozialstaats gegeneinander zu diskutieren. Wenn für die auch durch Zuwanderung wachsenden Aufgaben Umverteilung erforderlich ist, dann soll diese zulasten der Großvermögen und von Höchstprofiten gehen.

• Monopolistische und oligarchische Macht zurückdrängen! Das ist die linke Antwort auf die rechte Pseudokritik am Establishment, die in Wahrheit auf eine autoritäre Herrschaft zielt, die "keine halben Sachen" macht. "Auch wenn wir ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen" (Höcke 2018: 257). Wohin sollen die "Unwerten" im Volke verschwinden? Welche Erinnerungen werden da geweckt! Das ist Mobilisierung für Gewalt, Terror und Barbarei.

• Die Linke kann nicht mehr auf sanfte Reformen setzen. Sie muss den Bruch mit den neoliberalen Strukturen herbeiführen, die den Boden für rechte Scheinalternativen bilden.

Rote Antworten auf grüne Herausforderungen

Der Diskurs vom Grünen Kapitalismus soll aus der Sicht partiell problembewusster Fraktionen der Machteliten eine grüne Modernisierung des Kapitalismus fördern. Das Konzept eines Green New Deal changiert zwischen dieser begrenzten Orientierung, einer progressiven postneoliberalen Transformation im Rahmen des Kapitalismus und Ansätzen zu seiner Überschreitung. In der LINKEN votiert in jüngster Zeit Bernd Riexinger für einen linken Green New Deal (Riexinger 2019; Candeias 2019).

Die Linke hat mit der Deutung des grünen Kapitalismus und des Green New Deal einige Schwierigkeiten. Die einen halten einen grünen Kapitalismus nicht für möglich und nur für eine Täuschung mit wenig Substanz. Andere haben nach meiner Ansicht recht, wenn sie umwelttechnologische Fortschritte unterstützen und zugleich das Ausblenden sozialer Grunddefizite und von Eigentums- und Machtfragen anprangern. Die einen setzen Grünen Kapitalismus und Green New Deal fast gleich, als gleichermaßen kapitalistisch begrenzt. Andere erkennen bei den progressiven Vertretern eines Green New Deal - etwa Tim Jackson, Michael Müller, Kai Niebert - den Willen zu einer progressiven postneoliberalen Transformation. Die einen halten einen ökologischen Umbau im Rahmen des Kapitalismus für ganz unmöglich. Ich stimme anderen zu, die unter der Voraussetzung starker Veränderungen der Kräfteverhältnisse nach links Chancen für postneoliberale sozial-ökologische Fortschritte erkennen und wegen deren Grenzen zugleich auf Projekte des Einstiegs in eine Große Transformation über den Kapitalismus hinaus drängen. Die einen sehen in einem Grünen Kapitalismus neue Wachstumschancen. Die anderen halten Wachstum und sozial-ökologischen Umbau für unvereinbar. Zutreffend ist wohl, in der Phase des Übergangs zu einer nachhaltigen Gesellschaft tatsächlich von den dafür erforderlichen enormen Investitionen ein stärkeres Wachstum zu erwarten. Richtig ist aber auch, dass dieses Wachstum auf Effizienztechnologien, erneuerbare Ressourcen und Kreislaufwirtschaft konzentriert und mit dem Rückbau von umweltschädigenden Branchen verbunden werden muss. Und dass langfristig für die Industrieländer das Wachstum des BIP gegen Null gehen muss - auch um Wachstumsräume für den globalen Süden freizumachen und um auch für die Entwicklungsländer neue ökologische Wege auszuloten. In vollem Umfang wird das nur in einer Gesellschaft möglich werden, die als demokratischer grüner Kapitalismus zu bezeichnen ist.

Kein systemverändernder Diskurs ohne transformationstheoretische Grundlagen

Die Revolutionsstrategie der alten Linken beruhte auf revolutionstheoretischen Grundlagen. Die Reformpolitik der Sozialdemokratie gründete auf reformistischen Theorien. Eine moderne Linke bedarf für transformatorische Politik einer konsistenten sozialistischen Transformationstheorie. Es ist eine wichtige Aufgabe ihres Diskurses, dies sich selbst und öffentlich verständlich zu machen.

Aber ist ihr das klar? Manchen linken Kreisen wohl nicht. Das avancierteste transformationstheoretische Werk hat Erik Olin Wright vorgelegt, der von 2010 bis 2013 Präsident der American Sociological Association war (Wright 2015). Der Kern seiner Theorie ist eine Kombination von drei Transformationsstrategien. Er erwartet einen demokratischen Sozialismus von 1.) Brüchen in der gesellschaftlichen Entwicklung, 2.) symbiotischen Reformen, die Kompromisse zwischen Interessen subalterner Klassen und Interessen von problembewussten Teilen der Machteliten in einer Symbiose finden und gerade dadurch reale Chancen für progressive Veränderungen eröffnen und 3.) Freiraumstrategien, d.h. Nutzung von Nischen im Kapitalismus für sozialistische Experimente und Projekte.

Das Konzept einer doppelten Transformation, von einigen Wissenschaftler*innen des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung entwickelt und vertreten, ergänzt diese Theorie (Klein 2013; Brie 2014). Erwartet wird nicht, dass dem neoliberalen Kapitalismus unmittelbar eine sozialistische Gesellschaft folgen wird. Im glücklichsten Fall könnte unter der Voraussetzung stark veränderter gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse nach links für längere Zeit eine demokratischere, sozialere, friedlichere und stärker ökologisch orientierte Gestalt des Kapitalismus erkämpft werden. Eine sozialistische Entwicklung ist aber nicht säuberlich getrennt von einem solchen Prozess zu erwarten. Vielmehr kommt es noch mitten in der systeminternen Transformation des Kapitalismus darauf an, Projekte des Einstiegs in eine systemüberwindende Große Transformation voranzutreiben. In diesem Sinne handelt es sich um eine doppelte Transformation. So tat sich plötzlich in den Protesten gegen Mietwucher die Chance für eine Enteignungsbewegung gegen große Wohnungskonzerne auf. Ein solches Konzept schlägt eine Brücke zwischen linken Reformern und der radikalen Linken, zwischen der parlamentarischen und der Bewegungslinken - wenn denn alle Beteiligten eine wechselseitige Stärkung beider Elemente der Transformation aktiv fördern.

Als archimedischen Punkt einer sozialistischen Transformationstheorie betrachte ich die Bestimmung dessen, was den Sozialismus und den Weg zu ihm im Kern ausmacht, die Bestimmung seiner "Mitte". Das ist die freie Persönlichkeitsentfaltung einer und eines jeden in Einklang mit der Erhaltung einer menschenfreundlichen Natur. Alle sozialistische Politik sollte wie auf der Bahn einer Ellipse zwei Zentren zugleich umkreisen, erstens die Bereitstellung der Bedingungen individueller Entfaltung für alle Menschen, von Freiheitsgütern also, und zweitens die nachhaltige Reproduktion unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Nur beides zusammen macht das Leitbild einer menschenwürdigen Gesellschaft aus. Das ist das fundamental Neue einer epochegemäßen linken Strategie und Politik - als sozial-ökologische Klassenpolitik über die bisher zahnlose Konturlosigkeit der SPD hinausgehend, über die sozialen und machtpolitischen Leerstellen der Grünen und über die ökologischen Defizite der LINKEN. Das allerdings erfordert gesellschaftliches Eigentum an zukunftsentscheidenden Ressourcen sowie strategische Planung und Lenkung.

Zwei Fragen für eine linke Makroökonomie

Zu einer künftigen neuen Wirtschaftsordnung gehören eine gerechte Umverteilung von Macht und Lebenschancen, ein Mix von Eigentumsformen, von real gesellschaftlichem Eigentum bis zu Kapitaleigentum, ein neues Akkumulationsregime - d.h. eine neue Justierung volkswirtschaftlicher Grundproportionen - und eine neue Regulationsweise. Zwei Probleme seien hervorgehoben.

Erstens: Die bisher existierenden modernen Wirtschaftsweisen führen zur Zerstörung der Natur. Die ökonomische Reproduktion muss künftig in die Reproduktion der Naturkreisläufe eingeordnet werden. Dies verlangt, die gesamte Ressourcenbewirtschaftung und Wirtschaftsweise fundamental zu verändern. Alles Wirtschaften muss der doppelten Zielsetzung dienen: der Persönlichkeitsentfaltung jeder und jedes einzelnen und der Bewahrung der Naturgrundlagen menschlicher Existenz. Das kommt einem zweifachen Bruch mit der gegenwärtigen Wirtschaft und Gesellschaft gleich. Der LINKEN wächst ein neuer Gebrauchswert zu: treibende Kraft im Parteiensystem für diesen sowohl sozialen wie ökologischen Bruch zu werden.

Zweitens: Marx nahm an, dass in einer sozialistischen Gesellschaft die Menschen ihre wechselseitigen Verhältnisse ohne Schwierigkeiten durchschauen würden und dass es ihnen keine Probleme bereiten würde, ihre Arbeitskräfte als eine einzige Arbeitskraft zu verausgaben und den gesellschaftlichen Bedürfnissen gemäß in den notwendigen volkswirtschaftlichen Proportionen und orientiert am Gemeinwohl einzusetzen. Das war eine Fehlerwartung. Wie ist zu bestimmen, was das Gemeinwohl ist - zumal es sich aus tausenden Gemeinwohlen zusammensetzt? Durch welche Mechanismen werden diese Proportionen reguliert? Eine zentralistische Planung hat nicht funktioniert. Der Marktradikalismus führt zu schweren Krisen und riesigen Verlusten. Die Linke muss klären, wie sich eine künftige solidarische Gesellschaft effizient, sozial ökologisch und demokratisch regulieren wird.

Eine neue Regulationsweise wird wohl drei unterschiedliche Mechanismen wirksam kombinieren: 1. gesellschaftliche strategische Planung und Lenkung mit Hilfe des Staates, 2. einen Marktmechanismus in neuer Rahmensetzung und 3. gestaltendes Handeln zivilgesellschaftlicher Akteure. Dabei ist das Kunststück gefordert, staatliche Steuerung, modernes Unternehmertum und Demokratie von unten in ein produktives Verhältnis zu bringen. Lösungen dafür gehören zum Gegenstand linker Diskurse.

Knotenpunkte kapitalistischer Widerspruchsentfaltung und Schwerpunkte eines linken Regierungsprogramms

Es ist schwer voraussehbar, an welchen Punkten Widersprüche aufbrechen, um welche Konflikte sich Gegenkräfte formieren könnten. Die Auffassungen in der Linken dazu sind sehr unterschiedlich. Sie werden oft nebeneinander behandelt und häufig aggressiv gegeneinander in Stellung gebracht: beispielsweise die Stabilisierung des Sozialstaats und die Solidarität mit Migrant*innen; zum Beispiel die Verbesserung der Lage der unteren Einkommensschichten und die Beachtung der teils postmateriellen Interessen mancher urbaner Milieus. Oft geht es um Lösungen für objektive Widersprüche, oft aber um falsche Entgegensetzungen nur miteinander lösbarer Probleme. Das behindert die Erarbeitung eines Gesamtprogramms für den sozial-ökologischen Richtungswechsel. Das Gebot für die LINKE lautet, in ihren Diskursen Konsens über ihre Programmatik, Strategie und Politik herzustellen.

Als Knotenpunkte kapitalistischer Widerspruchsentfaltung werden im linken Spektrum sehr unterschiedlich gewichtet: Gute Arbeit, kurze Vollarbeitszeit für alle und erweiterte Mitbestimmung; Aufwertung und Anerkennung der Care-Arbeit; Wohnen; Bildung; Mobilität; digitale Revolution und Informationsteilhabe; Leben im Alter; Klimapolitik; Beschränkung von Rüstungsexporten, Abrüstung und Friedenssicherung. Es kommt darauf an, Brennpunkte gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zu erkennen, in denen es um merkliche Verbesserungen der Lage wichtiger Klassenfraktionen - besonders der am meisten Benachteiligten - geht, die deren Mobilisierung ermöglichen, in denen eine bewusste Zuspitzung der Konflikte angelegt ist und die im Verlauf realisierbarer Reformen an größere Brüche mit sozialistischen Zügen heranführen. Bisher werden die verschiedenen Politikfelder meist nebeneinander diskutiert und bearbeitet.

Auch wenn es realitätsfern erscheinen mag: eine linke Offensive erfordert, die verschiedenen Politikkonzepte im Verlauf breiter öffentlicher Diskurse zu einem Programm für eine linke Regierung zusammenzuführen (Brie 2016). In einer Situation weltweiter Umbrüche sind die herrschenden Verhältnisse nicht mehr festgegossen. Die herkömmlichen Mitte-Links-Regierungen haben viele Probleme punktuell bearbeitet. Sie hatten keine Vision für die Transformation des Ganzen. Nur Linksregierungen werden imstande sein, das Einzelne in das Ganze einzubetten, gestützt auf ein breites solidarisches Mitte-Unten-Bündnis, auf Aufbrüche, Initiativen, Projekte, Bewegungen von unten und auf das Gemeinsame in ihnen.

Wandel beginnt in den Köpfen - den linken Diskurs öffentlich führen!

"Politik beginnt eigentlich erst mit der Aufkündigung dieses für die ursprüngliche Doxa charakteristischen unausgesprochenen Vertrags über die Bejahung der bestehenden Ordnung, mit anderen Worten: Politische Subversion setzt kognitive Subversion voraus, Konversion der Weltsicht." (Bourdieu 2005: 131) Ein Programm für eine sozial-ökologische Transformation in Vorbereitung der nächsten Bundestagswahl (Brie/Detje 2020) kann nicht anders als in breiten öffentlichen Diskursen entstehen, es kann nicht deklariert werden von dieser oder jener Partei oder Organisation. Wohl aber wird DIE LINKE ihre Vorstellungen für ein solches Programm in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen, diesen zu fördern und aus den Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern zu lernen haben. Eine erste Ebene des Diskurses ist also die vor Ort, in Kiezversammlungen, in Mieterversammlungen, auf der Straße, bei Hausbesuchen und in den Basisorganisationen der Partei selbst. Eine weitere wichtige Ebene ist der Diskurs der Linkspartei und anderer linker Organisationen mit Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern und kulturell Tätigen, um deren Expertise aufzunehmen und transformatorische Bündnisse zu verbreitern. Eine dritte Ebene ist die des Diskurses in herkömmlichen Medien und im Internet. Nur wer dort stark präsent ist, hat Einfluss auf das öffentliche Bewusstsein und die Richtung der Politik. Schließlich ist es die spezielle Funktion einer linken Partei, progressive Diskurse in den parlamentarischen Raum zu tragen, dort weiterzuführen, von dort aus zu stärken und möglichst in Gesetzesform zu bringen. Alle vier Ebenen fordern der gesellschaftlichen Linken neue Ideen und erheblich stärkere Anstrengungen ab, um Defizite zu überwinden.

Der fortschreitende Klimawandel, das Artensterben, die seit 1945 nie so große Gefahr eines Atomkrieges wie gegenwärtig, der anhaltende Hunger von Hunderten Millionen Menschen, der Aufstieg der Rechten und die Regierungsgewalt von unberechenbaren Autokraten in wichtigen Ländern - "Diese paradoxen Situationen erfordern einen außergewöhnlichen Diskurs, der die praktischen Prinzipien des Ethos zu expliziten Prinzipien mit (fast) systematischen Antwortmöglichkeiten erheben und allem Ausdruck verleihen kann, was an der von der Krise geschaffenen Lage unerhört und unsagbar scheint." (Bourdieu 2005: 132).


Literatur

Bloch, Ernst (1985): Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M.

Bourdieu, Pierre (2005): Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien

Brie, Michael (2016): Für eine linke Regierung in Deutschland. In: Sozialismus H. 1

Brie, Michael (2014): Futuring. Perspektiven der Transformation im Kapitalismus über ihn hinaus. Münster

Brie, Michael/Detje, Richard u.a. (2020): Drei Optionen für einen Richtungswechsel. Wie können Linke Einfluss auf die Politik von morgen nehmen? Ein Erklärungsversuch
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1131798.linke-strategie-drei-optionen-fuer-einen-richtungswechsel.html

Candeias, Mario (2020): Linkspartei, was nun? In: Standpunkte 9. Rosa Luxemburg-Stiftung

Höcke, Björn (2018): Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Henning. Lüdinghausen/Berlin

Klein, Dieter (2013): Das Morgen tanzt im Heute. Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus. Hamburg

Klein, Dieter (2019): Zukunft oder Ende des Kapitalismus? Eine kritische Diskursanalyse in turbulenten Zeiten. Hamburg

Krüger, Stephan (2016): Wirtschaftspolitik und Sozialismus. Vom politisch ökonomischen Minimalkonsens zur Überwindung des Kapitalismus. Hamburg

Paqué, Karl-Heinz (2010): Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus. München

Riexinger, Bernd (2019): Linker Green New Deal als politisches Projekt. Thesen zur Zukunft der Linken. In: Sozialismus. H. 12

Rürup, Bert/Heilmann, Dirk (2012): Fette Jahre. Warum Deutschland eine glänzende Zukunft hat. München

Schirrmacher, Frank (2013): Ego. Das Spiel des Lebens. München

Schneidewind, Uwe (2018): Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt a. M.

Sinn, Hans-Werner (2012) Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam und was jetzt zu tun ist. Berlin

Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin

Streeck, Wolfgang (2016) How Will Capitalism End? Essays on a Failing System. London/New York

Streeck, Wolfgang (2019): Der alltägliche Kommunismus. Eine neue Ökonomie für eine neue Linke. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. H. 6

Wright, Erik Olin (2017) Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus. Berlin

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Quelle:
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 121, März 2020, Seite 60 - 69
Herausgeber: Forum Marxistische Erneuerung e.V. und IMSF e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2020

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