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Z/264: Geopolitische Konflikte und Machtverschiebungen in der kapitalistischen Staatenwelt


Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 118 - Juni 2019

Geopolitische Konflikte und Machtverschiebungen in der kapitalistischen Staatenwelt

von Thomas Sablowski


Die Analyse der Machtverschiebungen in der kapitalistischen Staatenwelt ist nicht nur ein empirisches, sondern auch ein theoretisches Problem. Bekanntlich konnte Marx seine Ende der 1850er Jahre geplanten Bücher über den Staat, den Außenhandel und den Weltmarkt nicht schreiben. Trotz der ausgedehnten marxistischen Diskussionen über Weltmarkt, Imperialismus, abhängige Entwicklung und Veränderungen der internationalen Arbeitsteilung verfügen wir in Bezug auf diese Gegenstände allenfalls über Bruchstücke von Theorien (vgl. Sablowski 2019). Überkommene Auffassungen über Imperialismus und Abhängigkeit müssen kritisch überprüft werden. Dazu ein Beispiel:

In den klassischen Arbeiten von Hilferding, Luxemburg, Lenin, Bucharin wird der Imperialismus primär mit dem Kapitalexport in Verbindung gebracht. Die USA, die heute - immer noch - an der Spitze der Hierarchie der kapitalistischen Staatenwelt stehen, sind jedoch seit langem Nettokapitalimporteur. Das gleiche gilt für Großbritannien, den früheren Hegemon. Normalerweise gelten Leistungsbilanzdefizite als Zeichen für einen Mangel an internationaler Konkurrenzfähigkeit, doch in diesem Fall ist das nicht so eindeutig. Die hohen Kapitalimporte der USA und Großbritanniens hängen auch damit zusammen, dass sich in diesen Ländern die größten und liquidesten Kapitalmärkte befinden. Gerade in Krisenzeiten ist der Markt für US-amerikanische Staatsanleihen der Zufluchtsort für das Kapital anderer Länder. Da der US-Dollar zudem als Weltgeld fungiert, können sich die USA in eigener Währung verschulden, ohne in dem Maße wie andere Länder der Gefahr einer Verschuldungskrise ausgesetzt zu sein. So können sie ständig mehr konsumieren als produzieren, mehr importieren als exportieren. Auf diese Weise haben die USA lange Zeit die exportorientierten Entwicklungsmodelle in Westeuropa und Ostasien und damit die kapitalistische Weltwirtschaft insgesamt stabilisiert. Diese Beziehungen lassen sich schlecht mit den traditionellen Schemata der Imperialismustheorie erklären. In Bezug auf Kapitalexporte und -importe müsste zumindest zwischen verschiedenen Kapitalformen und Kapitalkreisläufen, zwischen der Internationalisierung des industriellen, zinstragenden und fiktiven Kapitals unterschieden werden.

Krise der US-Hegemonie

Was in einer bestimmten Periode für die erweiterte Reproduktion des Kapitals funktional sein kann, kann sich unter anderen Umständen als Moment einer organischen Krise erweisen. Internationale Hegemoniezyklen zeichnen sich durch eine ungleichzeitige Entwicklung der Kapitalkreisläufe aus. Das Kapital der Hegemonialmacht weist in der Regel die am höchsten entwickelten Produktionsmethoden, d.h. die höchste Arbeitsproduktivität und die höchste organische Zusammensetzung des Kapitals auf. Schwächer entwickelte Kapitale können die Konkurrenzvorteile der Hegemonialmacht jedoch bis zu einem gewissen Grad durch niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten und Währungsabwertungen ausgleichen. Wenn die Produktion sich an anderen Standorten als profitabler erweist, fließt das Kapital dorthin. Der Niedergang einer Hegemonialmacht ist dadurch gekennzeichnet, dass sie als industrieller Produktionsstandort langsam an Bedeutung verliert, während das hegemoniale Kapital aber weiterhin noch eine finanzielle Kontrolle über die Produktion an den neu aufstrebenden Standorten ausübt (vgl. Arrighi 1994).

Schon die Weltwährungskrise der frühen 1970er Jahre wurde als Zeichen der Krise der US-Hegemonie gedeutet. Unter anderem durch das "Recycling" der "Petrodollars" der OPEC-Staaten konnten die USA jedoch ihre Stellung als globales Finanzzentrum behaupten; der US-Dollar fungierte weiterhin als Weltgeld. In den 1980er Jahren galt Japan aufgrund seiner überlegenen Produktionsmethoden als möglicher Kandidat für die Rolle des Hegemons, während in den USA unter Präsident Reagan die Leistungsbilanzdefizite explodierten. Doch mit dem Plaza-Abkommen von 1985 wurde die nachlassende Konkurrenzfähigkeit der USA durch eine koordinierte Abwertung des US-Dollar eingedämmt. Japan geriet daraufhin in eine langanhaltende Deflationskrise, und heute sieht wohl kaum jemand mehr in dem Land einen möglichen Hegemon. Es ist bemerkenswert, wie es den USA immer wieder gelungen ist, ihre Führungsrolle trotz der nachholenden Entwicklung anderer Industrieländer zu verteidigen. Dennoch ist nicht gesagt, dass ihnen dies auch angesichts der Herausforderung durch das aufstrebende China gelingt. Klar ist, dass der "unipolare Moment" vorbei ist, doch der Begriff der multipolaren Welt(un)ordnung verdeckt die Hierarchien und die spezifischen Widersprüche wie Bündnisse, die unter den verschiedenen "Polen" existieren.

Konflikt USA-China

Der Konflikt zwischen den USA und China ist jedenfalls von zentraler Bedeutung für die zukünftige Entwicklung des Kapitalismus. In den 1990er Jahren zielte die Politik der USA darauf, den ehemaligen Bereich des "real existierenden Sozialismus" einschließlich China in die unipolare, neoliberale Weltordnung einzugliedern. Dies gipfelte 2001 in dem Beitritt Chinas zur WTO. Seitdem hat sich China immer mehr zum Zentrum der Kapitalakkumulation entwickelt. Aber während die Konzerne der alten kapitalistischen Zentren auf China als Absatzmarkt und als profitablen Produktionsstandort angewiesen sind, haben sie gleichzeitig kein Interesse daran, dass ihnen dort neue Konkurrenten erwachsen. Chinesische Produzenten sind jedoch bereits dabei, in einer Reihe von Bereichen Spitzenpositionen einzunehmen. Der Konflikt zwischen der US-Regierung und Huawei ist insofern von zentraler Bedeutung. Bereits unter Präsident Obama sind die USA zu einer zunehmend aggressiveren Politik der Eindämmung Chinas übergegangen; aus diesem Grund kündigte Obama auch die stärkere Verlagerung der Militärkapazitäten der USA in den asiatisch-pazifischen Raum an ("pivot to Asia").

Auch die übrigen Konflikte in der kapitalistischen Staatenwelt müssen unter dem Gesichtspunkt des Konflikts zwischen den USA und China gesehen werden, durch den sie überdeterminiert werden: der Konflikt um die nordkoreanischen Atomwaffen, die erneuten US-Sanktionen gegen den Iran, die Konflikte in der Ukraine und in Syrien, die Aufkündigung des INF-Vertrags durch die USA etc. Gerade angesichts des chinesischen Projekts "neuer Seidenstraßen" (vgl. Hoering 2018) scheint es für die USA mehr denn je darum zu gehen, das Aufflammen einer neuen dominierenden Macht bzw. einen Zusammenschluss der Mächte im eurasischen Raum zu verhindern, wie es bereits von Zbigniew Brzezinski (1997) als strategisches Ziel formuliert wurde.

Für die Mitgliedstaaten der EU und für die EU insgesamt stellt sich die Frage, welche Haltung sie gegenüber diesen Konflikten einnehmen. Das Problem der EU ist dabei, dass sie kein Bundesstaat, sondern trotz ihrer supranationalen Staatsapparate im Wesentlichen immer noch ein Staatenbund ist, der durch zahlreiche Widersprüche und divergierende Interessen der Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist. Mit den geopolitischen Spannungen verschärfen sich auch die Konflikte innerhalb der EU.

Trotz zunehmender Konflikte zwischen der EU und den USA erweist sich die EU bisher weiterhin als subalterner Teil des "Westens" unter der Führung der USA. Die Schaffung eigenständiger militärischer Kapazitäten der EU würde zwar durch den "Brexit" erleichtert und könnte perspektivisch in Konflikt mit der Struktur der NATO geraten, doch bisher spricht nichts dafür, dass eine EU-Armee die NATO ersetzen könnte. Auch Trumps Drohungen mit der Auflösung der NATO müssen bis auf weiteres vor allem unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, militärische und finanzielle Lasten, die mit der Rolle der USA als "Weltpolizist" verbunden sind, auf die europäischen "Partner" abzuwälzen bzw. hier zu einer neuen Arbeitsteilung zu kommen. Durch Aktionen wie den Aufbau einer Raketenabwehr auf europäischem Territorium oder die Kündigung des INF-Vertrags verschärfen die USA bisher eher die Widersprüche in der EU, als dass sie ihre dominante Rolle in der NATO dadurch gefährden würden. Auch der Widerstand der EU gegen die neuen Iran-Sanktionen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU hier den USA weitgehend machtlos gegenüber steht. Für die meisten europäischen Konzerne ist der US-amerikanische Markt wesentlich wichtiger als der Iran, und daher gehen sie nicht das Risiko ein, von den USA sanktioniert zu werden. Daran ändert auch die Schaffung eines "special purpose vehicle" für den Zahlungsverkehr mit dem Iran durch die EU nichts. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Regierungen der EU den USA auch im Konflikt um Huawei folgen werden. Generell scheinen die EU-Staaten aufgrund der Widersprüche innerhalb der EU und aufgrund der starken atlantischen Kapitalverflechtungen relativ leicht durch die USA erpressbar zu sein.

Komplexe Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung

Was bedeuten die globalen Machtverschiebungen für die Gesellschaften, die unter den Begriffen der "Dritten Welt", der kapitalistischen Peripherie oder des "Globalen Südens" zusammengefasst werden? Zwischen China und den peripher-kapitalistischen Staaten bilden sich gegenwärtig ähnliche Formen der internationalen Arbeitsteilung und der Abhängigkeit heraus, wie wir sie bereits von den Beziehungen zwischen den alten kapitalistischen Zentren und der Peripherie kennen. Verschärfte Konflikte zwischen den kapitalistischen Zentren könnten allerdings die Handlungsspielräume der Akteure in den abhängigen Gesellschaften erweitern, so wie es z.B. in Lateinamerika vor und während des Zweiten Weltkriegs der Fall war. Es ist jedoch irreführend, pauschal von einem Aufstieg des "Globalen Südens" zu sprechen. Der Anteil des Südens am globalen Sozialprodukt wächst zwar, aber dies ist vor allem auf das Wachstum in China und einigen wenigen weiteren Ländern zurückzuführen. Die Heterogenität innerhalb der kapitalistischen Peripherie nimmt eher zu.

Die Einteilung der kapitalistischen Staatenwelt in zwei oder drei Ländergruppen (Globaler Norden und Globaler Süden bzw. Zentrum, Peripherie und Semiperipherie) ist jedenfalls zu grob und erfasst nicht die komplexe Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung und die damit verbundenen Machtverhältnisse. Die Position eines Landes in der Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung hängt vor allem davon ab,
- inwieweit die Unternehmen des Landes in der Lage sind, selbständig Waren auf den Markt zu bringen und die dafür relevanten Segmente der Produktionskette (insbesondere Produktentwicklung und Marketing) zu kontrollieren,
- inwieweit das Land über die Produktion von Produktionsmitteln für die Produktion von Produktionsmitteln (Maschinen- und Anlagenbau etc.) verfügt, die als Schrittmacher bei der Steigerung der Arbeitsproduktivität fungieren, und
- wie breit und kohärent der Produktionsapparat des Landes in sektoraler Hinsicht ist: Welche Branchen existieren und wie greifen sie innerhalb des Landes ineinander?

Mindestens drei Formen der internationalen Arbeitsteilung können unterschieden werden, die sich gegenwärtig überlagern:

1. Die Arbeitsteilung zwischen den Produzenten von agrarischen und mineralischen Rohstoffen einerseits und Produzenten von Produkten der verarbeitenden Industrie,

2. Die (intraindustrielle und interindustrielle) Arbeitsteilung auf der Basis von (absoluten) Kostenvorteilen,

3. Die Arbeitsteilung auf der Basis der Konkurrenz unterschiedlicher Regulationsweisen der gesellschaftlichen Arbeit innerhalb der gleichen Branchen.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Die USA stehen weiterhin an der Spitze der internationalen Staatenhierarchie, sie verfügen über einzigartige militärische Kapazitäten und den US-Dollar als Weltgeld. Sie werden jedoch zunehmend durch den Aufstieg Chinas herausgefordert und haben in vielen Bereichen ihre industrielle Führung bereits verloren. Die Widersprüche innerhalb des "Westens" werden durch die Entwicklung Chinas und einiger weiterer semiperipherer Länder verstärkt; führende EU-Staaten wie Deutschland und Frankreich geraten dabei zunehmend in Konflikt mit den USA. Die Entwicklung der EU zu einem eigenständigen Akteur wird jedoch durch ihre internen Widersprüche gebremst, so dass die EU-Staaten bis auf weiteres subalterne Bündnispartner der USA bleiben.

Von einer "Emanzipation des Südens" kann nicht die Rede sein, vielmehr nimmt die Heterogenität innerhalb des "Südens" zu. Zu diesem Ergebnis kommt im Grunde auch Jörg Goldberg (2015) in seinem Buch "Die Emanzipation des Südens", obwohl der Titel zu Missverständnissen Anlass geben könnte. Die spezifische Entwicklung Chinas ist einzigartig; bereits die anderen BRICS-Staaten sind mit China nicht vergleichbar. Viele Länder bleiben weiterhin marginalisiert bzw. abhängig vom Export agrarischer und mineralischer Rohstoffe. In einigen Ländern, die in der Vergangenheit Ansätze einer eigenständigen industriellen Entwicklung aufwiesen, kommt es sogar zu einer vorzeitigen Deindustrialisierung und "Re-Primarisierung" der Produktionsstruktur. Diese Tendenzen könnten sich bei einer fortschreitenden Automation der Produktion noch verstärken. Selbst in Bezug auf China warnt Goldberg (2015: 302) zu Recht vor Prognosen, die Entwicklungen der Vergangenheit einfach in die Zukunft verlängern.

Für emanzipatorische Kräfte kommt es angesichts der komplexen geopolitischen Konflikte darauf an, sich nicht dumm machen zu lassen und Schwarz-Weiß-Bilder oder Strategien nach dem Muster "Die Feinde meines Feindes sind meine Freunde" zu vermeiden. Es gilt weiterhin: Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Emanzipatorische Kräfte müssen primär die Politik der einheimischen Bourgeoisie, ihrer Ideologen und ihrer politischen Repräsentanten einer Kritik unterziehen, egal ob diese nur als verlängerter Arm des US-Imperialismus fungieren oder eigenständige nationalistische oder euroimperialistische Projekte verfolgen. Staaten wie Russland oder China und die nationalen Bourgeoisien anderer Länder sind dabei aber keine Bündnispartner, vielmehr gilt es, auch dort emanzipatorische Kräfte so weit wie möglich zu unterstützen.


Literatur

Arrighi, Giovanni (1994): The long twentieth century. London/New York.

Brzezinski, Zbginiew (1997): The grand chessboard. American primacy and its geostrategic imperatives. New York.

Goldberg, Jörg (2015): Die Emanzipation des Südens. Die Neuerfindung des Kapitalismus aus Tradition und Weltmarkt. Köln.

Hoering, Uwe (2018): Der lange Marsch 2.0. Chinas Neue Seidenstraßen als Entwicklungsmodell. Hamburg.

Sablowski, Thomas (2019): Weltmarkt, Nationalstaat und ungleiche Entwicklung. Zur Analyse der Internationalisierung des Kapitals. Teil 1: Prokla 194, 49. Jg., Nr. 1; Teil 2: Prokla 195, 49. Jg., Nr. 2 (im Erscheinen).

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Quelle:
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 118, Juni 2019, Seite 21-25
Herausgeber: Forum Marxistische Erneuerung e.V. und IMSF e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2019

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