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WILDCAT/018: Ausgabe 85 - Herbst 2009


Wildcat 85 - Herbst 2009




Inhalt:
Editorial
Gespräch mit Karl Heinz Roth zu seinem Buch über die Krise
Alle Hoffnungen richten sich auf China
Das Ende von Chimerica
Das Kapital vergiftet alles, was es berührt
Krise in Kalifornien
Nur wenn wir das antiimperialistische Erbe überwinden,
kriegen wir eine Perspektive auf die soziale Revolution!
Die Massenaufstände haben die strategischen Debatten überholt
Gespräch über die iranische Revolution 1979
Iran: Ein neuer Anlauf?
Krise und Mobilisierungen gegen das Regime.
Durch den fortschrittlichen Staat zur Revolution?
Erfahrungen in der Soliarbeit für Nicaragua
Ölprofite als Basis des neuen Sozialismus in Venezuela
Dem Zerfall der APO was entgegensetzen
Teil II des Interviews mit Genossen der RZ
"Diesmal müssen die im Westen anfangen!"
Gedanken und Versuche eines ostdeutschen Autoarbeiters
Warnstreik an den Amper Kliniken Dachau
Fortsetzung des Artikels in Wildcat 80

Raute

EDITORIAL

Endlich, der Aufschwung!

"Investmentbanker stellen einen Aufwärtstrend fest", schreibt die New York Times. "Weiterer Fortschritt in der Geschäftswelt", berichtet das Wall Street Journal. "Ökonomen sehen Zeichen einer Erholung", "Kräftiger Aufstieg an den Börsen", melden andere. Einige Blätter schreiben, dass sich in Amerika ein Bischof zu Wort gemeldet habe, der das große "Misstrauen" in der Welt der internationalen Finanzanleger geißele. So etwas halte die wirtschaftliche Erholung bloß unnötig auf.

Die Schlagzeilen könnten aus den letzten Wochen sein - stammen aber aus dem Jahr 1931, in der kurzen Erholungsphase der great depression, der schärfsten Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts.

Die Regierungen haben Billionen von Dollar zur Rettung des globalen Bankensystems bereit gestellt. Ein Artikel im Wall Street Journal fasste den Zusammenhang von steigenden Aktien und Ausweitung des Kredits vor kurzem so zusammen: "Anders gesagt: Ben Bernanke war der Markt." Denn das Geld ist zu einem großen Teil in Spekulation mit Rohstoffen, Immobilien und v.a. in die Finanzmärkten geflossen - und eben nicht "in der Realwirtschaft". Deshalb sind die Aktien seit März so stark gestiegen, was eine "vertrauensbildende" und selbstverstärkende Wirkung hatte: "Nur noch wenige Investoren können es sich leisten - oder haben die Nerven - die Aktienrallye zu ignorieren. Ein kleiner Aktienanteil im Portfolio deutet daraufhin, dass ein Fondsmanager die aktuelle Rallye verschlafen hat." (Financial Times Deutschland) Obwohl sie wissen, dass die Aktien völlig überbewertet sind und die "professionellen Anleger" die letzten Monate von einer "Dienstmädchenhausse" gesprochen haben.

In der ganzen Zeit gingen die Investitionen weiter zurück, die Banken vergaben weniger Kredite - ein amerikanischer Banker sagte kürzlich: "Wir haben das Problem nicht gelöst. Wir haben nur seine öffentliche Wahrnehmung beruhigt." Aber das reicht aus, damit die ganzen Gefühls-Frühindikatoren wie "Vertrauen" steigen. Der ifo-Geschäftsklimaindex hatte übrigens im Dezember 2006 sein Allzeithoch erreicht - da hatte es schon seit zwei Jahren Probleme mit sinkenden Häuserpreisen gegeben, ein Jahr vorher war es zu ersten starken Marktstörungen bei US-Subprime-Hypotheken gekommen, usw. Soviel zur Verlässlichkeit von "Klima"-Messungen.

Die Investmentbanker zocken wieder,

Banken vermelden Rekordgewinne, und sie können nun auch mit dem Geld spekulieren, das der Staat geliehen und an sie weitergereicht hatte, um das Bankensystem vor sich selbst zu retten. Deutsche Banken werden 2009 allein mit den staatlich abgesicherten (!) Notfallkrediten, die sie der HRE gewährten, rund 300 Millionen Euro Zinsgewinne einfahren.

Die Notenbanken, besonders die US-amerikanische Fed, sind bei der Rettung des Bankensystems ein sehr hohes Risiko eingegangen. Die "quantitativen Strategien" der Fed sind im Kern nichts anderes, als die Monetarisierung der amerikanischen Staatsschulden. Das heißt, was vor fünf Jahren im "subprime"-Markt in kleinem Stil und mit Häusern als Pfandbesicherung passierte, passiert nun in ganz großem Maßstab - und lediglich mit dem guten Namen der USA als Pfandbesicherung.

Myron Scholes, der "Vater der Finanzderivate", der 1997 einen Wirtschaftsnobelpreis für seine Erfindung des Optionen-Modells erhalten hat (vgl. Wildcat 84 "Postmoderne Schulden"), erklärte, die Spekulation sei seit der Krise außer Kontrolle geraten. Die zuständigen Behörden müssten den Handel mit Derivaten und Credit Default Swaps "auffliegen" lassen und den Handel mit außerbörslichen Derivaten (OTC-Handel) komplett einstellen.

Aber solche Debatten, die im Stil von Attac einen "anderen Kapitalismus" wollen, oder die "aggressive Regulierung" (Roubini in der FR) des bestehenden fordern, kommen mindestens ein Jahr zu spät. Die grundlegende Strategie wurde mit der Rettung von Fannie Mae und Freddie Mac am 7. und 8. September und direkt in den Tagen nach der Pleite von Lehman Brothers am 15. September durchgedrückt. Die beiden Hypothekenversicherer waren auf massiven Druck Chinas gerettet worden. Stattdessen wurde der Schock der Lehman-Pleite vom damaligen Finanzminister Paulson und Ben Bernanke genutzt, um innerhalb weniger Tage den Public Private Investment Fund zu installieren, einen riesigen staatsgestützten Hedge Fonds, sowie im Kongress TARP (Troubled Assets Relief Program) durchzupeitschen.

Damit waren die Würfel gefallen: absolute Priorität für die Rettung des Bankensystems, keinerlei Debatte oder "demokratische Kontrolle" über die Gelder, die so kanalisiert wurden, dass sie nicht den "Endverbrauchern" zugute kamen. Seither sind auch Überlegungen über Reform, Ändern der politischen Richtung usw. obsolet. Karl Heinz Roth, der zunächst auf eine "Dialektik Reform/Revolution" gesetzt hatte, spricht das nun im Gespräch auf den nächsten Seiten klar aus.

Der Versuch, die Weltwirtschaft durch weitere Regulierung aus der Krise zu bringen, scheitert aber: Chimerica stürzt trotz aller Bemühungen aus mehreren Gründen ab: "Die Ökonomie ist der Politik voraus". Untersuchungen haben gezeigt, dass die historisch einmalige Geschwindigkeit des Kriseneinbruchs auf die weltweite Arbeitsteilung zurückgeht. Die Zulieferketten haben die Krise fast augenblicklich weltweit verbreitet. Angesichts ihrer globalen Dimension wirken die (national-)staatlichen Regulierungsversuche geradezu lächerlich. Paradoxerweise wächst gerade deswegen nun der Protektionismus, die Abschottung der nationalen Märkte gegen die weltweite Konkurrenz. Die Leitwährung lässt sich nicht halten. Die Nullzinspolitik der Fed hat dazu geführt, dass der Dollar inzwischen die beliebteste Währung für Spekulanten geworden ist, die sich in einer Währung verschulden, um in einer anderen Währung mit höheren Zinsen Gewinne zu machen (Carry trade) - das verschärft den Abwertungsdruck auf den Dollar. Drittens lässt sich die chinesische Volkswirtschaft nicht so schnell auf Binnenkonsum umstellen.

Für den mehrfachen "Exportweltmeister" BRD bedeutet die daraus resultierende Stagnation des Weltmarkts Absatzkrise, massive Verschuldung und steigende Arbeitslosigkeit. 2008 lag der Anteil der Kredite, mit denen der Bundeshaushalt finanziert wird, noch bei vier Prozent, ab 2010 steigt er auf 26,3 Prozent. Der Schuldenberg des Bundes wächst in den nächsten vier Jahren um 136 Milliarden auf dann über eine Billion Euro, die kommunalen Haushalte laufen in eine massive Schuldenkrise. Um einen Vorgeschmack zu bekommen, haben wir unseren Genossen in Kalifornien gebeten, uns nochmal einen Bericht zu schicken.

"Kalifornien ist mir sehr wichtig, weil nirgendwo sonst die Umwälzung durch kapitalistische Zentralisation in der schamlosesten Weise sich vollzogen hat - mit solcher Hast." hatte Karl Marx am 5. November 1880 an Friedrich Sorge geschrieben. Und mit der "Hast" hatte er absolut recht - bis heute: Erst Goldrausch, dann die Eisenbahn, danach Agrarindustrie, Bodenspekulation, Hollywood, Raumfahrt, Rüstung, Suburbs, Highways... Kalifornien ist die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt - und 2009 ist alles vergiftet und die Regierung zahlungsunfähig. Sie hat die Bezahlung fälliger Rechnungen und Steuererstattungen verschoben, Bauvorhaben gestoppt, die Gehälter und die Arbeitszeit der Staatsangestellten reduziert. Vielen Unterstützungsempfängern, vor allem Alteren, Armen und Kindern werden die Hilfsleistungen gekürzt.

Diese Streichungen werden in naher Zukunft nicht von einem Wirtschaftsaufschwung flankiert werden. Eine traditionelle Antwort in dieser Situation ist die Emigration. Aber Kalifornien ist voll von Leuten, die bereits vor der Armut geflohen sind. Und wo sollten sie in der gegenwärtigen Situation hingehen?

Der industrielle Kern Kaliforniens ist die Flugzeugindustrie - in der BRD ist das die Autoindustrie. Da es auf lange Sicht kein nachhaltiges Wachstum des Autoabsatzes in Europa und den USA mehr geben wird, fällt selbst bei sogenannten "Premiumherstellern" das Zauberwort China: "Zetsche setzt voll auf China... Mercedes soll den Markt in Fernost erobern. Für die Automobilindustrie liege dort die Zukunft, sagt der Vorstandschef." (Meldung vom 19. September) Ihre "Strategie" ist ganz einfach: einen Tag länger leben als die Konkurrenz. Das wollen sie durch radikale Kostensenkungsprogramme erreichen. Das verschärfte Gegeneinanderspielen der ArbeiterInnen (Ost - West; Befristete - Festangestellte; Zulieferer - Autobauer), flankiert von staatlichen Maßnahmen wie Abwrackprämie und Kurzarbeit, hat bisher eine gemeinsame Antwort verhindert.

Die Achse Iran-Venezuela...

1979 wurde nicht nur der Schah gestürzt, sondern auch das Somoza-Regime in Nicaragua. Ein Genosse, der damals in der Nicaragua-Solidarität aktiv war und seither mehrere lange Reisen dorthin und nach Venezuela gemacht hat, schrieb im Frühsommer seine Erfahrungen vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in beiden Ländern auf und fragt sich, warum sie damals mit ihrer Kritik hinterm Berg gehalten haben.

Die "iranische Revolution" hing eng mit der Krisenentwicklung nach 1973 zusammen. Auch aktuell gibt es wieder 30 Prozent Inflation und wachsende Armut. 70 Prozent der Iraner sind unter 30, es gibt eine große Landflucht, alle sind irgendwie auf der Straße.

Die weltweite Linke hat sich sehr schwer getan mit einer Einschätzung der Mobilisierungen im Iran. Das hat damit zu tun, dass sich "Linke" grundsätzlich nicht einig sind, mit welchen Kriterien sie eine soziale Bewegung analysieren.

Die einen schauen auf die zwischenstaatlichen Beziehungen: was wären die geostrategischen Konsequenzen, wenn eine Regierung gestürzt oder durch eine andere ersetzt wird. Im Fall des Iran reicht dann die Tatsache, dass es einen Konflikt mit den USA gibt, um sogleich zu wissen, auf welche Seite man sich stellen muss. Chavez hat vor allem deswegen dem Ahmadinedjad-Regime seine bedingungslose Unterstützung angeboten. Bei seinem Iran-Besuch im September hat er die Lieferung von 20.000 Barrel Benzin täglich ab Oktober versprochen.

Andere machen einen schnellen Blick auf die soziale Lage und argumentieren dann, Mussawi sei Vertreter der Mittelschicht, während Ahmadinedjad seine Unterstützung vor allem bei den Armeren findet. Deshalb meinen sie, Linke sollten Ahmadinedjad unterstützen. Wieder andere sehen in dem Streit einen reinen Flügelkampf im Regime, usw.

Die Bewegung im Iran wurden nicht von irgendwelchen reaktionären Kräften auf die Straße gerufen, sondern die Leute haben ihre eigene Wut ausgedrückt und ihren eigenen Kampf gekämpft. Und gerade deshalb war es auch eine bunt zusammengesetzte Bewegung - wie immer im realen (Bewegungs-)Leben. Die einen haben konkrete Anliegen, die anderen wollen die Regierungsämter neu besetzen, wieder andere wollen das Regime stürzen.

Einen Artikel über das Umkippen der Revolution 1979 im Iran in ein islamisches Regime haben wir aufs nächste Heft verschoben. Diesmal haben wir ein Interview mit zwei Genossen aus der RZ gemacht (die auch schon beim Gespräch im letzten Heft dabei waren) über eine Zeit, in der es auch in der BRD "revolutionär" zuging - und eine anti-autoritäre Bewegung mehrheitlich in kürzester Zeit in maoistische Miniparteien und bewaffnete Gruppen zerfiel. Dem Zerfall der APO was entgegensetzen.

... und Bewegungen dagegen

Mit Ausnahme vom Iran und diesem historischen Rückblick kommen aber die Kämpfe in diesem Heft deutlich zu kurz. Dabei hätte es einiges zu berichten gegeben: Zur Fabrikbesetzung bei Ssangyong Motors in Südkorea gibt es einen langen Bericht von Loren Goldner auf unserer Website. Wichtig waren auch die Kämpfe in den Raffinerien in England und bei Innse in Mailand...

Stattdessen geht es in diesem Heft nochmal um die Analyse der kapitalistischen Krise - um das nächste Mal zu den AutoarbeiterInnen, den KurzarbeiterInnen, den Arbeitslosen ... in der BRD und drumrum zu kommen. Denn die Analyse der kapitalistischen Krise schafft letztlich nur den Hypothesen-Rahmen für die Untersuchung (siehe zu dieser Frage ausführlich die Beilage!)

In der Zusammenbruchsphase zwischen Herbst 2008 und Frühjahr 2009 schien das Feld offen für radikale Fragestellungen nach dem Motto "Wenn die Wall Street zusammenbricht, dann war auch die ganze Globalisierung ein Irrweg, dann war auch Hartz IV ein Fehler, dann..."

Eine Krise untergräbt bisherige Sicherheiten, Ideologien und Bindungen ans System. Krisen machen es objektiv notwendiger, den Kapitalismus zu überwinden - aber subjektiv schwerer, das umzusetzen. Wir müssen uns genau mit diesem Widerspruch objektiv-subjektiv auseinandersetzen, und wir müssen verstehen, in welcher Krisenphase wir sind, um unsere Möglichkeiten zu erkennen.

Das Schweinesystem hat die Grippe

Aktuell sind wir am Anfang einer langen Stagnationsphase, in der es immer wieder zu heftigen Einbrüchen kommen kann.

Einerseits sind die Leute immun.
Die Krise hat die Kluft zwischen den Leuten und der politischen Klasse deutlich verbreitert. Die Soziologie nennt das Krise der Repräsentation. Zwei beliebige Beispiele: Politiker halten die Reichtumsverteilung in der BRD mehrheitlich für gerecht; dreiviertel der befragten "WählerInnen" sagt, sie sei ungerecht. 82 Prozent aller Deutschen und sogar 90 Prozent der Ostdeutschen sagen, dass ihre Interessen keine Rücksicht genommen wird.

Was soll die Leute auch noch an ein System binden, wo die Arbeitslosigkeit massiv steigt, gewaltige Einschnitte auf uns alle zukommen - und wo uns "versprochen" wird, dass wir nach harten Jahren der Krise und Entbehrungen "vermutlich erst wieder im Jahr 2013 auf dem Wohlstandsniveau sein werden, das wir 2008 erreicht hatten" (Bundesbankpräsident Weber im September 2009). 2008? Wohlstandsniveau??

Andererseits tun sie sich bisher nicht zusammen.
Damit aus der Fremdheit gegenüber dem System eine subversive Kraft wird, müssen die Kämpfe die Legitimität aller Vermittlungsebenen des Staat und der Zivilgesellschaft in Frage stellen: die politischen Parteien, das parlamentarische System, die Medien, Gewerkschaften, die Wohlfahrt... Wir werden dabei an den Grundpfeilern der kapitalistischen Gesellschaftsordnung rütteln müssen, um aus der Praxis der Kämpfe die Perspektive einer sozialen Ordnung jenseits der geldvermittelten "Freiheit" zu entwickeln.

Raute

"Wir müssen uns über die ungeheure Masse vergegenständlichter Arbeit und den unglaublichen akkumulierten globalen Reichtum Gedanken machen, wie der anzueignen und zu verteilen wäre...

... das, denke ich, wäre die Perspektive"

Das folgende Gespräch mit Karl Heinz Roth haben wir im Juli geführt, im September haben wir den Text gemeinsam überarbeitet.

Warum hast Du ein halbes Jahr lang sämtliche Verpflichtungen abgesagt, um den ersten Band eines zweibändigen Werks über die aktuelle Krise zu schreiben?

KHR: Diese Krise ist ein Epochenbruch, der auch nicht durch eine mögliche Stabilisierung in Frage gestellt wird; es ist ein Paradigmenwechsel in Gang gekommen bei den herrschenden Klassen, die ihre ganzen wirtschaftspolitischen Konzeptionen aufgegeben und in einer wilden Panik Staatsinterventionen gestartet haben. Und der zweite Grund war, dass ich zumindest zu Beginn des Projekts erwartet hatte, dass sich auch von unten etwas tut, dass man eine neue Diskussion starten könnte über eine alternative Perspektive. Es wird in den nächsten Jahren, unabhängig von der zeitweiligen Stabilisierung, eine außerordentliche Zunahme der Massenerwerbslosigkeit und -armut in der Peripherie geben. Daher ergeben sich aus der Perspektive von unten ganz neue Dimensionen, die die Panik erklären, mit der die herrschenden Klassen zur Zeit reagieren.

Was war deine Deadline beim Schreiben, mit welchem Faktenstand hast Du gearbeitet?

Ich habe genau die fragliche Stabilisierungsphase, die seit April eingesetzt hat, noch mitbekommen. Das Buch endet in der empirischen Bestandsaufnahme Anfang Juni. Ich habe die ganzen strategischen Entscheidungen in der Autoindustrie mit reingepackt - sie aber nicht mehr bewertet. Bei GM und Chrysler sind die Gewerkschaften nun am Eigenkapital beteiligt und abgefunden worden für ihre Ansprüche auf die Pensionskassen. Ihre Kontrolle über die Arbeitskraft ist damit äußerst fragil und problematisch geworden. Diese Einschätzung bezieht sich auch auf die Entwicklung der letzten zwei Wochen. Die Absichtserklärung, GM Europe gegenüber General Motors zu verselbstständigen, dokumentiert eine nationalistisch-korporatistische Schmierenkomödie, bei der sich alle Akteure - Unternehmensleitungen, Regierungen, Betriebsräte und Gewerkschaften - diskreditiert haben. Zunächst sah es so aus, als ob die AutoarbeiterInnen der Welt ein strategisches Fenster nicht genutzt und auf lange Sicht die Initiative verloren hätten. Aber die sich jetzt bei General Motors und sonstwo abzeichnenden Zwischenlösungen sind auf Sand gebaut. Durch sie ist keines der strategischen Probleme des Automobilsektors gelöst worden. Ich denke, wir können heute die Perspektive einer völlig entgegengesetzten Selbstorganisation vorschlagen.

Beim Lesen ist mir aufgefallen, dass Du die Bedeutung des Kriseneinbruchs 1973/74 deutlich herunterschraubst. Er kommt praktisch nur innerhalb des "fünften Kondratieff" von 1967 bis heute vor warum? War sie kein wichtiger Einschnitt? Auf Seite 153 schreibst Du doch z.B., die Lohnstückkosten hätten sich bis Ende der 70er Jahre fast verdoppelt...?

Die Krise von 1973/74 war zweifellos ein wichtiger Einschnitt: Sie war die erste und vielleicht entscheidende Antwort auf die globale Sozialrevolte von 1966/67, die neue Massenbedürfnisse und eine ernsthafte revolutionäre Perspektive hervorbrachte. Ich betrachte also 1966/67 als den entscheidenden Eckpfeiler, der den fünften Kondratiev-Zyklus auslöste, und nicht 1973/74. Mir ist durchaus klar, dass ich mit dieser Positionierung ziemlich allein stehe, aber ich halte sie wirklich für zwingend. Dessen ungeachtet hätte ich 1973/74 stärker akzentuieren sollen, vor allem im Hinblick auf die von Dir genannte anhaltende "Rigidität" der Reallöhne, die bis Ende der 1970er Jahre die Arbeitsproduktivität überspielte und die Rentabilität des Kapitals beeinträchtigte. Ich werde diesen Punkt bei der Überarbeitung der zweiten Auflage noch einmal genauer durchdenken.

Du gehst im Buch davon aus, dass in China die Umorientierung auf die Binnennachfrage gelungen ist. Mittlerweile ist klar, dass das Geld zu einem großen Teil die Exportindustrie subventioniert hat, und ein erklecklicher Teil zudem in Immobilien- und Aktienspekulation geflossen ist.

China hat in der Asienkrise genau das gemacht, was es heute macht - und hat sich damit damals gegen die ganze Dogmatik durchgesetzt mit einem Stimulierungsprogramm, das fast so groß war wie heute. Heute ist die Situation sehr instabil, auch wenn im zweiten Quartal das Wirtschaftswachstum angeblich bei 7,9 Prozent lag. Die amtliche chinesische Statistik präsentiert äußerst fragwürdige Daten - was nur zeigt, in welcher chronischen Panik das Regime sich befindet.

Zweitens: ich denke nicht, dass die Chinesen primär auf eine Wiederauflage ihrer Exportstrategie setzen, sondern dass sie das mehr regionalisieren wollen, also in Richtung Südostasien. Sie machen massive binnenwirtschaftlich orientierte Investitionen in die Infrastruktur. Aber der entscheidende Punkt ist die Sozialpolitik, das heißt die Klassenfrage. Die chinesische Regierung ist offensichtlich unfähig, die extreme Kluft zwischen Land und Stadt aufzuheben. Das wirkliche, strukturelle Problem in China ist die Perspektive der Landgemeinden. Wird jetzt tatsächlich das Kommunaleigentum abgeschafft? Wenn China jetzt in der Krisensituation eine Restrukturierung der Landwirtschaft vornimmt, die zu einer inneren kapitalistischen Dynamik führt, dann wird es explodieren. Damit hängt die Perspektive der Wanderarbeiter zusammen: können sie in ihre Dörfer zurück oder nicht, und wo bleiben sie, wenn die Exportindustrie einen technologischen Sprung macht oder aber stark reduziert bleibt?

Damit eine Binnennachfrage entsteht, müssten die Reallöhne steigen. Stattdessen findet eine starke Lohndeflation statt. Wo soll die Binnennachfrage herkommen? Im Moment wird sie vom Staat ersetzt - was zur gewaltigen Verschuldung beiträgt (es wird vermutet, dass die Staatsverschuldung bei über 50 Prozent liegt).

Die Situation ist offenkundig weitaus labiler, als es den Anschein hat. Das gilt natürlich auch für die USA. Die aktuelle Erholung ist temporärer Natur. Um es ganz klar zu sagen: ich sehe keine mittelfristige Stabilisierung.

Siehst Du irgendein Umschalten, dass die BRD von dem extremen Exportmodell wegkommt? Da ist doch bisher gar nichts zu sehen...

Für die BRD sehe ich es nicht ganz so, weil im Unterschied zu England, den USA und vor allem zu China tatsächlich das soziale Sicherungssystem stabil gehalten worden ist. Natürlich hat es Demontagen gegeben, aber die Ausweitung des Kurzarbeitergelds zeigt, dass es einen Gegentrend gibt. Auf der anderen Seite hast Du recht, die Logistikkapitalisten glauben, dass in einem halben Jahr alles vorbei ist und machen riesige Ausbauprogramme. Es soll so weitergehen - und das ist natürlich eine Illusion.

Die Industrie hat bereits jetzt fünf Prozent der Arbeitsplätze abgebaut, und alle gehen davon aus, dass es im Herbst und Winter richtig mit Massenentlassungen los geht. Aber auch schon jetzt hält ja das soziale Netz ganz unterschiedlich. Kurzarbeit ist was völlig anderes für Leute, die bei VW, Daimler oder Bosch beschäftigt sind, als für Leute, die bei Zulieferern arbeiten. Die haben vorher 1400 Euro verdient, kriegen nun monatelang 60 Prozent und wissen nicht, wie es weitergeht.

Die Polarisierung wird extrem zunehmen. Im unteren Drittel bis zum zweiten Drittel setzen ganz massive Demontageprozesse ein, während der Kern gehalten wird. Aber in dem Gießkannenprogramm der Bundesregierung sind eine ganze Menge Subventionen in den mittleren Wirtschaftsbereich gegangen, also Handwerk, Bau und Kleinbetriebe. Das ist aus der Perspektive des Systems relativ klug gewesen. Auch das antizyklische Programm in den USA ist gigantisch. Aber was soll mit einer sich herausbildenden Massenerwerbslosigkeit mit all ihren Schattierungen in einer längeren Perspektive passieren? Wird es neue Arbeitsbeschaffungsprogramme geben, wo die Leute in Lagern gettoisiert werden? Oder werden sie doch die Realeinkommen erhöhen und damit eine andere Perspektive schaffen? Das ist noch unklar. Allerdings haben die Herrschenden eine große Angst davor, Masseneinkommen, Selbstbewusstsein, Selbstbestimmungsforderungen, also eine neue Aktivität von unten zu mobilisieren. In China ist das völlig evident. In den USA scheint es nicht ganz so zu sein. Und hier erscheint es mir ambivalent, auch in Frankreich.

Ankündigungen, nach der Bundestagswahl Hartz IV zu senken, die Mehrwertsteuer massiv zu erhöhen, das Rentenalter auf 69...

Ich hoffe, dass es einen Widerstand gibt, der eine solche Perspektive verhindert. Es geht um eine Gegenperspektive, die eine alternative Krisenlösung impliziert, die nicht auf Katastrophen orientiert ist, sondern auf Masseneinkommen, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung von Massenbedürfnissen setzt. Mein Vorschlag im Exposé war, Reformprojekte auf die Spitze zu treiben, um so eine Transformationsperspektive zu gewinnen.

Im Gegensatz dazu habe ich im ersten Band die sich aus der Analyse ergebenden Handlungsmöglichkeiten "von unten" bewusst ausgespart und erstmal eine methodisch neu durchdachte Untersuchung des voraufgegangenen Zyklus vorgelegt, und die aktuelle globale Krise mit den bisherigen großen Krisenzyklen des kapitalistischen Weltsystems verglichen. Daraus lassen sich konkrete Überlegungen über die wahrscheinlichen Dimensionen des aktuellen Krisenausgangs ableiten, und zwar im Sinn einer "langen Depression" ähnlich derjenigen der 1880er Jahre. Die Krise ist keineswegs überwunden, sondern mündet aller Wahrscheinlichkeit nach in einen lang anhaltenden Depressionszyklus ein, in dessen Verlauf die Karten neu gemischt werden.

Bezüglich der "Reformbrücke" hatten wir Bauchgrimmen mit Deinem Exposé. Einerseits aus analytischen Gründen, weil wir zwar die riesigen Geldmengen sehen, die über den New Deal rausgehen, aber nicht die Reformen, die der Klasse Luft zum Atmen verschaffen würden. Wir hatten des weiteren ein politisches Bauchgrimmen - es gab explizite Zustimmung zu Deinem Papier genau deswegen, weil es "reformistisch" ist. Wir suchen nach einer Perspektive von unten jenseits einer Verelendungstheorie, aber auch jenseits eines utopischen Setzens auf Reformen, die es nicht gibt.

Radikalisierung heißt ja nicht, eine Etappenkonzeption vorzuschlagen, sondern zu einer Transformationsperspektive zu kommen, um Zeit zu gewinnen, um kollektive Lernprozesse machen zu können und dann weiterzugehen. Es ist kein trotzkistisches Übergangsprogramm. Aber wenn es diese Reformen nicht gibt, dann ist das hinfällig, da bin ich völlig d'accord. Wenn die KP in China den Weg frei macht fürs Agrobusiness, dann gibt es 500 Millionen überflüssige Menschen. Das ist das Ende der Volksrepublik China, das Ende dieser Exekutivdespotie. Und wenn die Gesundheitsreform in den USA scheitert, wie sie immer gescheitert ist, dann gibt es nur eine revolutionäre Perspektive ohne irgendwelche Vermittlungsschritte. Das ist aber eine sehr ambivalente Sache und kein Zuckerschlecken, sondern hart und bedrohlich, man sollte damit nicht spielen.

Die bisherige Entwicklung hat meine im Exposé vom November 2008 erwogene Hypothese über die mögliche Zuspitzung von Reformprogrammen widerlegt. Die vor einem knappen Jahr noch möglich erschienene "Verbindungsbrücke" zu einer sozialrevolutionären Perspektive ist nicht zustande gekommen. Diese Einschätzung bezieht sich auf alle wesentlichen Ansätze, in denen versucht wurde, die Rettungspakete und Krisenbekämpfungsprogramme mit Reformen zur arbeits- und sozialpolitischen Abfederung der Krisenfolgen zu verknüpfen. Erstens hat die G 20-Gruppe bis jetzt keinerlei Anstalten dazu gemacht, die Bändigung der globalen Kapitalvermögensbesitzer und des Weltfinanzsystems in Angriff zu nehmen; zweitens verkümmert das Gesundheitsreformvorhaben Obamas zu einer Miniausgabe, die, wenn sie nicht überhaupt scheitert, keinerlei Ansatzpunkte zu einer weitergehenden sozialpolitischen Regulierung der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse der Vereinigten Staaten mehr enthalten wird. Und drittens scheint die chinesische Agrarreform ohne Wenn und Aber der kapitalistischen Dynamik geopfert zu werden, um den Niedriglohnsektor der Wanderarbeit noch stärker als bisher ausweiten zu können. Das sind wohlgemerkt nur die drei wichtigsten Beispiele. Die minimalen und zudem trügerischen Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung scheinen genügt zu haben, um den politischen Klassen in ihrer überwiegenden Mehrheit die Flausen einer reformorientierten Erneuerung des kapitalistischen Weltsystems wieder auszutreiben.

"Das ist die klassische Konstellation beim Übergang zum stop and go der Depressionsperiode."

Wenn sich keine reformistischen Räume öffnen und die Krisenpolitik stattdessen die Verarmung und die Klassenspaltung verschärft, welche Perspektiven ergehen sich dann für uns, für einen Widerstand von unten?

Was es für die im Weltproletariat verankerte globale Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutet, wenn die "Reformbrücken" wegbrechen, ist die Frage nach den zentralen Aussagen des kommenden zweiten Bands. Einige Punkte dürften bereits klar sein. Wir können erstens davon ausgehen, dass die Funktionsträger des Kapitals ihre in der Krise entwickelten Programme zur Senkung der Arbeitskosten auch in den zeitweiligen Erholungsphasen beibehalten werden, um die Ausbeutung zu intensivieren und ihre Profite wieder hochzufahren. Dabei werden ihnen die politischen Klassen der Nationalökonomien assistieren und ihrerseits versuchen, die Kosten ihrer Krisenbekämpfungsprogramme durch Steuererhöhungen usw. auf die Unterklassen abzuwälzen. Das ist die klassische Konstellation beim Übergang zum stop and go der Depressionsperiode.

In diesem Zusammenhang leistet Dein Buch einen wichtigen Beitrag. Stichwort: Lernen aus der Geschichte. Auf Seite 121 arbeitest Du zum Beispiel heraus, dass die Steuerzahler der Nationalökonomien und Wirtschaftsblöcke von ihren politischen Klassen gezwungen wurden, fast ein Fünftel der zu erwartenden Wirtschaftsleistung zur Rettung der Finanzkonzerne und Schrottbranchen sowie zur Wiederankurbelung des Wirtschaftswachstums vorzuschießen. Sehr interessant für diesen Zusammenhang ist auch Deine zusammenfassende Bemerkung auf Seite 307, dass in der letzten großen Weltwirtschaftskrise Rechte wie Linke bemüht waren, die Geldmenge nicht auszuweiten, sondern mehr oder weniger restriktive Arbeitsbeschaffungsprogramme zu fahren - und an der Stelle wäre anzufügen: auch Hilferding hat eine solche Krisenpolitik vertreten! - Auch heute wird ja alles getan, dass die Gelder nicht an die "Unterklassen" gehen, z.B. konnte ein Hartz IV-Empfänger die Abwrackprämie nicht kriegen...

Aus der Geschichte können wir aber auch lernen, dass die Ausgebeuteten diese Zumutungen nicht kampflos hinnehmen werden. Wie in allen bisherigen großen Zyklen wird es wahrscheinlich in genau dieser Etappe zu den härtesten Massen- und Widerstandsaktionen kommen. In ihrem Verlauf werden sich neue Strukturen der sozialrevolutionären Selbstorganisation herausbilden. Das wird ein weiterer, wichtiger Komplex im zweiten Band sein.

Wir haben ja zunächst Zeit gewonnen, dadurch dass der unmittelbare meltdown abgewendet ist, wie er bis etwa Mitte März drohte. Wie können wir die gewonnene Zeit nutzen?

Nach meiner Einschätzung werden die Restgruppen der radikalen Linken zunächst keine größere Rolle spielen. Sie sollten sich allerdings vorbereiten, indem sie ihre molekulare Zersplitterung durch vertrauensbildende Maßnahmen, gegenseitige Hilfe sowie das Verlassen der praxislosen Diskurskultur überwinden und die Umrisse eines sozialrevolutionären Transformationsmodells entwickeln, mit dessen Hilfe die entstehenden Strukturen gesellschaftlicher Autonomie gestützt und ausgeweitet werden können. Wir müssen genau überlegen, wie die globale Konstellation der Arbeiterklasse einschließlich aller Teile von Reservearmee, der Parzellen- und Bauernwirtschaften, der untergehenden Subsistenzökonomie usw. aussieht - und wie wir in diesem Kontext eine globale Gegenperspektive thematisieren können. Und wir haben die Chance, unsere veraltete Theorie zu entrümpeln, unsere ganzen Konzepte mit der Realität zu konfrontieren und weiterzuentwickeln. Ein doppelter Prozess, einmal genau sehen, wo wir konkret an unseren jeweiligen Orten agieren und Lernprozesse von unten mit in Gang bringen können.

Und ich denke, dass ein Stück organisatorische, oder vorsichtiger gesagt, politische, analytische Antizipation nötig ist. Es wäre extrem wichtig, ein weltweites Informationsnetz von unten aufzubauen, in dem nicht nur über Kämpfe und Selbstorganisation berichtet wird, sondern wo auch die Analysen verallgemeinert werden und man nicht, wie ich es notgedrungen mit dem Buch getan habe, immer nur die unglaublich verzerrten Daten von irgendwelchen Weltinstitutionen zusammenklaubt. Das wäre die Perspektive, etwas provozierend gesagt, eine globalisierte Wildcat. Ohne postmoderne Modekonzeptionen, die irgendwelche Segmente des globalen Proletarisierungsprozesses favorisieren, also immaterielle Arbeit oder so - aber auch ohne aus der reinen Subsistenzökonomie eine neue Gesellschaft aufbauen zu wollen. Denn wir müssen uns auch über die ungeheure Masse vergegenständlichter Arbeit und den unglaublichen akkumulierten globalen Reichtum Gedanken machen, wie der anzueignen und zu verteilen wäre. Das denke ich, wäre die Perspektive.

Karl-Heinz Roth:
Die globale Krise, Band 1 des Projekts
"Globale Krise - Globale Proletarisierung - Gegenperspektiven".
Hamburg: VSA 2009, 336 Seiten, 22:80 Euro

Raute

Alle Hoffnungen richten sich auf China

China: Exporte, Protektionismus, Überkapazitäten, neue und alte Arbeiterklasse

In den Jahren zwischen dem Dot-com-Crash und dem Einsetzen der aktuellen Krise hat die Weltwirtschaft vor allem dank "Chimerica" funktioniert: der Symbiose zwischen den USA und China. Auf der einen Seite stand die gewaltige Verschuldung der US-amerikanischen Konsumenten, die mit ihrem Geld chinesische Waren kauften Auf der anderen Seite die gewaltige chinesische Überproduktion und das Unvermögen, die vielen eingenommenen Dollars produktiv in China anzulegen. Indem ein großer Teil der Einnahmen in US-Staatsanleihen zurückfloss, finanzierte China die amerikanischen Schulden, und der Kreis schloss sich. Damit ergab sich eine doppelte Abhängigkeit: Die USA sind von China als ihrem größtem Kreditgeber abhängig, und China ist mit seinen über zwei Billionen Dollar Devisenreserven von der Stabilität des Dollar abhängig. Dessen beständige Abwertung lässt die chinesischen Reserven schrumpfen.

Der in der Krise eingebrochene US-Konsum hat die Nachfrage nach chinesischen Exportgütern drastisch verringert. Obwohl beide Seiten zunächst das bisherige Modell zu stabilisieren versuchten, ist es damit in den Abgrund gestürzt. Alle Hoffnung ruht nun darauf, China könne sich nicht nur am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, sondern dabei noch zur Lokomotive der Weltwirtschaft werden. Aber das Land ist weit davon entfernt, zur Konsumgesellschaft oder gar in Nachfolge der USA zum Absatzmarkt für andere Länder zu werden.

Seit der Wende der Wirtschaftspolitik durch Deng Xiaoping ab Ende der 70er Jahre wurde der Export forciert. Nur so waren zweistellige Wachstumsraten möglich, die der verarmten unzufriedenen Landbevölkerung eine Perspektive bieten konnten. Das Regime löste mit dieser Flucht nach vorn eine gewaltige kapitalistische Dynamik aus: die Menschen werden durch verstärkte Ausbeutung "beschäftigt", andererseits ist immer weiteres Wachstum notwendig, um nicht die Kontrolle über die wachsenden Bedürfnisse zu verlieren.

Das chinesische Wachstumsmodell basierte auf extrem niedrigen Reproduktionskosten der Arbeitskraft, niedrigen Löhnen und Zinsen, geringen Kosten fürs Sozialsystem, Entlastung der Unternehmen. Dies war bereits vor der Krise an Grenzen gestoßen - Billigprodukte warfen nicht mehr ausreichend Erträge ab, die ArbeiterInnen erkämpften sich Löhne, die für Branchen wie Textil-, Schuh- und Spielzeugproduktion bereits zu hoch waren. Die Krise wirkt gegen Ansätze zur Umstellung auf höherwertige Produkte. Sie führt nicht zu einem Qualitätssprung, sondern zur Fortsetzung der alten Produktionsweise unter schlechteren Bedingungen.

Die extreme Exportorientierung durch einen stärkeren Binnenkonsum auszugleichen wäre in ruhigen Zeiten ein langwieriger Prozess, ein ständiges Kräftemessen mit der Arbeiterklasse, deren Aspirationen und Wünsche das Regime beherrschbar halten muss. Das inmitten einer Krise zu bewerkstelligen, ist mehr als eine gewagte Hoffnung - es ist eine Illusion.

Kreditquantität und -qualität

Gleichwohl schienen erste Meldungen den Erfolg des chinesischen Konjunkturpakets zu bestätigen. Während "im Westen" die Kreditvergabe einbrach, konnte die chinesische Regierung den Banken vorgehen, dass und nach welchen Kriterien sie Kredite zu vergeben haben. Von Januar bis Juni wurde die Kreditmenge auf 7400 Mrd. Yuan ausgeweitet, auf mehr als 50 Prozent des in diesem Zeitraum erwirtschafteten BIP. Allein im Juni verdoppelte sie sich.

Die Kehrseite davon ist die schlechte Kreditqualität Bei solch einem Kreditvolumen, noch dazu auf staatliche Anweisung, ist absehbar, dass viele Kredite platzen und eine Welle von Kreditausfällen den Staatshaushalt erschüttern wird. Bereits jetzt geht man davon aus, dass der Staat mit 50 bis 60 Prozent des BIP verschuldet ist (offiziell 17,7 Prozent), dazu kommen die neuen Kredite für die Infrastrukturprojekte. Das Haushaltsdefizit wird sich 2009 wahrscheinlich auf 10 Prozent des BIP erhöhen. Und obwohl schon eine Billion Yuan in Bad Banks überführt wurden, liegen bei den Banken noch 400 Mrd. Yuan faule Kredite.

Mit diesen gewaltigen Geldmengen wurde ein katastrophal geringes Wirtschaftswachstum erzielt. Ein großer Teil der Kredite floss in Immobilien- und Börsenspekulation. Die chinesischen Aktien sind schätzungsweise um 50 bis 100 Prozent überbewertet, und die Hälfte der Immobilienkäufe (sie lagen von Januar bis Juli um 65 Prozent höher als im Vorjahr) dient als spekulative Anlage. Der größere Teil davon sind Landkäufe durch staatliche Unternehmen. Verschuldete Regionalbehörden versuchen durch solche Transaktionen, Gewinn zu machen. Da die Preise über dem liegen, was man für entwickeltes Land bekommt, sind das absehbare Minusgeschäfte. Viele internationale Anleger haben den Braten gerochen und ziehen sich aus dem unsicheren chinesischen Immobilienmarkt zurück.

Die chinesische Politik steckt in einem Dilemma: Ausweitung der Kreditvergabe führt zu Blasenbildung und Inflation, ihr Zurückfahren würgt das Wachstum ab und führt zum Aktien- und Immobiliencrash. Zudem neigen ausländische Investoren zu Panik und ziehen in einem solchen Fall die Gelder ab, wie man das in den letzten Wochen beobachten konnte. Diese Zwickmühle erklärt das Hin und Her: Im Juli verpflichtete die Regierung die Banken auf höhere Eigenkapitalquoten und schärfere Kriterien bei der Kreditvergabe, woraufhin diese in einem Monat um 75 Prozent zurückging. In Reaktion darauf brachen im Juli und August mehrfach die Börsenkurse ein, ausländische Investoren zogen ihr Geld ab. Die Regierung versicherte daraufhin, die Kreditvergabe weiter aufrecht zu erhalten. Sie wird nun den Geldhahn weniger merklich zudrehen oder mit einer stop-and-go-Politik die Blasenbildung mildern.

Das Problem der Binnen-Nachfrage

Um den Konsum in China zu stärken, müssten die Steuern gesenkt und die Löhne erhöht werden, in der Krise passiert aber genau das Gegenteil. Den entscheidenden Anteil am Wirtschaftswachstum haben die Investitionen, nicht der Konsum. Sie machten in der ersten Hälfte 2009 sogar 88 Prozent des BIP aus - in den drei Jahren zuvor 40. Die globalen Ungleichgewichte sind Ausdruck einer weltweiten Arbeitsteilung, die nicht einfach zurückgedreht werden kann. Die Löhne in China sind für manche Industriebranchen bereits jetzt zu hoch. Auf der anderen Seite des Pazifik ist die hohe Privatverschuldung in den USA Ausdruck davon, dass die ArbeiterInnen ihren Lebensstandard notfalls mit Krediten verteidigen.

Ein Großteil des chinesischen Konjunkturpakets, das nicht in der Spekulation landete, ging an große, finanzstarke Unternehmen. Weniger als fünf Prozent der Kredite ging direkt an kleine und mittlere Unternehmen, die aber 75 Prozent der Jobs in den Städten ausmachen. Staatsfirmen und staatliche Stellen finanzieren damit Infrastrukturprojekte, meistens den Ausbau von Transportwegen. Das Schienennetz soll um ein Viertel erweitert werden, 12.000 km neue Autobahnen sollen gebaut werden; mit den lokal geplanten Autobahnen zusammen wäre das eine Verdreifachung von bisher 60.000 km auf 180.000 km - bei 38 Millionen PKW. In den USA kommen auf 230 Millionen PKW 75000 km Autobahnen. Außerdem sind eine ganze Reihe neuer Flughäfen geplant, teilweise in direkter Nähe zu anderen Flughäfen.

Mit solchen Projekten werden das Konsumvermögen und der Lebensstandard höchstens indirekt unterstützt. Besser funktioniert bisher die Stimulierung des Konsums durch Kaufanreize und Sozialprogramme. Bis August stiegen die Autoverkäufe im Vergleich zum Vorjahr um 82 Prozent auf 1,4 Millionen (davon 858.000 PKW). Aber im gleichen Zeitraum wurden mehr als sieben Millionen Autos produziert, von denen niemand weiß, wer sie kaufen soll - dabei waren die Fabriken nur zu 80 Prozent ausgelastet! Durch die Krise ist in fast allen Bereichen das Einkommen gesunken, bei der Mittelschicht um 30-50 Prozent, und auch hier wächst die Arbeitslosigkeit. Die Haushalte auf dem Land sind durch sinkende Preise für landwirtschaftliche Produkte und die ausbleibenden Überweisungen der WanderarbeiterInnen besonders stark betroffen. Die Regierung steuert gegen mit verbilligten Krediten, Subventionen und der Einführung einer rudimentären Krankenversorgung.

Bekanntermaßen ist offiziellen Statistiken nicht zu trauen: Die Meldung, das BIP-Wachstum im ersten Halbjahr 2009 habe mit 7,9 Prozent genau die angepeilte Ziellinie erreicht, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, denn im ersten Quartal war der Stromverbrauch in China um 4,3 Prozent gefallen und das BIP-Wachstum hatte angeblich 6,1 Prozent betragen. Auf der Bahnstrecke zwischen Guangzhou und Shenzhen ging im ersten Halbjahr 2009 das Frachtvolumen um 23 Prozent zurück.

Die Exporte sinken weiter stark, im Juli und August um je 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Importe schrumpfen nicht mehr so stark, sie sind im Mai um 25, im Juli um 15 und im August um 17 Prozent gesunken.

Weil China verstärkt Rohstoffe kauft, steigen die Preise auf dem Weltmarkt und tragen zur Illusion von "Bodenbildung" und Erholung bei. Dahinter steht aber keine nachhaltige Entwicklung. Die wachsenden Einführen aus anderen asiatischen Ländern, z.B. Rohstoffe aus Indonesien und Maschinen aus Südkorea, haben die Vorstellung genährt, China werde zum Konjunkturmotor der Region. Die Kupferimporte z.B. sind 150 Prozent höher als vor einem Jahr, auch die Importe von Kohle, Aluminium, Eisenerz und Öl gingen hoch. Die Zahlen spiegeln aber vor allem wider, dass im Rahmen des Konjunkturprogramms neben Straßen- und Schienenbau die Kapazitäten der Exportproduktion ausgeweitet und die Materialläger aufgefüllt werden - ohne dass es einen Absatzmarkt gibt. Es ist entscheidend, wie "Wirtschaftswachstum" entsteht, kreditfinanzierte Investitionen können es nur kurzfristig hochtreiben und durch den weiteren Ausbau der Produktionskapazitäten wird die Stärkung des Binnenkonsums noch schwieriger. Es wird irgendwann zu Stilllegungen der ungenutzten Kapazitäten kommen müssen, die dann Entlassungen nach sich ziehen.

Oder die wachsende Überproduktion muss exportiert werden. China hofft auf die anderen Schwellenländer als rettende Absatzmärkte - so wie die Welt auf China hofft. Chinesische Importe führen dort aber zu Fabrikschließungen und Arbeitslosigkeit, und das bei desolaten Sozialsystemen. Syrien z.B. hat Importzölle erlassen wegen Fabrikschließungen, zwei Drittel der kleinen und mittleren indischen Unternehmen leiden unter den chinesischen Importen.

Mit den wachsenden Überkapazitäten wächst der Protektionismus. Mitte September hat Obama die Schutzzölle für Reifen, die bei vier Prozent lagen, auf 35 Prozent erhöht und damit womöglich einen für deflationäre Krisen typischen Handelskrieg in Gang gesetzt. Die Zölle werden den Wert der chinesischen Exporte um eine Milliarde Dollar reduzieren.

Als es Aufregung in chinesischen Webforen gab, reagierte die chinesische Regierung harsch und drohte ihrerseits mit Zöllen auf US-Exporte von Autoteilen und Hühnerfleisch, die sich ebenfalls auf eine Milliarde Dollar belaufen.

Die Reaktionen waren weitreichend und von Nervosität geprägt. Der Kautschukpreis fiel nach der Entscheidung schlagartig, Thailand als weltgrößter Kautschukproduzent fürchtet katastrophale Einbrüche. Die Angst vor einem Handelskrieg führte sofort zum Absturz der Börse.

Drei Beispiele für Überkapazitäten

In der Zementindustrie waren die Kapazitäten letztes Jahr nur zu 70 Prozent ausgelastet, dennoch stiegen die Investitionen in der ersten Hälfte 2009 um zwei Drittel.

In der Solarindustrie gibt es mittlerweile weltweite Überkapazitäten, ein Drittel der Kapazitäten würde genügen, um die Nachfrage zu decken. Die Branche steckt in Preiskampf und Deflation. In China kann man etwa 30 Prozent billiger produzieren als in der BRD, wo fast alle Hersteller im Jahr 2009 in die roten Zahlen rutschten.

In der Stahlindustrie werden nach den Boomjahren in der Krise die weltweiten Überkapazitäten deutlich. Die EU hat Ende Juli Zölle auf Stahlrohr verhängt, eins der wichtigsten Stahlprodukte, und zwar zum ersten Mal aufgrund einer drohenden Benachteiligung, nicht einer bereits eingetretenen. Die europäische Stahlindustrie ist stark eingebrochen (um 43-57 Prozent bis Februar 2009) und sieht einen Grund dafür in der "aggressiven chinesischen Verkaufspolitik". Der chinesische Stahlverband rechnete im März mit einem Rückgang der Stahlexporte um 80 Prozent für 2009. China trägt übermäßig zu den weltweiten Überkapazitäten bei, die chinesische Stahlproduktion ist im Jahr 2008 deutlich weniger zurückgegangen als im weltweiten Durchschnitt, und erreicht mittlerweile aufgrund des Konjunkturpakets neue Rekorde: Sie ist seit Oktober 2008 um 42 Prozent gestiegen! Die chinesische Regierung will auch aufgrund rapide sinkender Gewinne die Überkapazitäten reduzieren, schon länger sind Fusionen in der Diskussion, nur fünf große Stahlwerke sollen in zwei Jahren übrig bleiben. Aber schon früher waren ähnliche Vorhaben nur schwer gegen Fabrikbosse und Arbeiter durchzusetzen.

Die neue Arbeiterklasse ist in die Defensive geraten. Vor Krisenbeginn drehten sich die Kämpfe der WanderarbeiterInnen um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn, seit den massiven Fabrikschließungen um ausstehende Löhne und Abfindungen. Daraus wurden bisher keine übergreifenden gemeinsamen Kämpfe oder welche mit anderen Schichten zusammen. Allerdings legte die Regierung aus Angst vor Aufständen ein massives Beschäftigungsprogramm auf und übernahm teilweise ausstehende Löhne und Abfindungen. Ein großer Teil der WanderarbeiterInnen hat sich nicht langfristig aufs Land zurückgezogen, sondern ist wieder auf der Suche nach Arbeit, v.a. in kleineren Städten oder auf dem Bau. Gleichzeitig werden etwa in Guangdong dringend WanderarbeiterInnen gesucht, allerdings zu niedrigeren Löhnen.

Im Juli und August stoppten die Arbeiter die Privatisierung von zwei Stahlwerken in den Provinzen Jilin und Henan. Im Tonghua-Werk in Jilin gab es schon länger Unzufriedenheit über ein angekündigtes Rationalisierungsprogramm. Bei Protesten gegen die Übernahme durch einen privaten Konzern, an denen bis zu 30.000 Arbeiter beteiligt waren, wurde der neue Manager getötet und 100 Menschen verletzt. Eine andere Fabrik in Henan blieb lange unverkauft und wurde schließlich zu 20 Prozent des Ausgangspreises verkauft. Die nachfolgenden fünftägigen Streiks und Riots bezogen sich mit Plakaten direkt auf die Proteste in Jilin. Auch hier wurde am Ende die Privatisierung gestoppt und die Arbeiter bekamen einen Lohnzuschuss. Der Kampf der Stahlarbeiter ist ein Echo aus den 90er Jahren, als es massiven Widerstand gegen die Umstrukturierungen der Staatsbetriebe gab. Die "alte Arbeiterklasse" wendet noch einmal die früher vom Staat propagierten Ideen von kollektivem Eigentum gegen die Regierung und macht die Rationalisierung in der Krise schwieriger.

Die Regierung kommt mit "Verschweigen" nicht mehr durch. Über die Proteste in Jilin wurde drei Tage nichts veröffentlicht, Hinweise darauf in Foren wurden schnell gelöscht. Die offiziellen Medien berichteten erst, nachdem die Informationsflut im Netz nicht mehr aufzuhalten war.

Im August veröffentlichte die Regierung Daten über die wachsende Kluft in der Einkommensverteilung, nach denen 0,4 Prozent der Bevölkerung 70 Prozent des Reichtums besitzen - und dass ein großer Teil der Reichen Kinder ranghoher Kader sind. Weil das einen Sturm der Entrüstung auslöste, wurden die Daten von der Regierung für ungültig erklärt.

USA: Immobilienkrise und Bond-Bubble

Nachdem in den USA die Privatverschuldung zusammengebrochen ist, hat der Staat die Verschuldung übernommen und sogar noch ausgeweitet: im laufenden Finanzjahr bis Ende September haben die USA einen Finanzierungsbedarf von 1580 Mrd. Dollar. Werden alle Schattenhaushalte einberechnet, liegt die Verschuldung bei ca. 350 Prozent des BIP. Ein guter Teil der Schulden wird über die Notenpresse finanziert, was das Vertrauen in den Dollar unterhöhlt. Die gesamtwirtschaftliche Nettoersparnis (Bruttoersparnis abzüglich Abschreibungen) ist auf minus 2,8 Prozent des Bruttonationaleinkommens gefallen. Es findet also keine Kapitalakkumulation statt, der Kapitalstock schmilzt sogar.

Viele Städte und Kommunen stehen vor dem Bankrott, das Rentensystem ist völlig marode (schon vor der Krise gab es Fehlbeträge von 87.000 Dollar pro Teilnehmer). Staatliche Sozialleistungen werden weiter gekürzt, die Arbeitslosigkeit hat sich in den letzten zwei Jahren verdoppelt, Anfang September lag die Arbeitslosenquote offiziell bei 9,7 Prozent in der breitesten offiziellen Abgrenzung sogar bei 16,8 Prozent. In Kalifornien liegt sie offiziell bei fast 12 Prozent, wenn man "Unterbeschäftigte" dazuzählt, sind es fast 18 Prozent. Aber auch wer Arbeit hat, wird ärmer, das Einkommen aus lohnabhängiger Beschäftigung ist auf das Niveau von Anfang 2001 gefallen (die Einkünfte aus Unternehmenstätigkeit sogar noch darunter). Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist im Vergleich zum Vorjahr um 3,4 Prozent gesunken. Die Konsumausgaben gehen zurück; selbst die Ausgaben für kurzlebige Konsumgüter gehen runter. Solche Artikel des täglichen Bedarfs waren in bisherigen Rezessionen stabil geblieben.

Unwahrscheinlich also, dass die US-Konsumenten langfristig viel Geld ausgeben. Es wird höchstens kurzfristige Aufschwünge geben, etwa durch Abwrackprämien oder bei steigenden Inflationserwartungen. Auch im zweiten Quartal 2009 gingen die Importe um 15,1 Prozent zurück.

Was kommt nach Chimerica?

Das Ungleichgewicht von US-Verschuldung und chinesischem Export abzuwickeln, würde eine Koordination der Anpassungsprozesse auf beiden Seiten voraussetzen: steigende Sparquote in den USA, sinkende Sparquote und wachsender Konsum in China. Die USA fangen mittels staatlicher Verschuldung zum Teil den Rückgang des privaten Konsums auf, aber die damit gewonnene Zeit wird für China nicht reichen, sich stärker auf den Binnenkonsum zu orientieren. Dafür müsste China zunächst eine steigende Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen - und hier sitzt der größte Knackpunkt! Je mehr aber China seine Produktionskapazitäten noch weiter ausbaut, und je weniger die Prozesse in beiden Ländern zusammenpassen, umso stärker wird der Rückgang der Weltwirtschaft ausfallen.

Nach wie vor fließt viel Geld nach China, im ersten Halbjahr 2009 aber nicht mehr von US-Konsumenten recycelte Dollars unter Kontrolle der Zentralbank, sondern Gelder von Privatanlegern, die aufsteigende Aktien- und Immobilienpreise in China spekulierten. Dieses Geld kann sehr schnell wieder abfließen, wenn z.B. die chinesische Wirtschaft ihren vermeintlichen Wachstumskurs nicht aufrecht erhalten kann.

Andererseits legt auch China seine Reserven weiterhin in den USA an, u.a. am Immobilienmarkt. Dort steigen die privaten Immobilienkäufe in den letzten Monaten wieder, weil der Staat sie massiv bezuschusst. Der Markt hat sich nicht erholt, im Gegenteil ist die Zahl der Hypotheken, für die die Raten nicht gezahlt werden können, zur Jahresmitte auf Rekordhöhen gestiegen. Mit Auslaufen der staatlichen Kaufanreize Ende November und steigenden Hypothekenzinsen drohen neue Ausfälle. Bei den Gewerbeimmobilien steht der Absturz überhaupt erst bevor, und er wird auch die Banken mit ihren hypothekenbesicherten Papieren treffen. Dagegen will der staatliche chinesische Investmentfonds CIC direkt in diesen Markt einsteigen. Gewerbeimmobilien sind in der Krise billig geworden, somit könnte die Investition Gewinn bringen - vor allem aber soll sie neue Einbrüche verhindern. China kauft sich Zeit für die eigene Umstellung - und hilft beim Aufpumpen der Blasen in den USA ("ganz nebenbei" werden dabei natürlich auch strategische Positionen aufgebaut!).

Noch immer ist die Außenpolitik der USA auf den Erhalt der globalen Währungsordnung ausgerichtet, aber die Bedingungen haben sich drastisch verändert. Noch vor ein paar Jahren war die Drohung eines Ölstaats, in Euro statt in Dollar zu handeln, ein Kriegsgrund. Heute müssten die USA die halbe Welt mit Krieg überziehen: Russland und China wollen den Handel mit Südamerika ohne den Dollar abwickeln, die Mercosur-Länder untereinander ebenfalls. Das ALBA-Bündnis (Venezuela, Kuba, Bolivien, Nicaragua, Honduras, Ecuador, Antigua, Barbuda, St. Vincent und die Grendaden) plant sogar eine eigene Gemeinschaftswährung. Auch Diskussionen um eine arabische Währung tauchen wieder auf.

Ein Wertverlust des Dollar ist momentan durchaus im Sinne der USA: der Export läuft dann besser, die eigenen Schulden werden abgewertet aber der Status als Leitwährung muss aufjeden Fall verteidigt werden, was angesichts der Krise und der militärischen Schwierigkeiten der USA immer problematischer wird. Bisher war es ein Vorteil der USA, dass es bei geostrategischen Krisen zu einer Flucht in den Dollar als sicherer Anlage kam. Die starke US-Verschuldung im Ausland könnte zu einer gegenteiligen Reaktion führen, dann würde eine außenpolitische mit einer Finanzkrise zusammenkommen. Große Kreditgeber könnten ihre eigenen Interessen durchsetzen mit der Drohung, eine große Menge Staatsanleihen zu verkaufen. Wenn klar wird, dass die USA eine starke Abwertung des Dollar nicht mehr verhindern wollen oder können, kann es zu einer Dollarflucht kommen. Um das zu verhindern, müssten die Zinsen hochgesetzt und die Staatsausgaben gekürzt werden. Beides hätte verheerende Folgen für die absackende US-Wirtschaft. Noch gefährlicher wäre eine gleichzeitige Krise der US-amerikanischen Staatsanleihen (bond bubble). Dann wäre ein Crash unvermeidlich.

Randnotizen

Siehe auch den Artikel in Wildcat 84: Chimerica.

Bruttonationaleinkommen: alle von Inländern erwirtschafteten Einkommen (egal ob im Inland oder in Ausland erzielt)

Bruttoinlandsprodukt: alle im Inland erwirtschafteten Einkommen (egal ob von Inländern oder von Ausländern erzielt)

Raute

Krise in Kalifornien: Das Kapital vergiftet alles, was es berührt

Die von Marx beschriebene kapitalistische Zentralisierung in Kalifornien (siehe Editorial dieser Wildcat) geht inzwischen so weit, dass die Entwicklung in Fäulnis übergeht: Die kapitalistische Zivilisation selbst verfault und vergiftet dabei gesellschaftliche Verhältnisse und physische Umwelt. Und während das Kapital die natürliche und erbaute Umwelt plündert, erreicht es gleichzeitig eine noch nie dagewesene Produktivität und Fähigkeit, Gebrauchswerte zu vermehren.

Wie es wirklich aussieht, zeigt die Zahl der leer stehenden Häuser in den USA:

Leer stehende Häuser: 19.000.000(1)
Obdachlose Menschen: 3.500.000
(davon 1.350.000 Kinder)
(2)

Die Rechnung ist also ganz einfach: für jede/-n Obdachlose/-n es gibt mindestens fünf leer stehende Häuser! Vier der Top Ten unter den US-Städten mit den meisten Zwangsräumungen im Oktober 2008 befanden sich in Kaliforniens Central Valley: 1. Merced, 2. Modesto, 3. Stockton, 10. Sacramento. Fresno war Nummer 14, und Bakersfield kam 2009 als Nummer 18 dazu...

Barackenstädte in den USA

Wie irrational diese vergifteten gesellschaftlichen Verhältnisse wirklich sind, zeigte sich in Kalifornien im Mai 2009, als Banken nagelneue, aber unverkaufte Fertighäuser in den südkalifornischen Vorstädten mit dem Bulldozer plattmachen ließen. Nirgendwo in den USA bekommen jüngst obdachlos gemachte Menschen mehr Platz in Notunterkünften, denn diese sind völlig überfüllt; St. John's Shelter for Women and Children in Sacramento weist jede Nacht etwa 350 Leute ab(3). Viele dieser Leute landen letztendlich in den schnell wachsenden Zeltstädten(4), die sich oft genau dort befinden, wo schon die Hoovervilles(5) der Depression in den 1930er Jahren standen. So auch die auf einer vormaligen Müllhalde errichtete Zeltstadt in Kaliforniens Hauptstadt Sacramento, die durch die Medien international bekannt wurde, woraufhin Gouverneur Schwarzenegger und der Bürgermeister von Sacramento sie dicht machten.

Als wir im März 2009 die Zeltstadt in Sacramento besuchten, um uns die Sache genauer anzusehen, stellten wir fest, dass fast die Hälfte der Leute, mit denen wir dort sprachen, noch bis vor kurzem auf dem Bau gearbeitet hatte(6). Als der Immobilienboom krachte, fanden sie ganz einfach keinen Job mehr. Einige der Obdachlosen wollen zwar aus verschiedensten Gründen draußen leben, etwa weil sie keine Haustiere, keinen Alkohol und keine anderen Drogen in die Obdachlosenasyle mitnehmen dürfen, aber die meisten ZeltstadtbewohnerInnen suchen verzweifelt eine Arbeit und eine Unterkunft. In vielen Städten stoßen die Leute, die Zeltlager errichten, auf Ablehnung, so als seien sie selbst schuld an ihrer Situation. Die Stadt New York, die für ihre Intoleranz gegenüber Obdachlosen berüchtigt ist, hat vor kurzem eine Zeltstadt in East Harlem geschlossen. In Tampa, Florida, taten sich Hausbesitzer zusammen, um eine nahegelegene Zeltstadt mit 200 Leuten dicht zu machen, da diese ihre Häuser "abwertete". In Seattle machte die Polizei mehrere Zeltstädte dicht, die nach dem Bürgermeister, der die Räumung befohlen hatte, jeweils "Nickelsville" genannt wurden.

Anderswo, z. B. in Nashville, Tennessee, werden Zeltstädte jedoch von Lokalpolizei und Politikern toleriert. Kirchliche Gruppen dürfen sogar Duschen bauen und die BewohnerInnen betreuen. Auch in Champaign, Illinois, St. Petersburg, Florida, Lacey, Washington, Chattanooga, Tennessee, Reno, Nevada, Columbus, Ohio und Portland, Oregon wurden Camps zugelassen. In Ventura, Kalifornien dürfen Obdachlose neuerdings im Auto schlafen, ähnlich im nahegelegenen Santa Barbara. In San Diego, Kalifornien, wird jede Nacht eine Zeltstadt vor der öffentlichen Bibliothek in der Innenstadt aufgebaut.

Die meisten neuen Zeltstädte scheinen in Kalifornien zu entstehen, auch wenn viele von ihnen verborgen sind und die Bewohner versuchen, nicht entdeckt zu werden. Viele Obdachlose suchten Zuflucht in einer Zeltstadt in Ontario, Kalifornien, einer Vorstadt von Los Angeles im unlängst noch boomenden "Inland Empire". Diese Gegend hatte sich unglaublich schnell entwickelt und wurde von der Welle der Zwangsräumungen und Massenentlassungen extrem hart getroffen. Ontario hat 175.000 Einwohner; und als die Zahl der Obdachlosen in der Zeltstadt auf über 400 stieg, wurde verfügt, dass nur diejenigen, die in Ontario geboren wurden oder zuletzt dort lebten, bleiben durften. Für diejenigen, die legal dort leben dürfen, stellt die Stadt Wachpersonal und elementare Dienstleistungen.

Kaliforniens Central Valley: Das giftige Kernland am Highway 99

Kaliforniens Central Valley ist 720 km lang, 80 km breit und liegt zwischen den Gebirgen Sierra Nevada und Coast Range. Im Norden und im Süden durchziehen es die Flüsse Sacramento bzw. San Joaquin, bevor sie sich zu einem riesigen Flussdelta vereinen, das in die San Francisco Bay mündet. Dies ist das produktivste landwirtschaftliche Anbaugebiet der Welt. Seit den 1970er Jahren hat die Bauindustrie hier einige der fruchtbarsten Böden der Welt mit riesigen Einfamilienhaussiedlungen in Vororten und Vorstädten zubetoniert. Und in den letzten Jahren wurden diese neuen Wohnungen mit toxischen Wertpapiere finanziert, die die gesellschaftlichen Verhältnisse vergifteten, während gleichzeitig die Monokulturen des hochzentralisierten Agrobusiness die Ökosysteme verseuchten und weit über die Region hinaus die Umwelt zerstörten. Zwischen den reichsten Ackerböden der Welt stehen im Central Valley wahrscheinlich mehr zwangsgeräumte Häuser als irgendwo sonst auf der Welt; Teile des Valleys hatten schon immer die niedrigsten Löhne in den USA und die höchste Arbeitslosigkeit außerhalb des Rust Belt im Mittleren Westen. Das Valley konkurriert mit dem Talkessel von Los Angeles um die schlechteste Luftqualität in den USA; die Stadt Arvin, die John Steinbeck mit seiner Darstellung eines regierungsfinanzierten Migrantenarbeitercamps "Weedpatch" in Früchte des Zorns verewigt hat, hat die dreckigste Luft in den USA.(7)

Giftige Tour

Wenn man von den Kernstädten der Bay Area (also San Francisco, Oakland, Berkeley) nach Osten fährt, sieht man die chaotischen, ungeplanten, zersiedelten Vororte, die mit Ausnahme weniger Lücken für Hügel oder Getreidefelder auf den gesamten 140 Kilometern bis zur Hauptstadt Sacramento das Ackerland verdrängt haben. Zu den größeren Städten gehören die oben erwähnten Zwangsräumungs-Hochburgen Stockton, Modesto, Merced, und auch Fresno, der Mittelpunkt des San Joaquin Deltas im Valley und mit 500.000 Einwohnern Kaliforniens fünftgrößte Stadt. Fresno ist der produktivste und profitabelste landwirtschaftliche Landkreis (County) in den USA und gleichzeitig "Kaliforniens Asthma-Hauptstadt": nicht nur wegen der Auto- und Industrieabgase, sondern auch wegen der Pestizide und anderer giftiger in der Landwirtschaft benutzter Chemikalien, die dort in der Luft liegen. Bis vor kurzem gab es drei große Zeltstädte in der Innenstadt von Fresno(8), einige Camps entlang den Highways und mehrere kleinere über die Stadt verstreut. Die erste Zeltstadt auf Union Pacific Railroad-Gelände wurde im Juli 2009 geräumt. Sie war buchstäblich toxisch, denn im Sommer 2008 wurde entdeckt, dass giftiger Schlamm aus Löchern im Boden austrat, möglicherweise weil das Gelände vorher für Autoreparaturen benutzt worden war. Eine andere Zeltstadt wird nach dem gleichnamigen Film aus frühen 1990er Jahre über brutale, mit Crack dealende Gangs "New Jack City" genannt, weil dort schon zwei Morde passiert sind. Die dritte ist eher eine Barackenstadt, weil viele der Behausungen aus zusammengesuchtem Holz gezimmert sind. Wegen der vielen Latinos, die dort wohnen, wird sie "Taco Flats" oder "Little Tijuana" genannt. Die Bewohner waren auf der Suche nach Arbeit in der Landwirtschaft in die Gegend gekommen waren, konnten aber wegen der Wirtschaftskrise und der dreijährigen Dürre, die den Anbau stark zurückgehen ließ, keine finden.

Mit zunehmender Mechanisierung der Landwirtschaft und der Nutzung von genetisch modifiziertem Getreide lassen sich mit weniger ArbeiterInnen höhere Erträge erzielen, ganz wie bei jeder anderen Form von kapitalistischer Produktion. Aber landwirtschaftliche Arbeit war schon immer saisonal und unsicher. Zur Zeit sind 92 Prozent aller LandarbeiterInnen ImmigrantenInnen, aber eigentlich war das schon in der Zeit des Goldrausches von 1849 so. Für den Bau der Eisenbahn wurden chinesische Arbeiter, "Kulis", geholt. Als das transkontinentale Eisenbahnnetz 1869 fertiggestellt war, arbeiteten sie in den Minen, bis Rassismus und sinkende Erträge sie vertrieben. Viele arbeiteten dann in der Landwirtschaft, bis das Gesetz zum Ausschluss der Chinesen von 1882 die Einwanderung stoppte. Danach holten die Landbesitzer ImmigrantInnen aus Indien, den Philippinen, Armenien, Italien und Portugal. Während der Großen Depression ließen sie dann aus der Dust Bowl(9) geflohene "Okies" und "Arkies" für sich arbeiten (so wurden abfällig die weißen BinnenmigrantInnen aus Oklahoma und Arkansas genannt, meist ehemalige Kleinbauern). Von Anfang an wurden auch mexikanische ImmigrantInnen für diese Arbeit eingesetzt und zusammen mit den ZentralamerikanerInnen stellen sie mittlerweile die überwältigende Mehrheit.

One Big Union (10)

In Fresno fand auch 1910-11 der erfolgreiche sechsmonatige Kampf der Wobblies (Spitzname der Industrial Workers of the World - IWW) für Redefreiheit statt. Der Kampf zog hunderte Wobblies und andere WanderarbeiterInnen von der ganzen Westküste an, die das Recht verteidigten, auf den Straßen "Seifenkistenreden" zur Mitgliederwerbung zu halten. Ihr Anführer war IWW-Organisator Frank Little (der dann 1917 in Butte, Montana, gelyncht wurde). Damals bezeichnete sieh Fresno als "Welthauptstadt der Rosinen", und zum Ende des Sommers kamen 5000 japanische ArbeiterInnen und weitere 3000 Hobos zur Traubenernte. Etwa so wie in den heutigen Zeltstädten kampierten die ArbeiterInnen in der Innenstadt und suchten auf dem "Sklavenmarkt" nach Arbeit. Die Japaner hielten oft gut zusammen und wollten für höhere Löhne und bessere Bedingungen kämpfen. Da die örtlichen Eliten wussten, dass die IWW alle ArbeiterInnen ohne Ansehen von Rasse, Nation oder Abstammung, Geschlecht oder Berufszweig zu organisieren versuchte, fürchteten sie, die Japaner könnten sich der IWW anschließen. Mit brutalen Übergriffen und Massenverhaftungen, oft durch Bürgerwehren, versuchten sie, die IWW-Seifenkistenredner am Reden zu hindern. In den Gerichtssälen agitierte die IWW weiter für den Klassenkampf. Der Kampf für Redefreiheit war erfolgreich, denn immerhin waren die politischen Führer und örtlichen Farmeigentümer danach aufgeschlossener gegenüber den Versuchen der konservativen AFL(11), unter den LandarbeiterInnen Mitglieder zu werben.

Der nächste große Kampf der IWW fand 1913 im Hopfenanbaugebiet des Sacramento Valley statt. Die Hopfenranch Durst in Wheatland suchte in ganz Kalifornien per Zeitungsanzeigen 2700 ArbeiterInnen, obwohl sie nur 1500 benötigte. Damit wollten sie bewusst einen Überschuss an ArbeiterInnen schaffen, um die Löhne zu drücken. Es kamen 2800 ArbeiterInnen aus 27 ethnischen Gruppen mit zwei Dutzend Sprachen. Es war extrem heiß, es gab kein sauberes Wasser und nur neun Außentoiletten für all diese Menschen. Wer bei Durst nicht für ein Zelt zahlen wollte, musste auf dem Feld schlafen. Da es kein Trinkwasser gab, musste man Dursts Vetter fünf Cent für Limonade bezahlen. Die Läden aus der Stadt hatten keinen Zutritt zur Ranch, und so waren die ArbeiterInnen gezwungen, in Dursts eigenem Laden einzukaufen. Viele wurden krank, weil es weder Müllabfuhr noch Kanalisation gab. Zehn Prozent der Lohnsumme behielt Durst bis zum Ende der Ernte ein, in der Hoffnung, dass viele aufgrund der dreckigen Bedingungen vorzeitig abreisen würden.

Es gab etwa hundert Männer mit irgendwelchen Verbindungen zur IWW, und sie beriefen schnell eine Versammlung ein, bei der es weniger um die Löhne ging als um die fürchterlichen Lebensbedingungen. Als sich gerade 2000 Leute versammelt hatten und die Wobbly-Organisatoren zu ihren Reden ansetzten, wurde die Versammlung vom Sheriff abgebrochen. In dem darauffolgenden Aufruhr gab es vier Tote: zwei ArbeiterInnen und zwei aus dem Aufgebot des Sheriffs. Die meisten ArbeiterInnen verließen die Durst-Ranch und zerstreuten sich. Mit der Jagd auf die Wobblies, die für den Aufruhr verantwortlich gemacht wurden, begann eine Herrschaft des Terrors. Die ungesunden Bedingungen auf der Ranch wurden vom Staat untersucht und neue Gesetze eingeführt, die eine Verbesserung der Lebensbedingungen der LandarbeiterInnen forderten. Wenn wir allerdings die Organisierungskampagne unter LandarbeiterInnen von 1965 in Delano im San Joaquin Valley unter Führung von Cesar Chavez betrachten, aus der dann die UFW (12) entstand, sehen wir, dass sich im Verlauf von 50 Jahren fast nichts geändert hatte: Weiterhin wurde eine "Reservearmee an Arbeitskraft" geschaffen - 1965 waren die Arbeitsbedingungen kaum besser als 1913 vor der spontanen Revolte in Wheatland - und heute ist es nicht viel anders.

Weitere Zentralisierung

Die Beschäftigung in der Landwirtschaft hat schon immer saisonal geschwankt, und mit der Zunahme des Siedlungsbaus im Central Valley während der letzten 30 Jahre konnten die ArbeiterInnen immer auch Arbeit auf dem Bau finden. Während der Immobilienblase (die nach dem Platzen der Dot-Com-Blase 2001 entstand) stieg der Bedarf an ArbeiterInnen, bis auch diese Blase 2007 platzte. Aber auch ohne die Dürre hatten Mechanisierung und Konzentration die Erwerbslosigkeit unter den LandarbeiterInnen steigen lassen, es gab weniger, aber deutlich größere Farmen mit höheren Hektarerträgen. Es handelt sich um einen Prozess zunehmender kapitalistischer Zentralisierung in einer Region, die in den USA bereits Vorreiter der industriellen landwirtschaftlichen Massenproduktion war, auch Agrobusiness genannt.

Die Entwicklung Kaliforniens beruhte schon immer auf der Ideologie vom endlosen Wachstum und der Vorstellung vom Land als Immobilie. Seit den 1980er Jahren wurde die Wasserverteilung dereguliert. Damit wurden die Wasserverwaltungsbürokratien stärker von der Bauindustrie beeinflusst als vom Agrobusiness. Die WählerInnen in den Vorstädten stimmten für Regelungen, die eine immer stärkere Zersiedlung zuließen. Da die Nachfrage nach Wasser das Angebot überstieg, war der Weg frei für zukünftige vom Menschen geschaffene Dürren. Durch das Zupflastern von fruchtbarem Ackerland wurden auch Wasserkontingente frei, die zuvor für die Landwirtschaft im Central Valley benutzt worden waren und die jetzt zur Bewässerung von Siedlungen im Großraum Los Angeles, in Las Vegas, Nevada und dem über 1000 Kilometer entfernten Phoenix, Arizona, geleitet wurden. So trug auch dieses Wasser zum riesigen Immobilienboom in ganz Kalifornien und dem Westen der USA bei.

Giftige Arbeit

Das Wachstum des Central Valley begann wie in Kalifornien mit dem plötzlichen Erscheinen des Kapitalismus nach der Entdeckung von Gold im Jahr 1848. Das kalifornische Gold machte die Erholung der Weltwirtschaft nach der Revolution in Europa möglich und trieb das Wachstum von Industriestädten in ganz Nordamerika voran. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die San Francisco Bay Area zu einer der dynamischsten Regionen der kapitalistischen Akkumulation, so wie Südkalifornien um Los Angeles im 20. Jahrhundert. Das Wachstum Kaliforniens beruhte auf "grünem und schwarzem Gold", Agrobusiness und Erdöl. In beiden Bereichen waren kalifornische Landkreise führend in den USA.

Die aus diesem Prozess entstandenen hochproduktiven Agrarsektoren nutzten den Fortschritt im Transportwesen und verkauften ihre Produkte auf dem Weltmarkt, was weniger konkurrenzfähige Produzenten anderswo in die Krise stürzte. In Europa wurden Millionen von Bauern von ihrem Land vertrieben und viele von ihnen wanderten aus in Länder wie die USA. Jahrzehnte später schuftet eine Armee von überwiegend mexikanischen und zentralamerikanischen LandarbeiterInnen für ebenso niedrige Löhne und unter ebenso prekären Bedingungen, nur dass sie wegen des zunehmenden Einsatzes von petrochemischen Produkten in der Landwirtschaft einem größeren Spektrum tödlicher Gifte ausgesetzt sind.

Im Laufe der Zeit hat sich die Landwirtschaft immer weiter zentralisiert und konzentriert und produziert ein immer schmaleres Sortiment von lukrativen pflanzlichen und tierischen Produkten. Zwischen 1996 und 2006 ist die Milchproduktion um 72 Prozent gestiegen, und die Anbaufläche für Mandeln hat um 127 Prozent zugenommen. 80 Prozent der weltweiten Mandelernte wird auf etwa 240.000 ha Fläche im Central Valley erzeugt. Diese Form der Monokultur hat giftige Auswirkungen: Zur Befruchtung der Mandelbäume braucht man Bienen, aber davon gibt es im Valley schlicht nicht genügend. Also werden für die dreiwöchige Baumblüte im Februar über 40 Milliarden Bienen aus weit entfernten Gegenden wie Neuengland oder Australien geholt.

Rationalisierung des Agrobusiness

Die Automatisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft schreitet fort und macht noch mehr Menschen arbeitslos. Seit der Wohnungsbau fast völlig zusammengebrochen ist, liegt die Arbeitslosigkeit im San Joaquin Valley offiziell bei 15,4 Prozent, wobei aber weder die Unterbeschäftigten noch die Leute mitgerechnet werden, die die Jobsuche längst aufgegeben haben, wie etwa viele der Obdachlosen in den Zeltstädten. Die reale Arbeitslosigkeit liegt wahrscheinlich doppelt so hoch. Der Landkreis mit der höchsten offiziellen Arbeitslosigkeit in Kalifornien ist Colusa im Sacramento Valley mit 26,7 Prozent. Spitzenreiter unter den Städten ist Mendota, eine Stadt mit knapp 10.000 Einwohnern, wo die Arbeitslosigkeit bei 41 Prozent liegt. 95 Prozent der Bevölkerung sind Latinos, die meisten arbeiten in der Landwirtschaft. Mendota bezeichnet sich als "Welthauptstadt der Honigmelone", aber da der Honigmelonenanbau Bewässerung voraussetzt und wegen der Dürre nicht gesät wurde, haben viele Leute ihre Jobs verloren. Mit der Zunahme des Alkoholismus und dem Zerreißen des gesellschaftlichen Zusammenhalts bleiben künftig wohl nur noch Jobs im örtlichen Bundesgefängnis, das aufgrund von Finanzierungsproblemen allerdings erst zu vierzig Prozent fertiggestellt worden ist. Der Bau hat bisher 110 Mio. Dollar gekostet und soll geschätzt noch weitere 115 Millionen kosten, aber Präsident Obama hat bereits 49,4 Mio. Dollar aus dem Konjunkturpaket für die Fertigstellung zugesagt. Nach der Fertigstellung sollen dort 350 Arbeitsplätze entstehen. Wenn die Krise also den sozialen Zerfall weiter vorantreibt, könnten die Leute dort entweder einen Job als Wärter finden oder als Insasse dort landen. In Kalifornien sind Gefängnisse eine Wachstumsbranche, und jeder sechste Gefangene sitzt lebenslänglich ein.

Giftige Selbstmedikamentierung

Die Zeltstädte von Fresno leiden unter starkem Drogengebrauch, besonders von Methamphetamin ("Meth" oder "Crystal Meth"). Nach Aussagen von Beschäftigten im örtlichen Gesundheitswesen gibt es eine "Epidemie" dieses süchtig machenden Psychostimulans in den Arbeiterstadtteilen von Fresno. Sie bezeichnen Fresno als "Welthauptstadt des Meth". Tatsächlich entstand die moderne Form dieser Droge im Central Valley. Anfangs wurden sie von Motorradbanden wie den Hell's Angels hergestellt und vertrieben. Nach der Zerschlagung der Drogennetzwerke der Biker durch die Polizei Anfang der 1990er traten mexikanische Drogenkartelle mit noch stärker rationalisierten internationalen Produktions- und Vertriebssystemen an ihre Stelle. Das Central Valley um Fresno nimmt eine zentrale Stellung in der Produktion von Meth ein: Neben den großen Herstellern gibt es Zehntausende von kleineren Produzenten, die ihre geheimen Drogenküchen und Labors auf Farmen und Ranchs verstecken. Mit dem von der Krise ausgelösten Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung verbreitet sich diese Ware der Verelendung über die USA, und gerade unter den ArbeiterInnen benutzen viele das giftige Zeug zur Selbstmedikamentierung.

Die Chemikalien zur Herstellung von Meth sind nicht nur hochgiftig, sondern auch leicht entzündlich. Es sind schon viele Methküchen explodiert, wobei die Kocher ums Leben kamen und anliegende Gebäude niederbrannten. Einige Kocher stellen Meth auf der Durchreise her und haben schon ganze Motels abgefackelt, wenn aufgrund mangelnder Belüftung ihre Zimmer in die Luft gingen. Außerdem fallen bei der Produktion von jedem Kilo Meth fünf bis sieben Kilo Müll an. Diese hochgiftigen Abfälle werden oft in abgelegenen Gegenden wie den Parks und Wäldern in den Gebirgsausläufern um das Central Valley abgeladen, wo sie Mensch und Umwelt schädigen. Der größte Schaden entsteht durch die Großlabors: Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Zentralisierung der - in diesem Fall illegalen - Warenproduktion das Leben und die Umwelt vergiftet.

Giftiges Business

Im Kern County am südlichen Ende des Central Valley wurde Öl entdeckt. Die Ölfelder machen diesen Landkreis zu einem der ertragreichsten in den USA. Die Stadt Bakersfield gilt auch als "Öl-Hauptstadt Kaliforniens". Raffinerien, die Chemikalien wie Flusssäure einsetzen, tragen ihren Teil zu der giftigen Mischung bei. Die Ozonwerte und die Luftverschmutzung in Bakersfield gehören zu den schlechtesten in den USA. Die Zeitschrift Women's Health Magazine bezeichnete Bakersfield als "ungesündeste Stadt in den USA" für Frauen. In verschiedenen Berichten werden Industriechemikalien, besonders am Arbeitsplatz, als eine Hauptursache für die Giftbelastung in der Region genannt.

Bis die Bewässerungsprojekte Wasser brachten, war das südliche Ende des Tals eine Wüste gewesen. Doch der Boden enthielt auch Salz und Alkali vom Grund eines Urmeeres. Die Ableitung dieser Stoffe durch das Kesterson National Wildtier-Schutzgebiet schuf eine weiteren giftigen Hotspot von Menschenhand (ursprünglich sollten die Salze in die Bucht von San Francisco abgeleitet werden, was aber durch Proteste verhindert wurde). Marschen und Wiesen wurden überflutet, und viele Zugvögel starben an Selen, einem Spurenelement, das durch die Bewässerung aus dem Wüstenboden ausgewaschen wurde.

Doch die Vergiftung von Land, Menschen und Tieren beschränkt sich nicht auf Fehler wie Kesterton. Die chemieintensive Landwirtschaft steigert zwar die Erträge pro Fläche, aber dabei intensiviert sie auch die Auszehrung der Böden, die schließlich versalzen, zur Wüste werden und durch Insektizide, Fungizide, Herbizide und petrochemische Dünger regelrecht vergiftet werden. Die Abwässer der riesigen Bewässerungsprojekte verunreinigen das Grundwasser mit all diesen Giften, dazu kommen giftige Metalle wie Blei und Salze wie Selen. Im Ergebnis entstehen Umweltkrankheiten, denn viele dieser Chemikalien erzeugen Krebs und bewirken Fehlgeburten oder genetische Mutationen. Nachdem Untersuchungen eine Häufung von Krebserkrankungen unter Kindern im Kern County und anderen Agrargebieten des San Joaquin Valley zu Tage gebracht hatten, forderte die UFW 1988 das Verbot von fünf im Weinanbau verwendeten giftigen Pestiziden.

Die Umwelt wird am meisten unter der Überproduktion von Waren in Landwirtschaft und Wohnungsbau im Central Valley leiden. Bestimmte Arten sind eine Art Indikator für die Störung von Ökosystemen. So steht wegen der aktuellen Dürre ein riesiges Fischsterben bevor. Schon vor einigen Jahren hat Gouverneur Schwarzenegger vorgeschlagen, das kalifornische State Water Project(13) zu privatisieren, die Kontrolle zu zentralisieren und "Auftragnehmern" zu gestatten, mit Wasser und Wasserrechten zu handeln. Damals verhinderten Umweltbedenken den Verkauf, doch aufgrund der Krise steht die Privatisierung jetzt wieder auf der Tagesordnung, und Schwarzenegger droht erneut, öffentliches Eigentum zu verkaufen.

Giftiger Wohnungsbau

Der Boom im Wohnungsbau wurde angeheizt mit Collateralized Debt Obligations, d.h. aus Subprime- und anderen riskanten Hypotheken gebündelten Wertpapieren, die zu "toxic assets", "giftigen Anlagen" wurden, als die Blase platzte und mit dem Überangebot von zwangsgeräumten Häusern die Preise verfielen. "Toxic assets" ist ein ziemlich abstrakter Begriff; der hauptsächlich Investoren betrifft, aber im Bauboom sind tatsächlich Hunderttausende von im Wortsinne giftigen Häusern entstanden. Im Jahr 2005 wurden für den landesweiten Bauboom und den gleichzeitigen Wiederaufbau in New Orleans und anderen Gebieten im Süden der USA nach den Wirbelstürmen Katrina, Rita und Wilma riesige Mengen an Gipskartonplatten für den Trockenbau gebraucht. Also montierten Baufirmen, vor allem die Entwickler von riesigen Neubausiedlungen wie die Lennar Corporation, tonnenweise Gipskartonplatten aus China. Diese landeten hauptsächlich in Florida und Louisiana, ein guter Teil aber auch im Siedlungsbau im Central Valley. Die chinesischen Gipskartonplatten gasen Schwefelkohlenstoff und Carbonylsulfid aus, Stoffe, die Kupferrohre, elektrische Leitungen und Hausgeräte wie etwa Klimaanlagen korrodieren lassen. Die Bewohner leiden an Nasenbluten und Ausschlägen, und Kinder erkranken an Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten.

Die Besitzer dieser giftigen Neubauten sind gesetzlich verpflichtet, beim Verkauf darauf hinzuweisen, dass Gipskartonplatten aus China verbaut wurden, was die Preise bis auf 19.000 US-Dollar drückt. Teilweise reißen Lennar und andere große Firmen die Platten heraus und reparieren die Häuser, aber andere Baufirmen sind pleite oder kurz davor und tun nichts. Bisher weigern sich die meisten Banken, die Kredite für diese giftigen Häuser neu zu verhandeln oder anzupassen, so dass die Käufer darin gefangen sind.

Im Vorwort zur ersten deutschen Auflage des Kapital(1867) empfahl Marx, Erscheinungen dort zu beobachten, "wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen." Damals waren das "die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse" und die Bedingungen der "englischen Industrie- und Ackerbauarbeiter". Damit, sagte er, könnten wir jenen entgegentreten, die behaupten, dass in ihrem Land "die Sachen noch lange nicht so schlimm stehn". In diesem Sinne versuchen wir uns am Beispiel des Central Valley anzusehen, wie sich die Wohnungskrise, die Arbeitsmarktkrise und die ökologische Krise auf die Arbeiterklasse in Kalifornien auswirken. Leider lässt sich bisher kaum über Beispiele von Kämpfen der Arbeiterklasse gegen diese Auswirkungen berichten. Aber diese Kämpfe werden mit Sicherheit kommen, und wir hoffen, dass die hier vorgestellten Beobachtungen dazu beitragen, dass wir gut genug Bescheid wissen, um uns voll und ganz an ihnen zu beteiligen. Wie schon Marx warnte: "De te fabula narratur!(14) (...) Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft."

Randnotizen

1) Record 19 Million U.S. Homes Stood Vacant in 2008, Bloomberg 03.02.2009.

2) National Law Center on Homelessness and Poverty, "2007 Annual Report":
http://www.nlchp.org/content/pubs/2007_Annual_Report2.pdf.

3) Wall Street Journal, 11. 2009. Seite A3.

4) orig. "tent city": meist illegale Ansiedlung von Zelten / anderen temporären Unterkünften auf öffentlichem Land

5) Die Barackenstädte, die Obdachlose/MigrantInnen während der Great Depression bauten und bewohnten, wurden nach dem damaligen Präsidenten benannt.

6) Mehr dazu in unserem Bericht über das Treffen mit dem "Governator" und dem Bürgermeister bei der Zeltstadt:
http://flyingpicket.org/?q=node/46, und im Bericht über unseren nächsten Besuch, bei dem wir halfen, eine Latrine zu bauen:
http://flyingpicket.org/?q=node/49 (alles auf Englisch).

7) Central Valley town owns nation's dirtiest air. Oakland Tribune, 10.08.2007.

8) Cities deal with a surge in shuntytowns. New York Times, 6.03.2009.

9) Gebiete in den USA und Kanada, die vor allem in den 1930er Jahren von Staubstürmen betroffen waren.

10) "Eine einzige große Gewerkschaft": Kampfparole der IWW.

11) American Federation of Labor: US-amerikanischer Gewerkschaftsbund.

12) United Farm Workers: US-Landarbeitergewerkschaft.

13) Laut Wikipedia "das weltweit größte öffentlich gebaute und noch intakte Wasser- und Energieentwicklungs- und Beförderungssystem".

14) "Von dir handelt die Geschichte." Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, Vorwort zur ersten Ausgabe, 1867

Raute

Nur wenn wir das antiimperialistische Erbe überwinden... eröffnet sich die Perspektive der sozialen Revolution!

"Die Erde wird rot"

Antiimperialismus ist seit den 50er Jahren die politische Ausrichtung des Kampfes gegen das imperialistische Zentrum USA, dem alle anderen Erwägungen untergeordnet werden. Er entstand aus der Annäherung der Führer der antikolonialen Befreiungskämpfe in Asien, Lateinamerika und Afrika an das "sozialistische Lager". Eine Zeitlang sah es so aus, als würde die weltweite Landkarte rot, wenn ein Land nach dem anderen - oft mit militärischer Unterstützung durch die Sowjetunion oder China - die nationale Selbständigkeit erreichte.

Der antikoloniale Kampf in Algerien hatte ein weitverzweigtes Unterstützungsnetz in Frankreich und der BRD. Der Vietnamkrieg löste eine weltweite Solidaritätsbewegung aus, die sich an der immer brutaleren Kriegsführung der USA radikalisierte (Sabotageaktionen, verstecken und über die Grenze bringen von desertierten GIs usw.). Der Schahbesuch und der Mord an Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin radikalisierte eine ganze Generation. Die Unterstützung der "Befreiungsbewegungen" in Angola, Zimbabwe und Namibia, überhaupt die Solidarität mit den Kämpfen im "Trikont" wurde in den 70er Jahren zur Orientierungslinie für eine ganze Generation. Eine Orientierung, die ohne große Theorie auskam, weil sie gegen die blanke Ungerechtigkeit in der Welt Sturm lief.(1) Auf der einen Seite argumentierte man moralisch: "Ausbeutung der Dritten Welt", ungleicher Tausch, abhängige Entwicklung, usw. Auf der anderen Seite begeisterte man sich für den radikalen Kampf, wobei radikal fälschlicherweise mit bewaffnet gleichgesetzt wurde. Es war auch eine Suche nach der existentiellen Entscheidung.

Trotz verheerender Erfahrungen mit der Niederschlagung dieser Bewegungen - und noch schlimmer: mit den erfolgreichen Befreiungsbewegungen an der Macht (Zimbabwe, Südafrika, Nicaragua...), folgen heute in Bezug auf Venezuela viele immer noch der paranoiden Logik: "der Feind meines Feindes ist mein Freund". Kritik an Chavez nutze nur dem US-Imperialismus usw. Berichte über die reale soziale Situation in Venezuela erreichen die Fans dieses "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" gar nicht. Deshalb stellen wir den folgenden Artikeln ein paar Überlegungen voran. Da wir uns kurz fassen wollen, machen wir dabei ausgiebig Gebrauch von links auf ältere Artikel. Im nächsten Heft werden wir mit einem Artikel zur iranischen Revolution 1979 nochmal ausführlich auf diese Fragen zurückkommen.

Marx oder Sozialdemokratie

Der US-amerikanische und europäische Imperialismus entstand mit der Herausbildung des auf serieller Massenproduktion basierenden Kapitalismus in der "long depression" im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. In der marxistischen Tradition war es von Anfang an umstritten, in welchem Verhältnis die Ausbeutung der Arbeiterklasse im Innern mit der Ausplünderung der dabei entstandenen "Dritten Welt" steht. Marx hatte in seinem Briefwechsel mit Wera Sassulitsch 1881 von einer "besonderen historischen Möglichkeit" gesprochen, dass die Kämpfe der ArbeiterInnen in den entwickelten Gegenden mit denen der Landbevölkerung in Russland zusammen kommen. Die Sozialdemokratie hatte sich stattdessen drei Jahrzehnte später auf den Standpunkt des deutschen Kapitals gestellt, das "den Negern die Zivilisation bringen" müsse. Rosa Luxemburg hatte dagegen wieder im Gefolge von Marx den Zusammenhang von Imperialismus und Kapitalismus als permanente "ursprüngliche Akkumulation" zu fassen versucht, um eine revolutionäre Perspektive von unten zu erkunden. Letztlich geschichtsmächtig wurde aber Lenins Stadientheorie und das davon abgeleitete Bündnis mit den "unterdrückten Völkern". Lenins Antiimperialismus ist das Gegenkonzept zu "Arbeiterklasse" und denkt die Revolution von oben.(2)

Maoismus

Der Stalinismus als zentralstaatlich forcierte Entwicklung der Schwerindustrie, bei der Millionen von Bauern geopfert worden waren, hatte sich in den 50er (17. Juni 1953, Aufstand in Ungarn 1956) und den 60er Jahren (Prag 1968) entlegitimiert. An seiner Stelle wurde der Maoismus zur vorherrschenden Ideologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er verknüpfte antikoloniale Kämpfe mit Guerillakonzepten und dem Aufbau von Kaderparteien. Seine taktische Stoßrichtung ("die Städte vom Land her einkreisen und schließlich erobern") war vom damaligen Verteidigungsminister Lin Piao in seiner Schrift "Sieg im Volkskrieg" in eine globale Strategie umgemünzt worden (die Metropolen als die Städte, die drei Kontinente als die Dörfer)(3) und z.B. von der RAF als Strategie für den "Kampf in den Metropolen" ausgegeben worden. Der Maoismus bot einfache Anleitungen für die Praxis ("Dem Volke dienen", die Bedeutung von "Disziplin", Kritik-Selbstkritik). In einer extrem kurzen Zeitspanne nach der "weltweiten Revolution 1968" wurde er für fast alle zum Bezugspunkt, die organisiert gegen den Kapitalismus vorgehen wollten und denen die moskau-orientierten KPs zu bieder, ihre "marxistische Weltanschauung" zu eng war.

BRD: Die "Liquidation der antiautoritären Phase"

Die wilden Streiks im Herbst '69 in der BRD hatten überhaupt wieder kämpfende ArbeiterInnen sichtbar gemacht. Da man diesen aber in bester stalinistischer Tradition des "historischen Materialismus" eine "historische Mission" überstülpen wollte, führte die kurze Begeisterung sehr schnell zum Frust. Die einen zogen daraus den Schluss, dass die Arbeiterklasse ohne Partei nichts ist und begannen mit dem Aufbau von autoritären (maoistischen) "Parteien". Die anderen versuchten sich mit Stadtguerilla-Gruppen am weltweiten Kampf gegen den US-Imperialismus zu beteiligen.(4) Sie nahmen dabei nicht wahr, dass die Guerillakonzepte in Lateinamerika alle gescheitert waren (bereits 1967 in Bolivien, danach auch in Uruguay, Brasilien...). Die Debatte über den Zusammenhang von Klassenkampf und abhängiger kapitalistischer Entwicklung wurde auf die Alternative "KP oder Guerilla" verkürzt.(5) Diese "Alternative" verschärfte sich mit dem (von den USA massiv unterstützten) Putsch in Chile im September 1973 noch: die "Radikalen" sahen darin den Beweis, dass "die politische Macht aus den Gewehrläufen" käme (dieser Dummspruch galt Anfang der 70er Jahre als Beweis radikaler Weisheit), die KPs begruben ihre reformistischen Hoffnungen auf die Machtübernahme durch Wahlen und schwenkten weiter nach rechts (Beteiligung an Kürzungsprogrammen; "historischer Kompromiss").

"Kampf dem Schweinesystem"

Sowohl Antiimperialismus wie Guerillakonzepte leben auch von der Faszination und Autosuggestion, man kämpfe an vorderster Front, mache Weltpolitik in erster Person. Aber in Wirklichkeit war eine anti-autoritäre Jugendbewegung von ihren "Kadern" her in kürzester Zeit wieder in staatlichen Perspektiven eingefangen worden. Der Bezug auf "nationale Befreiungsbewegungen" führte spätestens nach deren Machtübernahme dazu, dass man die Regierungspolitik rückhaltlos unterstützte, um "die Revolution" zu retten bzw. seiner Gruppe ein sicheres Hinterland für die eigenen Operationen. Diese strategische Orientierung hieß Abwendung von der sozialen Realität. Alle Organisationskonzepte, auf die man sich bezog, waren bereits gescheitert, aber wie wir von Peter Weiss wissen, sind Parteien ein probates Mittel, um Lernprozesse zu verhindern.(6)

1979 - das Ende

Der Krieg Vietnams gegen Kambodscha, der Angriff Chinas auf Vietnam, die Boat People..., das Scheitern der iranischen Revolution, das "Gelingen" der antiimperialistischen Kämpfe in Angola, Zimbabwe, Nicaragua und Südafrika... 1979 ging eine Epoche zuende. Und nachdem man allerlei Verrenkungen gemacht hatte, um zwischen einem bösen und einem 'Nationalismus der Befreiung' zu unterscheiden, machte in der zweiten Hälfte der 80er Jahre das Erstarken der Lega Nord in Italien deutlich, dass regionale Autonomiebestrebungen nicht per se "links" und "emanzipatorisch" sind. Anfang der 90er Jahre zerbrach mit den jugoslawischen Bürgerkriegen auch das unkritische Bezugnehmen auf regionalistische(7) und nationalistische Befreiungsbewegungen (PLO, IRA, ETA, PKK ...). Im Verlauf dieser Absetzbewegung wurden einige der ehemals härtesten Antiimperialisten zu Propagandisten des Imperialismus: als grüne Militärexperten oder in der Bahamas-Fraktion der Anti-Deutschen.

Neuer Antiimperialismus?

Die Autonomie NF hatte Ende der 70er Jahre mit einem weitreichenden Anlauf versucht, die Misere zu überwinden und die "Massenarmut der drei Kontinente" mit der "metropolitanen Massenarmut" im Rahmen eines "neuen Antiimperialismus" zusammenzubringen. Dies geschah explizit mit einer Distanzierung von der Arbeiterklasse(8) und von Marx, und hatte großen Einfluss auf die Autonomen der 80er Jahre. Man fasste nicht mehr die kapitalistische Verwertung als antagonistisch, sondern den 'Widerstand "der Menschen" gegen die Verwertung. Auf das Scheitern der iranischen Revolution (die man noch 1981 als "wichtiger als den russischen Oktober" eingeschätzt hatte!)(9) reagierte man mit der Entwicklung eines "neuen Antiimperialismus", der ohne die "Völker der Dritten Welt" auskam, indem er den "Flüchtling" als "Verkörperung der Ansprüche der globalen Unterklassen" thematisierte.(10) Mit der selben theoretischen Konzeption entwickelten die RZ Mitte der 80er Jahre ihre Flüchtlingskampagne.(11) Diese Versuche waren ein Spagat zwischen einem ideellen moralischen Anspruch und realen, sozialen Prozessen. Aber zumindest in der zweiten Hälfte der 80er Jahre bildeten sie eine Kampffront gegen die Abschaffung des Asylrechts in der BRD. Tragischerweise zerbröselten sie gerade dann, als die Situation mit Hoyerswerda, Rostock/Lichtenhagen und der Verabschiedung des neuen Asylrechts eskalierte.(12) Dieses Implodieren hat dazu geführt, dass bis heute die Debatte um die immanenten Fehler dieses Theorieansatzes nicht geführt worden ist.

Kleinere Brötchen?

Mit dem Ende der Flüchtlingskampagne und der Auflösung der Guerillagruppen Anfang der 90er Jahre wurde drastisch deutlich, wie sehr die autonome Linke ihre Vorstellungen von Revolution an die "bewaffnete Linke" delegiert hatte. Während das Kapital das "Ende der Geschichte" ausrief, verkürzte sich die Perspektive auch der radikalen Linken in der BRD auf die Alternative "radikale Reformen" oder "Antideutschtum". Der Neoliberalismus schien überall gesiegt zu haben, und weltweit konnte immer deutlicher der Islamismus als Sprecher der Unterklassen des "globalen Südens" auftreten. Die (übersteigerten) Hoffnungen in die post-maoistische EZLN in Chiapas erklären sich mit dieser trostlosen Situation. "Chiapas" ist ein gutes Beispiel für die blockierte Situation in den 90er Jahren: Was in anderen historischen Konstellationen zu einem wichtigen Beitrag für die globale Neuzusammensetzung der revolutionären Bewegung hätte werden können, wurde in der Rezeption zum Gegenteil: Ehemals revolutionär gesinnte Linke verkürzten ihre Perspektiven auf "indigene Würde" und "Kampf gegen den Neoliberalismus".(13) Die EZLN ersetzte zwar den leninistischen Bezug auf den Staat durch "Zivilgesellschaft"; das ist aber kein sozialer Bezug, etwa auf die vielen MigrantInnen im südlichen Mexiko, sondern ein politischer Bezug auf die internationale Solidaritätsbewegung.(14)

Eine im Rahmen des "Kampfs gegen den Neoliberalismus" politisch sozialisierte Linke begeistert sieh heute wieder für den "Aufbau des Sozialismus" in Venezuela und Bolivien.

Die ganze Bäckerei!

Dabei wäre heute viel mehr drin. Die "Flüchtlingskampagne" versuchte etwas zu antizipieren, was heute Realität geworden ist: an den Flüchtlingen wurde vorexerziert, was die Unterklassen heute insgesamt trifft. Aber eine theoretisch und praktisch entwaffnete Linke steht hilflos vor einer Situation, in der die Lebensbedingungen der Klasse massiv abgesenkt worden sind, die soziale Ungleichheit drastisch zugenommen hat, die Jugendarbeitslosigkeit hochgeht, immer mehr Leute von ihrem Arbeitslohn nicht mehr über die Runden kommen usw. Und Teile dieser Linken helfen dann noch mit, solche sozialen und Klassenfragen als ethnisches oder kulturelles Problem zu "behandeln" (siehe Rütli-Schule).(15)

Antiimperialistisch, antisexistisch, antirassistisch, antibreathistisch...

Das hat mit der ideologischen Selbstentwaffnung der radikalen Linken in der Wendezeit zu tun. Das 3:1-Papier setzte die drei antis "Anti-Klassismus, Anti-Sexismus, Anti-Rassismus", und klammerte Ausbeutung in der Tradition der Autonomie NF bzw. inzwischen Materialien für einen neuen Antizimperialimus aus, ging aber einen entscheidenden Schritt weiter: Es setzte nicht mehr auf die Analyse realer Prozesse, sondern aufs korrekte Sortieren von Begriffen. Real wurde "3:1" zur Begründung, sich nur noch mit Antirassismus zu beschäftigen - wobei Antira immer mehr zu einer Diskurspolitik wurde, die politisch-korrektes Verhalten einforderte und die soziale Frage entsorgte.(16)

Ein anti taugt zur Kenntlichmachung bestimmter, struktureller Zusammenhänge. Zur Bestimmung der eigenen Position taugt es schon weniger, weil es dazu tendiert, sich außerhalb und dagegen zu stellen. Als strategische Orientierung taugt es gar nicht, denn hier haben alle antis eine Fluchtlinie zu Erziehungsdiktaturen.

Streng genommen macht auch "antikapitalistisch" keinen Sinn, weil es sich den Kapitalismus als System vorstellt. Das Kapital ist aber ein Verhältnis, das seine Stärke immer auch daraus gezogen hat, die Bedürfnisse der Menschen zu seinem Motor zu machen (z.B. indem es sie in den Konsum von Waren übersetzt).

Revolution geht nur von unten!

Wallerstein hat darauf hingewiesen, dass seit der französischen Revolution alle auf den Staat gesetzt haben. Das "ideologische Dreigestirn: Liberalismus, Konservativismus und Sozialismus" bekämpfte sich zwar im Tagesstreit, war jedoch "verbunden im gemeinsamen Bezug auf den Staat - sei es als Hüter der Ordnung oder als Hebel für die gesellschaftliche Veränderung". 1968 bedeutete "einen welthistorischen Bruch mit dieser Fixierung auf den Staat."(17) Trotzdem haben sich (enttäuschte) Revolutionäre auch seither immer wieder an den Staat gewandt, zunächst an die "sozialistischen Bruderstaaten", dann an "die jungen Nationalstaaten", schließlich an die NATO, um das Gemetzel in Jugoslawien zu beenden, oder an die USA und Israel, um uns vor den arabischen und islamistischen "Horden" zu beschützen.

Es geht nicht drum, von nun an das Wörtchen "antiimperialistisch" zu vermeiden. RevolutionärInnen sind immer antistaatlich, antinational, antiimperialistisch und wassonstnochalles. Es geht drum, den Bezug auf Staaten, staatliche Institutionen und Eliten durch einen Bezug auf "unten" zu ersetzen. David Harvey, der Theoretiker der Antiglobalisierungsbewegung in Sachen "Neuer Imperialismus" macht in seinem Buch von 2003 (18) einen Gegensatz auf zwischen Lohnkämpfen und Kämpfen von außerhalb gegen die nun "vorherrschend gewordene Akkumulation durch Enteignung" (sein neuer Begriff für die permanente "ursprüngliche Akkumulation") (19) Diesen theoretischen Gegensatz löst er dann politisch mit Appellen zur Einheit oder eben doch wieder mit Bezügen auf den Staat (siehe seinen aktuellen Beitrag zur Krise).

Im nächsten Artikel, einem Gespräch zwischen Nima und Karl Heinz Roth, geht es um einen historischen Moment, in dem die Menschen in ihren Kämpfen viel weiter waren als die "revolutionären Organisationen", die sie anzuleiten versuchten. Das ist in allen revolutionären Situationen so. Heute tut sich die radikale Linke unheimlich schwer damit, endlich zu verstehen, dass Staaten und (para-)staatliche Institutionen wie Parteien und Gewerkschaften kein Weg zur Revolution sind, sondern ein Mittel zu ihrer Verhinderung. Niemand hat eine historische Mission zu erfüllen, oder "allgemeine Interessen" zu vertreten; die globale Arbeiterklasse muss sich "nur" durchsetzen!

Karl Heinz Roth wies im Gespräch weiter vorne im Heft daraufhin, dass die Linke damit aufhören muss, "Segmente des globalen Proletarisierungsprozesses zu favorisieren", wie immaterielle Arbeit oder Subsistenzbauern. Nur im Bezug auf die gegenseitige Bedingtheit der verschiedenen Ausbeutungsformen können wir die "ganze Bäckerei" stürmen. Erst dann gerät die ungeheure revolutionäre Potenz der vielfältigen globalen Arbeiterklasse in den Blick. Erst dann wird die Tatsache, dass es tendenziell kein "Außen" mehr gibt, als Problem und Grenze des Kapitals erkannt, anstatt es in gedanklichen Verknotungen als Standpunkt der eigenen Politik stets aufs Neue zu suchen.

Randnotizen

1) Aktuell weist z.B. Jean Ziegler darauf hin, dass die Landwirtschaft die doppelte Weltbevölkerung ernähren könnte, trotzdem sterben täglich 100.000 Menschen an Hunger. Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen, Bertelsmann, 2009.

2) Literatur zu diesem Abschnitt: Karl Marx: Briefwechsel, MEW 19, S. 242, S. 384ff; Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, 1913; besonders auch Zur Russischen Revolution, 1918; Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, 1916. Siehe auch
http://www.wildcat-www.de/wildcat/82/w82_bauern.html

3) Lin Piao: "Sich auf die Bauern verlassen, Stützpunkte auf dem Lande errichten, die Städte durch die Dörfer einkreisen und schließlich die Städte erobern: das war der Weg zum Sieg, den die chinesische Revolution einschlug. [...] Nehmen wir die ganze Welt her. Wenn Nordamerika und Westeuropa als 'Städte der Welt' bezeichnet werden können, kann man Asien, Afrika und Lateinamerika die 'ländlichen Gebiete der Welt' nennen ... In einem gewissen Sinn bietet die gegenwärtige Weltrevolution ein Bild der Einkreisung durch die ländlichen Gebiete. Die ganze Sache der Weltrevolution hängt in letzter Analyse von den revolutionären Kämpfen der asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Völker ab, welche die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung sind."

4) Die Minderheit derer, die einen anderen revolutionären Weg gingen, ist hier nicht Thema.

5) Zum historischen Fakt, dass die KPs auch schon alle am Ende waren, siehe L. Goldner, Der Kommunismus ist die materielle menschliche Gemeinschaft, Beilage Wildcat-Zirkular 46/47 - http://www.wildcat-www.de/zirkular/46/z46loren.htm

6) Peter Weiss: Ästhetik des Widerstands.

7) Zu Regionalismus siehe das letzte Heft der Autonomie ("alte Folge").

8) "Für uns ist die zweite Seite der Reproduktion der Armut interessanter: eben daß damit auch das Existenzrecht der Unterklassen in den drei Kontinenten, die "moralische Ökonomie" der vorkapitalistischen Lebenszusammenhänge, lebendig gehalten wird und sich in den Armutszonen der Städte neu zusammensetzt" (Editorial der Autonomie NF 10, der Nummer zur Begründung des Neuen Antiimperialismus).

9) Vgl. Editorial Autonomie NF Nr.1, 1979; teilweise Wiederabdruck in Fantomas 9/06.

10) Siehe z.B. das sogenannte "Medico-Papier": http://www.wildcat-www.de/wildcat/41/w41medic.htm - vgl. unsere Thesen zur Migration vom Frühjahr 1988 http://www.wildcat-www.de/wildcat/44/w44these.htm

11) Siehe Revolutionärer Zorn - 9/Extra, Oktober 1986 (Wiederabdruck Früchte des Zorns, Bd.2, S. 539ff.).

12) Siehe dazu Interview mit der RZ in Wildcat 84. http://www.wildcat-www.de/wildcat/84/w84_interview_rz.htm

13) Siehe unseren Offenen Brief an John Holloway (http://www.wildcat-www.de/zirkular/39/z39zuhol.htm) und Richard Greeman Gefährliche Abkürzungen (http://www.wildcat-www.de/zirkular/40/z40greem.htm)

14) Siehe Sylvie Deneuve, Charles Reeve: Jenseits der Sturmhauben des mexikanischen Südostens (1995).
http://www.wildcat-www.de/zirkular/22/z22sturm.htm

15) Siehe Wildcat 77, Sommer 2006, S.11, Geh doch in die Oberstadt...

16) Siehe unsere damalige Kritik am 3:1-Papier; Wildcat 57, Oktober/November 1991.
http://www.wildcat-www.de/wildcat/57/w57_3zu1.htm

17) http://www.wildcat-www.de/zirkular/65/z65utopi.htm

18) Siehe: D. Harvey, Der Neue Imperialismus, VSA Verlag 2003. Das Buch ist eine scharfe Kritik am Irak-Krieg, an den NGOs und an Lenins Stadieneinteilung. Er würdigt Rosa Luxemburgs richtige Einsicht, dass das Kapital notwendig ein "Außen" braucht.
Ders. "Akkumulation durch Enteignung", in: Die globale Enteigungsökonomie, Chr. Zeller (Hrsg.), Westfälisches Dampfboot 2004; D. Harvey, The Limits to Capital, 1982; zur aktuellen Krise: http://sandimgetriebe.attac.at/8143.html

19) Zur Kritik siehe "Proletarisierung, Weltarbeiterklasse, China und wir" in: Wildcat 83,
http://www.wildcat-www.de/wildcat/83/w83-proletarisierung_china_und_ wir.htm

Raute

Die Massenaufstände haben die strategische Debatten überholt.

Auszüge aus einem Gespräch mit Karl Heinz Roth im Juli 2009

KHR: Der Schariati-Flügel, mit dem wir damals intensive Diskussionen geführt haben, hat uns gezeigt, dass die Kommunikation zwischen revolutionärer Intelligenz und Massenarmut ein Problem hat, das wir als metropolitane Linke nicht kennen, nämlich das Problem der Schriftlichkeit. Eine Kommunikation war nur möglich durch unmittelbare Agitation, durch Kassetten, durch Reden. In der Teheraner Südstadt wurden Kassetten mit revolutionärer Musik, mit Reden von linken Mullahs oder mit Schariati-Texten verbreitet. Ich habe das als eine Theologie der Befreiung verstanden.

Nima: Ich habe die Geschichte anders erlebt. Aber eine Bemerkung vorweg: die neue Geschichte des Iran beginnt mit einer konstitutionellen, laizistischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Seither gab es immer beide Strömungen: eine nationale, atheistische und eine religiöse. Erst durch den "Verrat" der prorussischen Tudeh-Partei im Laufe der Nationalisierungsbewegung des Erdöls und die "antiimperialistische" Radikalisierung von Teilen der Geistlichkeit im Verlauf der "Weißen Revolution" bekamen diejenigen, die den Islam erneuern wollten, mehr Impulse.

Vom Islam als politischer Sache sprachen damals drei Strömungen: Khomeini, die Volksmodjahedin und Schariati. Sie hatten natürlich verschiedene Interpretationen des Islam, und das war auch klassenmäßig erklärbar. Khomeini war zu Beginn der 60er Jahre von den Grundbesitzern zu den Basaris gewechselt; die Volksmodjahedin kamen aus dem Milieu der Intellektuellen, Studenten usw., Schariati aus der educated society. Es ist schwierig, das über die ganzen Jahre als "Befreiungstheologie" zu sehen.

KHR: Es gab 1979 eine extreme Polarität, von der wir nur den einen Pol wahrgenommen haben - der andere war die Aufrüstung des wahabitischen reaktionären, sklavenhalterischen Islamismus durch die USA, die dann in Afghanistan tatsächlich den Bürgerkrieg gegen die UdSSR gewonnen hat. Vieles von dem, was wir damals in der Autonomie über den Iran geschrieben haben, war unscharf. Das wirklich substanzielle Problem der Massenarmut des Südens haben wir im Kern richtig thematisiert, aber unsere globale Einteilung in prä- und post-industrielle Massenarmut war eine Konstruktion, die empirisch widerlegt ist. Wir haben gar nicht gesehen, dass im Rahmen der "neuen internationalen Arbeitsteilung" eine ganz neue Dimension von globaler Weltarbeiterklasse entstanden ist. Das war der Diskussionspunkt, wo wir uns auseinander bewegt haben. Zu diesem Thema habe ich 1994 die Proletaritäts-Thesen veröffentlicht - eineinhalb Jahrzehnte später, also viel zu spät, und trotzdem fand dieser Ansatz zunächst nur wenig Resonanz.

Nima: Bereits im Zuge der "Weißen Revolution" waren neben den Ölarbeitern auch moderne Fabriken entstanden. Die städtische Massenarmut entstand später. 1961 hatte Teheran vielleicht 2 Millionen Einwohner, Anfang der 70er 5 Millionen, heute 12 Millionen. Die Bewegung fing Mitte der 70er Jahre in den Slums an.

Entscheidend war die Forcierung nach 1973 mit dem Ölboom und wie die Guerilla Gruppen sich zu der kapitalistischen Entwicklung verhalten haben. Für einige war die Richtung, in diese Stadtteile zu gehen, in kleinen Fabriken zu arbeiten. Von früher hatten wir noch die Vorstellung, dass man sich dabei vervollkommnen kann. Die Volksmodjahedin hatten immer gesagt, im Iran ist der Islam das, was der Kommunismus z.B. in Vietnam war. 'Islam ist unsere Ideologie, Marxismus ist unsere Wissenschaft, ohne Marxismus kann man nicht kämpfen'. Der Islam wurde als Hebel gesehen, als Vermittlung zum Volk. Aber in den Fabriken stellte man fest, dass die Leute mit dem Islam überhaupt nichts zu tun hatten. Bei den Diskussionen mit den Arbeitern in der Fabrik hat das nicht funktioniert. Mit dem Islam konnte man die wichtigsten Dinge nicht erklären. 1974 kam es zur großen Spaltung bei den Volksmodjahedin genau an dieser Frage des Islam. Der große Teil wurde Marxisten, ein kleiner Teil blieben Volksmodjahedin.

Die "Marxisten" haben mit Attentaten gegen Agenten des Regimes, US-Militärberater usw. aufgehört und sich den Fabriken zugewandt, eine wichtige Zeitschrift von ihnen hieß "Arbeiteraufstand". Außerdem haben sie sich in die Auseinandersetzungen eingemischt, als die Aneignungen in den Slums begannen und das Schahregime mit Bulldozern zurückschlug.

Je mehr sich die Aufstände entfalteten und je mehr sich die Arbeiter einmischten, desto mehr wandten sich die Gruppen vom Guerillakonzept ab und dem Arbeiterkampf zu, die Begriffe "Volk" und "Iran" verschwanden aus den Namen der Gruppen. Die Autonomie NF hat diese ganze Phase von 1973-79 überhaupt nicht wahrgenommen!

KHR: Was Du berichtest, ist extrem wichtig. Das war uns unbekannt und wurde uns damals auch nicht erzählt, obwohl wir immer nach der Geschichte der Gruppen gefragt haben. Was würdest Du in der Konsequenz sagen? Hat die Guerilla, haben beide Guerillagruppen, einen wesentlichen Beitrag zum Massenaufstand geleistet?

Nima: Das ist nicht leicht zu beantworten, weil nach 1976 beide Gruppen so zerschlagen waren. Alles in allem würde ich sagen, die Guerilla hat ungeheuer hohe Opfer gebracht, aber allzu groß war ihr Einfluss auf die Entwicklung nicht. Und obwohl diese Gruppen nach der Revolution viel Zulauf hatten, hat sie das neue Regime zunächst nicht angegriffen, sondern einen Pakt mit (linken) Intellektuellen geschlossen. Die Repression traf nicht zuerst die Volksmodjahedin, sondern die Frauen. Drei Wochen nach der Revolution hat Khomeini verordnet, dass die Frauen mit Kopftuch zur Arbeit zu kommen hatten. Das war das erste Zeichen - und die Volksmodjahedin blieben neutral! Danach wurde Kurdistan bombardiert. Die Arbeitslosenbewegung, Arbeiterräte, Bauernräte u.a. standen unter ständigen Angriffen, die Unis wurden für die "Islamisierung" geschlossen - alles mit Unterstützung Bani Sadrs. Sahabi, ein Liberaler, der früher bei den Volksmodjahedin war, später von Khomeini in den "Islamischen Revolutionsrat" berufen wurde und Chef der Planungsorganisation von Bazargans Regierung war, beschreibt, wie sie nach der Revolution monatelang in einer Art "Kriegsrat" die 600 Fabriken zurückeroberten, die von Arbeitern bzw. Arbeiterräten besetzt worden waren, die Unternehmer waren verjagt oder geflüchtet, die Arbeiter streikten. Erst nachdem sie das "erledigt" hatten, haben sie die linken Gruppen angegriffen. Der Pakt zwischen Mullahs, Basaris, einem Teil der Liberalen und einem Teil der islamischen Intellektuellen und Volksmodjahedin war von Anfang an brüchig. Im Gegensatz dazu hatte der Pakt zwischen Mullahs und Basaris auch eine ökonomische Basis, durch die islamische Steuer haben beide profitiert.

KHR: Würdest Du sagen, dass die Toleranzpolitik der Volksmodjahedin - und auch eines Teils der Volksfedajin - gegenüber dieser Übergangssituation falsch war und dass es richtig gewesen wäre, mit aller Kraft die Bauernräte, Arbeiterräte usw., also den sozialrevolutionären Prozess zu unterstützen? Hätte man ausschließlich auf den revolutionären Prozess setzen müssen - mit dem Risiko, dann sehr schnell in eine Unterdrückungssituation zu geraten, aber wenigstens klare Fronten zu haben?

Nima: Das Problem ist, dass die Volksmodjahedin nach der Spaltung 1974 keine sozialrevolutionäre Perspektive mehr hatten. Wenn Ihr damals Kontakt zu anderen Leuten aufgenommen hättet, zu Marxisten z.B., dann hättet Ihr die Situation ganz anders einschätzen können. Schon vor der Revolution waren die alten Konzepte in die Krise geraten. Die Arbeiter und andere Schichten in den Stadtteilen waren so aktiv, dass wir verstehen wollten, woher die große, autonome Kraft der Massen kam. Alle müssen hingehen, in eine Fabrik oder anderswohin und rauskriegen, wie wir dieses Verhältnis ändern können. Wir können diese Menschen nicht führen, eigentlich müssen die uns führen.

KHR: Du würdest sagen, die Massenaufstände haben alle diese strategischen Debatten, die wir aus der Ferne mit einer zeitlichen Verzögerung wahrgenommen haben, schon überholt?

Nima: Ja. Anfang der 70er Jahre war ich wegen Verbindungen zu den Volksmodjahedin in den Knast gekommen, als ich '74 wieder raus kam, war alles anders. An der Uni waren zwar viele revolutionäre Studenten, aber ihre wichtigsten Aktionen waren, Arbeiter bei Streiks und bei Fabrikbesetzungen zu unterstützen. Da konnte ich also gleich in eine Fabrik gehen. Obwohl wir überhaupt nichts wussten - erst später, als ich hier im Exil war, hab ich darüber gelesen, dass auch andere Revolutionäre, in Italien z.B., es so gemacht haben - haben wir immer Berichte geschrieben über Textilfabriken, Schokoladefabriken, Schuhfabriken, Autofabriken usw. Die haben wir unseren Kontaktgenossen gegeben und die haben sie dann detailliert diskutiert, und manche wurden über illegale Radiostationen im Ausland ausgestrahlt. Somit konnten viele Menschen ganz einfach diese Berichte hören, was Arbeiter sagen usw.

KHR: Das heißt, Ihr habt richtig Arbeiteruntersuchung gemacht. Ich finde das sehr wichtig, was Du sagst, weil das klärt, dass diese Massenbewegung eine eigene Dynamik entwickelt hat, und dass sie eine Antwort auf eine beschleunigte kapitalistische Akkumulation war. Diese ganz neue Dynamik haben wir damals nicht gesehen.

Literatur

Autonomie - Materialien gegen die Fabrikgesellschaft, Neue Folge, Nr.1: Der Iran (5/79); Nr. 8: Die Volksmodjahedin im Iran (8/81).

Karl Heinz Roth: Die Wiederkehr der Proletaritiät, Köln 1994.

Buchhinweis:
Asef Bayat ("Making Islam Democratic", Social Movements and the Post-Islamist Turn) arbeitet in seinen Untersuchungen heraus, dass alle die "islamische Komponente" überbewerten und spitzt das in der These zu: Im Iran ist es zu einer islamistischen Revolution ohne islamische Bewegung gekommen (umgekehrt in Ägypten). Der Klerus war seit der konstitutionellen Revolution, über die Phase mit Mossadeg, die Schahzeit (vor allem nach der "weißen Revolution") marginal, und die Verstädterung führte zu einer Säkularisierung der Bevölkerung. Schariati ist Ausdruck und Sprecher einer relativ kleinen Schar von Intellektuellen, mit einem Avantgardekonzept, dem es nicht um die Massen (im Sinne der Massenarmut) ging, sondern um die neue Klasse der Gebildeten. In dem Buch finden sich Zitate von Khomeini und Schariati vom Ende der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre, in denen beide ihre Frustration und ihren Pessimismus bezüglich ihrer Projekte ausdrücken.

Zende Bâd Bikâri - "ES LEBE DIE ARBEITSLOSIGKEIT - Organisation der von der Welt der Arbeit und des Kapitalismus ermüdeten/abgezehrten Arbeiter" Aus einer Ausstellung "30 Jahre Kampf - 30 Jahre islamischer Kapitalismus" September 2009, Frankfurt.

(Kâr, Maskan, zâdi) Arbeit, Wohnung, Freiheit war eine Hauptparole der linken Volksfedayin

Sahabi: Gespräch über politische Ökonomie der Islamischen Republik, in: Bahman Amuii: Eghtesad e Siasi e Jomhuri ye Eslami (Politische Ökonomie der Islamischen Republik), 3. Auflage, Teheran 2004, S. 16-19.

Raute

Iran: Ein neuer Anlauf?

Die Linke weltweit diskutiert sehr kontrovers über die Mobilisierungen vor und nach den Wahlen im Iran, bringt diese aber selten mit der globalen Krise und der schweren Wirtschafts- und Regierungskrise im Iran in Verbindung. Dabei liegen diese Bezüge auf der Hand.

Ölrente

Die Geschichte des "iranischen Kapitalismus" beginnt mit der Verfassungsbewegung von 1906 (also gleichzeitig mit der russischen Revolution von 1905), nachdem die Engländer 1901 mit der Ölsuche begonnen hatten. Die kapitalistische Entwicklung im Iran ist von Anfang an über das Erdöl in den Weltmarkt eingebunden. Seit den 1960er Jahren und vor allem seit der "Weißen Revolution" 1963 ist der Iran einerseits ein modernes kapitalistisches Land, andererseits abhängig von seinen Rohstoffexporten. Der Ölboom (und die Explosion der Ölpreise nach 1973 und nach 2005) versetzte(n) das jeweilige Regime immer wieder in die Lage, eine Entwicklungsdiktatur zu verfolgen: der staatliche Sektor ist in etwa so groß wie der privatwirtschaftliche. (Die iranische Statistik spricht von insgesamt 20,47 Millionen Erwerbstätigen, darunter 5,48 Millionen in der Privatwirtschaft und 5 Millionen "Staatsbeschäftigte" - das reicht von den staatlichen "Milizen", den Pasdaran, bis zu den Beschäftigten der staatlichen Autoindustrie - sowie 1,53 Millionen "Arbeitgebern" und 7,36 Millionen Selbständigen bei einer Bevölkerung von 73 Millionen.) Sowohl die Entwicklung wie der große Staatsapparat werden finanziert über die Ölrente: Teile des von ArbeiterInnen in anderen Gegenden der Welt, besonders in ölimportierenden Ländern, produzierten Mehrwerts fallen über den Ölexport dem iranischen Staat zu. Diese Mischung aus Abhängigkeit und forcierter Entwicklung führte bereits in den 70er Jahren zu einer dramatischen Wirtschaftskrise, die schließlich in der iranischen Revolution 1979 mündete. Strukturell steht das Ahmadinedjad-Regime heute vor den selben Problemen.

Krise

Steigende Öleinnahmen führten von 2005 bis 2008 zur Verdreifachung der Geldmenge und einer Zunahme der Inflation von 10,4 auf 25,4 Prozent. Das Regime versuchte diese mit günstigen Krediten und Subventionen abzufedern. Trotzdem stiegen Armut und Wohnungsnot. Der Absturz des Ölpreises von 148 auf 40 Dollar im Sommer 2008 riss große Löcher: Im Staatshaushalt 2009 fehlen 25-30 Milliarden Dollar, und 6 Milliarden Dollar mussten umgeschichtet werden, um den Staatsangestellten ihre Löhne und Gehälter auszahlen zu können. Der Iran braucht Kredite, hat aber (auch aufgrund der globalen Krise) große Schwierigkeiten, an solche heranzukommen. Die Inflation steigt weiter (die Lebensmittelpreise seit Anfang des Jahres um 40 Prozent), die Industrieproduktion schrumpft. Im Frühjahr 2009 waren offiziell 2,7 Millionen arbeitslos; allerdings zählt bereits als "arbeitend", wer in den letzten Tagen vor der Erhebung auch nur eine Stunde gearbeitet hat - von daher sind die tatsächlichen Zahlen viel höher.

Zum Rückgang der Öleinnahmen kommt seit 2008 eine Dürreperiode. Der Ausfall der Wasserkraftwerke führt zu Engpässen bei der Stromversorgung, vor allem aber zu dramatischen Rückgängen der landwirtschaftlichen Produktion (ein Drittel der landwirtschaftlich genutzten Fläche wird bewässert!). Erst vor vier Jahren war der Iran unabhängig von Weizenimporten geworden, 2008 mussten wieder sechs Millionen Tonnen eingeführt werden. Schon vor dem Ausbruch der aktuellen Krise musste der Staat 4,5 Millionen Dollar für den zusätzlichen Import von Nahrungsmitteln aus dem unter Khatamie eingerichteten Devisensparfonds, dem sogenannten "Zukunftsfonds", entnehmen.

Trotz der gewaltigen Ölreserven gibt es weiterhin eine Benzinkrise. Im Sommer 2008 war das Budget für den Benzinimport erschöpft und die Regierung musste (gegen das Parlament) weitere Dollareinnahmen aus dem Ölverkauf für den Import von Benzin bereitstellen.

"Ölwahlen"

Im Vorfeld der Wahlen hatten ArbeiterInnen eine Kampagne gegen die Inflation und zur Erhöhung des Mindestlohns um das Vierfache gestartet. Der Mindestlohn wurde aber nur um 20 Prozent erhöht, also unterhalb der offiziellen Inflationsrate. Am 1. Mai wurden 150 Arbeiteraktivisten und Gewerkschafter beim Versuch verhaftet, für die Erhöhung der Mindestlöhne auf die Straße zu gehen und nur gegen sehr hohe Kautionen freigelassen. Insgesamt waren die Wahlen im Sommer 2009 sehr stark von der Wirtschaftskrise dominiert. Die Fragen nach der Verteilung der Ölrente bestimmten alle Debatten: wieviel wird investiert, wieviel wird verteilt und in welcher Form? An dieser Front hat sich in den letzten Jahren eine Regierungskrise mit ständigen Ministerentlassungen und Kabinettsumbildungen entwickelt: Wirtschaftsminister, Zentralbankchef und Arbeitsminister streiten darüber, wer gefährlicher ist: die Inflation oder die Arbeitslosen?, und was das größere Übel sei: die ausufernde Geldmenge oder das Heraufsetzen der Zinsen?

Nach dem Machtantritt Khomeinis 1979 hatte die Armut infolge der revolutionären Kämpfe und Bewegungen tatsächlich abgenommen. Höhere Löhne, die Wiedereinstellung von Arbeitslosen durch Arbeiterräte, das Besetzen von leerstehenden Wohnungen, das Aneignen von Boden zum Wohnungsbau und von Ackerland durch Bauern führten zu einer deutlichen Verbesserung des Lebensstandards. Aber nach dem Erstarken der islamischen Staatsmacht und besonders nach dem Iran-Irak-Krieg und der Liberalisierung der Wirtschaft durch Rafsandjani stieg die Armut wieder an.

Dagegen richtete sich die Umverteilungspropaganda Ahmadinedjads, der Mitte 2006 z.B. versprach: "Wir [werden] in drei bis vier Jahren keine Beschäftigungsprobleme mehr haben." Das sollte durch ein Paket "schnell wirkender Projekte" erreicht werden, wie z.B. Kredite an Kleinunternehmer und Zuschüsse bei der Gründung von Ich-AGs. Außerdem wurden verbilligte Kredite an Rentner, Landwirte, Studenten, frisch verheiratete Paare und Wohnungseigentümer vergeben. Die ökonomischen Voraussetzungen schienen gut, denn in den vier Jahren seiner Regierungszeit stiegen die Öleinnahmen auf 266 Milliarden US Dollar, das war etwa soviel wie in den 16 Jahren davor (eigene Berechnung nach OPEC-Zahlen).

Damit konnte das Regime auf die damalige Verschärfung der politischen Isolation und den Beginn wirtschaftlicher Sanktionen mit der Ausweitung der staatlichen Wirtschaftspolitik reagieren. Aber laut einer parlamentarischen Untersuchung schufen nur 38 Prozent der ihr "schnell wirkende Projekte" ausgegebenen 19 Mrd. Dollar tatsächlich neue Arbeitsplätze, der Rest floss in andere Kanäle, vor allem in Immobilienspekulation. Durch die sehr hohe Inflation verarmten diejenigen Schichten noch weiter, die von solchen staatlichen Zuwendungen ausgeschlossen waren. Die Immobilienblase platzte im Frühjahr 2008, als die Regierung dem gesamten Bankensystem die Vergabe neuer Immobilienkredite untersagte. Die Folge war ein drastischer Rückgang der Wohnungsnachfrage. Dadurch saßen nun aber nicht nur Immobilienhändler, sondern auch öffentliche Institutionen und der Staat auf einem Haufen fauler Kredite. Die Banken wiederum haben 27 Mrd. Dollar Kredite ausstehen, die sie nicht zurückbekommen werden, und begleichen ihre Schulden bei der Zentralbank nicht mehr. Die Außenstände der Zentralbank und damit des Staats wuchsen von September 2007 bis September 2008 um 106 Prozent. Das führte dazu, dass der Staat seine Lieferanten und viele Beschäftigte nicht mehr oder verspätet ausbezahlt hat. Zum anderen haben die Banken ihre Kreditvergabe an die Wirtschaft stark zurückgefahren. Diese Kreditklemme drückt die Nachfrage nach Investitions- und Konsumgütern und verschärft die Krise.

Die Zahl der Armen ist unter Ahmadinedjad sogar nach den Statistiken seiner eigenen Zentralbank gestiegen - und zwar bereits in den ersten zwei Jahren seiner Regierung von 18 auf 19 Prozent (14 Millionen), auf dem Land prozentual stärker als in der Stadt, Jugendliche waren mehr betroffen als andere Altersgruppen. Man kann davon ausgehen, dass heute mehr als 15 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben, z.B. Frauen ohne Männer, Arbeitslose im den Städten...

Auch an einer zweiten, wichtigen Front, der Reform der Subventionen und der Staatsausgaben, war die Regierung Ahmadinedjad gescheitert. Der Iran importiert knapp 40 Prozent seines Kraftstoffs zu Weltmarktpreisen. Es mangelt an Aufbereitungs- und Raffineriekapazitäten sowie an Pipelines. Seit Jahren sollen die Subventionen für Erdölprodukte, Strom und Wasser gestrichen werden. Im Juni 2007 hatte aber der Versuch, das subventionierte Benzin auf monatlich 100 Liter pro PKW zu rationieren und gleichzeitig von acht auf zehn US-Cent pro Liter zu verteuern (der Iran zahlt 40 US-Cent für den Liter Importbenzin), zur sogenannten "Benzinrevolte" geführt.

Der Haushalt für 2009 sah vor, die Preise für Benzin, Diesel, Gas und Strom nicht mehr zu subventionieren, stattdessen aber einen Teil dieser Gelder (etwa 20 Milliarden Dollar) direkt an Haushalte mit niedrigem Einkommen - und an die von dem Preisanstieg betroffenen Unternehmen! - zu verteilen und 8,5 Milliarden Dollar für den "Aufbau der Wirtschaft" abzuzweigen. Das wurde aber nach heftigen Debatten im Parlament kurz vor den Wahlen gestoppt, weil die Regierung fürchtete, dass eine weitere Steigerung der Inflation zu noch mehr Unruhe in breiten Teilen der Gesellschaft - besonders unter der Jugend - führen würde.

Das Ahmadinedjad-Regime war also auf den wichtigsten Feldern der Wirtschafts- und Sozialpolitik gescheitert und hatte sich entgegen seiner Propaganda sogar zur Annäherung an die USA gezwungen gesehen (z.B. zur logistischen Unterstützung beim Krieg in Afghanistan), um in der Krise eine Lockerung des Wirtschaftsembargos zu erreichen. Trotzdem galt seine Wiederwahl als sicher, und die Dynamik der Ereignisse im Wahlkampf kam für viele überraschend. Das hat vor allem zwei Gründe - der eine spielt vor Wahlen im Iran (wie anderswo) immer eine Rolle - Geld verteilen: so gab es eine deutliche Rentenerhöhung, die Festanstellung von 2000 Automobilarbeitern, die Dividenden der sog. "Gerechtigkeitsaktien", ca. 80 Dollar wurden verteilt... Der zweite Faktor spielt bei Ahmadinedjad eine besondere Rolle - er ist besonders im Machtsystem verankert, also bei den Pasdaran und Basidji. In Fabriken, Verwaltungen, Stadtvierteln, Dörfern usw. sollen 36.000 Basidj-Stützpunkte (Payghah) stationiert sein. 2008 wurde deren Budget um 200 Prozent erhöht. Und über diese Strukturen können die Wahlen zum Teil "direkt kontrolliert" werden.

Probleme beim Schließen eines Repressionsvakuums

Mitten in der Wirtschaftskrise sollten die Wahlen das Regime neu legitimieren. Ahmadinedjad präsentierte sich in seinem Wahlkampf als Vertreter der Armen gegen die reiche Elite, und die Sicherheitsorgane ließen Versammlungen von Jugendlichen erstmal laufen. Es gab sogar Fernsehduelle. Aber ab Anfang Juni liefen diese verbal aus dem Ruder, und die Versammlungen auf den Straßen wuchsen zu gewaltigen Protestdemonstrationen an. Es wurde klar, dass es zu einer Protestwahl kommen würde. Die Leute nutzten die Wahlmobilisierung bzw. die entstehenden öffentlichen Räume zunehmend für ihre eigenen Anliegen. Auch solche, die gar nicht zur Wahl gehen würden, und die ärmeren Schichten kamen dazu. Es wurde öffentlich diskutiert, Parolen gerufen, die Anhänger der Kandidaten beschimpften sich gegenseitig. Aber als jemand aus der Menge rief: "Leute lasst uns vernünftig diskutieren, wir haben nur diese zwei Wochen zu Verfügung", bekam er von beiden Seiten Applaus, diese Einschätzung teilten offensichtlich alle. Es gab ein temporäres Repressionsvakuum, das nach der Wahl - egal wer gewinnt - wieder geschlossen würde.

Aber dann erreichten die Proteste eine solche Massenhaftigkeit, dass sie nach der Wahl nicht so ohne weiteres wieder gestoppt werden konnten. Sie richteten sich zunehmend gegen soziale und ökonomische Missstände wie die Inflation, und letztlich gegen das ganze System.

Ermutigt durch den Wiederanstieg der Ölpreise und die Annäherung an die USA ging das Regime sehr hart gegen die Demos vor. Damit konnten sie aber weder deren Dynamik brechen, noch die sichtbar gewordenen Risse im Regime selber kitten - im Gegenteil! Selbst nach Chameneis offenen Drohungen im Freitagsgebet ("Die Wahl wurde an den Urnen und wird nicht auf der Straße entschieden", ab jetzt gehe es härter zur Sache!) verstärkten und radikalisierten sich die Proteste ein weiteres Mal. Die Zusammensetzung der Protestierenden änderte sich - und viele begannen, die Ereignisse mit der Revolution 1979 zu vergleichen. Das ist berechtigt in bezug auf den diktatorischen Charakter des Regimes und auf die langgezogene Regierungskrise im Zusammenhang mit einer schweren ökonomischen Krise. Aber die iranische Gesellschaft hat sich seit 1979 stark verändert: Teheran ist von 5 auf 12 Millionen Menschen angewachsen; die Mittelschicht ist nicht mehr von traditionellen Basaris, sondern von modernen Berufen (Ladenbesitzer, Rechtsanwälte, Professoren...) geprägt; die Zahl der ArbeiterInnen hat in den letzten zehn Jahren stark zugenommen.

Die aktuelle Bewegung unterscheidet sich in vielen Punkten von der Bewegung Ende der 70er Jahre: Frauen spielen eine viel aktivere Rolle; die nächtlichen Allahu akhbar-Rufe sind nicht immer Ausdruck religiöser Hoffnungen, sondern sollen das Regime provozieren - und es gibt eine ganze Reihe weiterer Rufe wie z.B. "Nieder mit dem Diktator". Zwar tauchten im Verlauf der Bewegung immer mehr FabrikarbeiterInnen und Angestellte auf den Demos und bei den Straßenschlachten auf, aber abends nach der Arbeit. Es schien für die ArbeiterInnen schwer vorstellbar, mit breiten Streiks dem Regime den Rest zu geben. Lediglich die Busfahrergewerkschaft, die vorher die Wahlen boykottiert hatte, verurteilte in einer Erklärung jegliche Unterdrückung.

Zum Charakter der Bewegung

Die iranische Exillinke ist heillos zerstritten in der Einschätzung der Bewegung; in der Debatte herrschen zwei Positionen vor, die jeweils einen Teil fürs Ganze nehmen. Die einen sehen eine reaktionäre Bewegung der höher gestellten Schichten gegen die Unterklassen. Manche "antiimperialistisch" eingestellte Menschen gingen dabei so weit, die Position von Hugo Chavez zu übernehmen und die Bewegung als "grüne Welle" im Sinne der "farbigen Revolutionen" zu denunzieren. Dabei war dem Mussawilager das Grün von der staatlichen Wahlkommission zugelost worden. Die Proteste waren nicht vom Ausland ausgelöst, und auf den Straßen waren nicht nur Anhänger von Mussawi.

Der andere Pol sieht eine unmittelbar revolutionäre Bewegung, das ist aber mehr Wunschdenken als Realität. Zwar trugen die vier sozialen Gruppen, die am stärksten von der Krise betroffen sind - Arbeiter, Jugendliche, Frauen und Studierende auch die Dynamik der Proteste. Sie thematisierten aber (noch?) nicht die eigene soziale Situation. Noch überwog die Repression. Die Fabriken liegen außerhalb der Städte, während der Arbeit stehen die Arbeiter unter Kontrolle des Wachschutzes. Wer sich vom Arbeitsplatz weg an Demos beteiligt, muss am nächsten Tag mit der Kündigung rechnen. Für die 148 Freigelassenen der am 1. Mai verhafteten 150 Aktivisten war es ebenfalls zu gefährlich, sich bei Demonstrationen sehen zu lassen. Und politische Gruppen können nicht offen auftreten - das wäre zu gefährlich.

Dennoch konnten wir im Sommer sehr unterschiedliche Arten, auf die Straße zu gehen, beobachten. Nach Chameneis Drohung beim Freitagsgebet z.B. rief Mussawi seine Anhänger zur Ruhe auf. Trotzdem kam es am folgenden Tag zu den schwersten Massenprotesten seit der iranischen Revolution. Die DemonstrantInnen lieferten sich Straßenschlachten mit Sonderkommandos der Polizei, den Pasdaran ("Revolutionsgarden") und den Basidji-Milizen, Banken wurden demoliert. An diesem Tag wurden mehr als zehn Menschen getötet. Ein Arbeiteraktivist hat beobachtet, dass Betriebsbusse nicht zurück in die Wohnviertel fuhren, sondern in die Stadt zur Demo.

Jugend

Unter der Regierung Mussawi - und mit Rafsandjani als Präsident - wurden 1988 auf direkten Befehl Khomeinis in drei Monaten etwa 5000, bereits zu Haftstrafen verurteilte, politische Gefangene hingerichtet (4486 davon sind heute namentlich bekannt). Als der damalige stellvertretende Außenminister Laridschani bei seinem Bonn-Besuch auf einer Pressekonferenz auf die Massenhinrichtungen angesprochen wurde, verglich er zynisch die hohe Geburtenrate im Iran mit den paar tausend Toten: "Wir haben jedes Jahr zwei Millionen neue Menschen." Die Tausende sind nicht mehr da, aber die Millionen Jugendliche, die heute ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, sind auf den Straßen - und zur Zeitbombe für das Regime geworden.

In den letzten 30 Jahren hat sieh die Bevölkerung von etwa 37 auf 73 Millionen fast verdoppelt. Heute gibt es 14 Millionen SchülerInnen (1979 waren es fünf), jährlich drängen etwa 700.000 Jugendliche auf den Arbeitsmarkt - mit schlechten Aussichten: Im Frühjahr 2009 betrug die offizielle Arbeitslosigkeit 11,2 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit 17,8, die Arbeitslosigkeit unter jungen Frauen 29, die unter städtischen Jugendlichen insgesamt 23,7 Prozent. Viele müssen mit zwei oder drei Jobs ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Nach offiziellen Zahlen der UNO konsumieren 2,8 Prozent der iranischen Bevölkerung Opiate. Das ist die höchste Rate an Drogenabhängigen weltweit und in absoluten Zahlen zehnmal mehr als in England - bei ungefähr gleicher Bevölkerungszahl. Der Drogenkonsum ist aber nicht auf Jugendliche beschränkt. Laut einer Untersuchung greifen auf einem der größten Gasfelder der Welt von 60.000 Arbeitern 20.000 zu Drogen. 2002 musste der Staat seine Strategie beim Umgang mit Drogenabhängigen ändern, in einer Fatwa wurden Methadon-Programme für zulässig erklärt.

In den Protesten findet sich eine Jugend, die die Schnauze voll hat - seien es StudentInnen, die als arbeitslose Akademiker keine Perspektive sehen, oder ProletarierInnen, deren Arbeits- und Lebensbedingungen sich sowohl unter "Reformern" wie unter "Konservativen" immer weiter verschlechterten. Sie haben keine Perspektive und gestehen dem System keine Legitimität zu: Sie misstrauen Institutionen auf allen Ebenen und lehnen den Einfluss der religiösen Autoritäten auf die Gesellschaft ab.

ArbeiterInnen

Der Anteil der ArbeiterInnen an der Bevölkerung ist seit 1979 konstant geblieben, ihre Zahl hat sich also in 30 Jahren verdoppelt; heute arbeitet etwa eine Million Industriearbeiter in Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten. Diese lassen sich grob in drei Bereiche einteilen: Textil und Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte; Ölindustrie; neue Industrien, vor allem Auto. Die Bedeutung des ersten, traditionellen Bereichs geht zurück. Die Ölarbeiter waren mit ihrem Streik in der Revolution von 1979 entscheidend. Ihre Zahl ist seither in etwa gleich geblieben, aber die Struktur der Ölindustrie wurde durch Teilprivatisierungen und Ausgliederungen stark verändert. Damit wurde die Organisationsfähigkeit der Ölarbeiter unterhöhlt. Zuvor waren sie eine kompakte Einheit gewesen, die ihre (siebzigjährigen) Erfahrungen an neue Arbeiter weitergaben. Die Facharbeiter kamen alle aus der ältesten Raffinerie in Abadan in die neuen Raffinerien. Sie schufen Verbindungen zwischen allen Raffinerien, über die sich z.B. der Streik 1978/79 ausbreitete. Im Iran-Irak-Krieg wurde die Raffinerie in Abadan zerstört, viele Arbeiter wurden zu Kriegsflüchtlingen, die politisch Aktiven gingen oft ins Ausland. Die übrigen sind mittlerweile (früh-)verrentet.

Die Elektro-/Hausgeräteindustrie gewinnt an Bedeutung. Zentral ist aber inzwischen die Autoindustrie mit 118.000 Beschäftigten, was in etwa eine Vervierfachung gegenüber 1979 bedeutet. Auch hier liegt die größte Dynamik in den letzten zehn Jahren: 1996 wurden z.B. im Iran 203.000 PKWs produziert, 2006 bereits 917.000; 2008 1,2 Millionen. Damit steht Iran an 16. Stelle in der Welt. Am größten Autoproduzenten im Nahen Osten, Iran Khodro, ist der Staat mit 40 Prozent beteiligt. (Der weitaus größte Konkurrent ist Saipa mit 35 Prozent Marktanteil im Iran.) Iran Khodro ist berüchtigt für Arbeitshetze, lange Arbeitszeiten und seinen mächtigen Werkschutz. Ein großer Teil der Arbeiter sind Zeitarbeiter. Auch Iran Khodro ist von der Krise getroffen und machte im letzten Geschäftsjahr 120 Millionen Dollar Verlust. Schon vor der Krise musste der Verkauf von Autos mit der Vergabe von Krediten großzügig subventioniert werden.

Am 2. Mai 2009 gab es bei Iran Khodro einen Streik: Die Arbeiter hatten 2006 einen Rekordbonus von 1000 Dollar erhalten, der 2007 und 2008 auf 300 Dollar gekürzt worden war, 2009 sollte er gar nicht ausgezahlt werden. Nach Protesten der Arbeiter wurden 150 Dollar ausgezahlt. Erst nach dem kurzen Streik stockte der Konzern den Bonus wieder auf 300 Dollar auf.

Ein Ausblick?

Seit dem Sommer hat sich die ökonomische Krise weiter verschärft. Nachdem zunächst die Baubranche um 60 Prozent abgestürzt war, hat die Krise inzwischen andere Branchen erfasst. 600 Fabriken sind von Insolvenz bedroht. Die Arbeitsbeschaffungsprojekte von Ahmadinedjad sind gescheitert.

In der Wildcat hatten wir in den letzten Jahren mehrfach Berichte über Arbeiterproteste im Iran. Trotz Organisationsverbot und Repression gibt es immer wieder Streiks und Arbeiteraktionen. Der Kampf der Lehrer und vor allem der Busfahrer war ein qualitativer Schritt. 2008 kam es zum Aufstand in der Zuckerfabrik Hafttappeh. Wenn von Zuckerbrot und Peitsche nur die Peitsche bleibt, wenn die täglich stattfindenden Proteste der ArbeiterInnen immer wieder unterdrückt werden, wie vor einigen Wochen der fünftägige Streik bei Wagon Pars, dem ehemals größten Hersteller von Eisenbahnwaggons im Nahen Osten, dann stehen uns viel stärkere Arbeiterunruhen bevor.

Obwohl die Proteste mit schwerster Repression unterdrückt und die Ereignisse zu einem Machtkampf zwischen zwei Flügeln der Herrschenden umgedeutet wurden, fragen sich Kenner der iranischen Ökonomie inzwischen, ob nicht "nach der grünen Welle, eine Welle von Blue Collars unterwegs ist" - und zwar eine viel härtere.

Siehe dazu:
alef.ir/1388/content/view/51981/ und
http://www.sarmayeh.net/ShowNews.php?55392.

Randnotizen

Der Iran steht an vierter Stelle der weltweiten Erdölförderung und hat mit 10-11 Prozent aller bekannten Vorkommen die drittgrößten Erdölreserven weltweit. Das Land fördert etwa 4 Mio. Barrel Erdöl, davon entfallen 1,42 Mio. auf den Eigenbedarf (eine Verdreifachung seit 1960), der Rest wird exportiert. Aufgrund unzureichender Raffineriekapazitäten muss das Land ca. 170.000 Barrel Benzin am Tag importieren, was die Regierung im Jahre 2006 mehr als 4 Milliarden US-Dollar gekostet hat. Durch die Subventionierung der Benzinpreise entstehen dem Staat insgesamt Kosten in Höhe von 12 Prozent des BIP.
Der Iran steht außerdem weltweit an siebter Stelle bei der Erdgasförderung und an zweiter Stelle bei den Erdgasreserven, importiert zur Zeit aber noch mehr Gas als er exportiert.

"Ölwahlen"
Karrubi, einer der Präsidentschaftskandidaten, propagierte in einem Wahlprogramm, die Aktien der inländischen Öl- und Gas-Unternehmen an alle IranerInnen zu verteilen; damit werde das Monopol und die Rentier-Macht des Staates zur Macht des Volkes.

Bilder von der Benzinrevolte: http://www.bbc.co.uk/persian/iran/story/2007/06/070627_ag-petrol- rationing-pics.shtml

Siehe: http://www.youtube.com/watch?gl=US&hl=de&v=L3r_0s519V8

Zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der Jugendlichen kam auch eine Studie, die etwa 2000 junge Leute zwischen 14 und 29 Jahren in zehn iranischen Großstädten befragte: "Aufruhr aus Frust"; siehe
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/1806319_ Jugendstudie-Iran-exklusiv-Aufruhr-aus-Frust.html

Wagon Pars mit ehemals 1700 Beschäftigten ist im Laufe seiner Privatisierung in Finanznöte geraten. Nachdem die nicht festangestellten Arbeiter entlassen worden waren, wollte das Unternehmen die Restbelegschaft mit schlechten Bedingungen in Frührente schicken und zahlte seit Monaten keine Löhne mehr. Aus Protest schlugen die Arbeiter die Fenster ein und zerstörten die Firmenkantine. Am 25. August begannen sie eine Sitzblockade vor dem Fabriktor.
Wegen der Brisanz der Lage (zwei benachbarte wichtige Fabriken stehen ebenfalls vor der Insolvenz) wurden Pasdaran und Antiaufstandseinheiten der Polizei in der Nähe von Wagon Pars postiert, um einen Marsch der Arbeiter in die Stadt zu verhindern. Nach fünf Tagen wurde der Streik mit der Teilauszahlung der ausstehenden Löhne und Repressalien des Werkschutzes und Propaganda des Basidji-Stützpunkts in der Fabrik beendet.

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Grafik der Originalpublikation:

Iran's Oil Exports

Raute

Durch den fortschrittlichen Staat zur Revolution?

In Cuba ging in den 1960er Jahren ein antikolonialer Befreiungskampf aufgrund der weltpolitischen Konstellation (USA - SU) in den Aufbau eines Dritte-Welt-Sozialismus über. Seither liefen alle sozialistischen Anläufe in Lateinamerika - von der Stadtguerilla in Uruguay bis zum Volksfront-Wahlbündnis in Chile Anfang der 1970er und dem bewaffneten Aufstand 1979 in Nicaragua auf Eroberung und Erhaltung der Staatsmacht hinaus. Ein Teil der Nicaragua-Solidaritätsbewegung hoffte auf ein Phasenmodell in Richtung soziale Revolution. Im Ergebnis waren die zehn "revolutionären Jahre" aber die Vorbereitung für einen moderneren Kapitalismus.

Das Projekt der EZLN, ab 1994 in Chiapas "die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen" blieb in der Rückbesinnung auf die Werte der indigenen Gemeinschaften stecken, ohne Verbindungen mit den sozialen Prozessen in anderen Teilen Mexikos schaffen zu können.

Seit 2000 machen in Venezuela, Bolivien, Ecuador und Nicaragua "linke" Regierungen Politik gegen den "Raubtier-Kapitalismus" - auf ihnen ruhen die Hoffnungen der internationalen Solidaritätsgruppen. Die Fixierung auf den fortschrittlichen Staat wird verstärkt durch reaktionäre Kräfte, die jede Art sozialer Veränderung bekämpfen. Aktuell wird das in Honduras vorexerziert: ein paar Abweichungen gegenüber der jahrzehntelang gepflegten Sozialpolitik (z.B. Erhöhung des Mindestlohns) und vor allem die Anlehnung an Venezuela riefen im Juni 2009 die Putschisten auf den Plan, und der entmachtete Großgrundbesitzer Zelaya wird nun in der internationalen Linken zum Revolutionär stilisiert.

In Bolivien sind die sozialen Bewegungen in den neuen Staat aufgegangen, in Nicaragua lebt eine reaktionäre FSLN vom Mythos des bewaffneten Kampfes der 1970er Jahre. Die stärkste internationale Ausstrahlung der "Achse der Hoffnung gegen den Durchmarsch des Neoliberalismus" geht vom venezolanischen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" aus, der sich auf die Öldollars stützt.

Der folgende Artikel ist ein Resümee aus den Erfahrungen der Zentralamerika-Solidaritätsbewegung der 1980er Jahre sowie aus längeren Reisen nach Nicaragua und Venezuela ab 2004.

Internationale Solidarität mit dem soften Leninismus der FSLN

Im Juli 1979 stürzte die älteste Diktatur Lateinamerikas: Nicaragua war seit den 1930er Jahren von den Somozas wie ein Familienunternehmen geführt worden, ohne großes Interesse an kapitalistischer Modernisierung. Der Reichtum der Herrschenden beruhte auf der Auspressung der Landbevölkerung in guter Eintracht mit einigen US-amerikanischen Agro-Konzernen. Mit seinen nur gering vorhandenen Exportgütern (Kaffee, Bananen, Baumwolle, Edelhölzer und Gold) war das Land für den Weltmarkt nur mäßig interessant. In den letzten Monaten des Aufstands hatte eine breite Bewegung die kleine, von städtischen Kadern angeführte Befreiungsfront FSLN (Sandinistische Nationale Befreiungsfront) vor sich hergetrieben. Nach dem militärischen Sieg wurden die AktivistInnen der Volksbewegung in den Aufbau der neuen staatlichen Institutionen eingebunden.

Die FSLN betonte ihre demokratischen Entscheidungsprozesse, verkörpert durch eine kollektive Leitung der Organisation. Die neue Demokratie sollte "das Volk" an allen wichtigen Entscheidungen beteiligen. Die neue Volkswirtschaft sollte privatkapitalistische, staatliche und kooperative Anteile haben. Außenpolitisch verstand man sich als Teil der "Blockfreien".

Mit der zur Staatsmacht gewordenen Befreiungsfront bildete sich eine breite internationale Solidaritätsbewegung heraus, der in der BRD auf ihrem Höhepunkt mehrere hundert lokale (kirchliche, parteipolitische und autonome) Gruppen angehörten. Ein Teil von ihnen hoffte auf eine echte Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Nicaragua unter breiter Beteiligung der Bevölkerung und auf eine Ausweitung auf ganz Mittelamerika.

Diese Hoffnung speiste sich vor allem aus der Alphabetisierungskampagne (Jugendliche aus den Städten brachten der Landbevölkerung Lesen und Schreiben bei), der Agrarreform (ein Teil des Großgrundbesitzes wurde enteignet und an Kooperativen übergeben oder in Staatsunternehmen umgewandelt) und dem Aufbau eines flächendeckenden Basisgesundheitswesens. Diese Programme wurden zentral geplant und propagandistisch aufgebrezelt, sie hatten aber auch den Effekt, dass viele BasisaktivistInnen der FSLN die krassen sozialen Unterschiede im Land radikal in Frage stellen wollten.

Die US-Regierungen, für die die Brutalität des Somoza-Regimes jahrzehntelang kein Problem gewesen war, begannen sofort nach dem Juli 1979, Menschenrechtsfragen gegen die neue Regierung in Nicaragua zu instrumentalisieren. Die radikaldemokratische Programmatik der FSLN wurde als Hinwendung zum "kubanischen Kommunismus" gewertet. Diese hysterischen Kampagnen mündeten ab 1980 in den Aufbau einer bewaffneten Truppe, der Contra, die einen terroristischen Kleinkrieg gegen die Regierungsstrukturen und einen Großteil der Bevölkerung führte.

Die FSLN hatte bereits Ende 1979 klargestellt, dass sie die alleinige politische Kontrolle im Land aber eine gute Zusammenarbeit mit der "patriotischen Unternehmerschaft" anstrebte. Wichtige politische Entscheidungen fielen im Neunergremium der "Nationalen Leitung" und wurden nach unten durchgereicht. Aufgrund von Kadermangel und Desorganisation funktionierte das zwar nicht überall, aber die Struktur war eindeutig: "Dirección Nacional, ordene!" ("Nationale Leitung, befiehl!") war kein leerer Spruch der sandinistischen Jugendorganisation. Um das politische Programm zum Wohle des Volkes umzusetzen, musste die FSLN an der Macht bleiben, dieser Logik hatten sich alle Strukturen und Entscheidungen unterzuordnen. Politische Richtungswechsel wurden nicht öffentlich und inhaltlich diskutiert, der manchmal staunenden Öffentlichkeit wurde die jeweils neue politische Linie verkündet (z.B. in der Agrarreform, gegenüber den Miskitoindianern an der Atlantikküste, bei Verhandlungen mit der Contra), die alte wurde mit Fehlern anonymer Kader entschuldigt, die den Kontakt zum Volk verloren hätten...

Der von den USA ab 1981 offen unterstützte Contrakrieg konnte bald fast jede kritische Diskussion im Land abwürgen und fast jedes Problem "erklären". Die Bereitschaft, die Position der militärisch oder politisch Ranghöheren als die richtige anzuerkennen, war groß. So wurde zum Beispiel die Debatte um die Abtreibung gestoppt, weil die katholische Kirchenhierarchie nicht weiter verärgert werden sollte. Später rief die Nationale Leitung die nicaraguanischen Frauen zum Kinderkriegen für den Krieg gegen die Contra auf. Die sandinistische Frauenorganisation AMNLAE setzte sich dagegen nicht zur Wehr.

Die Massenorganisationen der FSLN sollten die Linie der Partei umsetzen. Die Gewerkschaften im Bausektor, einem der wenigen Industriezweige bei insgesamt 30.000 Industriearbeitern, wurden klassisch leninistisch als Transmissionsriemen der Partei benutzt, die den Arbeitern das richtige Bewusstsein vermitteln sollte. Streiks für Lohnerhöhungen konnten mitten im Krieg nichts anderes sein als "volksfeindliche Machenschaften der CIA". In den ersten Monaten nach der Vertreibung der Diktatur waren Produktivität und Arbeitszeit in der Landwirtschaft gesunken. Campesin@s und LandarbeiterInnen feierten auf diese Weise die neuen Verhältnisse, die in den ersten Jahren vor allem durch staatliche Hilfen aus Europa und Lateinamerika finanziert wurden. In einigen Fällen streikten Landarbeiter auf großen Staatsgütern gegen die neuen Verwalter. Sie wurden von der FSLN nachdrücklich daran erinnert, dass eine Revolution "dem ganzen Volk" und nicht "einer Minderheit" zu dienen habe und sie für den nationalen Wiederaufbau produzieren sollten.

Der Begriff "Volk" spielte in Ideologie und Praxis der FSLN eine zentrale Rolle: In der Aufstandsphase gehörten alle zum "Volk", außer der mit dem Imperialismus verbundenen Bourgeoisie, die das Vaterland verkaufte. In den 1980er Jahren wurden von der Parteiführung politische Entscheidungen häufig mit dem Hinweis auf die "Bedürfnisse und Interessen des Volkes" durchgedrückt - und zuweilen durch den Beifall des "Volkes" bei Großveranstaltungen untermauert. In der Frontstellung zum US-Imperialismus sollten die auch nach der Revolution weiter bestehenden Klassenunterschiede im "einigen nicaraguanischen Volk" aufgehoben werden. Dieses Konzept kollidierte mit der Wirklichkeit des Landes: von den damals drei Millionen EinwohnerInnen lebte die Mehrheit als verarmte Kleinbauern auf dem Land, die FSLN war aber eine städtisch und von der kleinen Mittelschicht geprägte Bewegung, die ihre soziale Basis in den Armenvierteln der größeren Städte fand - gleichzeitig aber die "patriotischen Unternehmer" zufriedenstellen wollte.

Die internationale Solidaritätsbewegung fungierte in Ländern mit starker KP wie Frankreich oder Italien als verlängerter Arm der FSLN. In der BRD behielten parteiunabhängige Initiativen die Oberhand, die sich dem Wunsch der FSLN nach einem strategischen Bündnis mit der Sozialistischen Internationale nicht unterordneten.

Aber auch wir fürchteten, jede öffentliche Kritik an den neuen Machthabern in Nicaragua könnte dem Feind in die Hände spielen. Insofern gab es zwar heftige interne Debatten, auch mit der FSLN, diese blieben aber auf beiden Seiten meistens folgenlos und wurden nicht öffentlich. Selbst der Wahlkampf der FSLN 1990 wurde, wenn auch murrend, unterstützt: Der inzwischen zur Nummer 1 in der Partei aufgestiegene Daniel Ortega ritt als Macho-Figur "el gallo" (der Hahn) in jedes Dorf ein und kürte dort die Miss Sandinista.

Unsere Arbeitsbrigaden haben unerwarteterweise die bekannten Muster aufgebrochen. Konzipiert als Propagandainstrument gegen ContraKrieg (der "ökonomische Nutzen" beim Häuserbau oder in der Kaffee-Ernte war nebensächlich) hatten die wochenlangen Aufenthalte auf dem Land einen unvorhergesehenen Nebeneffekt. Als BrigadistInnen sollten (und konnten) wir in der BRD von den Greueltaten der Contra und den deshalb schwierigen Lebensbedingungen der campesin@s berichten. In Nicaragua wurden wir aber vor allem Zeugen der politischen Verhältnisse: wie wurden Entscheidungen gefällt, welche Widerstände gab es gegen die Konzepte der Agrarreform, wie war das Verhältnis zu den städtischen Kadern der FSLN? Mehr als einmal wurden wir mit Massenverhaftungen von campesin@s wegen angeblicher oder tatsächlicher Unterstützung der ContraTruppen konfrontiert. Diese Verhaftungen widersprachen völlig der offiziellen Propaganda, die Contra sei eine Truppe von ausländischen Söldnern. Durch solche Vorkommnisse wurde der Traum vom neuen Menschen, das romantisierende Gerede von der "breiten Beteiligung des Volkes am revolutionären Prozess" bei vielen von uns gründlich gestört.

Bei einigen führte das zur Abkehr von jedem revolutionären Versuch, bei anderen eher dazu, viel genauer hinzuschauen, was in Nicaragua passierte, und was wir dort unterstützen wollten.

Zu einer politischen Debatte sind wir aber nicht nur wegen des "Hauptwiderspruchs" US-Imperialismus nicht gekommen. Zum einen wollten wir uns als privilegierte Metropolenbewohner keine Kritik an einer revolutionären Bewegung des Trikont anmaßen. Vor allem aber hatten wir keine Vorstellung von einer Revolution "im Herzen der Bestie" - deshalb übertrugen wir unsere Revolutionswünsche auf Nicaragua. So hat uns die Hoffnung, dass mit dieser Revolution alles möglich sei, merkwürdigerweise vor allem die realpolitische Machterhaltung der FSLN verteidigen lassen. Die frühere "Revolutionskommandantin" Mónica Baltodano wunderte sich vor kurzen in einem Interview, dass von den Internationalisten damals kaum Kritik kam...

Die für alle überraschende Wahlniederlage der FSLN 1990 hätte für die Solidaritätsbewegung eine zweite Chance sein können, die eigene Geschichte kritisch zu beleuchten, da nun "die Revolution" nicht mehr aus taktischen Gründen gegen jede Kritik verteidigt werden musste. Auch diese Gelegenheit wurde vertan. Einer der Hauptgründe für die Abwahl der FSLN, die Aufrechterhaltung des obligatorischen Militärdienstes, der in der Praxis vor allem Jugendliche aus den städtischen Armenvierteln traf; wurde kaum diskutiert. Stattdessen versuchte die schnell kleiner werdende Bewegung, die "sandinistischen" Projekte gegen das neue "neoliberale Modell" zu verteidigen, obwohl bald klar wurde, dass beide Optionen ineinander übergingen. Viele der gut ausgebildeten technischen, sozialen und militärischen Kader der FSLN hatten kein Problem damit, sich an der Herausbildung eines moderneren Kapitalismus zu beteiligen.

Ab Mitte der 1990er Jahre hat die FSLN aus machttaktischen Erwägungen mit den rechten Kräften des Landes paktiert und eine kapitalfreundliche Politik verfolgt. Seit 2006 ist der Sandinist Ortega wieder Staatspräsident. Er ist heute Chef einer Partei, die jede Opposition innerhalb der Organisation unterdrückt, Streiks wie z.B. im Transportwesen im Mai 2008 mit Polizeigewalt beantworten lässt, Stromklau zum ersten Mal unter Strafe stellt, in der Krise als erstes die Budgets im Gesundheits- und Erziehungswesen kürzt, die krasse Armut durch mediengerechte Verteilung von Care-Paketen instrumentalisiert, ein totales Abtreibungsverbot durchsetzt und das Land mit religiös-esoterischer Propaganda überzieht.

Trotzdem zählt manche europäische Solidaritätsgruppe auch die FSLN des Jahres 2009 zu den "fortschrittlichen Kräften" Lateinamerikas. Antiimperialistische Phraseologie, ein paar Sozialprogramme, wie sie die Weltbank in vielen Ländern zulässt, die aber in Nicaragua unter dem Titel Revolution laufen, sowie die Zugehörigkeit zum alternativen Wirtschaftsbündnis ALBA reichen aus, um die nicaraguanische Regierung auf die Seite des Guten im Kampf gegen das Imperium zu stellen.

Zum Weiterlesen:

Jenseits der Sturmhauben des mexikanischen Südostens, in: Wildcat-Zirkular 22
http://www.wildcat-www.de/zirkular/22/z22sturm.htm

Bürgerbeteiligung + Sozialstaat + Antiimperialismus = Revolution?, in: Wildcat 73

Präsident Chávez ist ein Werkzeug Gottes, in: Kosmoprolet 1 (http://www.klassenlos.tk/data/pdf/Chavez.pdf)

Bolivien: Verwandlung von Bewegung in Institution?, in: Wildcat 72 (www.wildcat-www.de/wildcat/72/w72bolivia.htm)

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

FSLN-Propaganda: "Mit Liebe an der Wahl teilnehmen!"
Regierungspropaganda 2008: "Dem Volke dienen, heißt Gott dienen"

Raute

Ölprofite als Basis des neuen Sozialismus in Venezuela

Die "Achse der Hoffnung gegen den Neoliberalismus" wird vom "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela zusammengehalten. In der linken internationalen Debatte gibt es folgende Positionen zu dieser Politik:

a) Jede Kritik am bolivarianischen Sozialismus ist "objektiv" pro-imperialistisch. Alles, was in Venezuela aktuell passiert, ist besser als die alte Ausplünderungspolitik der früheren Regierungen: Den "Massen" geht es materiell besser, sie haben eine politische Stimme bekommen, dem Imperialismus werden Schranken gesetzt. Diese Position wird vor allem von Leuten aus traditionellen kommunistischen oder antiimperialistischen Zusammenhängen vertreten.

b) An konkreten Punkten kann man die Regierung hart kritisieren, aber der "revolutionäre Prozess" muss grundsätzlich unterstützt werden; es gibt eine Übereinstimmung der "revolutionären Massen" mit dem leader, aber viele mittlere Kader sind "korrupt" bzw. "bourgeois". Diese Position findet sich häufig bei den Basiskadern des chavismo, vor allem bei denen aus linksradikalen Gruppen früherer Zeiten.

c) Die bolivarianische Regierung traut sich nicht, wirklich ernst zu machen mit Enteignungen und Volksbeteiligung, die Führung einer echten Arbeiterpartei ist nötig. Diese Position wird von einigen (in größeren Betrieben verankerten) trotzkistischen Gruppen vertreten.

d) Die neue Regierung eröffnet gewollt oder ungewollt Spielräume für radikalere Initiativen von unten, darin besteht die mögliche Sprengkraft des Prozesses. Der chavismo schafft überhaupt die Voraussetzungen für Kämpfe, da Hungernde nicht kämpfen. Diese Position versucht in kritischer Solidarität mit dem "Prozess" eine Debatte über Absichten und Chancen der "Revolution des 21. Jahrhunderts" anzuschieben. Über die reale Entwicklung der Spielräume wird kaum diskutiert.

e) Der Chavismo hat lediglich eine neue Fraktion der Bourgeoisie an die Macht gebracht, der Kapitalismus bleibt unangetastet. Diese Position wird von libertären und rätekommunistischen Gruppen vertreten, z.B. in der Zeitschrift Kosmoprolet.

Vom Caracazo zur Radikalisierung des chavistischen Projekts

30 Jahre lang hatten korrupte christ- und sozialdemokratische Regierungen die Ölrente an ausländische Konzerne und die venezolanische Oligarchie verteilt. 1989 explodierte die Wut der Massen in einem Aufstand in der Hauptstadt Caracas gegen ein weiteres vom IWF auferlegtes und von der damaligen Regierung gebilligtes Sparprogramm.

Nach dem Caracazo gelang es den Massen, sich in vielen selbstorganisierten Basiskomitees und Stadtteilversammlungen eine eigene Stimme zu verschaffen; sie begannen, einen Teil ihres Lebens in den Barrios selber in die Hand zu nehmen (Müllentsorgung, Wasserprobleme etc). In diese Situation hinein fallen die ersten Versuche des späteren chavismo, diesem Protest eine einheitliche Stimme in Richtung auf eine gerechtere und sozialere Demokratie zu geben.

Dieses Projekt wurde von einem Teil der traditionellen Eliten zumindest wohlwollend geduldet, weil sie sich dadurch bessere Gesamtbedingungen für die Kapitalreproduktion erwarteten: ein bisschen mehr für soziale Belange und ansonsten wieder Ruhe im Land. Diese Erwartungen wurden insofern enttäuscht, als die Hauptfigur des Projekts auch nach seiner Wahl zum Präsidenten 1999 den alten Formen von Vetternwirtschaft den Kampf ansagte und einige Sozialprogramme auflegen wollte. Dies und die Vorbereitung einer vorsichtigen Agrarreform sowie die Verabschiedung einer neuen Verfassung mit partizipativen Elementen schafften bei den alten Eliten und einem Großteil der Mittelklasse die Bereitschaft zu einem Putsch (April 2002) und einem von oben angezettelten Streik im zentralen Ölsektor (Dezember 2002 bis Februar 2003). Das Ziel, die neue Regierung zu stürzen, wurde beide Male verfehlt: die Massen aus den Armenvierteln von Caracas demonstrierten gegen die Putschisten, und Techniker-Arbeiter des staatlichen Ölkonzerns PDVSA übernahmen die Kontrolle eines Teils der lahmgelegten Ölproduktion. Diese beiden Mobilisierungen gewannen schnell eine eigenständige Dynamik, die aber von der bolivarianischen Regierung wieder abgewürgt wurde, nachdem sie erfolgreich im Sinne ihrer Machterhaltung waren.

Nach den beiden Putschversuchen wurde das bolivarianische Projekt radikalisiert: erst jetzt entstanden die umfangreichen Sozialprogramme (misiones), enteigneter Großgrundbesitz wurde verteilt, Schlüsselindustrien unter Mitbestimmung der ArbeiterInnen verstaatlicht, und der Bevölkerung weitgehende Beteiligungsmöglichkeiten im politischen Prozess eingeräumt. Soweit die offizielle Version des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts". Vergleicht man die programmatischen Erklärungen der bolivarianischen Regierung mit der realen Entwicklung im Land, dann ergibt sich folgendes Bild: Die Sozialprogramme machten immer lediglich einen kleinen Teil der Ölrente aus und werden seit dem Einbruch des Ölpreises (Sommer 2008) langsam zurückgefahren; die Agrarreform verläuft zögerlich, weil die Regierung die Konfrontation mit den Latifundistas scheut und die Bereitschaft und Fähigkeit, auf dem Land tatsächlich zu produzieren, bei einer vor allem in den Städten lebenden Bevölkerung nicht ausgeprägt ist; in den verstaatlichten bzw besetzten Betrieben hat sich kaum etwas im Sinne der ArbeiterInnen verändert; die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bevölkerung werden auf allen Ebenen zentralistisch kontrolliert und mit Geld zugeschüttet, d.h. BasisaktivistInnen hängen schnell am Tropf der Regierung und richten ihre Initiativen an dieser Geldquelle aus.

Krise und bolivarianisches Sparprogramm

Der seit 2002 kontinuierlich steigende und ab Sommer 2006 explodierende Ölpreis ermöglichte umfangreiche Investitionen in Sozialprogramme und Staatsbetriebe. Als ab Sommer 2008 der Preis des Hauptexportprodukts Venezuelas drastisch einbrach (Öl und Gas sorgen für 80% der Export- und 50% der gesamten Staatseinnahmen), wurde das zu einer Gefahr für das bolivarianische Projekt. Nachdem die KandidatInnen der chavistischen PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) im November 2008 bei den Kommunalwahlen die meisten Stimmen bekommen hatten, trat die Partei die Flucht nach vorne an: angesichts der sich rasant verschlechternden ökonomischen Bedingungen sollte gewährleistet werden, dass die PSUV 2012 noch einmal mit ihrem Chef antreten darf, ohne dessen Charisma die Wahl nicht zu gewinnen ist. Für den 15. Februar 2009 wurde eine Volksabstimmung über die Frage anberaumt, ob sich Bürgermeister, Gouverneure und Präsident nach zwei Amtsperioden wieder zur Wahl stellen dürfen, was die Verfassung bisher ausgeschlossen hatte. Wieder einmal wurde die Bevölkerung in eine Abstimmung gehetzt, in der alles auf die Frage zusammenschrumpft, ob man "für oder gegen den Sozialismus und dessen leader" sei.

Nach einer irrsinnigen Kampagne in den Medien und auf der Straße stimmten 6,3 Millionen der Verfassungsänderung zu (5,2 Millionen dagegen, 5 Millionen haben nicht abgestimmt). Sofort danach diskutierte die Regierung Maßnahmen gegen die Krise, die aber "dem Volk" nicht schaden sollten. Ein traditionelles Sparpaket (direkte Preisanhebung bei Lebensmitteln, Benzin, Transport etc.) wäre politischer Selbstmord. Mit "Volk" sind die 60 Prozent der Bevölkerung gemeint, die einkommensmäßig als arm oder sehr arm gelten, politisch bezieht sich dieser Begriff auf die unorganisierten Massen vor allem aus dem informellen Sektor bzw. diejenigen, die sich von staatlichen bzw. Partei-Institutionen angeleitet mobilisieren lassen.

In Venezuela leben ca. 28 Millionen Menschen, davon ca. 90 Prozent in den Städten. Zwölf Millionen sind jünger als 15 Jahre, 13 Millionen sind "wirtschaftlich aktiv", ca. sieben Millionen haben irgendeine Art von Arbeitsvertrag. Viele der 2,5 Millionen Beschäftigten im Staatssektor, die allermeisten Beschäftigten im Handel, aber auch z.B. Bandarbeiter in der Automobilindustrie verdienen den von der Regierung festgelegten Mindestlohn.

Bereits am 21. März 2009 wurde schließlich ein Wirtschaftspaket verkündet, das ausdrücklich kein Sparpaket sein, sondern im Gegenteil die zentralen Errungenschaften der Revolution schützen soll. Das Paket bescherte den ca. drei Millionen MindestlohnempfängerInnen eine Erhöhung per Staatsdekret (ohne Diskussion) noch nicht einmal in Höhe der Inflationsrate, wie früher üblich: ab dem 1. Mai 2009 um 10 Prozent auf 880 Bolivares Fuertes, ab dem 1. September 2009 um weitere 10 Prozent auf 970 BsF. Das CestaTicket (ein Lohnbestandteil in Form von Coupons, die in vielen Geschäften einlösbar sind) erhält einen um 20 Prozent höheren Wert und entspricht jetzt monatlich ca. 400 BsF. Die Mehrwertsteuer wird von 9 auf 12 Prozent erhöht. Im April 2007 hatte der damalige Finanzminister zu dieser Steuer gesagt: "Wir werden die sozialistische Entscheidung treffen, diese Steuer, die uns die Neoliberalen mit ihren Sparpaketen des IWF eingebrockt haben, mittelfristig abzuschaffen."

Bereits 2008 reichten Mindestlohn und Cesta-Ticket für die venezolanische Durchschnittsfamilie nicht aus, um die notwendigen Lebensmittel des allgemeinen Warenkorbes zu kaufen. Lebensmittel (außer den subventionierten), Kleidung, Restaurantbesuche, Kino, Friseur, Autoersatzteile haben fast dieselben Preise wie in der BRD, wirklich billig ist nur Benzin (50 Liter kosten 1,50 Dollar). Angesichts einer offiziellen Inflationsrate von 30 Prozent für 2008 und ähnlich steigenden Preisen in der ersten Hälfte 2009 ist mit dem Wirtschaftspaket die Kaufkraft der Bevölkerung weiter gesunken, der Mindestlohn von umgerechnet 650 Dollar (offizieller Kurs: 1 Dollar = 2,15 BsF) schrumpft so auf das "normale lateinamerikanische Maß" zusammen.

Außerdem enthält das Wirtschaftspaket eine Verringerung der Staatsausgaben um 6,7 Prozent und Gehaltskürzungen für höhere Regierungsfunktionäre. Ob damit tatsächlich "Korruption und Verschwendung" angegangen werden, ist zweifelhaft. Diese Parole wird zwar in regelmäßigen Abständen ausgegeben, sie bestätigt aber nur, dass Korruption im Staatsapparat keine Erfindung der Opposition ist.

Es geht um das politische Überleben bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen. Den politisch niedrig gehaltenen Benzinpreis zu erhöhen, bleibt tabu, um die Transportkosten nicht noch weiter in die Höhe zu treiben und um diese Subvention für die autofahrende Mittelschicht nicht zu gefährden. Es gibt erste Stimmen aus dem Regierungslager, die zumindest über den symbolischen Benzinpreis diskutieren.

Die Finanzierung der Sozialprogramme wird langsam heruntergefahren, das berichtet auf ihrer website die staatliche Ölgesellschaft PDVSA, aus deren Gewinnen die misiones bezahlt werden. Die Regierung will "dem Volk" zwar weiterhin Zugang zu subventionierten Basisdienstleistungen gewährleisten. Aber die kostenlose medizinische Grundversorgung wird ausgedünnt: Medikamente und Personal fehlen, Öffnungszeiten schrumpfen zusammen. Es gibt ein enges Netz staatlicher Märkte (mercales), in denen Lebensmittel zu subventionierten bzw. staatlich festgelegten Preisen verkauft werden, aber es kommen längst nicht alle Produkte regelmäßig: wenn Hühnerfleisch im Angebot ist, stehen die Leute, die Zeit haben, ab 3 Uhr morgens Schlange, es gibt Schlägereien. Wegen der logistischen Schwierigkeiten und der Korruptionsanfälligkeit der mercales gibt es inzwischen eine zweite Verkaufsstruktur, PDVAL, die direkt mit der Ölgesellschaft PDVSA gekoppelt ist.

Gleichzeitig will die Regierung gewährleisten, dass wichtige Produkte auch von privaten Erzeugern billig angeboten werden. Wo das nicht funktioniert, interveniert der Staat mit der Armee, wie z.B. im März 2009 in einigen Reisfabriken, allerdings wurde der staatlich festgelegte Reispreis im August 2009 erhöht. Durch die Verstaatlichung von Lebensmittelproduzenten soll die Produktion ausgeweitet werden, aber der Importanteil liegt auch bei den subventionierten Grundnahrungsmitteln immer noch bei mindestens 60 Prozent.

Mit dem Volk gegen die Arbeiterklasse?

Auf einem anderen Gebiet wird schon seit längerem "gespart". Es gibt Entlassungen in Staatsbetrieben, der Anteil an schlecht gestellten Leiharbeitern im Staatssektor bleibt trotz gegenteiliger Versprechungen hoch, und vor allem werden im Erziehungs- und Gesundheitswesen, in den öffentlichen Verwaltungen und in staatseigenen Betrieben wie PDVSA, der U-Bahn von Caracas, sowie in der Schwerindustrie seit Jahren keine neuen Tarifverträge abgeschlossen, oder die neuen Verträge werden nicht eingehalten und nur die niedrigen Grundlöhne ohne Zulagen ausgezahlt. Diese Situation ist mit Schlamperei, selbstherrlicher regionaler Bürokratie, aber auch mit Konkurrenzkämpfen unter Gewerkschaften zu erklären, die dann vom zuständigen Arbeitsministerium gerne aufgegriffen werden, um den Verhandlungspartnern die Legitimation abzusprechen und so die längst fälligen Tarifverhandlungen auszusetzen.

Aber dahinter steht auch eine grundsätzliche politische Orientierung von Regierung und Partei: die Arbeiter in den größeren staatlichen Betrieben seien durch ihre hohen Löhne und ihre sichere soziale Lage gegenüber den verarmten Volksmassen "privilegiert" und müssten entsprechend "Opfer bringen". Streikende im Gesundheitswesen, bei der U-Bahn (5.000 Beschäftigte), im Stahlwerk SIDOR (12.000 Beschäftigte) und vor allem beim Ölkonzern PDVSA (80.000) wurden in den letzten Monaten mehrfach als "Arbeiteraristokraten" beschimpft, deren "Sonderinteressen" das sozialistische Gesamtprojekt in Gefahr brächten.

Ihnen wurde mit dem (organisierten und zu organisierenden) "Volk" gedroht, das für ihre Streikaktionen kein Verständnis habe.

Bisher ist unklar, ob sich die soziale Basis des chavismo, also vor allem die verarmten städtischen Massen aus dem informellen Sektor und die neue Mittelschicht in der Bürokratie von Staat, Partei und Sozialprogrammen, tatsächlich gegen Arbeiterstreiks funktionalisieren lassen oder ob es bei der propagandistischen Drohung bleibt. Nationalgarde und andere Polizeieinheiten wurden immer wieder gegen ArbeiterInnen eingesetzt: z.B. gab es bei den Streiks bei SIDOR im Frühjahr 2008 kurz vor der Verstaatlichung des Stahlwerks viele Verletzte und Verhaftete, einige von ihnen stehen jetzt vor Gericht. Beim Versuch, die besetzte Mitsubishi-Fabrik (1400 Arbeiter) zu räumen, wurden im Januar 2009 sogar zwei Arbeiter erschossen.

Die spannende Frage wird sein, ob sich Arbeiter aus Großbetrieben und Barriobewohner tatsächlich gegeneinander ausspielen lassen, ob "das Volk" wirklich glaubt, dass Krankenschwestern und U-Bahn-Beschäftigte genug verdienen und moralisch nicht zum Protest legitimiert sind, oder ob die Bevölkerung genug über die realen Verhältnisse in solchen Betrieben weiß. Andersherum ist die Frage, ob die Arbeiter es schaffen, in ihren Kämpfen über den Tellerrand ihrer Betriebe hinauszublicken, welche Dynamiken aus den Kämpfen der "relativ Privilegierten" entstehen.

Bei den aktuellen Auseinandersetzungen in der Ölindustrie erinnert die Regierung gerne an den "konterrevolutionären" Streik von 2002/2003, der mit vielen tausend Entlassungen beantwortet wurde. Für die Ölarbeiter und ihre Gewerkschaften wird es nicht weiterführen, die arbeiterfeindliche Haltung der Regierung anzuprangern. Sie werden sich gegen diese Angriffe nur schützen können, wenn sie mit ArbeiterInnen anderer Betriebe und den BewohnerInnen ihrer Stadtviertel in die Diskussion über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen kommen. Dann geht es nicht darum, als "geeintes Volk" ohne Klassenunterschiede die jeweilige Regierungslinie nachzuvollziehen, sondern um den Versuch, die eigenen Bedürfnisse zu formulieren, unabhängig davon, ob sie "der Revolution" nützen...

Der Revolution dienen oder ...

Das passiert immer noch viel zu selten. Die Menschen haben zwar mehr Selbstbewusstsein, weil sie sich überhaupt gehört fühlen, aber meistens übersetzen sie ihre Interessen in Petitionen an den Staat, die Partei und den großen Chef. Diese paternalistische Ausrichtung auf die jeweiligen Führungsfiguren machen auch die linken nicht-bolivarianischen Gewerkschaften mit. Leute, die für ihre sozialen Forderungen auf die Straße gehen wollen, werden durch die hochgeputschte Dauerpolarisierung, die Ja-Nein-Alternativen zwischen der reaktionären Opposition und dem chavismo zerdrückt. ArbeiterInnen als mögliche organisierte Kerne in solchen Auseinandersetzungen bleiben politisch isoliert. Eigenständige Organisierung und Unabhängigkeit von staatlichen Institutionen in sozialen Auseinandersetzungen sind fast unmöglich.

Die mangelnde Orientierung auf Selbstorganisierung und Debatte ist kein Problem der reaktionären Kader des alten Staatsapparates, wie Freunde der bolivarianischen Revolution gerne behaupten, sondern sitzt tief in der PSUV und den heutigen Revolutionären. Nach ihrem Selbstverständnis repräsentieren Regierung und Partei in Venezuela die Interessen "des Volkes", aus dem Mund des Präsidenten spricht "das Volk". Abweichungen von der vorgegebenen politischen Linie stehen schnell im Geruch der Konterrevolution. Die Räume, die der chavismo radikaleren Initiativen angeblich eröffnet, bleiben Spielräume.

Die Vorstellung, der "fortschrittliche Staat" leite die Revolution an und könne angesichts einer starken Opposition von rechts keine Abweichungen "im eigenen Lager" dulden, wird auch in vielen europäischen Venezuela-Solidaritätsgruppen gepflegt. Die sehr widersprüchlichen Entwicklungen der "bolivarianischen Revolution" müssen aus dieser Perspektive nicht genauer diskutiert werden, da der venezolanische Staat einen (kleinen) Teil der Ölrente ausdrücklich in Sozialprogramme steckt, während in den kapitalistischen Kernländern der Sozialstaat zum Luxus erklärt worden ist. Außerdem organisiere die bolivarianische Regierung gegen die Kriege in Afghanistan und Irak eine "internationale revolutionäre Perspektive".

Die Leerstellen der Zentralamerika-Solidaritätsbewegung sind seit 25 Jahren offensichtlich nicht gefüllt worden. Solche Debatten würden aber Vorstellungen und Praxis von Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse ganz anders voranbringen - und zwar nicht nur in Lateinamerika.

Randnotizen

Bei der U-Bahn in Caracas verdienen viele der 5000 Arbeiterinnen nur wenig mehr als den Mindestlohn plus Cesta-Ticket. Zunächst behauptete das Arbeitsministerium, der Tarifvertrag vom Dezember 2008 sei ungültig, später hieß es, die Lohnerhöhungen seien nicht bezahlbar. Bis zum Referendum am 15. Februar 2009 gab es nicht-öffentliche Verhandlungen im ganz kleinen Kreis unter Beteiligung einiger Gewerkschaftsvertreter. Am 17. Februar forderten 2000 Metro-Arbeiterinnen in einer Versammlung, dass jede Veränderung des Vertrages mit ihnen zu diskutieren sei. Danach demonstrierten hunderte Metro-Beschäftigte mehrere Male in Caracas. Am 6. März bekräftigte der Staatspräsident öffentlich, man werde bei der Metro und in der Schwerindustrie keine "politisch motivierten Sabotageakte" tolerieren.

Er brachte die Streikdrohungen mit "konterrevolutionären Absichten der Opposition" in Verbindung und forderte die Polizei auf, diese Unternehmen gegen Sabotage zu verteidigen.

Schließlich wurde ein neuer Vertrag abgeschlossen, in dem ungefähr 40 Prozent der bereits ausgehandelten Verbesserungen gestrichen wurden. Versammlungen zur Diskussion fanden nicht mehr statt.

Die in den Streiks vom Frühjahr 2008 umstrittenen Punkte sind ein Jahr nach der Verstaatlichung von SIDOR immer noch dieselben: zwar sind die Löhne erhöht worden, aber im täglichen Arbeitsprozess gibt es weiterhin regelmäßig Verletzte, manchmal auch Tote. Die Situation der 8000 Leiharbeiter hat sich nicht geändert: bis auf wenige hundert (das war genau das Zugeständnis der früheren argentinischen Firma in den Verhandlungen) ist niemand übernommen worden. Inzwischen gibt es Pläne zur Frühverrentung mit 50% der Bezüge für mehrere hundert Festangestellte, und angesichts der sinkenden Stahlnachfrage auf dem Weltmarkt sind hunderte Arbeiter in Kurzarbeit. Die Regierung will den seit November geltenden neuen Tarifvertrag neu verhandeln, da er in der Krise zu kostspielig sei. Die Mobilisierungen gehen weiter, der zuständige Minister für Basisindustrien und Bergbau droht den Aktivisten, da sie angeblich gemäß einem Plan der rechten Opposition die gesamte Region destabilisieren wollen.

In seiner Enttäuschung über die Kriegsbeteiligung der deutschen Sozialdemokratie (bis dahin seine Lehrmeister) entwickelte Lenin in seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus eine regelrechte Theorie der "Arbeiteraristokratie": Hochqualifizierte Teile der Klasse, würden aus Extraprofiten mit einem hohen Arbeitslohn "bestochen". Zugespitzt bedeutet diese Vorstellung eine Umkehrung der Verelendungstheorie: materiell besser gestellte Klassenteile tendieren zu konterrevolutionären Einstellungen. Jede soziale Dynamik innerhalb der Klasse wird damit ausgeschlossen.

Der Unterschied zwischen Mindestlohn und Hochlohnbranchen in Venezuela entspricht in etwa dem zwischen Niedriglohnsektor und festangestellten Mercedesarbeitern in der BRD.

Anfang März 2009 gab der staatliche Ölkonzern PDVSA (80.000 Beschäftigte) in allen Tageszeitungen bekannt, dass er ab sofort wieder seinen Zahlungsverpflichtungen für die Subunternehmen in der Ölindustrie (20.000 Beschäftigte) nachkommen werde. Damit reagierte er auf viele kleinere Streiks und Demonstrationen von Leiharbeitern in der Ölindustrie, die ihre Löhne wochenlang gar nicht oder nur teilweise bekommen haften, weil die PDVSA die Subunternehmen nicht bezahlt hafte. Der zuständige Minister erklärte Ende April 2009 in einer Rede an die Öl-ArbeiterInnen, auf die Krise des Kapitalismus werde man mit "mehr Sozialismus< antworten. Der Führungsschicht des Unternehmens würden ihre Privilegien (Dienstfahrzeuge, großzügige Spesen) beschnitten und die Einkommen gekürzt. Seine zentrale Botschaft richtete sich an die ArbeiterInnen: Angesichts der Krise und des niedrigen Ölpreises könne es für niemanden bei PDVSA Lohnerhöhungen geben. Stattdessen müsse man die Ölindustrie "mit einem Höchstmaß an Bewusstsein" verteidigen. Damit scheinen von der Regierung die anstehenden Tarifverhandlungen erledigt zu sein, so befürchten zumindest einige der Gewerkschaften.

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

"Überprüfung der politischen Struktur der PSUV" durch den Chef

Mercal-Lastwagen: "Ernährungssicherheit für die Souveränität des Vaterlands"

"Das neue sozialistische SIDOR - In den Händen des Staates und der Arbeiter"

Raute

Dem Zerfall der APO was entgegensetzen

Teil II des Interviews mit Genossen der RZ

Die 68er Bewegung war in der BRD ja eigentlich eine '67er Bewegung: die Mobilisierung gegen den Schahbesuch und vor allem nach dem Mord an Benno Ohnesorg. Ihr wart damals 18, habt in West-Berlin gelebt, wart bereits an Eurer Schule politisch aktiv...

M: Ich war '67 in Berlin Steglitz auf einem Gymnasium, hab bei der SMV und der Schülerzeitung mitgearbeitet, hatte Kontakte nach Kreuzberg in literarische Kreise hinein, wir haben Gedichte geschrieben, uns vorsichtig in Richtung Diskotheken zu bewegen angefangen. Ich war beschäftigt mit Musik... Die Prügelattacken im Juni '67 auf die Demonstranten gegen den Schah an der Oper und die darauf folgende Erschießung von Ohnesorg hab ich nur in der Presse mitbekommen, weil wir auf Klassenfahrt in Rom waren.

Du hast Dich für Musik interessiert? Warst Du beim legendären Stones-Konzert dabei, als '65 die Waldbühne zerlegt wurde?

M: Ja. Auf dem Heimweg vom Konzert hab ich zum erstenmal erlebt, dass eine S-Bahn total auseinandergenommen wurde, Kassenhäuschen wurden auf die Seite geschoben... Studenten waren da weniger, das war ein anderes soziales Milieu, Mopedfahrer, und dann hält Schüler!

T: Zu unserer Politisierung hat die Situation an der Schule viel mehr beigetragen als alles andere, was auf der Straße passierte. Es war eine elitäre Schule mit einem reaktionären Lehrkörper. Ich war damals Schulsprecher. Die Schülerzeitung und die SMV, das waren die beiden Foren, wo du dich ausdrücken konntest. Wir haben uns gegen die autoritären Strukturen gewandt und teilweise die Lerninhalte kritisiert.

M: Lange Haare waren genauso verboten wie das Tragen von Jeans. Ich weiß nicht, ob sich heute noch jemand Abläufe im Sportunterricht vorstellen kann, wo uralte Säcke dich gedrillt haben.

Die Noten abschaffen wolltet Ihr nicht? Ich habe Mitte der 70er Abi gemacht, für uns war die Kritik an den Noten und an Selektion überhaupt sehr wichtig.

T: Das fing bei mir erst auf der Uni an, da wurden alle diese Fragen aufgeworfen: Qualifizierung für einen bestimmten Beruf... Warum überhaupt einen Beruf? und wenn, dann welchen?

M: Wir haben im Sommersemester '68 angefangen, ich hab mich in Jura eingeschrieben mit der Vorstellung, ein sozial engagierter Anwalt zu werden - und wurde dann mit Schuldrecht, BGB und solchen Dingen traktiert. Mir war schnell klar, dass mich all das gar nicht mehr interessierte, da bin ich zu Publizistik und Theaterwissenschaft rübergewechselt. Bei denen war es schon durchgesetzt, dass wir uns im Grundstudium mit marxistischer Kritik auseinandersetzten, das hatte sich sehr schnell entwickelt.

T: Das ist eine unglaublich dichte Zeit: im Februar der Vietnamkongress, im April das Attentat auf Dutschke, Ende Mai die Besetzung des Germanistischen Instituts. Ich hab Theaterwissenschaften und Germanistik studiert. Als ich zu meinem ersten theaterwissenschaftlichen Seminar kam, war das schon zu, von Studenten blockiert.

M: In zwei, drei Jahren ist unheimlich viel passiert. Geschlafen haben wir damals nicht viel, Fernsehen haben wir nie geguckt. An der FU ging einiges los, und es kam zu den ersten Auseinandersetzungen mit der Polizei.

T: Das Sommersemester über war ich damit beschäftigt, Versammlungen zu besuchen und Diskussionen aufzunehmen. Als Erstsemester war ich noch nicht auf der Höhe der Zeit, die Kritische Universität hatte es ja bereits gegeben! An der Schule hatten wir im vorgegebenen institutionellen Rahmen versucht, unseren Unmut zu formulieren und uns gegen autoritäre Strukturen zu wehren.

Die Uni war eine völlig andere Welt, hier ging es um Fragen der Revolution und gesellschaftlichen Umwälzung, das war ein Meilenschritt!

Sergio Bologna hat neulich in einem Vortrag gesagt, das wichtigste an '68 war die Kritik des Berufs...

M: Kritik am bürgerlichen Beruf und an der bürgerlichen Karriere. Wo kommt es her, dass Leute unterschiedlich bezahlt werden? Das ist damals schon in Frage gestellt worden. Genauso wie die Kritik am Fachidiotentum. Wir wollten alle Freiheiten haben zu studieren, was uns interessierte, was wir für sinnvoll hielten. Die verschulten Bachelorstudiengänge von heute haben nichts mehr mit "studieren" zu tun! Das ist damals heftig attackiert worden und hat dazu geführt, dass die Studienpläne massiv liberalisiert wurden. Grundsemesterorganisationsgruppen, relativ kurz danach auch die Roten Zellen, haben Studienpläne entworfen, wo das Recht zu anderen Inhalten verbindlich reingeschrieben wurde, wie z.B. Studium des Marxismus.

T: Es ging um eine Kritik der Institution, Kritik der Ordinarien-Universität und Kritik der bürgerlichen Wissenschaft. Als ich an die Uni kam, hatte ich im Kopf nach dem Studium ans Theater zu gehen, Dramaturg oder Regisseur zu werden. Diese Vorstellungen hatten sich schon nach dem ersten Semester in Luft aufgelöst! An der Schule machten wir kritisches Theater, Büchner statt Goethe oder so. An der Uni wurde stattdessen das Theater als bürgerliche Institution in Frage gestellt. Die Kunst, die man am Theater machen kann, ist per se bürgerlich; das Publikum besteht aus Leuten, die sich das Theater auch leisten können. Und damit veränderte sich der ganze Hintergrund, von dem aus du über Berufe nachgedacht hast. Wobei ich das Kind gleich mit dem Bade ausgeschüttet habe, indem ich gesagt habe 'Theater ist Scheiße!' und mich stattdessen entschlossen habe, Lehrer zu werden. Das hätte ich mir kurz vorher nicht im Traum vorstellen können! Es ist ja bizarr: du kommst aus der Schule, die du als autoritäre Erziehungsanstalt erlebt hast, und führst auf einmal eine Diskussion über eine 'revolutionäre Berufsperspektive' mit dem Ziel, dich als 'Lehrer' in den 'Dienst des Volkes' zu stellen. Das war der aufklärerische Gedanke. Wir müssen nur die richtigen Inhalte transportieren, und das in einer bestimmten Form. Erst dann werden sich die Leute überhaupt entscheiden können, was sie wollen. Der nächste Schritt war dann: wenn schon Schule, dann sind der Adressat nicht die Gymnasiasten, sondern die Kinder der Arbeiterklasse; also mussten wir in die Grund- und Hauptschule gehen. Deshalb bin ich von der FU zur PH gewechselt.

M: Daraus ist u.a. auch die Kinderladenbewegung entstanden. Da ging es nicht nur um die Betreuung der eigenen Kinder. Aber am Anfang war es ein bisschen so wie 'ich geh als Arzt in den Dschungel und helfe Menschen'. Das war nicht marxistisch oder maoistisch inspiriert, bestenfalls ein 'oben-unten' und du willst denen 'unten' helfen.

T: Zunächst hatten wir gar keine Zeit zum Studieren, wir mussten ja die Revolution machen! Ich kann mich nicht erinnern, in den anderthalb Jahren am Germanistischen Institut ernsthaft studiert zu haben! Ständig gab es irgendwelche Aktionen, Besetzungen, Vollversammlungen, Demos... Die Uni war der soziale Ort, an dem du dich aufgehalten hast, aber am wenigsten, um Vorlesungen zu besuchen. Im Herbst '69 kam ich an die PH. Auch dort hatten wir ein intensives Wintersemester, in dem wir mehr gestreikt als studiert haben. Was nicht bedeutet, dass wir nicht gelernt hätten. Im Gegenteil, ich habe selten so viel gelesen wie in dieser Zeit, wir wollten der bürgerlichen Wissenschaft ja was entgegensetzen. Antiautoritäre Erziehung, proletarische Erziehung, die Raubdrucke von Otto Rühle oder Edwin Hoernle, von Wilhelm Reich und Siegfried Bernfeld. Und was du dir selbst gerade erst angeeignet hattest, musste auch wieder weiter vermittelt werden.

M: Bei den Publizisten hab ich im Wintersemester 69/70 ein Seminar bei Ulrike Meinhof besucht. Da ging es um Erziehungsheime, das waren die Vorarbeiten für den Bambulefilm. Das hat dazu geführt, dass ich in einem Erziehungsheim so ne Art Praktikum gemacht hab; ich hab im wesentlichen mit denen Tischtennis gespielt und geredet. Wir haben ein Theaterstück dazu gemacht, das hat mir mein erstes Ermittlungsverfahren eingetragen wegen Beleidigung von irgend so nem Idioten.

Ihr seid dann zur PL/PI gegangen, das war ja ein Westberliner Eigengewächs. Wo kam sie her?

M: Im Herbst '69 ist in Reaktion auf die wilden Septemberstreiks bei Kohle und Stahl die Projektgruppe Elektro-Industrie (PEI) entstanden. Sie hatte einen Untersuchungsansatz und hat sich mit Siemens den größten Betrieb in Berlin ausgesucht und dort als Gruppe angefangen zu arbeiten. Daraus hat sich ein halbes Jahr später die Proletarische Linke/Partei-Initiative (PL/PI) gebildet. Anfang 70 sind viele Parteiinitiativen mit unterschiedlichen ideologischen Konzepten entstanden, alle irgendwo in Antwort auf die Streiks '69, die KPD/AO, die KPD/ML, der Kommunistische Bund usw. Anders als in Frankreich oder in Italien hatte die Arbeiterklasse hier '68 für die Studenten keine große Rolle gespielt. Das hat sich erst mit den Septemberstreiks geändert, damit wurde denkbar, dass es auch in der BRD eine revolutionäre Arbeiterklasse geben könnte.

T: Als gedachtes Subjekt hatte sie durchaus eine Rolle gespielt, nur war sie real nicht präsent gewesen. Es war ja klar, dass wir als Studenten nicht die Revolution machen konnten. Ein Erklärungsmuster für die Passivität der Arbeiterklasse war deren "Manipulation": die Arbeiterklasse kämpft nicht, weil sie manipuliert worden ist, das muss man durchbrechen, damit sie aus ihrer Entfremdung heraus und zu einem Bewusstsein ihrer selbst kommen kann. Der Intellektuelle hat die Rolle, ihr beim Weg vom "an sich" zum "für sich" zu helfen. Wenn du sagst, da ist jemand, der hat kein Bewusstsein seiner Lage, landest du ziemlich schnell beim Lehrer als Berufsperspektive ...

M: Außerdem hatten wir die Vorstellung, dass die "Organisationen der Arbeiterklasse" im Faschismus zerschlagen worden waren, das heißt, es gab keinen Bezugspunkt; wir haben uns jedenfalls nicht bezogen auf die Reste, die es in Berlin noch als SEW gab oder in Westdeutschland als DKP; in unseren Gruppen gab es auch keine älteren Ansprechpartner, wir waren alle mehr oder weniger eine Generation, da gab es keine 50- oder 40jährigen!

T: Wir haben manchmal wohl auch in dem Glauben gelebt, wir wären die ersten, die eine Revolution hier in Deutschland machen.

M: Die Arbeiter hatten wir eher wahrgenommen als Leute, die zu den DGB 1. Mai-Demos gingen. '69 hast du erstmal wahrgenommen, dass sie auch in einer ganz anderen Form auftreten können. In Westberlin waren das eher halbwilde Streiks v.a. im Öffentlichen Nahverkehr und bei der Stadtreinigung, Busfahrer und Müllmänner.

Daraus hat sich sehr schnell dann die PL/PI entwickelt?

M: Die PL/PI ist der Versuch, aus der PEI etwas Breiteres zu machen, was ein relativ starkes, vielleicht auch starres Organisationskonzept mit enthält, mit der Idee, du arbeitest als Student im Betrieb, gruppierst um dich herum politisch bewusste KollegInnen und bildest daraus Betriebszellen; diese Betriebszellen kooperieren miteinander, und daraus entwickelt sich dann eine gemeinsame Strategie. Und damit die Zellen nicht alle machen, was sie wollen, hast du eine Organisation im Hintergrund, die die politische Linie entwickelt, indem sie die verschiedenen Untersuchungsergebnisse zusammenfasst. Unter den damaligen Parteikonzepten war es eins der wenigen, das ganz bewusst immer so'n Rätemodell mit drin hatte, also nicht nur als Kaderorganisation unter sich bleiben, sondern schon vom organisatorischen Ansatz her ne feste Zusammenarbeit von Arbeitern und Studenten.

Wie groß war die PL/PI? Wo war sie überall aktiv?

M: Die PL/PI wird in Westberlin vielleicht zehn Betriebsgruppen gehabt haben, die bestanden im Durchschnitt aus drei oder vier Menschen, die tatsächlich im Betrieb arbeiteten. Dazu gab es eine Zusammenarbeit mit einigen Roten Zellen. Die PL/PI hatte eine Zeitung für die Uni, die die StudentInnen mobilisieren sollte, den Hochschulkampf eine Betriebszeitung, die vor Betrieben verteilt wurde, den Klassenkampf und ein Zentralorgan, PL.

1971 war die PL/PI in der Lage, 10.000 Menschen für die 1. Mai-Demo zu mobilisieren, das war für Westberliner Verhältnisse sehr viel. Es gab an dem Tag mehrere Demonstrationen, die klassische von den Gewerkschaften, da hatten sich die K-Gruppen angeschlossen, eine SEW-Demo, und schließlich die PL/PI-Demo, die zog wie die SEW auch durch Kreuzberg. Da waren einmal Leute aus den Betrieben und aus ihrem Umfeld, viele Studenten und Schüler. Überhaupt viele aus dem Bereich Lehrlinge und Jungarbeiter. Das war so der organisatorische Höhepunkt der PL/PI-Geschichte.

T: Der Arbeiteranteil bei der PL/PI war nicht riesig groß, aber sie wurden bevorzugt aufgenommen und ich kenne ne Reihe Leute, die aus den Betrieben in die PL/PI gegangen sind. Also keine arbeitslosen Jugendlichen, sondern Leute aus den Betrieben.

M: Viele jüngere Arbeiterinnen und Arbeiter sind auch durch das Milieu angezogen wurden, das die PL/PI ausgestrahlt hat. Das war nicht nur die politische Überzeugung, sondern dass jemand überhaupt gesagt hat, dass man sich im Betrieb wehren kann, dass man sich in Gruppen zusammengeschlossen hat, auch im Privaten Dinge zusammen gemacht hat, dass wir in WGs zusammengelebt haben, das spielte alles ne Rolle für das Umfeld. Die haben gern an die diversen WGs angedockt, sind teilweise eingezogen und haben weiter gearbeitet, manche sind aber auch in die WGs gezogen und ließen das Arbeiten sein.

Nach der 1. Mai-Demo 1971 gab es intern einen riesen Knatsch, weil sich der "Arbeiterflügel", wenn du so willst, von den Funktionären verarscht fühlte: 10.000 nach Kreuzberg zu bringen, das steht in keinem Verhältnis zu den Problemen, die wir im Betrieb haben. Ihr habt völlig falsch mobilisiert. Euch war wichtig, gegenüber den anderen Gruppen ne möglichst machtvolle Demonstration auf die Beine zu stellen, und uns wäre wichtig gewesen, dass wir die Demo als Unterstützung haben, um im Betrieb weiterzukommen. Das führte sehr schnell zur Auflösung der PL/PI im Sommer 1971. Ein Teil ging dann ins Ruhrgebiet, in die hochindustrialisierten Bereiche, Schwerpunkt Hoesch. Die sind im Betrieb und in Kontakt zueinander geblieben. Ich glaub, ein Teil ist später bei der DKP gelandet, Betriebsräte, Gewerkschaften... Einige haben innerhalb der Gewerkschaften Karriere gemacht, hier in Berlin kenne ich zwei, die Betriebsratsvorsitzende bzw. Gewerkschaftssekretär geworden sind. Andere wurden Professoren; ob die sich überhaupt nochmal organisiert haben, weiß ich nicht.

Noch mal kurz zurück zu dieser Übergangsphase: die allgemeine Idee war, man geht ein paar Monate in den Betrieb - was sollte in so einer kurzen Zeit da passieren?

M: Der Politisierungsvorsprung der Intellektuellen sollte als Initialzündung in den Betrieben wirken. Danach sollten die ArbeiterInnen sich ohne studentische Unterstützung selber organisieren. Für die Mehrheit der Studenten war klar, dass das zeitlich befristet war. Aus heutiger Sicht war das eine Mischung aus überheblich und naiv dass wir glaubten, wenn Studenten ein paar Monate im Betrieb arbeiten, könnten sie einen heftigen Anstoß zu etwas geben.

T: Ich selber war zwar nie in einer Fabrik, erinnere mich aber, dass wir die Betriebsarbeit auch unter einem zweiten Aspekt diskutiert haben: die Studenten sollten die Lebensumstände der Arbeiter kennen lernen. Die Erweiterung der eigenen sozialen Erfahrungen war ein ganz starkes Motiv.

M: Das war durchaus in beide Richtungen gedacht. Zum einen ist es für denjenigen eine Erweiterung seiner sozialen und politischen Kompetenz, und für die Gruppen in den Betrieben hat es die Funktion, dass Leute bei der Organisierung der Betriebsgruppe in der Anfangsphase ne Rolle spielen können. Aber natürlich kannst du nicht in drei oder sechs Monaten als Durchlauferhitzer zugange kommen, das hat nirgends funktioniert. Da sind immer zwei Sachen passiert: der eine Teil der Studenten ist dann tatsächlich im Betrieb geblieben, hat also seine Biografie geändert, da gibt's ne ganze Reihe. Und der andere Teil ist relativ schnell frustriert da wieder rausgegangen.

Und nun teilt sich die Idee, einerseits selber was kennenzulernen, andererseits Initialzündung zu sein, auf einige gehen in die Betriebe, die anderen wenden sich von der Arbeiterklasse ab. Wie ging es nach der Auflösung der PL/PI für Dich weiter?

M: Ich hab mich entschieden, in den Betrieb zu gehen. Zunächst hab ich kurz bei Daimler gearbeitet, dann bei Osram, da war ich aber immer mehr oder weniger alleine, da waren vielleicht noch einer oder zwei. Und dann kam die Idee, sich bei Krone zu organisieren in einer größeren Gruppe. Zum einen kannst du besser intervenieren, zum anderen stehst du das einfach besser durch, wenn die Gruppe größer ist.

Nach '71 hat sich dann eine Reihe von Betriebsgruppen organisiert, die hatten keine externe politische Organisation mehr, die hatten zwar Kadervorstellungen, aber nicht im Sinne einer Avantgardepartei wie bei der PL/PI. Hier in Berlin bei Krone und in kleineren Betrieben, außerdem gab es noch die Basisgruppe Spandau, die waren auch im Betrieb (z.B. Orenstein & Koppel und BMW) und im Stadtteil; und widerborstig gegen Partei- und Avantgarde-Konzepte! Der Revolutionäre Kampf in Frankfurt bei Opel/Rüsselsheim, die Arbeitersache-Leute bei BMW in München haben um ihren Betrieb herum auch im Stadtteil organisiert, haben in den Jugendzentren gearbeitet, machten einen Kindergarten, so wie wir dann auch bei Krone...

Ich hab im Winter '71 bei Krone angefangen und bin im Dezember '73 rausgeflogen. Als ich dazukam, waren vier, fünf Leute bereits da, die interventionistisch reingegangen sind. Die waren alle gelernte Schlosser oder so was, sind in die Facharbeiterabteilungen gegangen. Das war die Kerngruppe, dann sind von außen noch Leute dazu gekommen, einige aus dem Umfeld der PL/PI, andere kamen von der FH, hatten Ingenieur studiert und sahen die Chance, in der Konzentration auf einen Betrieb gemeinsam politisch was zu erreichen. Bei Krone war die Konzernleitung auch nicht so ne abgefeimte Truppe wie zum Beispiel die Siemens-Personalabteilung, da war es ziemlich einfach reinzusickern. Gleichzeitig ist es aber auch gelungen, Leute im Betrieb kennen zu lernen, die dann dazu gekommen sind. Es war für mich das erste Mal, dass in so einer Gruppe sehr stark auch ausländische KollegInnen engagiert waren (die Zeitungen der Betriebsgruppe waren von Anfang an auf Deutsch, Türkisch und Jugoslawisch) und für damalige Verhältnisse ein relativ hoher Anteil von Frauen, die aus den Montageabteilungen des Betriebs kamen - die vorher bei der PL/PI nicht so stark vertreten waren. Die also die Betriebswirklichkeit in der Gruppe stärker abbildeten, es war nicht eine Gruppe von Facharbeitern, Schlossern, Einrichtern usw.

Woher kam eigentlich der starke Einfluss des Maoismus?

T: Neulich bin ich auf einen alten Text der PL/PI gestoßen. Da fragst du dich, wie es möglich war, dass die antiautoritäre Revolte so schnell autoritäre Züge angenommen hat. Woher der Drang kam, die Vielfalt der Revolte in ein stromlinienförmiges Korsett zu zwängen. Das ist mir wirklich ein Rätsel, wir haben uns freiwillig grausigen Statuten unterworfen! Aber am Maoismus waren wohl zwei Dinge relativ plausibel. Die "Kulturrevolution" kam hier als "Jugendbewegung" an, als Teil des weltweiten Aufbruchs. Wir fanden es toll, dass die Jugend wieder Schwung in ein kommunistisches Land brachte. Das war das hundertprozentige Gegenteil von dem, was wir vor der eigenen Haustür sahen: die Macht alter Männer, bei denen die Jugend gar nichts zu sagen hatte. Und zweitens war der Maoismus viel radikaler als der orthodoxe Marxismus, wir haben ihn erlebt als 'man muss den Marxismus nicht so eng auslegen, sondern ein Stück weit an die soziale Realität anpassen'. Tatsächlich wussten wir null über die wirkliche Situation in China. Für mich haben auch die Merve-Hefte und Rossana Rossandas Interpretationen zu China ne unglaublich große Rolle gespielt. Rossanda kam selbst aus der KPI und orientierte sich in ihrer Kritik an der KP ganz stark an China. Beim Hochschulkampf war ich einer von fünf Redakteuren, da war ein Strang von der ersten bis zur letzten Nummer: gegen den Rekurs der Studentenbewegung auf die 20er Jahre und auf die KPD, also eine "maoistische" Kritik am Leninismus der Studentenbewegung.

M: Eine Zeitlang war ich der Meinung, der Maoismus sei die Weiterentwicklung des Leninismus, ohne den Stalinismus. Den Stalinismus hatte ich als den falschen Weg gesehen und fälschlicherweise geglaubt, der Maoismus sei frei davon. Ich hab den Stalin einfach rausgeblendet.

T: Die Kulturrevolution war ja auch Terror, aber wir haben das nur als Dynamik zur Kenntnis genommen.

Die damalige Begeisterung für die Kulturrevolution lässt sich womöglich nachempfinden, aber warum glaubtet ihr an die autoritären Modelle? Das hat doch Euren eigenen Erfahrungen diametral widersprochen...

M: Bei Krone war das anders. Ich finde unser Betriebsgruppenkonzept nicht autoritär. Wir lebten und fühlten antiautoritär. Ich hatte nicht nur äußerlich einen Vollbart und lange Haare. Wir haben ja nicht nur malocht, wir haben zusammen gefeiert, sind zusammen in Urlaub gefahren. Wir haben uns politisch gefetzt, nächtelang diskutiert, über unsere persönlichen Beziehungen, über unsere internen Hierarchien, was ist richtig, was bringt weiter, was schadet. Immer alle, sehr leidenschaftlich und engagiert und mit 100 Prozent Einsatz.

T: Unsere Wege trennten sich an dem Punkt. Ich war zur selben Zeit in der Gruppe Sieg im Volkskrieg, die ebenfalls aus dem Zerfall der PL/PI hervorgegangen war. Der Begriff Volkskrieg bezog sich auf Lin Piao und sein Konzept der Einkreisung der Metropolen durch die Peripherie. Er bezog sich auf den vietnamesischen Befreiungskampf und die Erfahrung, dass man mit schwachen Kräften einen mächtigen Gegner in Schach halten kann. Analog zu den befreiten Gebieten wollten wir Freiräume erobern, und das war ohne die Anwendung revolutionärer Gewalt undenkbar. Der Bezug auf die Arbeiterklasse hatte nicht funktioniert, wir brauchten einen umfassenderen Begriff vom Subjekt, und dafür bot sich der chinesische Volksbegriff an. Der war wiederum eng an das Konzept des Guerillakriegs gekoppelt. Wir träumten davon, der Funke zu sein, der einen Steppenbrand entzündet, und uns wie ein Fisch im Wasser zu bewegen.

Die Phase von '69 bis '73 ist die einzige, wo man in der BRD ernsthaft von Arbeiterkampf reden kann. Und gerade damals hat Euch das nicht ausgereicht und Ihr habt nach neuen Konzepten gesucht? Sind die Diskussionen über bewaffneten Kampf aus einer Offensive oder aus dem Gefühl des Scheiterns entstanden? War "Sieg im Volkskrieg" die Idee: 'Wir können das schneller', oder: 'Es bricht uns alles weg'?

T: Ich glaube eher aus dem Gefühl des Scheiterns, auch wenn mir das damals sicherlich nicht bewusst war. Es war ein Versuch, dem Zerfall der APO was entgegenzusetzen und gegenüber der integrativen Strategie des 'langen Marschs durch die Institutionen' und den Reformversprechen der sozialliberalen Koalition das Moment der direkten Aktion zu verteidigen bzw. wiederzubeleben. Nachdem die aufklärerischen Konzepte aus meiner Sicht an ihre Grenzen gestoßen waren - die Betriebsgruppen, die Stadtteilläden, die Jugendzentren usw. - rückte nun das aktionistische Konzept wieder in den Vordergrund: der eigene Voluntarismus, die subjektive Radikalität, die beispielhafte Aktion - das sollte mobilisieren.

Aber das ist doch aufklärerisch!?

T: Nein, die Propaganda der Tat zielt in erster Linie auf die Verwundbarkeit der Macht und insofern nur indirekt auf die 'Erziehung der Massen'. 1972 spielt allerdings noch eine zweite Komponente eine Rolle, die in den folgenden Jahren immer mehr an Gewicht gewinnen sollte: da ist nämlich schon die Rede von einer Transformation des Staates, vom Polizeistaat, da entdecken wir faschistische Züge, die sich an den Rändern der Gesellschaft entwickeln. Die Diskussion über revolutionäre Gewalt war auch ein Mittel, sich nicht von der Gewalt des Systems unterkriegen zu lassen. Die RAF hat diesen Punkt konsequent zu Ende gedacht, und dem konnte man sieh nur schwer entziehen. Du konntest ja nicht sagen, lass die RAF mal die Kastanien aus dem Feuer holen, und wir gehen derweilen arbeiten! '72 stand die Revolution auf der Kippe und du hast das Gefühl, 'jetzt müssen wir retten, was noch zu retten ist'. Deshalb die vielen Appelle. Die Straßenverkehrsordnung der RAF ist ein mit analytischen Elementen durchsetzter moralischer Appell. Und diesem Appell konnte ich mich nur schwer entziehen, die existenzielle Bereitschaft, das eigene Leben zur Disposition zu stellen, um die Revolution ein Stück weiter zu bringen, war groß.

M: Andererseits war der "Volks"-Begriff eine klare Abkehr von der Orientierung an der Arbeiterklasse. Und die jeweiligen Gruppen haben auch nur noch untereinander diskutiert, das war keine gemeinsame Debatte mehr.

T: Sieg im Volkskrieg ist eine Episode geblieben, diese Gruppe hat nie etwas Praktisches auf die Beine gestellt. Wir haben uns ein paar Monate lang regelmäßig in einer WG in Berlin getroffen, 10 bis 15 Leute, und dann ist jeder seiner eigenen Wege gegangen. Ich habe noch meinen Abschluss an der PH gemacht und mich aus Berlin verabschiedet. Die Stadt war '72/73 tot, die Luft war irgendwie raus. Das war vielleicht anders, wenn man in die Betriebsszenerie eingebunden war. Aber ansonsten herrschte hier Katerstimmung.

M: Du merkst, in Deutschland schwimmen dir die Felle davon und weltweit hast du den Eindruck, da bewegt sich was. Also musst du selber noch ne Schippe drauflegen. Es zerrinnt dir in den Fingern, also packst du fester zu...

Aber im letzten Interview hat T. ja richtigerweise gesagt 'wir haben uns für den Fokusansatz entschieden zu nem Zeitpunkt, wo er international längst gescheitert war'. In der BRD ist damals irre viel passiert, sie hat sich zwischen '66 und '76 radikal geändert - und Ihr habt gedacht, hier ist tote Hose und weltweit passiere viel mehr...

T: Du darfst nicht vergessen, dass wir manche Entwicklungen erst zu Gesicht bekommen haben, als sie ihren Höhepunkt schon überschritten hatten: Der unsichtbare Aufstand von Costa Gavras kam 1973 ins Kino, da waren die meisten Mitglieder der Tupamaros schon im Knast. Marighelas Minihandbuch des Stadtguerilleros erschien 1971 bei Rowohlt, da war der Autor seit zwei Jahren tot. Aber es gab noch die Montoneros in Argentinien, den MIR in Chile, die nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika und Asien. Am meisten beeindruckten mich aber Aktionen militanter Gruppen in Italien und Frankreich, weil mir die Bedingungen dort am ehesten mit denen in der BRD vergleichbar schienen. Wenn die Roten Brigaden einen Siemens Manager 20 Minuten lang entführen und die Gauche Proletarienne kleine Chefs einsperren konnten, müsste das doch auch hier eine Erfolg versprechende Strategie sein. Ich sah aber nicht, wie z.B. die Betriebsgruppen in Deutschland solche Aktionen hätten organisieren sollen. Dazu war das Repertoire, das wir zu Verfügung hatten, zu begrenzt. Das konnten wir nicht, das kannten wir nicht, das mussten wir erlernen!

zur Kritischen Universität:
http://roter-salon.info/arena/apo/texte/a09loenni.htm

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Hexenschuß - Berufsschulzeitung für Mädchen, Berlin-Spandau, März 1971

Radikslinski überregionale Schülerzeitung der Aktionsgemeinschaft Spandauer Schüler, Berlin-Spandau, Oktober 1968

AKTIV STREIKEN, Berlin, 1969

Kritische Universität Ja , Berlin, Datum unbekannt.

Teach-In zu Septemberstreiks, TU Berlin, 1969

Aufruf zur Maidemo, Sozialistische Betriebsgruppe Tempelhof - NCR, SEL, Daimler, Gillette

Zweisprachige Betriebszeitung der Sozialistischen Betriebsgruppe Tempelhof, Berlin, 1970

Wildcat 50: Betriebsintervention in den 70ern - " Eine revolutionäre Stimmung gab's damals - das ist der Unterschied zu heute." Interview zur Situation bei Krone.

Solidemo für Vietcong - Black Panther

10. Dezember 1970 Teach-In im Audimax der TU-Berlin. Einen Tag später beteiligen sich in Berlin ca. 10.000 Leute an einer Demonstration gegen den Indochinakrieg, für die Black Panther und die Freilassung von Angela Davis. Auch die PL/PI und das IK der Roten Zellen machen mit.

Juni 1971, Nr.1 der Reihe Antiimperialistischer Kampf - Materialien & Diskussion herausgegeben vom Black Panther Solidaritätskomitee. '71 begann die Spaltung der BPP an der Frage: legale Stadtteilarbeit oder bewaffneter Kampf.

Die Neue Straßenverkehrsordnung war eine 1971 von Horst Mahler verfasste Schrift der RAF.

Raute

"Diesmal müssen die im Westen anfangen!"

Gedanken und Versuche eines ostdeutschen Autoarbeiters

Die Autoindustrie saust nach wie vor im Blindflug durch ihren Strukturbruch; es wird immer deutlicher, dass es zu massivem Arbeitsplatzabbau und drastischer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für viele kommen wird. Im letzten Heft hatten wir herausgearbeitet, dass über den Globus hinweg Belegschaften mit den gleichen Krisenursachen und Unternehmerangriffen konfrontiert werden; sie können sich ausrechnen, was auf sie zukommt. Und selbst kleine Belegschaften haben potenziell große Macht, wenn sie in die Produktionsketten eingebunden sind und ihre Produkte nicht von anderen Firmen gefertigt werden können. Diese objektive Chance wird bisher subjektiv nicht ergriffen. Viel eher bekommen wir heulende Arbeiter vorgeführt, die zusammen mit ihren Chefs darum betteln, die alten Firmenstrukturen zu erhalten. Versuche, sich mit selbständigen Aktionen gegen Fabrikschließung, Kündigung und Arbeitshetze zu wehren, bleiben bisher marginal.

Zulieferer sind keine Stammwerker.

Die Zulieferer sind die Hauptbühne in den aktuellen Klassenauseinandersetzungen in der Autoindustrie - und das Hauptproblem der Kapitalisten im verschärften Fusionierungs- und Konzentrationsprozess. Drei Viertel der Wertschöpfung eines Autos entfallen auf die Zulieferer. Sie spürten als erste die Krise, weil sie die Produktionskürzungen der Fahrzeugbauer auffangen mussten und auf den Kosten für Rohstoffe und Entwicklung sitzen blieben. Viele sind nicht mehr in der Lage, die nächste Produktentwicklung zu finanzieren. Weltweit machten 80 Prozent dieses Jahr Verluste. In der BRD droht 100 Zulieferern bis Ende 2009 die Insolvenz, 100.000 Arbeitsplätze in der Branche sind gefährdet (weltweit über eine Million - 15 Prozent).

Nach einer Phase immer größerer Aufspaltungen gibt es seit Jahren einen Konzentrationsprozess bei den Zulieferern. Nur durch Standardisierung der Teile und steigende Chargen war der extreme Kostendruck der Fahrzeugbauer aufzufangen. In der Krise wird diese Strategie noch verschärft, um die Großeinkäufe trotz Absatzeinbrüchen abzusichern. Alle Fahrzeugbauer setzen verstärkt auf die Karte "Plattformbasis". Die Fusion von VW und Porsche besiegelt eine jahrelange Praxis. VW ist einer der größten Konzerne, der optisch unterschiedliche, jedoch fast baugleiche Fahrzeuge unter verschiedensten Namen verkauft. Ford plant in den kommenden zwei Jahren eine Verdoppelung der Fahrzeuge, die auf der gleichen Plattform basieren. Bei einzelnen Komponenten - z.B. Motoren - geht die Kooperation sogar noch viel weiter und über Konzerngrenzen hinweg.

Diese Vereinheitlichung des Fahrzeugs bedeutet, dass weniger Zulieferer nötig sind. Wir stehen also erst am Anfang eines brutalen Selektionsprozesses. Z.B. will Ford die Anzahl seiner 2000 Zulieferer halbieren - obwohl alle mit steigenden Produktionszahlen kalkulieren! Kurzarbeit und Abwrackprämie haben bisher größere Werksschließungen verhindert - wobei das Kurzarbeitergeld bei einem Zulieferer drastisch niedriger als im Stammwerk ausfällt. Wer bei einem kleinen Zulieferer arbeitet, bekommt gewöhnlich keine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes durch den Betrieb und muss sich mit 60 bzw. 67 Prozent zufrieden geben - bei sowieso schon deutlich niedrigeren Löhnen, und bei der Gewissheit, sich im Fall der Insolvenz nicht auf die Kanzlerin verlassen zu können!

Prämien heizen die Konkurrenz an.

Abwrackprämie und Kurzarbeit verschärften die Spaltungslinien nicht nur zwischen den Belegschaften der Zulieferer und Stammwerke, sondern quer durch die BRD. 2500 Euro reichten, um soziale Schichten gegeneinander zu stellen. Hartz IV-Empfängern wird die Prämie angerechnet, dabei härten gerade Leute, die (aufstockend) Hartz IV bekommen, ihre alte Klapperkiste gern gegen die Prämie eingetauscht. Aber so war das nicht gedacht. Viel eher verschrotteten Leute, die es sich leisten konnten, vorzeitig ihre Fahrzeuge. Die im weltweiten Vergleich zweitgrößte Subvention für den Autoabsatz von 5 Milliarden (China 16,5 Milliarden; USA 3 Milliarden) Euro hat in der BRD bis einschließlich August zu 2,6 Millionen Neuanmeldungen geführt. Daran verdienten v.a. einzelne Autohändler; das Geschäft mit Gebrauchtwagen, Ersatzteilen und Reparaturen brach zusammen. 6000 Autohändler stehen vor der Insolvenz, im gesamten KFZ-Gewerbe sind 90.000 Jobs gefährdet. (Dass weitere Branchen wie Möbel und Textil über Umsatzeinbrüche durch die Abwrackprämie Magten, sei hier nur am Rande erwähnt.)

Auch ideologisch funktionierte die Prämie. Neben dem psychologischen Effekt, dass ein Thema wie der Autokauf über Monate hinweg die Gemüter beschäftigt, liegt der Kern der Prämie in der Verschärfung der Standortkonkurrenz. Seit Jahren stellen die Unternehmer Standorte eines Konzerns gegeneinander. Das Werk mit dem 'besseren Angebot' bekommt den Zuschlag. Der Mix aus Krise, Kurzarbeit und Abwrackprämie hat das bis in die Abteilungen und Teams hinein verlängert.

Mit Einführung der Prämie stiegen die Verkaufszahlen bestimmter Modelle, innerhalb einer Woche wurden plötzlich Sonderschichten einberufen, während andere Abteilungen weiterhin Kurzarbeit Null machten. Im Winter kam es uns noch völlig irre vor: die Stammbelegschaft bei VW arbeitet kurz, während auf dem selben Gelände bei ehemals Auto 5000 Sonderschichten gefahren werden. Inzwischen ist diese Praxis flächendeckend durchgesetzt. Der Fiesta geht gut, also werden in Köln Sonderschichten gefahren, andere Ford-Werke stehen fast still. Bei Opel in Eisenach, wo sie den Corsa bauen, passiert das gleiche. Hier werden Sonderschichten kurzfristig angesagt und Kurzarbeitstage abgeblasen. Frei nach dem Motto, "wer unter der Woche zwei Tage zu Hause bleibt, muss damit rechnen, am Wochenende zu arbeiten. Kurzarbeit ist kein Urlaub!"

Was bei Opel und Ford für ein Werk gilt, zieht VW in Wolfsburg und Mosel, wo mehrere Modelle gefertigt werden, bis in die Abteilungen rein durch. Das eine Modell verkauft sich, das andere nicht. Die einen bleiben zuhause, die anderen fahren Sonderschichten. Dass VW das Kurzarbeitergeld auf 100 Prozent aufstockt, heizt die Stimmung unter den Leuten an: "Warum soll ich am Samstag knuffen, wenn andere fürs gleiche Geld Ferien machen?" Genau so ist es gewollt, die Schikanen werden nicht in Frage gestellt, sondern provozieren weitere Spaltungen.

In Ostdeutschland verlaufen die Dinge drastischer.

Ähnlich wie in den USA der "gewerkschaftsfreie Süden" erfüllt nicht nur Osteuropa, sondern auch unmittelbar Ostdeutschland die Funktion, regional die Arbeiterklasse zu spalten. Jahrelang galten die ehemaligen DDR-Autofabriken in Eisenach (Opel), Mosel (VW) und Ludwigsfelde (Daimler) den Unternehmern als Laboratorien für Arbeitsexperimente. Und die hier durchgesetzten Produktivitätssteigerungen wurden unmittelbar zur Erpressung der KollegInnen im Westen benutzt.

Nach der Wende gingen viele "Ossis" Richtung Westen, auf den bundesdeutschen Arbeitsmarkt. Eine Grenze dafür, was man an Arbeit alles in Kauf nimmt, gab es kaum. Ein Kollege in einer Westberliner Fabrik meinte: "Wir haben uns jahrelang gegen die Lohndrückerei gewehrt. Sie stellten uns Leute aus Jugoslawien, aus Vietnam, aus Polen ans Band. Und wir haben immer durchgesetzt, dass alle das Gleiche bekommen. Erst mit den 'Ossis' sind wir gescheitert, sie fanden die Lohndifferenz nicht schlimm. 'Hauptsache Arbeit!' Dass es eine Frage der Kollektivität ist, interessierte sie nicht."

Demgegenüber stehen die Arbeiter, die in der ehemaligen DDR geblieben sind und davon ausgingen, dass sich die Lebensbedingungen 'dem Westen' anpassen werden. Sie realisierten nicht, dass es auch im 'Westen' deutliche regionale Lohnunterschiede gibt - und Lohnunterschiede gerade in den 20 Jahren seit der Wende massiv verschärft wurden (z.B. durch Ausgliederung wie bei Visteon/Ford).

Traumatisierend wirkte bei den Leuten im Osten der abgebrochene IG Metall-Streik für die 35 Stundenwoche im Jahr 2003. Branchenübergreifend legten die ostdeutschen Metallbetriebe die Fabriken im Westen still. Die Leute erinnern sich gut, wie gerade die Autozulieferer die Stammwerke im Westen unter Druck setzten. Vorbei das Bild vom abgeräumten deindustrialisierten Osten. Man ging davon aus, mit dem Westen zu streiken und gemeinsame Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Das Gegenteil passierte. Die Betriebsratsfürsten im Westen schossen gegen den Streik. Die IG Metall Funktionärsposten wurden neu verteilt. Der Streik wurde abgewürgt. Die Gewerkschaft schwenkte auf die Unternehmerlinie ein, dass der Hochlohn in den (westdeutschen) Stammwerken der Autoindustrie nur durch weitere Ausdifferenzierung nach unten gehalten werden kann. - Nach 2003 gab es im Osten keine Aktivität mehr in der Metallindustrie. Die Tage vereinzelter Warnstreiks lassen sich an einer Hand abzählen. Die Gewerkschaft ist (mund)tot.

Verglichen mit den anderen Löhnen in ihrer Region und den Lebenshaltungskosten verdienen die ArbeiterInnen bei Opel, VW und Daimler auch im Osten recht gut. Aber seit dem Abbruch des Streiks betrachten sie die Stammbetriebe im Westen mit einer Mischung aus Hass und Bewunderung. Nach ihrer eigenen Niederlage sehen sie nun die Kollegen im Westen in der Bringschuld: "Diesmal müssen die im Westen anfangen zu streiken, wir springen dann auf, wenn sich was bewegt." Dass es damals im Westen Solidaritätsstreiks gab, ist vergessen.

Den Hass auf das eigene Elend und die eigene Niederlage lenken sie auf die Leute im Westen, die "mit völlig überzogenen Löhnen" "vergessen haben, was Arbeit ist" und wünschen ihnen das gleiche Schicksal, das ihnen widerfahren ist: "eine Lohnkürzung würde die auf den Boden zurückholen. Das, was sie denen abnehmen, sollen sie uns drauf packen".

Andererseits klingt Bewunderung durch, wenn ein Ossi ein paar Monate in einen Westbetrieb ausgeliehen war und zurückkommt. "Die wissen noch, dass Arbeit Scheiße ist, die halten zusammen. Da gibt es keinen Wurm von Meister, der die Leute rumkommandieren kann, da wird gefragt, und was nicht ist, ist eben nicht, basta!" Das nächste Mal wünscht er dann wieder "den weltfremden und überbezahlten Westlern eine Augenwäsche". Die Unternehmen haben erreicht, was sie wollen. Sie brauchen nicht mehr ins Ausland abzuwandern.

Neue - Alte, die blockierte Neuzusammensetzung

Wieso begnügen sich die Leute mit dem Frust auf andere, anstatt auf die Barrikaden zu gehen? Eine große Rolle dabei spielt die Heterogenität der Belegschaften im Osten. Noch immer haben wir Kernbelegschaften aus der DDR. In Eisenach sind von 1700 Opelarbeitern noch 1000 ehemalige Wartburgarbeiter, in Ludwigsfelde ist das Verhältnis ähnlich. Im Gegensatz dazu sind die "Neuen" meist keine zehn Jahre im Betrieb. Während die "Alten" noch wissen, was ein Kollektiv ist, aber noch nie den Arbeitsmarkt erlebten, kennen die "Neuen" den Arbeitsmarkt als freie Wildbahn und sind Individualisten. Beide haben schon "alles" erlebt: einen Regimewechsel, die Wendezeit, Währungsreform, Insolvenzen... und wissen was es heißt, wenn ein Industriegebiet mit 30.000 Arbeitern in ein Landschaftsmuseum verwandelt wird. Aber die "Alten" kennen auch die Kämpfe, die während des Abwickelns möglich sind. Heute sehen sie sich abgesichert und ruhen sich bis zur Rente aus. Die "Neuen", heute um die 40 Jahre alt, haben in der Regel in der Wendezeit die Lehre beendet - und flogen dann raus. Bis heute haben sie ihren Frust über die fehlende Solidarität nicht vergessen: "Die alten Genossen haben schon zugesehen, dass sie ihr Schäfchen ins Trockene bringen". Nicht von ungefähr nennen sie die alten Meister die "roten Bazillen von damals". Zudem wurden bei der Einstellung vorrangig Leute genommen, die in ihrem Leben bereits gescheitert sind, insolvente Ex-Selbstständige, Leute mit hohen Schulden, Arbeiter, die mehrere Betriebsinsolvenzen hinter sich haben... (siehe auch Wildcat 81 - "Arbeit schafft Familie - Familie schafft Arbeit".)

Die Spaltung zwischen "Neuen" und "Alten" lässt sich mit der Zeit überwinden. Das wissen auch die Unternehmer. Deswegen ziehen sie die Spaltungslinien immer tiefer.

In Eisenach z.B. ist der Produktionsprozess ein Mix aus unterschiedlichsten Firmen. Die Zulieferteile werden außerhalb des Werks von einer Logistikfirma gesammelt, sortiert und dann im Minutentakt ans Band geliefert. Den Staplerverkehr im Werk macht eine weitere Firma. Kantine und Putzen sind sowieso ausgelagert, und am Band sind neben den üblichen "Leihkräften" auch ArbeiterInnen von Industrie-Servicefirmen direkt in die Teams integriert. Arbeitgeber, Arbeitsbedingungen, Löhne, Rechte ... alles anders!

In Ludwigsfelde wurden die "Neuen" zunächst über Leiharbeitsverträge eingestellt, die "nach Bewährung" individuell in befristete Verträge umgewandelt wurden. Von 2800 Beschäftigten hatte ein Viertel solche Befristungen - die fast alle zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausliefen. Eigens dafür hebelten Unternehmen und Gewerkschaft das Befristungsgesetz mit einem Ergänzungstarifvertrag aus, der eine Befristung auf 48 Monate möglich macht. Daimler verspricht immer wieder die Übernahme, und die letzten Befristeten machen sich weiterhin Hoffnung auf eine Verlängerung. Wenn die ausbleibt, bekommt das Verschwinden des Einzelnen kaum jemand mit.

Was bleibt stehen, wenn Dämme brechen?

Das jahrzehntelange Propagieren des japanischen Modells im Sinne von kontinuierlichen Verbesserungsprozessen (kaizen) ist da an Grenzen gestoßen, wo die Leute merkten, dass es nicht um "Verbesserung", sondern um dauernde Kostensenkung ging und geht. Das Management hat das Verbesserungswesen oft abgewürgt, weil es zur Artikulierung von Protest benutzt wurde und im Gegenzug einzelne Leute befördert, um (erneut, vertieft) Einblick in den Produktionsprozess zu bekommen. Die Beförderten suchten sich Nischen, wo sie weniger arbeiten mussten. Keine Verschlankung der Hierachieebenen, sondern ein Apparat aus lauter 'Stellvertretern'. In manchen Belegschaften im Osten halten über 40 Prozent irgendeinen Titel.

Trotzdem geben die Managementberatungen dem klapprigen Gaul kaizen weiterhin die Sporen - und fordern "grundsätzliche Säuberungen" zur weiteren Durchsetzung. Was paradox erscheint, macht durchaus Sinn. Das japanische Modell war nie ein innovativer Schub für die kapitalistische Produktionsweise. Im Gegenteil wurde damit in Japan eine eigene Autoproduktion durch das Kopieren und Weiterentwickeln europäischer und amerikanischer Fahrzeugmodelle aufgebaut. Es ging nicht um große Sprünge, sondern um die "Optimierung" eines bestehenden Produkts. Und genau das ist heute das vorherrschende Prinzip in der Autoindustrie rund um den Globus: "Kosten senken, Produktion optimieren, Durchlaufgeschwindigkeit erhöhen".

Der nächste Optimierungsschritt in diesem Mix aus 'schneller arbeiten' und 'weniger verdienen' ist der Übergang von einer Fertigungslinie pro Modell auf Fließbänder, an denen mehrere Modelle durchlaufen. Das ehemalige Auto 5000-Werk in Wolfsburg machte den Anfang. Die Kurzarbeit dient dazu, flächendeckend entsprechende Schritte einzuleiten. Dabei werden große Teile der alten Belegschaften "freigesetzt". Wie das geht, lässt sich an einem Werk zeigen, das wegen Absatzeinbrüchen von Dreischicht- auf Zweischichtbetrieb umgestellt wurde.

Dazu wurden die Leute neu verteilt, gewachsene Teamstrukturen auseinander gerissen. Durch die ständig wechselnde Besetzung (auch unter der Woche werden individuelle Kurzarbeitspläne geändert und Leute kurzfristig an andere Arbeitsplätze versetzt!) müssen sich die Leute ständig neu kennenlernen. Das schafft Verwirrung, während die Flexibilität noch weiter getrieben und die Arbeit massiv verdichtet wird (Geschwindigkeitserhöhung und neue Arbeitsschritte). Das ganze wird flankiert mit einem weiteren Instrument aus der "japanischen Folterkiste": management by stress, die Abteilungen werden nur noch mit einer Mindestbesetzung belegt, Springer für kurzfristige Krankheitsfälle oder Produktionsstörungen fallen weg. Das erhöht den moralischen Druck, falls jemand verschläft oder krank wird.

Die extreme Flexibilisierung reißt auch Fahrgemeinschaften auseinander, bzw. verkompliziert Verabredungen dermaßen, dass man dann oft doch alleine fahren muss.

Das alles ist nur zu ertragen durch die freien Kurzarbeitstage. Wenn mal zwei Wochen hintereinander gearbeitet wird, schreien sich die Leute beim Arbeiten vor Stress gegenseitig an. Heute kann sich niemand mehr vorstellen, wie er vor einem Jahr die Sechstagewochen und die Nachtschicht überstanden hat. Und die momentane Arbeitsgeschwindigkeit in einem normalen Schichtbetrieb durchzuhalten, ist absolut unvorstellbar! Aber wenn die Anlage endgültig läuft, wird der Überhang an Leuten nicht mehr in die Erholung Kurzarbeit, sondern raus fliegen.

Die Angriff der Unternehmer zielt über die direkte Produktion hinaus auch auf die Entwicklungsabteilungen. Die Managementliteratur redet von Kaikaku und meint damit eine Radikalkur: Weniger Qualitätsprüfungen, Auflösung von ungeklärten Rollenverteilungen, stärkere "Haftung" für die eigene Arbeit, Ausdünnen der leitenden Ebenen durch Bestimmen von Verantwortlichen über den ganzen Produktionsprozess. Ohne geeignete Software steht das zwar noch in den Sternen. Wenn aber die Einführung beginnt, haben gerade Meister und Abteilungsleiter nichts zu lachen. Auf Unterstützung aus der Belegschaft können sie definitiv nicht zählen, der Druck auf die Leute würde sich gegen sie wenden.

Was sich in der Sackgasse staut, lässt sich nicht mehr auflösen.

Die vielen Spaltungslinien und der gleichzeitige Angriff auf mehreren Ebenen verdrängen die Gewerkschaft aus ihrer Rolle im Betrieb, wo es immer schwerer wird, verallgemeinerbare Forderungen aufzustellen und gemeinsame Rechte durchzusetzen. Die Kapitalbeteiligung der Gewerkschaften am Unternehmen - die IG Metall will sich bei Schaeffler, VW und Opel einkaufen - verstärkt diesen Trend und entfernt die Gewerkschaft noch weitervon den "Neuen", für die ein Betriebsrat jemand ist, der sich auf seinem Posten ausruht und mit den Konflikten am Band noch nie etwas zu tun hatte. Die Gewerkschaft vertritt gewissermaßen nur noch den "überalterten" Teil der Belegschaft mit seiner Hoffnung auf Frührente.

Kontrolle durch die Gewerkschaft
Die Gewerkschaften verwenden viel Energie darauf, die vielen von Schließung bedrohten Betriebe voneinander zu isolieren und einzeln abzuwickeln. Sie gehen dabei flexibel vor und haben ihre Drohung revidiert, "nie wieder Belegschaften zum Kampf für einen Sozialplan herauszurufen". In diesem Jahr gab es einige, bei denen sich Gewerkschaften an die Spitze gesetzt und eine langgezogene Frühverrentung ausgehandelt haben, aber sie stehen auf dünnem Eis.

Trotzdem halten sich in letzter Zeit einzelne aktive ArbeiterInnen verstärkt an die Gewerkschaft und den Betriebsrat, weil sie keine Chance sehen, ohne deren Beteiligung was zu reißen. Das ist Ausdruck der allgemeinen Verunsicherung: wochenlang allein zuhause, der Job nicht mehr sicher, das Geld stimmt nicht mehr... Die Leute glaubten nicht an die Sicherheit im Kapitalismus, aber sie lebten so, als gäbe es sie. Dass ihnen nun sowohl das "Einrichten in der Arbeit" wie ihre Planungen mit dem Einkommen um die Ohren fliegen, macht Raum auf für eine gemeinsame und radikale Kritik.

Wo soll die Macht herkommen?
Die AutoarbeiterInnen wissen, dass sie Fahrzeuge oder Fahrzeugteile herstellen, die niemand benötigt. Aber diese durchaus sympathische Wahrnehmung, "das ist doch sowieso alles Schrott", kippt leicht in die Einschätzung "wir haben eh nichts in der Hand!" Viele der "Neuen" haben sich immer nur als rumgeschubstes Anhängsel des Produktionsprozesses gesehen und noch nie die kollektive Macht erlebt, wenn sie den Hebel umlegen, den sie täglich in der Hand halten, und streiken.

Aber selbst wenn dicht gemacht werden soll, gibt es verschiedenste Druckmittel:

- kaum ein Betrieb lässt sich kurzfristig aus der Produktionskette isolieren. Das Produkt des Betriebes und/oder das know how der Belegschaft werden in der Regel noch eine Zeitlang gebraucht. Das ist die Zeit, in der man zuschlagen muss, und die man nicht durch Verhandlungen vergeuden darf.

- Druck lässt sich auch ausüben, indem der Abtransport von (wertvollen) Maschinen verhindert wird. Sogar alte Maschinen können ein Pfand sein: Aus politischen Gründen ist niemand interessiert, den Arbeitern auch noch so alte Maschinen zu überlassen.

- Auch im Lager stehen oft Werte. Von wegen - just in time und wir produzieren nur auf Bestellung: meist mussten die Leute Sonderschichten fahren und das Lager füllen, bevor die Schließung angekündigt wird!

- Aber selbst wenn der Unternehmer nicht mehr vom Produkt abhängt, die Maschinen weg und die Läger geräumt sind, ist das Werksgelände noch ein Druckmittel, das sehr hohe Kosten für Energie, Miete, usw. verursacht.

Um diese Druckmittel einsetzen zu können - und dann vielleicht sogar noch ganz andere Möglichkeiten zu entdecken! - müssen die ArbeiterInnen vor allem die Hoffnungen auf einen neuen "Investor" überwinden. Bei der Schweizer Güterbahn SBB Cargo in Bellinzona haben sie das eindrucksvoll demonstriert. Es macht keinen Sinn, über Abbaupläne zu diskutieren. Es macht keinen Sinn, neue "Investoren" anzulocken, die nur noch beschissenere Jobs schaffen. Sowohl die Subventionen aus der Gemeindekasse wie das Gelände selber können auf jeden Fall besser benutzt werden! Wenn dabei die Leute aus dem Kiez oder der Region mitmachen, könnten sie viele Spaltungen überwinden.

Die Situation ist heute eine andere.
Beim "Marsch der Solidarität" fuhren die BSH-Arbeiter weite Strecken mit dem Bus, um betroffene Werke aufzusuchen. Heute könnte man in vielen Industriegebieten zu Fuß tausende von Leuten erreichen, die sich ebenfalls mit Kurzarbeit und drohender Kündigung auseinandersetzen müssen.

Der Kampf der BSH-Arbeiterinnen wurde von der Gewerkschaft aber nicht nur repressiv abgewürgt, sondern auch von innen heraus gespalten, durch Abfindungsregelungen, die für einen Teil der Belegschaft vorteilhaft waren. - Wie ist das heute, wenn ggf. keine Abfindungen mehr angeboten werden?

Eine scharfe Grenze für die Verallgemeinerung von Kämpfen stellt im Moment die Konkurrenz dar: Ost gegen West, Betrieb gegen Betrieb. Atmen VW-ArbeiterInnen auf, wenn Opel die Produktion einstellt? Oder beginnen sie zu kapieren, dass sie die kapitalistische Konkurrenz nicht ausnutzen können, sondern von ihr zerdrückt werden?

In den letzten Wochen und Monaten sind vermeintliche Sicherheiten atemberaubend schnell zerrissen. Es ist an der Zeit, ins Freie zu treten!

Die Autoindustrie ein Pulverfass - bis gestern war die Lunte nass.

Randnotizen

Siehe euch die Artikel zur Autoindustrie in Wildcat 83: "Ende des Autos" Wildcat 84: "Auto: Ende einer Schlüsselindustrie"

Kurzarbeit in der BRD
Kurzarbeit ist ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, das in der BRD in Krisenzeiten Auftragseinbrüche in der Industrie abfangen soll, um Entlassungen zu vermeiden und einem späteren Fachkräftemangel vorzubeugen. Bis Ende 2008 lag die Bezugshöchstdauer bei einem Jahr insgesamt. (Kurzarbeit wird häufig unterbrochen oder wechselt von einem Tag die Woche auf zwei Tage die Woche usw.)

Die mit den Gewerkschaften ausgehandelte tarifvertragliche Einführung von Arbeitszeitkonten ersetzte seit den 1990er Jahren das bis dahin übliche Wechselbad zwischen Kurzarbeit und Überstunden. In der BRD gab es 1975 jahresdurchschnittlich 773.000 Kurzarbeitende (3,8 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten), 1983 waren es 675.000. Haupteinsatzgebiet war die Montanindustrie. Hier diente Kurzarbeit dazu, die Abwicklung der Branche abzufedern. 1988 wurde speziell dafür das "Strukturkurzarbeitergeld" eingeführt - wir erinnern uns noch an die langen Streiks der Stahlarbeiter in Rheinhausen 1988!

Kurzarbeit zur Abwicklung der DDR
Nach dem Anschluss der DDR bekam das "Strukturkurzarbeitergeld" die Funktion, die alte Wirtschaftsstruktur im Osten abzuwickeln. 1991 gab es rund 1,6 Millionen Kurzarbeitende, für die feststand, dass sie nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurückkehren werden. Diese Warteschleife vor Eintritt in die Arbeitslosigkeit war eine sozialpolitische Maßnahme, keine Subventionierung für Betriebe.

1994 wurden die Regelungen für die Gewährung von Kurzarbeitergeld verschärft: die Betriebe mussten nun auch den Arbeitnehmeranteil der Sozialversicherungsbeiträge auf 80 Prozent des Entgeltausfalls und die Entlohnung für arbeitsfreie Zeiten wie Urlaub und Feiertage selbst tragen. Damit wurden die sogenannten Remanenzkosten erheblich erhöht, um den Einsatz anderer Maßnahmen wie Arbeitszeitkonten zu pushen.

"Transferkurzarbeitergeld"
2004 wurde das "Strukturkurzarbeitergeld", das im Westen kaum genutzt wurde, in "Transferkurzarbeitergeld" umgewandelt. Es dient ausdrücklich nicht der Beschäftigungssicherung, sondern der Organisation des Übergangs in eine neue Beschäftigung nach einem endgültigen Arbeitsausfall. Es kommt nach Kämpfen gegen Betriebsschließungen zum Einsatz und verlängert gewöhnlich einfach die Zeit der Arbeitslosigkeit.

"Konjunkturelle Kurzarbeit"
kann nach § 169 SGB III ein Unternehmen anmelden, wenn es einen voraussichtlich vorübergehenden Arbeitsausfall gibt, der auf einer wirtschaftlichen Flaute oder einem unabwendbaren Ereignis beruht und unvermeidbar ist. Der Entgeltausfall musste bisher mindestens zehn Prozent für ein Drittel der Beschäftigten des Betriebes (bzw. Betriebsteils/Standorts) betragen.

Als Ende 2008 die Betriebe massenhaft Kurzarbeit beantragten, weil die Arbeitszeitkonten in den von der Krise betroffenen Betrieben ausgereizt waren, wurden im Zuge der "Konjunkturpakete" die Regelungen für die Kurzarbeit mehrmals erleichtert.

Seit 1. Februar 2009 kann Kurzarbeitergeld (KUG) auch beantragt werden, wenn weniger als ein Drittel der Beschäftigten betroffen sind. Den Unternehmen wurden 50 Prozent der Sozialversicherungsbeiträge erstattet, 100 Prozent, wenn die ArbeiterInnen in mindestens der Hälfte der Ausfallzeit eine Qualifizierung erhielten, die sie auch in anderen Betrieben anwenden können.

LeiharbeiterInnen erhielten bislang kein KUG; jetzt kann auch eine Verleihfirma KUG beantragen.

Die Bezugsdauer wurde (befristet bis Ende 2010) auf 18 Monate verlängert, seit Mai auf 24 Monate.

Seit 1. Juli werden nach sechs Monaten Kurzarbeit die Sozialversicherungsbeiträge ohne Vorbedingungen voll von der Arbeitsagentur bezahlt, damit ist der Anreiz für Qualifizierungsmaßnahmen zurückgenommen worden, von denen eh kaum Gebrauch gemacht wurde. KUG kann auch beantragt werden, wenn die Arbeitszeitkonten noch keine Minusstunden aufweisen.

Was bedeutet KUG für die ArbeiterInnen?
Die ArbeiterInnen erhalten von der Agentur für Arbeit eine Lohnersatzleistung in Höhe des Arbeitslosengeldes (60 bzw. 67 Prozent vom Netto). In vielen Betrieben gab es tarifvertragliche Regelungen zur Aufstockung dieses Betrags durch das Unternehmen auf 80-100 Prozent des Nettolohns. Diese Vereinbarungen werden zur Zeit reihenweise zurückgenommen.

Auf die Berechnung von Ansprüchen wie Elterngeld, Arbeitslosengeld, Rente wirkt sich der Bezug von KUG leistungsmindernd aus.

Während der Kurzarbeit müssen sich die ArbeiterInnen für den Arbeitseinsatz bereit halten, über den sie kurzfristig informiert werden können. Nach sechs Monaten Kurzarbeit kann die Agentur für Arbeit KUG-Bezieher auch anderweitig vermitteln, die Nichtbefolgung führt zu einer Sperre.

Raute

Was bisher geschah

WHAT'S THE STORY MORNING GLORY

Warnstreik an den Amper Kliniken Dachau

Die aktuelle Krise wird in den Metropolen als "Krise der Industrie" dargestellt, und (Gesundheits-)Dienstleistungen als "Motor der Zukunft" propagiert. Während die Privatisierung bei Bahn und Energieversorgung bereits zurückgeschraubt wird, kommt sie bei den Krankenhäusern erst voll an. Es gibt eine extreme Aufspaltung zwischen Großkliniken und kleineren, privatisierten Kliniken - und einen gemeinsamen Kern: den enormen Druck auf die Arbeitsbedingungen, zu wenig Personal, interne Auslagerungen und im Durchschnitt keine Lohnerhöhungen. In den privatisierten Kliniken (wie in Dachau) schlagen diese Entwicklungen schneller durch als in den Großkliniken. In der Wildcat 80 haben die zwei KollegInnen zum erstenmal aus den Amperkliniken berichtet. Nun die Fortsetzung.

Das Jahr 2008 war vor allem dadurch geprägt, dass wir uns als Gruppe von der FAU gelöst und unsere unabhängigen Strukturen weiter verfeinert haben. Der Stammtisch der Klinik-Beschäftigten hat sich personell und organisatorisch gefestigt. 2009 kamen dann vermehrt Kontakte zum Service-Personal [KollegInnen in der Küche und bei den Reinigungsunternehmen] zustande. Deren Arbeitsbedingungen übertreffen an Druck von oben, Belastung und Unterbezahlung die der Pflege bei weitem. Mittels Betriebszeitung und kleinen Flugis wurde auch für alle KollegInnen wahrnehmbar ins Geschehen eingegriffen. Obwohl auch Service KollegInnen immer wieder an den Treffen teilnahmen, konnten unsere gemeinsamen Überlegungen bisher nicht in Aktivität umgesetzt werden.

Im Juli ist auch die ver.di wieder auf die Bildfläche getreten. Grund dafür waren die anstehenden Verhandlungen um einen Haustarifvertrag zwischen ihr und der RHÖN AG für die Kliniken Dachau/Markt Indersdorf sowie Pasing/Perlach. Ver.di hatte den Tarifvertrag im Januar gekündigt, konnte aber mangels Mitgliedschaft (v.a. in Dachau) nicht verhandeln. Auf einer Betriebsvollversammlung rieten sie uns, jede/r müsse individuell mit der Gegenseite verhandeln, oder eben zur ver.di gehen. Prompt hatten sie 140 Mitglieder und gingen mit einer 12 Prozent Lohnforderung in die Verhandlungen. Kein Wort zu den Arbeitsbedingungen. Nach drei ergebnislosen Verhandlungsrunden wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Dachauer Klinikums zum Warnstreik aufgerufen. Und gleich begann die Mauschelei: Ein Mitglied des Betriebsrats informierte den Personalchef. Da der Warnstreik auf einen Montag fiel und die Aufrufe von ver.di am Freitag verteilt wurden, blieb der Gegenseite das ganze Wochenende, um die KollegInnen einzuschüchtern.

Unsere unabhängige Betriebsgruppe fand den reinen Lohnkampf nicht richtig. Mitglieder der Tarifkommission kamen zu unserem Treffen: man wolle doch das Gleiche, ob wir uns nicht an der Aktion beteiligen und einen Redebeitrag auf der Streikkundgebung halten wollten. Trotz aller bestehender Differenzen und Problemen in der Vergangenheit beschlossen wir, uns zu beteiligen. Wir wollten dort mobilisieren, wo niemand 'organisiert' ist (sprich: bei ver.di) - auf den Stationen. Hier verteilten wir ein "Streikrecht für Unorganisierte", und es kam sofort zu Einschüchterungen. Ärztliche und pflegerische Leitung drohten mit "persönlichen Konsequenzen" bei Streikbeteiligung. Das hatte leider Wirkung, nur zwei Stockwerke wurden bestreikt. Und auch dort wurde gearbeitet als wäre nix: zwar mit weniger Personal, aber das wurde mit Mehrarbeit kompensiert, und nicht etwa eine "Notversorgung" umgesetzt.

Am Warnstreik von 6 bis 16.30 Uhr und an einer Versammlung beteiligten sich 130 KollegInnen. Von den 140 ver.di Mitgliedern beteiligte sich nicht mal die Hälfte, die Mobilisierung unserer Unabhängigen Betriebsgruppe schätzen wir auf ein Drittel der Streikenden. Unser Redebeitrag zur allgemeinen Arbeitssituation, zur Spaltung der KollegInnen durch die Beschäftigung in ausgelagerten GmbHs, wurde besser aufgenommen als der von ver.di. Übrigens stand die gesamte Geschäftsführung ab 5.30 Uhr am Haupteingang, um Hausverbote an Streikende auszusprechen und immer wieder an diesen "vorbei zu patrouillieren".

Was bleibt?

Inhaltlich war die ver.di-Show vollkommen null. Eine Kundgebung und Getriller. Die Klinikleitung hat KollegInnen der Ambulanz und der Intensivstation, die während des Streiks Dienst geschoben haben, eine Sonderzahlung für "außerordentlichen Leistungen für den Betrieb" in Höhe von 100 Euro angekündigt. Die ver.di lässt augenblicklich jeden Kontakt, wie zu erwarten, missen.

Beim nächsten Mal wissen wir, wie das geht! Beim nächsten Mal machen wir das besser! Wir werden inhaltlich eingreifen und v.a. zwei Dinge anpacken: Gegen die Einschüchterungen vorgehen und einen "Notdienstplan" vorbereiten.

Nächstes Mal wird's unausstehlich!!

Zwei Militante aus dem Betrieb

weitere Infos: www.ungesundleben.org/bgak

Raute

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Eigendruck im Selbstverlag, V.i.S.d.P.: P. Müller

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Quelle:
Wildcat 85 - Herbst 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2009