Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

WILDCAT/017: Ausgabe 84 - Sommer 2009


Wildcat 84 - Sommer 2009



Inhalt:
Kurzer Abriß der Nationalökonomie
Editorial
Update Krise
Chimerica
Wiederkehr der Realität
Des Kapitalismus neue Kleider
Ein post-fordistischer Streik
Großbritannien: Staatliche Kontrolle und proletarische Reproduktion
"Bossnapping" und andere Vorkommnisse in Frankreich
"Unsere Konzepte waren nicht mehr adäquat..."
Gespräch mit Ex-Militanten der RZ
Was bisher geschah

Raute

Kurzer Abriß der Nationalökonomie

Kurt Tucholsky (Die Weltbühne, September 1931)

Nationalökonomie ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben. Das hat mehrere Gründe, die feinsten sind die wissenschaftlichen Gründe, doch können solche durch eine Notverordnung aufgehoben werden.

Über die ältere Nationalökonomie kann man ja nur lachen und dürfen wir selbe daher mit Stillschweigen übergehn. Sie regierte von 715 vor Christo bis zum Jahre nach Marx. Seitdem ist die Frage völlig gelöst: die Leute haben zwar immer noch kein Geld, wissen aber wenigstens, warum.

Die Grundlage aller Nationalökonomie ist das sog. 'Geld'.

Geld ist weder ein Zahlungsmittel noch ein Tauschmittel, auch ist es keine Fiktion, vor allem aber ist es kein Geld. Für Geld kann man Waren kaufen, weil es Geld ist, und es ist Geld, weil man dafür Waren kaufen kann. Doch ist diese Theorie inzwischen fallen gelassen worden. Woher das Geld kommt, ist unbekannt. Es ist eben da bzw. nicht da - meist nicht da.

[...]

Der Wohlstand eines Landes beruht auf seiner aktiven und passiven Handelsbilanz, auf seinen innern und äußern Anleihen sowie auf dem Unterschied zwischen dem Giro des Wechselagios und dem Zinsfuß der Lombardkredite; bei Regenwetter ist das umgekehrt. Jeden Morgen wird in den Staatsbanken der sog. 'Diskont' ausgewürfelt; es ist den Deutschen neulich gelungen, mit drei Würfeln 20 zu trudeln.

Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten. Wenn die Ware den Unternehmer durch Verkauf verlassen hat, so ist sie nichts mehr wert, sondern ein Pofel, dafür hat aber der Unternehmer das Geld, welches Mehrwert genannt wird, obgleich es immer weniger wert ist. Wenn ein Unternehmer sich langweilt, dann ruft er die andern und dann bilden sie einen Trust, das heißt, sie verpflichten sich, keinesfalls mehr zu produzieren, als sie produzieren können sowie ihre Waren nicht unter Selbstkostenverdienst abzugeben. Daß der Arbeiter für seine Arbeit auch einen Lohn haben muß, ist eine Theorie, die heute allgemein fallen gelassen worden ist.

Eine wichtige Rolle im Handel spielt der Export, Export ist, wenn die andern kaufen sollen, was wir nicht kaufen können; auch ist es unpatriotisch, fremde Waren zu kaufen, daher muß das Ausland einheimische, also deutsche Waren konsumieren, weil wir sonst nicht konkurrenzfähig sind. Wenn der Export andersrum geht, heißt er Import, welches im Plural eine Zigarre ist. Weil billiger Weizen ungesund und lange nicht so bekömmlich ist wie teurer Roggen, haben wir den Schutzzoll, der den Zoll schützt sowie auch die deutsche Landwirtschaft. Die deutsche Landwirtschaft wohnt seit fünfundzwanzig Jahren am Rande des Abgrunds und fühlt sich dort ziemlich wohl. Sie ist verschuldet, weil die Schwerindustrie ihr nichts übrig läßt, und die Schwerindustrie ist nicht auf der Höhe, weil die Landwirtschaft ihr zu viel fortnimmt. Dieses nennt man den Ausgleich der Interessen. Von beiden Institutionen werden hohe Steuern gefordert, und muß der Konsument sie auch bezahlen.

Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der andre werde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine sog. 'Stützungsaktion', bei der alle, bis auf den Staat, gut verdienen. Solche Pleite erkennt man daran, daß die Bevölkerung aufgefordert wird, Vertrauen zu haben. Weiter hat sie ja dann auch meist nichts mehr.

Wenn die Unternehmer alles Geld im Ausland untergebracht haben, nennt man dieses den Ernst der Lage. Geordnete Staatswesen werden mit einer solchen Lage leicht fertig; das ist bei ihnen nicht so wie in den kleinen Raubstaaten, wo Scharen von Briganten die notleidende Bevölkerung aussaugen. Auch die Aktiengesellschaften sind ein wichtiger Bestandteil der Nationalökonomie. Der Aktionär hat zweierlei wichtige Rechte: er ist der, wo das Geld gibt, und er darf bei der Generalversammlung in die Opposition gehn und etwas zu Protokoll geben, woraus sich der Vorstand einen sog. Sonnabend macht. Die Aktiengesellschaften sind für das Wirtschaftsleben unerläßlich: stellen sie doch die Vorzugsaktien und die Aufsichtsratsstellen her. Denn jede Aktiengesellschaft hat einen Aufsichtsrat, der rät, was er eigentlich beaufsichtigen soll. Die Aktiengesellschaft haftet dem Aufsichtsrat für pünktliche Zahlung der Tantiemen. Diejenigen Ausreden, in denen gesagt ist, warum die A.-G. keine Steuern bezahlen kann, werden in einer sogenannten 'Bilanz' zusammengestellt.

Die Wirtschaft wäre keine Wirtschaft, wenn wir die Börse nicht hätten, [...] Schreien die Leute auf der Börse außergewöhnlich viel, so nennt man das: die Börse ist fest. In diesem Fall kommt - am nächsten Tage - das Publikum gelaufen und engagiert sich, nachdem bereits das Beste wegverdient ist. Ist die Börse schwach, so ist das Publikum allemal dabei. Dieses nennt man Dienst am Kunden. Die Börse erfüllt eine wirtschaftliche Funktion: ohne sie verbreiteten sich neue Witze wesentlich langsamer.

In der Wirtschaft gibt es auch noch kleinere Angestellte und Arbeiter, doch sind solche von der neuen Theorie längst fallen gelassen worden.

Zusammenfassend kann gesagt werden: die Nationalökonomie ist die Metaphysik des Pokerspielers.

Ich hoffe, Ihnen mit diesen Angaben gedient zu haben, und füge noch hinzu, daß sie so gegeben sind wie alle Waren, Verträge, Zahlungen, Wechselunterschriften und sämtliche andern Handelsverpflichtungen -: also ohne jedes Obligo.

Raute

Wie die Welle auf den Boden kommt

Deutschland, Anfang Juni 2009. Daimler-Manager sind gehalten, nicht zu häufig in die Werke zu gehen, um "eine ungute Stimmung zu vermeiden". Die Polizei beobachtet den Verlauf der Wirtschaftskrise. Noch gibt es keinen Anstieg der Gewalt, sie bereitet sich aber vor. Noch gibt es keine Massenentlassungen. Die Behörden bereiten sich aber vor. Es ist eine seltsame Zeit, eine Zwischenzeit, in der alles auf dem Spiel steht.

Bei Erscheinen der Wildcat 83 hatte sich gerade der Wirtschaftsminister davon gemacht. Zu Guttenberg muss wohl durchhalten bis zu den Wahlen, sonst hätte er sich letzte Woche vom Acker gemacht. Die meisten seiner Kollegen haben die letzten drei Monate Parolen ausgegeben wie "Hoffnungsschimmer", "Licht am Ende des Tunnels" und "Bodenbildung". Sehr schön brachte G. Menuet von der Bank of America die Doppelbödigkeit dieser Argumente zum Ausdruck; er sagte der Nachrichtenagentur Reuters: "Ich glaube, dass wir im ersten Quartal den Boden erreicht haben. Wir werden im zweiten Quartal einen weiteren Rückgang haben, aber nicht so negativ wie im ersten." Auch als in der letzten Krise im Herbst 2000 von "Bodenbildung" gesprochen wurde, kam das Schlimmste erst noch. Denn die Welle ist die Form der Krisenbewältigung, die dazu führt, dass die gewöhnlichen Menschen für die Krise bezahlen - nicht nur am Aktienmarkt! Vor allem aber ist sie die Form, wie die Krise politisch gemeistert wird, weil jedes Mal behauptet wird, nun sei es vorbei.

In den letzten beiden Heften hatten wir den Schwerpunkt auf die weltweite Proletarisierung und Berichte zu den Auswirkungen der globalen Krise gelegt. Das wollen wir im nächsten Heft wieder tun (Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Kämpfe, Perspektiven). Diesmal liegt das Schwergewicht auf den strategischen Zügen der kapitalistischen Krise ("spekulatives Kapital", "internationale Zahlungsungleichgewichte", drohendes Platzen der "Mutter aller Blasen").

Paolo Giussani hat ein vehementes Plädoyer gegen alle (links-)keynesianischen Illusionen beigesteuert. Ganz ähnlich wie Marx sieht er in der Aktiengesellschaft den Grund für die Ausweitung der Spekulation. "Hinter der Ausweitung des spekulativen Kapitals (steht) nicht das Finanz- und Kreditkapital, sondern die Funktionsweise des produktiven Kapitals selbst." Aber angesichts des säkularen Verfalls der Profitrate liefert "die Zirkulation des spekulativen Kapitals" die letzten Krümel an Wachstum. Sie zu beschneiden, würde in eine langandauernde Stagnation (bei gleichzeitig hochschießender Inflation aufgrund der extremen Staatsverschuldung) führen und "eher früher als später an einen Scheideweg": entweder kommt es zu "einem brutalen dejà vu genau der Entwicklung der späten 70er und 80er Jahre, die zur heutigen Situation geführt hat", oder die ArbeiterInnen erheben sich...

Zwischen 2000 und 2009 hat eine Gruppe von 11 Ländern (allen voran die USA, Spanien und Großbritannien) zusammen rund acht Billionen Dollar mehr ausgegeben als eingenommen. Gleichzeitig hat eine Gruppe von 16 Ländern (allen voran China, Japan und die BRD, plus Ölförderländer) zusammengerechnet den gleichen Betrag weniger ausgegeben als eingenommen. Diese massiven Ungleichgewichte in den internationalen Zahlungsströmen wurden vor Ausbruch der Krise als "Bretton Woods II" schön geredet - und werden von vielen nun als "Erklärung für die Finanzmarktkrise" genommen. Wir gucken genauer auf die Klassenverhältnisse hinter dem symbiotischen Verhältnis zwischen China und den USA. Denn "Chimerica" war für das kapitalistische Weltsystem so zentral, dass manche als Gipfeltreffen zur Rettung des globalen Finanzsystems ein "G2"-Treffen vorschlugen.

Übrigens widerlegen bereits diese Finanzströme die harten Ansagen der Politiker und Unternehmer, "wir" hätten "über unsere Verhältnisse gelebt". Der private Verbrauch in der BRD stagniert seit zehn Jahren. Zahlen der Bundesbank zufolge haben die Privathaushalte von 2000 bis 2008 1471 Milliarden Euro gespart.

Danach kommen ein paar Gedanken zur Frage, warum die radikale Linke in dieser historischen Krise des Kapitalismus so leer dasteht wie ein geräumtes Bankgebäude. Könnte es sein, dass ein Großteil linker Theorieproduktion der letzten drei Jahrzehnte die Seifenblasen der Kreditökonomie für Realität gehalten hat? Und was passiert nun nach dem Platzen der Kredit- und Theorieblasen? Postmoderne Bodenbildung.

Der "Neoliberalismus" griff alle egalitären Errungenschaften der Klassenkämpfe Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts frontal an, weil er in ihnen zurecht die Ursache der Krise sah. Auch hier verliefen Ideologieproduktion und Finanzmärkte parallel. Jedes kollektive Subjekt ist unter Beschuss geraten und wurde je nach Anlass als korporativ oder gar als völkisch denunziert, der Kollektivgedanke selber wurde in die totalitäre Ecke gestellt. Die "neoliberale Wirtschaftspolitik" hat die allgemeinen Reproduktion(skosten) "finanzialisiert", das war der gewaltigste Angriff auf kollektive Zusammenhänge. Viele Leute wurden durch Zinsen unter der Inflationsrate und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen gezwungenermaßen zu "Akteuren an den Finanzmärkten". Einerseits, um ihren Lebensstandard bei sinkenden Reallöhnen durch Schuldenmachen einigermaßen aufrechtzuerhalten. Andererseits weil Kredite für den Kauf der Eigentumswohnung den sozialen Wohnungsbau und die unbezahlbaren Mieten ersetzten, und Riesterrente die gekürzte gesetzliche Rente; weil Studienkredite aufgenommen wurden, um die Studiengebühren bezahlen zu können; selbst der Optiker dreht dir gleich einen Kreditvertrag über zwei Jahre an, wenn du eine Brille brauchst - früher hat die Krankenkasse einen Teil der Kosten bezahlt.

Die Forderungen der Banken, Rentenversicherungen, Krankenkassen usw. uns gegenüber dienten ihnen als Basiswert für ihre Spekulationen an den Finanzmärkten - während wir uns dabei immer weiter verschulden. Manche halten diese "finanzielle Enteignung" für die zentrale Finanzinnovation des "Neoliberalismus". Und Leute, die Kredite am Laufen haben, sind meistens nicht die ersten, die streiken. Aber damit wurde das Finanzwesen letztlich abhängig vom Verhalten der Unterklassen - Kriminalität, Zurückzahl- und Konsumverhalten, Krankheit, (Früh-)Rente... Die Aufrüstung des Kontrollstaats, Null-Toleranz-Konzepte bei der Polizei usw. stehen in direktem Zusammenhang damit. Das Ausbrechen der subprime-Krise in den USA zeigt, dass das alles nichts mehr hilft, wenn die Leute einfach ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen können.

Eine Genossin aus England schreibt über aktuelle Verschärfungen bei der Kontrolle der gesamten Reproduktion der Unterschichten, vom Ernährungsverhalten über die Schwangerschaft bis zur Erziehung der Kinder. Vieles von der Diskussion über den "aktivierenden Sozialstaat" kommt aus England. Sarrazin (jetzt Bundesbankvorstand, vorher SPD- Finanzsenator in Berlin) erklärte Mitte Mai im Stern, der Sozialstaat müsse so umgebaut werden, "dass man nicht durch Kinder seinen Lebensstandard verbessern kann, was heute der Fall ist". Anfang 2008 hatte er Hartz IV-EmpfängerInnen Ernährungstipps gegeben, die darauf raus liefen, einfach weniger Kalorien zu essen, als man täglich braucht. "Die RAF müsste wieder kommen!" sagt der gemeine Hartz IV-Empfänger dann gelegentlich, wenn er solche Aussagen in seinem Dolby-Surround-Fernseher sieht, vor dem er den ganzen Tag sitzt und schlechtes Fett und Nikotin in sich rein stopft.

Wildcat hat sich seit den 80er Jahren immer mal wieder mit dem bewaffneten Kampf in der BRD beschäftigt.

Die militante Geschichte Frankfurts. in Wildcat 38, Frühling 1986 und Wildcat 40, November 1986; "Arbeitermacht und bewaffneter Kampf" in Wildcat 56, August 1991; zuletzt "Sechs Thesen, vier Mythen, zwei Wege, ein Ziel?" in Wildcat 59, Juni 1992

Das blieb fruchtlos, weil in der BRD - im Gegensatz etwa zu Frankreich oder Italien, wo solche Diskussionen in den 80er und 90er Jahren in aller Härte liefen - offensichtlich niemand die angesprochenen Fragen öffentlich diskutieren wollte. Stattdessen wurden alle heißen Themen verdrängt, so dass Verräter und Staat in der öffentlichen Debatte oft mehrere Schritte voraus waren. Im Zusammenhang mit einem der letzten Prozesse gegen den Zusammenhang der Revolutionären Zellen sind uns nun aber GenossInnen über den Weg gelaufen, die Lust auf Diskussion und Aufarbeitung haben. Einer sagte noch: "Einen Vorteil hat es, wenn man wegen Revolutionäre Zellen verurteilt ist. Man kann jetzt offen drüber reden!" Das haben wir versucht. Das Interview soll als Angebot verstanden werden: hier sind Leute, die über solche Fragen auch öffentlich diskutieren wollen.

Betriebsschließungen und Bossnapping in Frankreich: Jean-Paul Sartre fand die Bossnappings in Frankreich 1968 ff. gut, denn: "Wenn ein Chef seine Beschäftigten um Erlaubnis fragen muss, wenn er pinkeln muss, ist das ein großer Schritt nach vorne". Die englische Financial Times zitierte diesen Spruch unter dem Bild eines grinsenden, gekidnappten Unternehmers, dem Chef von Moët & Chandon, den "seine" Arbeiter im Sommer 1993 im Büro eingeschlossen hatten mit nur ein paar Flaschen Champagner als Proviant. Anschließend gab die FT Tipps für den Fall der Fälle: vor Verhandlungen wenig trinken, unauffällig Zahnbürste und Pyjama einpacken usw. Vor allem aber "don't panic! Bossnapping gehört zur französischen Kultur wie Baguettes und Briekäse." Ganz anders die Aufgeregtheit bei vielen deutschen Linken über die "französischen Zustände", die immer wieder die hiesigen ArbeiterInnen auffordern, "lernt endlich Französisch!" Ein Genosse aus Frankreich hat einen realistischeren Blick aufs Bossnapping.

Ein bisschen "genappt" wurde im April auch in Großbritannien - und dann drei Fabriken besetzt. Leider hat es auch dort nicht geklappt, die zeitgleich laufenden Proteste gegen den G20-Gipfel wenigstens ein bisschen für den Klassenkampf zu interessieren. Manche "klagen darüber, dass die Gewerkschaften, der Staat usw. Kämpfe zu isolieren versuchen - aber einige Leute kriegen das mit ihrer politischen Ideologie auch ohne fremde Hilfe hin" ist das Fazit des Aktivisten, der uns den Artikel geschickt hat. Der Kampf bei Visteon war aus zwei Gründen sehr wichtig: Es war eine der ersten großen Auseinandersetzungen um Abfindungen und Renten in der Krise und hatte das Zeug zum Präzedenzfall für künftige Firmenpleiten. Zweitens: die ArbeiterInnen haben das Zehnfache des ursprünglichen Angebots rausgeholt.

In nächster Zeit werden Besetzungen erstmal die Kampfformen gegen Betriebsschließungen sein. Da sollten alle hingehen und dazu beitragen, dass auch "nicht betroffene" Betriebe sich solidarisieren und sich dem Kampf anschließen. In der letzten Krise haben wir aus Argentinien gelernt, dass eine Bewegung keine Chance hat, wenn sich nur die Rausgeschmissenen und die Arbeitslosen mobilisieren. Und allen Beschäftigten, denen Absenkungsverträge aufgezwungen werden, sollten wir die Erfahrung (nicht nur) aus Frankreich vorhalten: "Wenn man sich einmal auf die Erpressung durch die Bosse eingelassen hat, ist es sehr schwer, das wieder umzudrehen."

Vielleicht wird dann das "Licht am Ende des Tunnels", das unsere Feinde gesehen haben wollen, der Scheinwerfer entgegenkommender Klassenkämpfe sein.

Raute

Update Krise

Dieser Artikel ist ein Update auf die beiden Krisen-Artikel in Wildcat 82 und Wildcat 83. Vieles ist dort erklärt und wird hier vorausgesetzt. Die Artikel sind im "Dossier Krise" auf www.wildcat-www.de zu finden.


Die globale Krise hat sich bisher in fünf Wellen entfaltet. Nach jeder Welle hieß es, das Schlimmste liege nun hinter "uns" - und mit der nächsten Welle kam es dann regelmäßig schlimmer. Tatsächlich hat sich der Abschwung in den letzten Monaten verlangsamt, aber wir stehen kurz vor massiven sozialen Verschlechterungen, die in anderen Teilen der Welt bereits angefangen haben.

Sie haben es geschafft, die Kernschmelze des globalen Finanzsystems zu verhindern und den Totalkollaps abzubiegen. Dazu haben die Notenbanken die Zinsen auf nahezu Null gesenkt, die Welt mit zusätzlichen Dollars überflutet und sogar Staatsanleihen aufgekauft (das bricht ein bisheriges Tabu und ist wie Geld drucken). Die Regierungen der USA und der EU haben die wichtigsten Banken praktisch verstaatlicht und von September 2008 bis März 2009 insgesamt etwa neun Billionen Dollar zur Stützung der Finanzbranche bereitgestellt. Zudem hat die Installierung des Public Private Investment Funds in den USA, eines riesigen staatsgestützten Hedge Fonds, dazu geführt, dass sich die Banken wieder untereinander Geld liehen und dass die großen Anleger wieder Aktien kauften. Dadurch stiegen die Aktienkurse stark an - der Dax z.B. von seinem Jahrestief im März bis Anfang Juni um 38 Prozent.

In den USA hat sich die Zahl der Arbeitslosen in den letzten anderthalb Jahren mehr als verdoppelt. Diese Entlassungswelle erreicht in der zweiten Jahreshälfte auch die BRD. Falls dann die Behauptung glaubhaft erscheint, 'in ein, zwei Jahren kommt der Aufschwung', könnten die Herrschenden den Absturz als vorübergehend aussitzen und eine tiefe Legitimationskrise des ganzen Systems abwenden. Anders sähe es aus, wenn sich die Krisendynamik in einer sechsten Welle noch einmal massiv beschleunigt. Deshalb gucken wir uns im Folgenden erst die spezielle Situation in der BRD an und nennen dann drei Gründe für die Behauptung, die Krise ist nur aufgeschoben und keineswegs aufgehoben: die Situation der Banken, den drohenden Kollaps des Dollar, die Lohndeflation.

Was ist zu tun? Mit der Verlangsamung des Abschwungs gewinnen auch wir Zeit - und die haben wir bitter nötig, denn in der BRD waren die Reaktionen (sowohl der Linken wie der Klasse insgesamt) der hereinbrechenden Weltkrise bisher in keiner Weise angemessen. Radikale Kritik an den Institutionen, die uns im vorhergehenden Konjunkturaufschwung "Lohnzurückhaltung" und steigende Arbeitshetze eingebrockt haben und in der Krise Massenarbeitslosigkeit und weiter steigende Arbeitshetze (Banken, Gewerkschaften, Staat...) kommt nur sehr langsam in Gang. Es wird aber wieder öffentlich über Arbeits- und Lebensbedingungen verhandelt; und das ist sicherlich ein Wandel, auf den wir aufbauen können.


Der Exportweltmeister geht krachen?

Dass die BRD aufgrund ihrer extremen Ausrichtung auf den Export besonders hart von der Krise getroffen wird und diese in eine Bevölkerung einschlägt, "in der breite Teile in den letzten Jahren einem Pauperisierungsprozess unterworfen wurden" (Wildcat 82) gehört inzwischen zum Allgemeinwissen. Das BIP der BRD ging im ersten Quartal 6,9 Prozent zurück (EU 4,6 Prozent), die Schlüsselsektoren Auto, Chemie, Maschinenbau kämpfen mit Umsatzrückgängen zwischen 40 und 80 Prozent... Die Financial Times Deutschland kritisiert: "Kein Land hat seit 2000 so massiv daran gearbeitet, Kosten zu reduzieren und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Kein Land hat so viel Kreativität darin entwickelt, den Leuten zur Finanzierung Geld zu nehmen ... Ökosteuern, Praxisgebühren, Niedriglöhne, höhere Zuzahlungen, ... Mehrwertsteuer-Hochsprünge und so weiter. Ergebnis: Der Anteil des Exports ist seit 2000 von gut 30 auf knapp 50 Prozent des BIPs hochgeschnellt, die Konsumquote gefallen... Da darf man sich nicht wundern, dass die Wirtschaft kollabiert, sobald das Ausland kein Geld mehr hat." Diese weit verbreitete Kritik am mit Hartz-Gesetzen und Deregulierung der Finanzbranche aggressiv durchgesetzten "Exportmodell BRD" lässt sich ohne weiteres zu einer Kritik am Kapitalismus überhaupt radikalisieren. Nur war diese Radikalisierung in der BRD im ersten Halbjahr blockiert - aus mehreren Gründen:

Der Zusammenbruch des Erdölpreises hat wie ein Konjunkturprogramm gewirkt. Zwischen Juli 2008 und März 2009 wurden Heizöl, Diesel und Benzin um insgesamt 26 Milliarden Euro billiger - das ist fünfmal soviel wie die ausgeschütteten Abwrackprämien! Durch die Kombination von im letzten Jahr ausgehandelten Tariflohnerhöhungen und der deflationären Entwicklung (Lebensmittel so billig wie noch nie) kam es erstmals seit Jahren wieder zu Reallohnsteigerungen. Dazu kamen Rentenerhöhungen und die Rückzahlung der Pendlerpauschale (7,5 Mrd. Euro), zwei Konjunkturprogramme von insgesamt 75 Mrd. Euro (darin enthalten die Abwrackprämie) und 100 Euro Kindergeld. Insgesamt führte das dazu, dass der Konsum im ersten Halbjahr 2009 (auf niedrigem Niveau) stabil blieb. Alle wissen, dass "die Krise kommt", aber nur wenige spüren es bereits auf der eigenen Haut.


Auf die Banken kommt es knüppeldick zu

Trotz billionenschwerer Stützungsprogramme und der Überflutung der Finanzmärkte mit billigem Geld kann das weltweite Bankensystem nach wie vor als bankrott bezeichnet werden. Die hohen Gewinne von Deutsche Bank und Goldman Sachs im ersten Quartal 2009 lagen an neuen Bilanzierungsregeln, wonach die Banken ihre toxischen Wertpapiere gemäß ihrer eigenen Einschätzung bilanzieren können (vorher mussten sie zum Marktwert gebucht werden, der in vielen Fällen bei Null liegt). Die völlig überschuldete Deutsche Bank war der Hauptprofiteur dieser Entscheidung. Aber Ende April warnte der IWF, weltweit müssten noch Risikopapiere von vier Billionen Dollar abgeschrieben werden, das sei dramatisch mehr als bisher befürchtet. Zwei Drittel dieser Summe dürfte bis Ende 2010 bei den Banken auflaufen. Deutsche Banken haben über 800 Mrd. Euro an faulen Wertpapieren und Krediten in ihren Bilanzen, das ist ein Drittel des deutschen BIP.

Noch riskanter sind die nach wie vor nicht entschärften "Derivatebomben". Allein die Deutsche Bank hat außerbilanzielle Derivate in Höhe des 19-fachen deutschen BIP und ist damit (ähnlich wie die UBS für die Schweiz) ein unkalkulierbares Risiko für den deutschen Staat.

Ein drittes Problem kommt auf die Banken durch Kreditausfälle zu. Der Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin), Sanio, sagte Ende Mai, "die gesamtwirtschaftlichen Daten seien so schlecht, dass man besser gar nicht über sie spreche. Die deutschen Banken (würden) in ein paar Monaten die volle Wucht der Rezession in ihren Kreditbeständen spüren. Es gebe keinerlei Erfahrungswerte, was das für die Banken bedeuten werde. Die Aufseher könnten den Umfang kommender Kreditausfälle überhaupt nicht abschätzen." (StZ - 20.5.2009: "Die Krise trifft die Banken mit voller Wucht")

Am 21. Mai kommt es zur bisher größten Bankenpleite in den USA in diesem Jahr. Anfang Juni geht die "Rallye" der Bankenaktien zuende ...


Strategische Gefahr: Platzen der US-Staatsverschuldungsblase und Kollaps des Dollar

Bei Erscheinen der letzten Wildcat Anfang März 2009 war 1 Euro 1,26 Dollar wert - am 1. Juni waren es knapp 1,42 Dollar, das ist eine Dollarabwertung von 12,7 Prozent; nicht nur gegenüber dem Euro, sondern auch gegenüber einem Korb aus mehreren Währungen. Dieser Prozess wird sich fortsetzen, weil die Fed durch ihre Krisenmaßnahmen beständig die Qualität des Dollars aushöhlt, aber auch weil die USA selber ein Interesse an einem niedrigeren Dollar haben (um die Konkurrenzfähigkeit ihrer Exporte zu steigern und die aufgehäuften Auslandsschulden zu entwerten). Deshalb verlangt Russland seit Ausbruch der Krise die Ablösung des Dollars als Leitwährung - und China hat sich dieser Forderung spektakulär angeschlossen. Es kann aber kein anderes Medium als den Dollar geben, um chinesische Überproduktion mit US-amerikanischem, schuldenfinanziertem Konsum zu vermitteln. Gleichzeitig kann der Dollar selber aber auch nicht mehr dieses Medium sein. (Das "asiatische Entwicklungsmodell" ist am Ende; siehe den folgenden Artikel zu "Chimerica".)

Die Schulden des US-Staates belaufen sich inzwischen auf 11,3 Billionen Dollar; zusammen mit den Schulden der Bundesstaaten, Städte und Gemeinden addiert sich das auf eine Summe von über 14,1 Billionen Dollar. Im Fiskaljahr 2009 werden viermal so viel Schulden neu aufgenommen wie im Fiskaljahr 2008, 1,84 Billionen Dollar. Von 1971 bis 2008 nahmen die Staatsschulden durchschnittlich 5,4 Prozentjährlich zu - dieses Jahr werden sie um etwa 15 Prozent auf dann 13 Prozent des BIP wachsen - zum Vergleich: das Konvergenzkriterium für den Beitritt zum Euro lag bei drei Prozent.

Das führt zu einem gigantischen Refinanzierungsbedarf; der allein für 2009 auf 2,5 Bio. Dollar geschätzt wird. Die US-Regierung hat sich dieses Geld bisher durch den Verkauf von Staatsanleihen geholt. Aber die ausländischen Handelspartner der USA erzielen schlechthin nicht mehr die Überschüsse, um weiterhin so viele Treasuries zu kaufen. Ende Mai musste die US-Regierung bereits 3,73 Prozent Zinsen auf langjährige Staatsanleihen bieten, das war ein Anstieg um 81 Prozent innerhalb von fünf Monaten. Somit wird die Refinanzierung der Staatsschulden teurer. Es steigen aber auch die Zinsen der Banken, was die Wirtschaft weiter abwürgt; und steigende Hypothekenzinsen verschärfen erneut die Immobilienkrise. Mitte Mai drohten die Ratingagenturen sogar mit der Abwertung der Bonität für amerikanische Staatsschulden, dies könnte die USA an den Rand der Zahlungsunfähigkeit bringen und bereits jetzt zum Platzen der Mutter aller Blasen, des US-amerikanischen Bond-Bubble, führen.

Die bisherigen Kreditgeber suchen nach Alternativen. Mitte Mai berichtete die Prawda, Russlands Notenbank halte inzwischen mehr Euros als Dollars als Währungsreserve, und Brasilien und China gaben bekannt, dass sie ihren Handel untereinander zukünftig nicht mehr in Dollar abwickeln werden. China schichtet langfristige US-Staatsanleihen in kurzfristige und in Goldreserven um. Natürlich gehen dabei alle äußerst vorsichtig vor, um den Dollar nicht abstürzen zu lassen und ihre in Dollar gehaltenen Währungsreserven schlagartig zu entwerten - aber der Prozess ist im Gang.

Keynes warnte einst, zum Sturz einer Gesellschaftsordnung gebe es kein besseres Mittel, als ihre Währung zu ruinieren. Die Ablösung bisheriger Leitwährungen durch eine andere waren ein Kinderspiel im Vergleich zum Zusammenbruch des Dollar - denn hier geht die erste wirklich weltweite Leitwährung zu Bruch.


Das "Paradox fallender Löhne"

Die Wirtschaft der USA leidet unter dem "Sparparadox". Die Leute hören auf, sich weiter zu verschulden, und sparen. Das verschärfte aber in den letzten Monaten den wirtschaftlichen Absturz: Konsum und Investitionen brachen ein. Nobelpreisträger Krugman wies Anfang Mai auf ein zweites Paradox hin, das der fallenden Löhne. Durch die Vernichtung von Eigentum durch fallende Häuserpreise, den massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit und tendenziell sinkende Löhne wird die Verschuldungssituation vieler Leute verschärft. Wenn ein Unternehmer "seine" ArbeiterInnen erpressen kann, Lohnsenkungen zu akzeptieren, hat er einen Konkurrenzvorteil. Wenn aber allgemein Löhne gesenkt werden, hat kein Unternehmer einen Konkurrenzvorteil daraus, aber die Leute haben noch größere Probleme, ihre Schulden zurückzuzahlen und gehen eventuell bankrott (die Löhne ungelernter Arbeiter in den USA sind in den letzten Monaten um aufs Jahr gerechnet mehr als sechs Prozent gefallen). Auf jeden Fall aber wird der Konsum zurückgehen. Was die Wirtschaft noch weiter in die Krise treibt. Woraufhin noch mehr Leute entlassen werden und die Löhne weiter sinken... Sobald Unternehmer und Konsumenten damit zu rechnen beginnen, dass die Löhne auch weiterhin fallen, ist der Teufelskreis da. Laut Keynes wirkt die Erwartung eines zweiprozentigen Lohnrückgangs genauso wie eine zweiprozentige Zinsanhebung.

Krugman nennt Japan - wo die Löhne in Privatunternehmen von 1997 bis 2003 um durchschnittlich ein Prozent im Jahr fielen - als Beispiel dafür, wie Lohndeflation zu wirtschaftlicher Stagnation führt. Dies droht besonders für die BRD, weil die bisherige Leitindustrie "Auto" schon seit Jahren nicht mehr die Lohnentwicklung anführt, sondern unterhalb der durchschnittlichen Gesamtlohnentwicklung geblieben ist. Und weil gleich zwei Leitindustrien (Auto und IT) massiv entlassen.

In den USA könnte sich daraus eine Kreditkartenkrise entwickeln. Nach einer Daumenregel, wonach im US-Kreditkartengeschäft jährlich soviele Kredite "sauer" werden, wie die Arbeitslosenrate hoch ist, wären das in diesem Jahr zehn Prozent und somit ein Verlust von 186 Mrd. Dollar. In Krisenzeiten übertrafen die Kreditausfälle diese Marge allerdings (erheblich), und das wird diesmal mit Sicherheit der Fall sein, weil viele Leute durch sinkende Immobilienpreise bereits in der Klemme sind. Die Kreditkartenausfälle werden zwar bei weitem nicht die Dimensionen der Hypothekenkrise erreichen; es ist aber unklar, wie die Banken das wegstecken können, da sich ihre Situation in den nächsten Monaten ja an anderen Ecken massiv verschlechtern wird.

In der BRD werden im Zuge der wachsenden Arbeitslosigkeit zwei andere Szenarien in den Vordergrund drängen: die Überschuldung vieler Kommunen (Gewerbesteuereinnahmen brechen weg; Sozialausgaben steigen) und der drohende Kollaps staatlicher Sozialsysteme (Krankenkassen, Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung) die infolge steigender Arbeitslosigkeit weniger Beiträge einnehmen werden, der Gesundheitsfonds ca. zwei Milliarden Euro weniger.


BRD: Sozialdemokratische Klassenspaltung...

Die politische und soziale Stabilität des "Systems BRD" wurde in der Krise bisher nicht angekratzt. Sozialstaat und Gewerkschaften funktionieren noch immer verlässlich zur Klassenspaltung. In der ersten Phase des Kriseneinbruchs sind Hunderttausende LeiharbeiterInnen entlassen worden und sofort auf Hartz IV gefallen. Parallel dazu wurde das Kurzarbeitergeld ausgeweitet und die Arbeit der solchermaßen "Geretteten" massiv weiter verdichtet. Bisher gab es nur Kämpfe gegen Betriebsschließungen und den Kampf der Leiharbeiter in Hannover, aber keinen gemeinsamen Widerstand gegen Lohnabsenkung oder Arbeitsverdichtung in Betrieben mit Kurzarbeit.

Die Massenentlassungen gehen die ganze Zeit weiter und werden sich in den nächsten Monaten verschärfen (Mitte Mai waren zwei Millionen Menschen in Kurzarbeit, das stößt auf Dauer an finanzielle Grenzen, sowohl bei der Agentur für Arbeit wie bei Betrieben). In der zweiten Jahreshälfte 2009 wird der Arbeitsmarkt einbrechen, 2010 wird die soziale Lage in der BRD deutlich schlimmer als heute sein.

Sie sind nur kurz getaumelt. Die einen werden schon wieder rotzfrech - der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung schlug Ende Mai 2009 vor, die Mehrwertsteuer auf 25 Prozent zu erhöhen! Und je deutlicher es wurde, dass es in der BRD erstmal nicht zu militanten Antworten auf diese Krisenpolitik kommt, um so mehr warnte die andere Hälfte der "politischen Klasse" vor "sozialen Unruhen" - sehr schön kommentiert vom Herausgeber der ZEIT, Joffe: "Auch die Panikmache ist ein Fundament der Demokratie."

Es gibt eine veritable "Krise der Parteiform". Trotz schärfster Wirtschaftskrise ist die PDS wieder einstellig geworden, die NPD geht an Krücken. Noch viel stärker gerupft werden gerade SPD und CDU. In der CDU führen die notwendigen Maßnahmen zur Rettung des Systems (wie die Verstaatlichung der Hypo Real Estate) zu Zerreißproben und Mitgliederverlusten.

Ende März hat sich noch einmal gezeigt, dass Linksgewerkschafter, PDS und Attac überhaupt nicht in der Lage sind, Menschen auf die Straße zu mobilisieren. Mit ihren Demos in Berlin und Frankfurt sind sie nur ganz knapp an der völligen Blamage vorbeigeschrammt - und zwar nur deshalb, weil fast die gesamte radikale Linke hingegangen war. Wenn es so weitergeht, kommt es wie in den USA, wo Obama mit seinem Wahlkampf große Proteste gegen die Krise aufgesogen hat.


...es kann aber auch anders kommen!

Die Gefahr der Hyper-Inflation ist erstmal in die Ferne gerückt; die Zeichen stehen auf lang andauernde Depression, zunächst wird die deflationäre Entwicklung weitergehen. Das zu Beginn erwähnte "Konjunkturpaket" für die BRD läuft aus: Seit ein paar Wochen wird das Erdöl wieder teurer; mit dem Ende der Abwrackprämie wird der Autoabsatz drastisch einbrechen; die Chemiegewerkschaft hat bereits Lohnsenkungen von 15 Prozent zugestimmt; bald wird man sehen, was die Opel-"Rettung" wirklich ist, usw.

Aus zwei Gründen könnte der Prozess sich wieder beschleunigen. Erstens könnte die gewaltige Staatsverschuldungs- und Dollarblase, die aufgepumpt wurde, um den Absturz zu verlangsamen, platzen - das wäre dann die "sechste Welle". Oder die ArbeiterInnen lassen sich nicht mehr alles gefallen, gleichzeitig immer mehr Arbeit und steigende Arbeitslosigkeit, gleichzeitig immer höhere Abgaben und immer weniger (Sozial-)Leistungen. Die hauptsächliche Stabilität erhält das "System BRD" durch die Trennung in ArbeiterInnen und Arbeitslose, auch die Hartz-Gesetze hielten die Unterscheidung in ALG I und ALG II aufrecht. Diese Spaltung bröselt, wenn die qualifizierten Kernbelegschaften der großen Industriekonzerne arbeitslos werden. Objektiv stimmt sie schon jetzt nicht mehr: KurzarbeiterInnen in Klein- und Mittelbetrieben sind sehr viel näher an Hartz IV als an ihren KollegInnen bei VW oder Daimler.

Mit massiv steigender Arbeitslosigkeit werden Kämpfe gegen Betriebsschließungen keine abgekarteten Spielchen zum Hochtreiben der Abfindung mehr sein. Und Kämpfe, bei denen es "wirklich um was geht", können auch auf andere soziale Gruppen überspringen. Dann kann sehr schnell aus der (Lohn-)Deflation eine (Hyper-)Inflation mit Stagnation werden - die gefürchtete "Stagflation" der 70er Jahre. Viele Kommentatoren warnen bereits davor, dass "diese Krise nun - um ein Vielfaches verstärkt - erneut über die Weltwirtschaft hereinbricht". Nach 35 Jahren Krisenpolitik droht noch immer das alte Gespenst.

7. Juni 2009


P.S.

Der weltweite Charakter der Krise muss unbedingt im Auge behalten werden! Nachdem die Krise ausgehend vom kapitalistischen Zentrum die "aufstrebenden Ökonomien" wie die BRIC-Staaten erfasste, stürzt sie nun die Peripherie in den Abgrund. Die Stützungsmaßnahmen im Zentrum haben bewirkt, dass das Kapital aus der Peripherie ins Zentrum zurückflüchtete. Die Staaten der Peripherie müssen alleine im Jahr 2009 über 1,4 Billionen Dollar an Krediten bei den Banken bedienen. Afrika z.B. ist mehrfach betroffen: der Verfall der Rohstoffpreise führt zu massiven Exporteinbußen; ausländische Investitionen sind um zwei Drittel zurückgegangen; die Überweisungen von im Ausland lebenden MigrantInnen gehen stark zurück. Das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr wird von sieben auf zwei Prozent absinken.


Randnotizen

"Seltsam hilflos in der Protest"

[DIE ZEIT vom 2. April zu den Demos in Ffm & Berlin]

"Groß ist der Zorn über die Manager, die für die internationale Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht werden, aber seltsam hilflos ist der Protest. Der Bürger ballt die Faust in der Tasche, von einer Volkserhebung keine Spur. In den USA werden Bustouren organisiert, die an den prächtigen Villen der Banker vorbeiführen, die Millionen für ihr fatales Wirken kassierten. Aber was tun die Touristen? Legen sie Brände, werfen sie Scheiben ein? Sie reiben sich still die Augen; ärgstenfalls halten sie hasserfüllte Plakate hoch.

In London warnen Banken ihre Mitarbeiter, mit Krawatten, an denen man sie erkennen könnte, auf die Straße zu gehen; aber bis jetzt ist kein Übergriff bekannt geworden. Der Verzicht auf Schlipse in der City wird sich verschmerzen lassen.

In Frankreich sind einige Manager wegen der geplanten Schließung eines Werkes mit Eiern beworfen worden; die Reinigungskosten werden sie tragen können.

Fürchten muss sich einstweilen niemand. Und selbst die linken Splittergruppen, die in Berlin und Frankfurt am letzten Wochenende vor dem G-20-Gipfel aufmarschierten, hatten wenig mehr zu bieten als die brave Steuerbürgerklage: "Wir zahlen nicht für eure Krise!" Tatsächlich zahlen die Bürger schon. Darin liegen die Ohnmacht und der Skandal zugleich: dass der Staat die fallierten Banken und Unternehmen retten muss, aber ein Teil der aufgewendeten Steuergelder als Abfindungen und zugesicherte Boni sogleich in die Taschen jener Manager fließt, die für den Untergang der Firmen verantwortlich sind. Ein schlagenderer Anlass zum Aufstand wäre kaum denkbar. Selbst die Trotzkisten, die immer gesagt haben, für eine Revolution sei es zu früh, weil sich die gesellschaftlichen Widersprüche noch nicht hinreichend zugespitzt hätten, müssten jetzt zugeben, dass die Stunde gekommen ist.

Niemals ist der Widerspruch von Kapital und Arbeit eklatanter geworden als in dem Moment, da die Masse der abhängig Beschäftigten den Kapitalismus retten und seinen Profiteuren auch noch ein Handgeld zahlen muss. [...]

­... eine ernsthafte Revolte, wollte sie mehr sein als Folklore, müsste sich ehrlicherweise gegen das System als solches wenden. Das aber scheint niemand zu wollen. [...]

Die Wut läuft ins Leere. Sie hat keinen Empfänger; es sei denn die wirtschaftliche Verfasstheit unserer Welt. Um diese als Ganze verändern zu wollen - eine veritable Weltrevolution! -, brauchte es allerdings eine greifbare Systemalternative. Die letzte, die sich als solche empfehlen konnte, war allerdings ebenjener Sozialismus, der vor unser aller Augen an seiner Untüchtigkeit und Unmenschlichkeit zusammengebrochen ist. Mit anderen Worten: Der Ruin der kommunistischen Staaten- und Gedankenwelt ist die wahre Überlebensgarantie für den angeschlagenen Kapitalismus unserer Tage.

Es wäre ... fatal, wenn das die einzige Überlebensgarantie bliebe."

Raute

Chimerica

Hatte US-Finanzminister Geithner vor seiner Chinareise Anfang Juni das maoistische Ritual der Selbstkritik einstudiert? Jeden Punkt, den er über notwendige Neustrukturierungen der chinesischen Wirtschaft machte, glich er mit einem zum Reform- und Konsolidierungsbedarf der amerikanischen aus. Die Chinesen sollen ihren Konsum steigern. Die USA würden "wieder entsprechend unserer Mittel leben". Beides soll die Weltwirtschaft wieder ins Gleichgewicht bringen. ... hhmmm, klingt eher nach Yin und Yang und Taoismus... Ist ja vielleicht auch angemessener, denn wie soll Selbstkritik etwas wieder ins Gleichgewicht bringen, das in den letzten Jahren nur noch von den gewaltigen Ungleichgewichten von US-Verschuldung und chinesischer Exportproduktion vorm Sturz in den Abgrund aufgehalten wurde? Noch dazu, wo beide Seiten einbrechen. Noch dazu, wo beide Seiten Fluchten vorm Klassenkampf waren und nicht so einfach zurückgedreht werden können.

[Das war jetzt der ganze Artikel in einer Nussschale, streng nach Feng-Shui-Prinzipien]


Die Seite der USA

Hier sinkt die Profitrate seit Anfang der 70er Jahre. Produktionskapazitäten und Exporte schrumpfen, das Außenhandelsdefizit steigt und wird über Verschuldung finanziert. Wirtschaftswachstum fand nur noch als Ausdehnung des Konsums statt (der Anteil des privaten Konsums am BIP liegt bei 70 Prozent, die Investitionen kümmern bei 20 Prozent). Während die USA in den 90er Jahren noch 25 Prozent zum Wachstum des Weltsozialprodukts beitrugen, ist dieser Anteil im letzten Boom von 2000 bis 2006 auf 15 Prozent gefallen (China bestreitet seit den 90er Jahren ein Drittel).

Die Versuche, die Profitrate über Lohnsenkungen wieder zu steigern - die Reallöhne sind heute nicht höher als Mitte der 60er Jahre - wurden ausgeglichen durch wachsende Verschuldung der Unternehmen und Privathaushalte, um den Lebensstandard aufrecht zu erhalten. Die Sparquote der US-Privathaushalte sank seit 1990 und wurde ab 1998 sogar negativ. Verschuldung und Außenhandelsdefizit wachsen ab den 90ern und explodieren ab 1997.

Nach dem Platzen der dot.com-Blase wären die USA in eine Depression gefallen, dies wurde durch eine expansive Geldpolitik verhindert. Überkonsumtion wurde gefördert durch "innovative Finanzinstrumente".

Der Boom nach 2001 brachte den Hochverdienern mehr Geld, aber das mittlere Familieneinkommen war 2007 sogar noch etwas niedriger als 2000. Das ganze Gebäude aus wachsender Verschuldung war nur möglich durch historisch niedrige Zinsen - und diese waren nur möglich durch Zufluss ausländischen Kapitals. Das Leistungbilanzdefizit und die Auslandsverschuldung der USA erfordern andere Länder mit wachsenden Devisenreserven, die sie durch Überproduktion und Leistungsbilanzüberschüsse anhäufen, kurz "Exportweltmeister" wie die BRD und China.

Die scharfen Angriffe auf die US-Arbeiterklasse wurden durchgesetzt mit Spaltung und Unterschichtung. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurde es beispielsweise für MigrantInnen sehr viel schwerer, einen legalen Status zu kriegen, somit wurde es auch schwerer, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Insgesamt führte der verschärfte Zwang, für Sozialleistungen Arbeit anzunehmen, zu niedrigeren Löhnen - ähnlich wie später die Hartz-Gesetze in der BRD.


Chinas Seite

In China wurde die Situation in den späten 80er Jahren für das Regime zunehmend unhaltbar. Ab Ende der 70er Jahre waren Reformen eingeleitet worden. Diese waren aber nicht so einfach gegen die Klasse durchzusetzen. Die Produktivität in den Staatsbetrieben war gering, die Macht der Arbeiter, höhere Löhne zu erkämpfen, groß. Es kam zu Preissteigerungen und Inflation. Um die Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern zu befriedigen, stiegen die Importe und somit das Handelsdefizit. Das Modell "Staatssozialismus" ging - wie fast überall im Osten - seinem Ende entgegen. Die KP Chinas wählte das Massaker (Tian'anmen-Massaker am 4. Juni 1989).

Danach wurden in einem langen und von Kämpfen begleiteten Prozess die Staatsbetriebe und die Privilegien der alten Arbeiterklasse geschleift. Gleichzeitig wurden die Exportzonen hochgezogen und eine ganz neue Arbeiterklasse rekrutiert, WanderarbeiterInnen vom Land. Sie arbeiteten zu viel schlechteren Bedingungen als die alte Arbeiterklasse, gleichwohl stellten für sie "Fabrik" und "Stadt" ein besseres Leben als "Feldarbeit" und "Land" dar, oder zumindest den Weg dahin. Während die alten Staatsbetriebe aggressiv zerschlagen und die ehedem staatlich garantierten ArbeiterInnen in die Arbeitslosigkeit entlassen wurden, wurde die Industrialisierung in den Exportzonen ab 1993/94 massiv verstärkt.

Die KP in China musste mit wachsenden Ansprüchen fertig werden, viele nach einem besseren Leben strebende Menschen integrieren und zugleich kontrollieren. Das rabiateste Mittel dazu ist die Ausweitung der Verwertung. Und der sicherste Wachstumsweg liegt immer im Export; schon gar unter den Voraussetzungen von niedrigen Löhnen und einem schier unbegrenzten Arbeitskräftereservoir. Zudem koppelte China den Wechselkurs des Yuan an den Dollar und schlug somit zwei Fliegen mit einer Klappe: eine sichere Berechnungsgrundlage für die Geschäfte mit dem Hauptabnehmer zu legen - und den Yuan gegen den Aufwertungsdruck abzusichern (Währungen von Ländern mit Handelsbilanzüberschuss tendieren zum Aufwerten; ein starker Yuan hätte aber den Lohnkostenvorteil reduziert oder zunichte gemacht).

Diese Konstellation funktionierte so gut, dass China Außenhandelsüberschüsse in einem Umfang erzielte, dass sie nicht im Land selber wieder angelegt werden konnten. Die Entwicklung in China konnte damit nicht Schritt halten. Ein Großteil der eingenommenen Dollars musste im Ausland angelegt werden, damit es nicht in China zu einer inflationären Überhitzung kommt. Sie flossen größtenteils in US-Anleihen und finanzierten die amerikanische Verschuldung bzw. den amerikanischen Konsum.


Chimerica entsteht

Die USA sind nicht mehr der produktive Motor der Weltwirtschaft, sie können sich aber mit der früher aufgebauten Infrastruktur - einem komplexen Finanzsystem, dem als weltweite Reservewährung dienenden Dollar - in eine wahnsinnige Verschuldung flüchten. Die Notenbank der USA produziert Geld, das in Form vielfältiger Kredite an die US-Konsumenten weitergereicht wird. Diese können zu niedrigen Preisen chinesische Produkte kaufen.

Beide Seiten griffen ineinander und hielten die Weltwirtschaft über Wasser.

Der chinesische Exportboom führte zu Handelsüberschüssen und Devisenreserven, zunächst aber im moderaten und durchaus gewünschten Rahmen. Anfang des Jahrtausends betrugen die Devisenguthaben erst einen Bruchteil des heutigen Betrages von ca. 2,5 Billionen Dollar, 2005 umfasste der Währungsschatz erst eine halbe Billion Dollar. Da der Dollar ab 1995 aufwertete, musste China wenig intervenieren, um die Kopplung an den Dollar aufrecht zu erhalten. Der säkulare Fall des Dollar seit 2002 (und damit auch des daran gekoppelten Yuan) führte zum Wachsen des Handelsüberschusses (die EU wurde zum Hauptabnehmer chinesischer Waren). Chinas Exporte verfünffachten sich beinahe von 2001 auf 2008 (1,4 Billionen Dollar).

Die extrem hohe Sparquote ist ein Produkt des ungebremsten Exportbooms; die Unternehmen machten hohe Gewinne und wurden zusätzlich von der Regierung subventioniert. Die ArbeiterInnen mussten sparen, um sich abzusichern. Bizarrerweise wurde das ganze ab 2003 - also in dem Moment, als es aus dem Ruder zu laufen begann - als "Bretton Woods II", als neue monetäre Weltordnung schön geredet. China und die USA hätten ein System stabiler Wechselkurse geschaffen, an dem China noch viele Jahre festhalten werde, um ausreichend Wachstum zu ermöglichen und soziale Unruhen zu vermeiden. Deshalb wäre auch die wachsende Verschuldung der USA und ihr Außenhandelsdefizit der USA kein Problem.

Das Risiko einer Dollarabwertung muss dabei klar gewesen sein, in der Tat hatte China schon durch den ständigen Wertverfalls des Dollars Verluste. China nahm es in Kauf, um ein starkes Wirtschafts- und damit ausreichendes Jobwachstum zu ermöglichen. Allerdings brach die Verschuldungspyramide schneller zusammen, als das auf chinesischer Seite wohl erwartet worden war.


Ende von Chimerica aus US-Sicht

Der US-Konsum ist eingebrochen. Der Dollar ist keine sichere Reserve mehr. Die entscheidende Fähigkeit der USA, Profit aus der Verknüpfung ausländischer Geldzuflüsse mit dem Privatkonsum zu ziehen, ist völlig am Ende. Im Gefolge der Subprime-Krise ist sowohl die Privatverschuldung wie die Verschuldung der US-Unternehmen radikal eingebrochen. Das US-Handelsdefizit war im ersten Quartal 2009 nur noch halb so hoch wie im ersten Quartal 2008. Damit bricht der ganze Recyclingprozess zusammen: die Nachfrage nach chinesischen Waren - der Aufbau von Reserven - der Rückfluss des Geldes in die USA.

Im Gegenzug schoss die Staatsverschuldung fast um den gleichen Betrag nach oben. Damit entsteht ein gewaltiger (Re-)Finanzierungsbedarf des amerikanischen Staates. Diese Verschuldung unterscheidet sich aber in einem wesentlichen Punkt von der "alten Verschuldung": sie kann nicht mehr finanziert werden, da Chinas Exporte wegbrechen und die chinesische Zentralbank nicht mehr im selben Ausmaß Reserven aufbauen kann - ganz abgesehen davon, ob sie das weiterhin in US-Dollar machen wollen würde! Die Dramatik dieser Situation ist im letzten halben Jahr mit der Panikflucht in den Dollar übertüncht worden. Nun liegt sie offen.

Bei einem prognostizierten US-Haushaltsdefizit von fast 2 Billionen Dollar und einem Refinanzierungsbedarf von mindestens 2,5 Billionen Dollar allein in diesem Jahr wächst die Skepsis der "Investoren". Sie fürchten um das "AAA"-Rating der USA, nachdem Standard & Poor's eine Herabstufung Großbritanniens in Aussicht stellte; denn die USA hatten bereits vor der Krise ein schlechteres Verhältnis BIP zu Schulden als Großbritannien.

China und andere ausländische "Investoren" haben ihre Reserven von langfristigen auf kurzfristige Schatzbriefe umgestellt. Deshalb kauft die Fed selbst langfristige Schatzbriefe, um das Zinsniveau niedrig zu halten. Damit druckt sie quasi Geld und unterhöhlt den Wert des Dollars noch mehr. Das zeigt sich darin, dass die Zinsen steigen, die der amerikanische Staat den Abnehmern seiner Treasuries zahlen muss. Steigende Zinsen beschleunigen den wirtschaftlichen Rückgang und verschärfen erneut die Immobilienkrise (wenn die Hypothekenzinsen steigen, gehen noch mehr Hausbesitzer bankrott). Die Anträge für Hypotheken sind Anfang Juni bereits um über 16 Prozent zurückgegangen, was direkt mit den steigenden Raten zusammenhängt.


Ende von Chimerica aus Chinas Sicht

Das chinesische Exportmodell war bereits vor der globalen Krise an Grenzen gestoßen. Die Steigerung der Binnennachfrage war seit Jahren erklärtes Ziel der chinesischen Regierung, allerdings mit durchwachsenem Erfolg. Gesetzliche Regelungen zu Mindestlöhnen, Arbeitsbedingungen und Umweltstandards wurden sehr häufig nicht umgesetzt. Seit Krisenbeginn haben sich die Prioritäten auf Joberhalt verschoben, somit wurden erste Erfolge und Lohnerhöhungen wieder zurückgeschraubt. Die globale Krise und die Krise des chinesischen Entwicklungsmodells verschärfen sich gegenseitig. Die Gegenmaßnahmen des Regimes sind zweigleisig und widersprechen sich teilweise; in Wirklichkeit geht es vor allem darum, Zeit zu gewinnen.

Das chinesische Exportmodell kam an Grenzen, weil die Löhne zu schnell stiegen und Teile der Textil- und Spielzeugindustrie deswegen abwanderten. Lohnerhöhungen sind branchenübergreifend für viele chinesische Fabriken problematisch, weil sie keine eigenen Marken haben, sondern mit geringen Gewinnmargen Produkte für vorhandene Marken bauen. Auch die Umstellung auf vorwiegend kapitalintensive Produktion, wie zum Beispiel eine eigene Automobilindustrie, bringt nicht automatisch die erhofften Profitmargen. Die Profite der Nachzügler beim Entwickeln einer eigenen Autoproduktion sind nicht hoch genug, um die damit einhergehenden sozialen Widersprüche über längere Zeit zu verkraften. Diese chinesische Strukturkrise wurde durch die globale Krise enorm verschärft, in deren Verlauf schätzungsweise bereits 60.000 Fabriken geschlossen wurden. Offiziellen chinesischen Angaben zufolge ist die Industrieproduktion im ersten Quartal 2009 um 6,1 Prozent gestiegen, das wäre das geringste Quartalswachstum seit 1992, in Wirklichkeit zeigt aber der um 8,4 Prozent gesunkene Energieverbrauch der Industrie, dass die Industrieproduktion real sogar gesunken ist. Die Exporte sind drastisch eingebrochen, im Februar um 25,7 und im März um 17,1 Prozent.

Arbeitsmarkt

Die Arbeitslosigkeit der städtischen Bevölkerung - ohne WanderarbeiterInnen - liegt über 10 Prozent. Die Krise trifft aber besonders die WanderarbeiterInnen. Bereits vor dem chinesischen Neujahrsfest sind schätzungsweise 30 Millionen entlassen worden, und laut offizieller Zahlen sind von den 70 Millionen, die zum Neujahr aufs Land fuhren, nur 56 Millionen in die Städte zurückgekehrt - die bei weitem nicht alle wieder Arbeit fanden. In diesem Jahr kommen zudem 8 Millionen Uni-Absolventen frisch auf den Arbeitsmarkt. Ihre Aussichten einen Job zu finden, der ihrer Qualifikation entspricht, sind sehr schlecht. Es gibt massive Versuche, sie als Lehrer oder in anderen Jobs aufs Land zu schicken. Dagegen gab es, z.B. in Nanjing, bereits Proteste von Studierenden und Absolventen.

Wohnungssituation und Immobilienmarkt

Mit steigender Arbeitslosigkeit verschlimmert sich die Wohnungssituation. Wohnungen in Städten sind sowieso rar und teuer, durch das Wohnheimsystem wurde das bisher abgemildert. Aber der Platz im Wohnheim hing am Arbeitsplatz.

In den letzten Jahren hatte sich um Büro- und Fabrikgebäude eine Immobilienblase entwickelt, die seit Beginn der Krise geschrumpft, aber noch nicht geplatzt ist. In Peking und Schanghai sind Immobilienpreise und Bautätigkeit zwischen 15 und 20 Prozent gefallen, der Immobilienkauf um 40 Prozent zurückgegangen. In Shenzhen sieht die Situation noch schlechter aus. Wenn das Wirtschaftswachstum weiter einbricht, droht ein völliger Kollaps des Immobilienmarktes. Das würde wiederum zu vielen Kreditausfällen führen.


Probleme mit der Nachfrage

Das chinesische Regime steht vor vielen Problemen bei der Umstellung auf eine stärker nachfrageorientierte Volkswirtschaft (Finanzbranche, Lohndeflation, hohe Sparquote, Schwierigkeiten beim Umsetzen des Konjunkturprogramms). Es sieht danach aus, dass die Regierung das auch selber weiß und deshalb gleichzeitig die Exportindustrie weiter stärkt.

Das chinesische Kreditwesen ist bereits jetzt in Schieflage, weil es sehr viele faule Kredite in der Bau- und Immobilienbranche gibt. Anstatt gegenzusteuern, zwingt die chinesische Regierung die Banken, noch mehr Kredite zu vergeben. Diese bevorzugen allerdings mit ihrer Kreditvergabe große Firmen, am besten mit Staatsbeteiligung. Viele kleine und mittlere Unternehmen leiden unter einer Kreditklemme.

Die Situation der WanderarbeiterInnen, die überhaupt noch Arbeit gefunden haben, hat sich verschlechtert. Viele mussten in kleinere Städten ausweichen, wo die Löhne deutlich niedriger sind. Aber auch in vielen Fabriken im Perlflussdelta sind die Löhne um bis zu 50 Prozent gesenkt worden. Außerdem wurden oft die Arbeitsbedingungen verschärft. Faktisch werden in der aktuellen Krise die Löhne gesenkt, bzw. die Erhöhungen der letzten Jahre wieder zurückgenommen. Sinkende Löhne machen die Umstellung auf eine stärker nachfragebasierte Volkswirtschaft natürlich gänzlich unmöglich, bereits bisher war die Lohnmasse dazu viel zu niedrig - und die Sparquote viel zu hoch!

Auch die neuen Mittelschichten fallen als Konsumenten zunächst aus. Sie haben im letzten Jahr zwei Drittel ihres Vermögens durch Verfall der Aktien- und Immobilienpreise verloren. Falls die Immobilienblase platzt, wäre hier auf Jahre hinaus Ebbe.

Sparquote

Die Sparquote ist in China mit 46 Prozent sehr hoch, um sie aber senken zu können und die Nachfrage anzukurbeln, benötigte man funktionierende soziale Sicherungssysteme. Das schlechte chinesische Sozialsystem erzwingt die hohe Sparquote. Die Schulen sind sehr teuer, kaum jemand verfügt über Kranken- oder Rentenversicherung. Wenn jemand z. B. ins Krankenhaus muss, steht das wirtschaftliche Überleben der ganzen Großfamilie auf dem Spiel. Der angekündigte Umbau des Sozialsystems findet auf sehr niedrigem Niveau statt, im Gesundheitswesen beispielsweise soll eine rudimentäre Krankenversicherung eingeführt werden, die auf wenige hundert Yuan pro Jahr begrenzt ist. Ein Krankenhausaufenthalt alleine kostet aber schon mehrere tausend.

Konjunkturprogramm

Auch das staatliche Konjunkturprogramm von 480 Milliarden Euro kurbelt kaum die Nachfrage an. Nur ein kleiner Teil geht in Konsumanreize wie Zuschüsse zum Kauf von Elektrogeräten und Autos, Dreiviertel fließen in Infrastrukturprogramme. Die Zahl von 480 Milliarden Euro ist mit Vorsicht zu genießen; teilweise werden bereits vorher geplante Ausgaben ein zweites Mal gezählt, und die zusätzliche Kreditvergabe der staatlichen Geschäftsbanken wird eingerechnet. Noch schwerer wiegt, dass ein großer Teil der Gelder real gar nicht zur Verfügung steht. Entweder weil er durch Korruption versickert, oder weil lokale Behörden diese Summen aufbringen sollen, die das Geld gar nicht haben. Andere Behörden sind sogar so stark verschuldet, dass sie das Geld aus dem Konjunkturprogramm in ihre eigenen Betriebe stecken.

Lage auf dem Land nach Kriseneinbruch

Die vielen zurückkehrenden WanderarbeiterInnen verschärfen die Probleme auf dem Land noch. Viele wollen und können nicht mehr in der Landwirtschaft arbeiten, auf dem Land langweilen sie sich nur. Andererseits wird ihre Arbeitskraft auch gar nicht gebraucht. Sie sind nur zusätzliche Esser und bringen die ländlichen Sozialsysteme teilweise an ihre Grenzen. In Sichuan beispielsweise wollen nach dem Neujahrsfest 20.000 zusätzliche Kinder von Wanderarbeiterinnen in die Schulen aufgenommen werden, was die Kapazitäten übersteigt, in Henan ist die Situation ähnlich. Viele landwirtschaftliche Produkte wie Baumwolle oder Zuckerrohr sind unter einen enormen Preisdruck geraten und werfen keinen Ertrag mehr ab, ein guter Teil des Einkommens vieler ländlicher Haushalte kam aus der Wanderarbeit. Mit dem Wegfall dieser Gelder gibt es starke finanzielle Schwierigkeiten.

Kämpft

Das Regime verfolgt mit dem Konjunkturprogramm zwei Ziele, die sich zudem beide bewegen: Es soll die explosive soziale Situation beherrschbar behalten, und es soll die Voraussetzungen schaffen, dass China wieder als Fabrik der Welt zur Verfügung steht, falls sich die Krise doch nur als vorübergehender Einbruch herausstellen sollte - eine unrealistische Option, an der sie dennoch festhalten, weil schwer zu sehen ist, wie sonst der Deckel auf dem Topf zu halten wäre.

Ausschreitungen und Kämpfe gegen ausstehende Lohnzahlungen und Abfindungen haben stark zugenommen. Teilweise sah sich der Staatsapparat genötigt, ausstehende Gelder zu bezahlen, um die Situation zu beruhigen. Es finden aber auch Streiks und Proteste gegen Landnahme, die schlechte soziale Versorgung und Willkür staatlicher Behörden statt. Insgesamt gab es sogar nach staatlichen Angaben in den ersten drei Monaten des Jahres 58.000 "soziale Konflikte".


"Seiner loyalen Gefährten beraubt, wird Jing schließlich verraten und schwer verwundet. In einem blutigen Szenario entledigt sich der skrupellose Yang sämtlicher ihm nicht wohlgesonnener Bandenchefs und wird unbestrittener, von der Polizei unterstützter Herrscher Schanghais. Derweil wird der verletzte Jing von seiner Angebeteten gesundgepflegt, besinnt sich auf seine alten Werte und schlägt sich wieder auf die Seite des Rechts. Am Ende des Films stellt er Yang und dessen Gefolge, sowie kooperierende Polizeibeamte in einer finalen Auseinandersetzung."

(Shanghai Hero - The Legend)



Chimerica ist tot. Es lebe Chimerica?

Die Dramatik der Situation kommt daher, dass die Symbiose von beiden Seiten eingebrochen ist und dass China sein Exportmodell abwickeln muss, während es vom Welthandel abhängig bleibt - es aber keinen Ersatz für den gewaltigen, kreditfinanzierten US-Konsum mehr geben wird. Auch die Devisenreserven Chinas können diese Lücke nicht füllen. Denn sie liegen nicht in irgendwelchen Kellern, sondern sind zum überwiegenden Teil angelegt - und zwar in den USA, und unter anderem in konkursbedrohten Finanzinstitutionen wie AIG und Fannie Mae.

Die US-amerikanischen bail outs zielten vor allem darauf, diese Anlagen zu schützen. Sie mussten das tun, denn der Dollar würde einen Abzug der chinesischen Anlagen nicht überleben. Eine Symbiose, bei der auf beiden Seiten die Voraussetzungen weggebrochen sind, wo aber beide Seiten aufeinander angewiesen bleiben.

Bei Geithners Chinabesuch waren denn auch alle beinahe rituell um Harmonie bemüht. Chinesische Politiker, die sich in den Wochen zuvor immer wieder öffentlich Sorgen um die Sicherheit ihrer Geldanlagen gemacht hatten, und zur Drohung auch mal eben den Yuan hatten abwerten lassen, versicherten nun, dass sie den Dollar als Reservewährung unterstützen würden.

Einerseits kann China keine Flucht aus dem Dollar provozieren. Andererseits werden die ersten, die sich aus dem System verabschieden, die geringsten Verluste haben. China hat in letzter Zeit seine Anstrengungen verstärkt, den Yuan zu einer internationalen Währung zu machen, in der gehandelt wird. Sicher gibt es auch eine langfristige Strategie, sich aus dem Dollar zu verabschieden. Das sind aber erstmal Planungen, die mit kleinen Schritten umgesetzt werden müssen. Statt Devisenreserven ausschließlich in Form von US-Staatsanleihen zu horten, werden verstärkt Rohstoffe und Gold gekauft; im Vergleich zu den Devisen aber in Kleinstmengen, denn alle größeren Käufe würden sofort die Preise nach oben treiben und Chinas Vorgehen an die Öffentlichkeit bringen.

Zur Ablösung einer Reservewährung gehörte bisher immer, dass es eine neue starke Währung/Nationalökonomie gab, die übernommen hat. Der Euro hat Terrain gut gemacht, kämpft aber im Moment mit dem Auseinanderdriften des Euroraums; der Yuan ist noch lange nicht so weit.

Da es keine Alternative zum Dollar gibt, hat China weder ein Interesse an einer starken Abwertung des Dollars, noch an einem von steigenden Zinsen verursachten weiteren Einbruch der US-Wirtschaft. Deshalb kommt zwar die eine oder andere Drohgebärde, aber die aktuelle Diskussion um eine internationale Reservewährung dient vor allem dazu, Handlungsfähigkeit zu simulieren, um Panikaktionen und damit einen Crash zu verhindern. Denn eine politischem Einfluß entrückte Reservewährung, die mit Kreditgeld nichts zu tun hat, ist genauso illusionär wie eine Weltregierung.


"Erkenne den Nutzen in dem, was nicht ist"
(Lao Tse)

Raute

Wiederkehr der Realität

Zum Ende der Postmoderne

1973 publizierten Fischer Black und Myron Scholes ihren Text The Pricing of Options and Corporate Liabilities im Journal of Political Economy. Sie stellten darin eine mathematische Formel auf, mit der sich aus Laufzeit, Zinssatz und Varianz einer Aktie, unter Annahme von logarithmisch normalverteilten Kursänderungen, ein Wert für eine darauf basierende Option ergab. (Eine Option ist ein abgeleitetes Finanzgeschäft, ein sogenanntes Derivat.)

1974 veröffentlichte Paul Feyerabend das Manifest des Relativismus Against Method. Outline of an anarchistic Theory of Knowledge (deutsch: Wider den Methodenzwang). Es machte ihn mit dem Slogan "anything goes" schlagartig über die Grenzen der Wissenschaftstheorie hinaus weltbekannt.

1987 wurde Alan Greenspan Vorsitzender der US-Notenbank Federal Reserve System. Mit seiner aggressiven Kreditausweitung wurde er zum Hauptvertreter des "anything goes"-Kapitalismus, der "Alchemisten gleich, den Konjunkturzyklus zusammen mit der Inflation abgeschafft" habe (so jubelte der Herausgeber Joffe in der ZEIT).

Seit 2007 bricht das ganze Gebäude zusammen. Eine Phase geht zuende, in der es so aussehen konnte, "als seien die Mechanismen des Wertgesetzes nicht mehr gültig". Eine Phase, in der "der Arbeiterklasse ein entscheidendes Mittel zur Überprüfung der Auswirkungen ihres eigenen Verhaltens und damit das wichtigste Medium der Vergesellschaftung ihrer eigenen Stärke" gefehlt hatte (Messori/Revelli, 1978; zitiert nach Steve Wright in der Beilage zu Wildcat 83, S. 45)


Die dekonstruktivistische Umdeutung der "Schulden"

Derivate und Optionen hatte es in Warentermingeschäften schon lange gegeben, aber man hatte den "Wert" einer Option nicht bestimmen können. Mit ihrer Formel(1) leiteten Black und Scholes die Mathematisierung des Finanzhandels ein und katapultierten die politische Ökonomie in die Postmoderne. Denn sie machte es möglich, Optionen miteinander zu vergleichen, somit konnte man sie bündeln, daraus wieder andere Optionen und Derivate basteln und damit letztlich ein unendliches Netz von Schuldverschreibungen aufziehen.

Hinter jeder Collateralized Debt Obligation (CDO) und jedem Credit Default Swap (CDS) lauern immer weitere CDOs und CDSs. Solche endlosen Ketten von Schuldverschreibungen und Ausfallversicherungen, die schlussendlich auf nichts anderes hinzeigen als auf sich selbst, haben Deleuze und Guattari in ihrem Klassiker der Postmoderne 1000 Plateaus (1980) als "Signifikantenketten" philosophisch umgerubelt. In ihrem "signifikanten Zeichenregime" verweist jedes Zeichen wieder auf ein anderes Zeichen und nicht mehr auf etwas Reales. Alles wird zum Zeichen, hinter jedem Zeichen lauern bloß weitere Zeichen und hinter all diesen Zeichen und Codes und Simulakren: das große, weite Nichts.

Simulakrum war die wichtigste Wortschöpfung des strukturalistischen Hobby-Philosophen Baudrillard, mit der er Guy Debords Kritik am "Spektakel" zur Behauptung des "Verschwindens der Realität" radikalisiert hatte. Realität und Fiktion seien ununterscheidbar geworden, die vor allem von den Massenmedien produzierten Bilder der Wirklichkeit seien wichtiger und wirklichkeitsmächtiger als die Wirklichkeit selbst. Die simulierte Welt sei zur Scheinwelt, eben zum "Simulakrum" geworden.

1976 erschien Baudrillards Der symbolische Tausch und der Tod, ein zentrales philosophisches Werk der Postmoderne. Es behauptet, die "strukturale Revolution des Werts" führe dazu, dass "die gesamte Sphäre der Produktion in jene der Konsumtion" übergeht; der Tauschwert habe sich vom Gebrauchswert gelöst, das Tauschwertgesetz sei im "symbolischen Tausch" vom Gebrauchswert gelöst und gesellschaftlich totalisiert. - Nein, ich habe das auch nicht verstanden, aber die politische Richtung war klar: Mit der Ersetzung der Kritik der politischen Ökonomie durch eine Theorie des Zeichen- und Objekt-Fetischismus kämpfte er gegen etwas, das er die "Fixierung der Linken auf die Produktionsverhältnisse und die daraus resultierende Klassenfrage" nannte.

In der Finanzwelt musste zur Black-Scholes-Formel noch die massenhafte Verbreitung des PCs und das Internet kommen, damit sich die Trader dran machen konnten, den Traum vom Tauschwert ohne Gebrauchswert umzusetzen. Man schuf einen ständig wachsenden Markt für (Kredit-)Derivate, dessen Volumen die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Ende 2007 auf 681 Billionen Dollar schätzte, das Zehnfache des Weltsozialprodukts. Der alchemistische Traum schien in Erfüllung gegangen zu sein: Man nahm Dreck - mehr oder weniger besicherte Forderungen und ähnlich unangenehmes Zeugs, das niemand in der Bilanz haben will - und formte daraus Gold. Glänzende und funkelnde Anlageprodukte, die famose Bezeichnungen trugen und tolle Renditen versprachen.

Die postmoderne Philosophie propagierte das Funkeln des Geldes als Realität. Und sie hat damit eine breite Strömung des Operaismus infiziert - siehe die Beilage der Wildcat 83 - das ist eine andere Geschichte, die sich in der BRD aber auch auf Verlagsebene abspielte: Der Merve-Verlag hatte Anfang der 70er Jahre wichtige Texte der französischen und italienischen Linken (u.a. der Operaisten) herausgebracht. Im "deutschen Herbst" 1977 strich er Internationale Marxistische Diskussion aus seinem Verlagsnamen und verlegte von nun an Foucault, Baudrillard, Deleuze, Guattari - 1978 erschien der Bestseller der Verlagsgeschichte: Baudrillards Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, 1990 dessen Essay Transparenz des Bösen, in dem er den Börsencrash von 1987 so interpretierte, dass Schulden wie Atommüll in "die Umlaufbahn" geschossen worden seien, ganz einfach in die Stratosphäre ausgelagert.

Genauso lagerten Banken riskante Geschäfte aus ihren Bilanzen in Briefkastenfirmen auf "Offshore-Handelsplätze" aus, später toxic assets in außerbilanzielle Zweckgesellschaften. Hinter dem "anything goes" steckten scheinbar unbegrenzt ausweitbare Schulden. Unter Greenspan als Notenbank-Präsident wurde die Verbriefung von Schuld(-verschreibungen) zu einer gewaltigen, virtuellen Gelddruckmaschine. 90 Prozent der Liquidität im weltweiten Finanzsystem sollen darauf zurückgehen.

Während Greenspan unter dem Druck der Akkumulationskrise handelte, sprach Baudrillard noch 1995 vom "perfekten Verbrechen", von der "Ermordung der Realität". So oder so, der "Mord" hat nicht geklappt. In der Krise ist das eingetreten, wovor er bereits 1990 gewarnt hatte: Wenn die virtuellen Werte in die "Produktionsökonomie" zurückstürzten, würden sie dort eine "wahre Katastrophe" auslösen. In Zahlen: die Gesamtverschuldung der USA steht bei mehr als 350 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Lohnabhängigen in den USA müssten also dreieinhalb Jahre ohne Entlohnung arbeiten, um diese Verbindlichkeiten begleichen zu können. Einige europäische Länder sind relativ noch stärker verschuldet: Die Auslandsverschuldung Islands und Irlands beträgt wahnsinnige 900 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts. Bei Großbritannien sind es 456 Prozent, bei der Schweiz 433 Prozent...


"Wir haben Dinge gesehen..."

Die Theorie dynamischer Systeme beschäftigt sich mit den Bedingungen, unter denen ein System aus dem Gleichgewicht gerät und sich dann neue Strukturen herausbilden. Populärwissenschaftlich wurde das Chaostheorie genannt und war Anfang der 90er Jahre der große hype. "Der gestandene postmoderne Linke und der Zeitgeist-Yuppie haben endlich ein gemeinsames Gesprächsthema: Chaostheorie ist angesagt", begann 1991 ein Artikel in der Wildcat(2), der die Nutzbarmachung dieses Ansatzes in modernen Managementtheorien untersuchte. Mit der Verbreitung von Computern entwickelten sich mehrere Forschungszweige 'weg vom Experiment, hin zur Simulation'. Theorie wurde nicht mehr an der Realität überprüft, sondern in Simulationen durchgerechnet. Aber Modelle sind Modelle und nicht die Realität.

Black und Scholes versuchten, mit einem stochastischen Modell und mathematischen Simulationen die möglichen Wertänderungen einer Finanzanlage in der Zukunft zu ermitteln. Die Stochastik (Kunst des Vermutens, "Ratekunst") ist ein Teilbereich der Mathematik und fasst die Gebiete Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik zusammen. Das Problem des Black-Scholes-Modells liegt weniger in den unrealistischen Annahmen ("idealer Markt", konstanter Zinssatz usw.), die es treffen muss, sondern in "Normalverteilung" und "Varianz". Mit diesen Begriffen versucht die Wahrscheinlichkeitstheorie Zufälligkeiten berechenbar zu machen. Normalverteilung bildet die zu erwartende Streuung um einen Mittelwert ab. Wenn etwa ein Dartspieler 1000 Würfe auf das Zentrum der Scheibe abgibt, wird es eine Häufung der Würfe geben, die im Zentrum landen. Wenn man aber nicht weiß, worauf der Dartspieler zielt - oder schlimmer: wenn dieser während des Werfens seinen Zielpunkt ändert, nützt die ganze Formel nichts. Dass man etwas nicht durchschaut, heißt noch lange nicht, dass es sich "zufällig" verhält. Wirtschaftliche Verhältnisse sind nie zufällig, sie haben bereits im konjunkturellen Auf und Ab eine Richtung. Und noch viel schlimmer: es können Streiks und andere "unvorhergesehene" Dinge passieren. Deshalb liegt das Black-Scholes-Optionsmodell, wie jede Value at Risk-Methode,(3) oft daneben, zuweilen völlig daneben.

Seit Mitte der 80er Jahre verbreiteten sich Wert-im-Risiko-Modelle an der Wall Street und überhaupt im Finanzwesen explosionsartig. Nicht nur die Banken managten das Risiko ihrer Investitionen mit VaR-Modellen. Auch die Rating-Agenturen legten damit den Preis von Optionsscheinen fest oder kalkulierten z.B. ein Bündel von hypothekenbesicherten Schuldverschreibungen. Und das Basel II-Regelwerk verlangte ausdrücklich diese Methoden. Bei diesem Risikomanagementsystem wird der größtmögliche Verlust z.B. in 99 Prozent der berechneten Zeitspannen kalkuliert. Selbst wenn das funktionieren würde, wäre es unklug, damit das Risikomanagement einer ganzen Bank zu betreiben, die im Tagesgeschäft arbeitet. Selbst 100 Handelstage (fünf Monate) ist eine deutlich zu kurze Zeitspanne, um Marktverläufe mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen vorhersagen zu können. Und die VaR-Annahme, in dem übrigen Prozent der Zeitspanne würde auch nichts passieren, was grob vom Standardverlauf abweicht, ist gefährlich falsch!

Zum größten schwarzen Loch für mathematisch errechnete Profite wurden in der Krise die Derivate-Märkte, besonders die CDS (Kreditderivate), deren Preis aus der erwarteten Ausfallwahrscheinlichkeit und der erwarteten Recovery Rate errechnet worden war. Als David Vinear, Finanzchef von Goldman Sachs, im August 2007 sagte: "Wir haben Dinge gesehen, wo mehrere Tage hintereinander der Wert um das 25-fache der Standardabweichung vom Mittelwert abwich", fällte er das Urteil über sein eigenes Risikomanagement. Denn in einem wirklich zufälligen System wären 25-fache Standardabweichungen buchstäblich unmöglich, selbst auf die gesamte Lebensdauer des Universums berechnet hätten sie eine unendlich kleine Wahrscheinlichkeit.


Wiederkehr der Klassenfrage

Die "Chaostheorie" diente auch als Erklärungsansatz für die nicht vorhersagbaren Bewegungen in der Gesellschaft. Hier liegen die Wurzeln der französischen Regulationstheorie von Aglietta, der Mitte der 70er Jahre die tiefe Krise des Kapitalismus zu begreifen versucht. Auch die Weltsystemanalyse von Wallerstein entsteht in Reaktion auf die weltweite Krise 1973/74 und dockt an der Chaostheorie über den Begriff der Bifurkation (Gabelung) an, er bezeichnet die offene Situation, wenn komplexe Systeme die Grenzen ihrer Stabilität erreichen.

Bereits Mitte der 90er Jahre war das große Interesse an "Chaostheorie" abgeebbt, als Ganze ist sie heute esoterisch belegt, nur einzelne Konzepte wie fuzzy logic haben überlebt. Die Regulationstheorie hatte ihren Höhepunkt zu Beginn der 90er Jahre, weil sie Instrumente zu liefern schien, mit denen die damalige weltweite Krise taxiert und eingeordnet werden konnte. Auch hier haben einzelne Begriffe wie Regulationsweise überlebt, aber nach der Theorie als solcher kräht kein Hahn mehr.(4)

Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften wurde Merton und Scholes erst 1997 verliehen; im August 1998 kollabierte der von ihnen geleitete LTCM Hedge Fonds spektakulär - was sie nicht daran hinderte, unmittelbar danach andere Hedge Fonds mit denselben Methoden zu betreiben.(5)

"Baudrillard hat es mit seiner Theorie nicht lange ausgehalten (und) verwandelte sich in einen Apokalyptiker der Gegenaufklärung" (T. Assheuer in seinem Nachruf; ZEIT, 8.3.2007), der in Begriffen wie 'Wahrheit' und 'Leben' nach einem Korrektiv seiner eigenen Theorie suchte. Sein Hass auf den Egalitarismus machte ihn zu einem Fan der Neuen Rechten. Den "11. September" verstand er als Wink der Geschichte. "Der reaktionäre Prophet feierte seine eigenen Weissagungen und deutete den islamistischen Fundamentalismus als Wiederkehr des Verdrängten." (ebenda) Die verdrängte Realität ist in den letzten drei Jahren auf eine ganz andere Art zurückgekehrt. Greenspan und Baudrillard machten sich gerade noch rechtzeitig vom Acker. Der eine trat im Januar 2006 zurück, der andere starb im März 2007. Im selben Monat häufen sich erstmals Meldungen, dass kleine amerikanische Hypothekenhändler reihenweise pleite gingen. Im Juni 2007 gehen zwei Hedgefonds von Bear Stearns bankrott, im Juli steht die IKB vor dem Kollaps und die deutsche Finanzaufsicht BaFin warnt vor der "schwersten Bankenkrise seit 1931", in Großbritannien wird Northern Rock verstaatlicht - spätestens jetzt waren "anything goes" und Postmoderne vorbei. Endlich wieder Boden unter den Füßen!


Anregung zu diesem Essay war der Artikel Traurige Märkte von Gerhard Pretting in der ZEIT vom 23.4.2009


Die Liquiditätspyramide: weltweite Liquidität


Anteil am
Weltsozialprodukt
Anteil an der
weltweiten Liquidität
Derivates
Securitized Debt
Bank Loans
Power Money
976 %
145 %
30 %
7 %
81 %
12 %
6 %
1 %

Derivate: abgeleitete Geldgeschäfte (das, was wie ein Damokles-Schwert darüber hängt und zusammenzubrechen droht.
Securitized Debt: Verbriefung von Schuldverschreibungen (was nun böse zusammengekracht ist).
Bank Loans: von den Geschäftsbanken verliehenes Geld.
Power Money: von der Zentralbank ausgegebenes Geld.


Randnotizen

(1) Auszüge aus wikipedia:

Das Black-Scholes-Modell ... [gilt] als ein Meilenstein der Finanzwirtschaft. Robert C. Merton war ebenfalls an der Ausarbeitung beteiligt, veröffentlichte jedoch einen separaten Artikel. Gerechterweise müsste das Modell daher auch seinen Namen tragen, was sich aber nie durchsetzte. Jedoch wurde Merton zusammen mit Scholes für die Entwicklung dieses Modells mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 1997 geehrt, Black war bereits 1995 verstorben. Die Einmaligkeit und Originalität des Modells von Black, Scholes und Merton ist heute umstritten. Bereits 1908 hatte der Triestiner Mathematiker Vinzenz Bronzin ein weitgehend identisches Modell entwickelt. - sehr ausführlich und spannend auch:
http://de.wikipedia.org/wiki/Option_(Wirtschaft)

Postmoderne
In der Politikwissenschaft haben postmoderne Ansätze zwei zentrale Charakteristika:

1. der Fokus auf Texte und andere Veröffentlichungen, wie Bilder und Symbole, anstatt auf die Geschehnisse selbst.

2. die Skepsis gegenüber objektiven Wahrheiten oder Kategorisierungen. Die analytische Herangehensweise postmoderner Ansätze in der Politikwissenschaft geschieht meist in Form von Diskursanalysen. Postmoderne Ansätze gehen nicht nur davon aus, dass diskursive Repräsentationen Ausdruck von Macht sind, sondern selbst der Diskurs an sich. Empirisch arbeitende Wissenschaftler kritisieren einen Hang zum Irrationalismus und eine Leugnung der objektiven Realität. Berühmt ist die so genannte Sokal-Affäre, in der ein absichtlich unsinniger Artikel, der sich sprachlich an die Arbeiten Baudrillards anlehnte, in Social Text als vorgeblich wissenschaftliche Arbeit veröffentlicht wurde. Laut Alan Sokal zeige das Gelingen dieses Versuchs die mangelhaften intellektuellen Standards und den Missbrauch mathematisch-naturwissenschaftlicher Metaphern in der sich postmodem verstehenden geistes- und sozialwissenschaftlichen Szene.

(2) Wildcat 56, Sommer 1991 "Chaos statt Wärmetod?"

(3) Der Begriff Wert im Risiko oder englisch Value at Risk (VaR) bezeichnet ein Risikomaß, das angibt, welchen Wert der Verlust einer bestimmten Risikoposition mit einer gegebenen Wahrscheinlichkeit und in einem gegebenen Zeithorizont nicht überschreitet. Ein VaR von 10 Mio. $ bei einer Haltedauer von einem Tag und einem Konfidenzniveau von 97,5 Prozent bedeutet, dass der mögliche Verlust der betrachteten Risikoposition von einem Tag auf den nächsten mit einer Wahrscheinlichkeit von 97,5 Prozent den Betrag von 10 Mio. $ nicht überschreiten wird.

(4) "Zur Regulationstheorie siehe Klassenkampf - Krise - Kommunismus, Teil II, in: Wildcat-Zirkular 2, März 1994, oder einfach auf www.wildcat-www.de nach 'Regulationsschule' suchen

(5) Long-Term Capital Management (LTCM) war ein 1994 von John Meriwether gegründeter Hedge-Fonds. Unter den Direktoren waren auch Myron Samuel Scholes und Robert C. Merton - sehr lesenswerter Eintrag auf http://de.wikipedia.org/wiki/LTCM


Raute

Polit-Fiction: Der wahre Mörder in diesem Krimi ...

Des Kapitalismus neue Kleider

Paolo Giussani, April 2009


Der Wucherer verlangt, dass das Geld Früchte trage, was diesem aber von Natur aus nicht gelingen kann.
G. Boccaccio, Über Dante



1. Diener ihrer Zeit

Wenn es stimmt, dass man einen schönen Tag schon am Morgen erkennt, dann erwartet uns zweifellos Großes. Verglichen mit der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre sieht die aktuelle Krise schon jetzt vielversprechend aus: Im letzten Drittel des Jahres 2008 sank das amerikanische Bruttoinlandsprodukt aufs Jahr gerechnet um 6,2 Prozent, das japanische um 13,3 Prozent und das der EU um 3,2 Prozent. Wenn man bedenkt, dass die realen Konsumausgaben in den USA um 4,3 Prozent gesunken, die realen Ausgaben der US-Regierung aber um 6,7 Prozent gestiegen sind, dann muss der Rückgang bei den Realinvestitionen in fixes Kapital - für die es bislang noch keine Schätzungen gibt - bei über 40 Prozent liegen. Eine wirklich bemerkenswerte Performance im Vergleich zur Weltwirtschaftskrise. Damals sank das amerikanische Bruttoinlandsprodukt in den ersten drei Monaten nur um 5,5 Prozent, obwohl der Anstieg der Bundesausgaben (um 4,2 Prozent) relativ wenig antizyklisch und der Rückgang der Investitionen (um 35,2 Prozent) relativ stark prozyklisch wirkte.(1) Viele Fans der gerade beginnenden Depression machen sich schon Hoffnungen, dass sie den 30er Jahren den Titel "Größte Krise der Geschichte" abnehmen wird. Den Titel hat sie noch nicht in der Tasche, aber der zweite Platz ist ihr jetzt schon sicher, denn schon die ersten Daten sichern ihr den Triumph über alle Krisen der Nachkriegszeit - Belanglosigkeiten - und besonders über die aufgeblasenen Krisen der 70er und 80er Jahre, die sich bisher für wer weiß was gehalten haben.

Die aktuellen Entwicklungen machen außerdem nochmals klar, dass es der marxistischen, keynesianischen oder sonstigen "linken" Wirtschaftsliteratur noch nie gelungen ist, eine zusammenhängende Darstellung zu liefern, die dem magischen Wort "Krise" gerecht würde, geschweige denn eine Analyse der verschiedenen Typologien von Krise und Wirtschaftszyklus. Und schon gar nicht hat sie zu verstehen versucht, wie und in welcher Form das kapitalistische Wirtschaftssystem in seine Niedergangsphase eintreten und wie es dann weitergehen könnte. Das führt sie gerade auf schlimmste Weise vor: Über die laufenden Prozesse ist alles Mögliche zu hören, aber niemand untersucht den lang- und kurzfristigen Mechanismus, der zur aktuellen Rezession geführt hat. Stattdessen fühlen sich - vollkommen kompatibel mit den Anforderungen des Politikbetriebs - praktisch alle berufen, Rezepte, Maßnahmen, Erlasse und Wirtschaftspolitiken vorzuschlagen. Das tun sie im übrigen schon seit 30 Jahren mit gleichbleibender Erfolglosigkeit. Je mehr sich die Krise zuspitzt und je deutlicher sich der wirtschaftliche Niedergang als solcher offenbart, desto mehr verwandeln sich die ehemaligen Rebellen in Diener ihrer Zeit. Aber früher oder später frisst die Zeit ihre Diener bekanntlich.


2. Aktiengesellschaft

Die parasitäre Transformation des Weltkapitalismus hat ihren Ursprung im Ende des Nachkriegs-Wirtschaftsbooms, der in die Rezessionen und in die Stagnation der 70er Jahre mündete, als der tendenzielle Fall der hohen Nachkriegs-Profitrate zu einem beträchtlichen Überschuss an Geldkapital führte. Nach zehn Jahren Stagnation wurde die Kapitalschwemme dann für Fusionen und Übernahmen durch den Kauf von Aktien eingesetzt, deren Kurse damals im Durchschnitt recht niedrig lagen. Diese mächtige Konzentrationsbewegung führte natürlich zu einem plötzlichen und andauernden Anstieg der durchschnittlichen Börsenkurse. Dieser Anstieg löste schnell die seit 30 Jahren zu beobachtende Verlagerung von Geldkapital in spekulative Anlagen aus, wodurch wiederum Tokio, London und vor allem New York sehr rasch zu Anziehungspolen des weltweiten Spekulationskapitals wurden. Der relative Umsatz der Wall Street, der im Laufe der Nachkriegszeit weitgehend konstant bei 15 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts gelegen hatte, hob nun ab auf eine fulminante Wachstumskurve, die ihn von 17 Prozent im Jahr 1975 über 35 Prozent im Jahr 1989 auf 150 Prozent im Jahr 1999 katapultierte; 2006 erreichte er den absoluten historischen Spitzwert von 350 Prozent. Das ergibt über den Zeitraum 1975-2006 ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 10,25 Prozent.(2)

Im Unterschied zum spekulativen Boom der 20er Jahre speist sich das Wachstum des spekulativ investierten Geldkapitals heute nicht nur aus den realisierten Profiten und aus den Managereinkommen, sondern - vermittelt durch die Fonds - aus der ganzen Gesellschaft, d.h. auch aus den Löhnen der ArbeiterInnen. Tendenziell wird alles existierende flüssige Geld in spekulatives Kapital verwandelt. Das ist eigentlich nicht sehr verwunderlich. Der Grund, warum das moderne Kapital spontan zur Verwandlung in spekulatives Kapital tendiert, liegt in der inneren Struktur der Aktiengesellschaft.(3) Dank der Verdopplung des Kapitals in produktives Kapital und fiktives Kapital besteht diese - abgesehen von den ArbeiterInnen - aus zwei merkwürdigen personae dramatis statt aus einer wie beim Unternehmen alten Typs. Die Besitzer des nominellen Kapitals sind nicht die Besitzer des produktiven Kapitals, zu letzterem stehen sie sogar in einem parasitären Verhältnis: Jede Erhöhung ihres Einkommens, also der ausgeschütteten Dividenden, muss vom akkumulierbaren produktiven Kapital abgezogen werden, und eine kurzfristige Werterhöhung des nominellen Kapitals - woran den Aktionären vor allem liegt - ist nur möglich durch eine unmittelbare Senkung der Produktionskosten, also das genaue Gegenteil einer langfristigen natürlichen Senkung der Produktionskosten durch fortgesetzte Investitionen in neues produktives Kapital. Die Manager wiederum befinden sich in einer widersprüchlichen Lage. Solange sich kein spekulativer Boom am Horizont abzeichnet, handeln sie als Agenten des produktiven Kapitals; wenn aber der Stern des spekulativen Kapitals aufgeht, sitzen sie an der günstigsten Stelle, um sich augenblicklich in dessen aktive Agenten zu verwandeln, sogar mehr noch als die Aktionäre. Die Aktiengesellschaft ist zwar ein viel mächtigerer Hebel zum Einsammeln von Kapital als die alte Personengesellschaft und stellt das letzte Stadium der Vergesellschaftung im Kapitalismus dar, aber genau deshalb fehlt ihr zwangsläufig ein direkter und eindeutiger Vertreter des produktiven Kapitals; insofern bedeutet die Vergesellschaftung des Kapitals gleichzeitig die Vergesellschaftung des Parasitismus. Mit der Aktiengesellschaft tritt das Kapital tendenziell aus den Grenzen der kapitalistischen Verhältnisse heraus. Dabei verliert es seine Personifizierung, seine persönlichen Agenten. Diese können nicht mehr als solche agieren, weil es sie ganz einfach nicht mehr geben kann. Damit das spekulative Kapital seine Herrschaft durchsetzt und sich die Agenten des Kapitals in Parasiten des Kapitals verwandeln können, braucht es nur einen anfänglichen Impuls von außen, denn niemand kann einen spekulativen Boom in Gang setzen. Wenn die spekulative Ausweitung aber erst einmal angelaufen ist, reproduziert sie sich im modernen Kapitalismus automatisch auf erweiterter Stufenleiter und zieht immer mehr Geldkapital an sich.

Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil stand hinter der Ausweitung des spekulativen Kapitals nicht das Finanz- und Kreditkapital, sondern die Funktionsweise des produktiven Kapitals selbst. Der von den Industrie- und Handelskonzernen spekulativ angelegte Profitanteil ist in den letzten 30 Jahren konstant, teilweise sogar beschleunigt gestiegen, und zwar von 10 Prozent Mitte der 70er Jahre auf 91 Prozent im Jahr 2007. Der größere Teil dieser spekulativen Anlage des Nettoertrags wurde für Rückkäufe von eigenen Aktien verwendet, womit der Börsenwert des eigenen nominellen Kapitals in die Höhe getrieben wurde und gleichzeitig auch die großen Optionspakete, die das Topmanagement sich selbst genehmigt hatte, im Wert stiegen. Der kleinere Teil wurde verwendet, um direkt Aktien von anderen Firmen oder Fonds zu kaufen. Ohne diese Verlagerung von Geldkapital aus der produktiven Akkumulation in spekulative Anlagen hätte es weder einen spekulativen Boom gegeben, noch hätte der Finanzsektor sich so sensationell ausweiten können. Umgekehrt proportional zum ständig steigenden Anteil am Nettoertrag, der in den spekulativen Kreislauf einfloss, sank die Akkumulationsrate in der gesamten OECD; damit wurde die seit den 70er Jahren herrschende Stagnation vollends chronisch. Der Wirtschaftsboom in China und in Südostasien hat die Talfahrt im Westen nur teilweise kompensiert, und das auch nur, weil er in großem Maße Güter höherer Qualität durch Güter minderer Qualität ersetzte und so der laufenden Verarmung eines großen Teils der Gesellschaft entgegen kam.


3. Schuldenboom

Die spekulative Ausweitung hängt eng zusammen mit dem Schuldenboom, sie ist sogar seine notwendige Grundlage. Von 1952 bis 2008 stieg die Gesamtverschuldung der amerikanischen Wirtschaft von 103 auf 320 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und 90 Prozent dieses Anstiegs haben sich seit 1977 angehäuft. Wenn man die vier Hauptbereiche (Finanzunternehmen, Nicht-Finanzunternehmen, Privathaushalte und Öffentliche Hand) vergleicht, fällt auf, dass die Schulden der Nicht-Finanzunternehmen und der Öffentlichen Hand relativ wenig gestiegen sind. Besonders stark gestiegen ist demgegenüber die direkte Verschuldung der Finanzunternehmen, genauer gesagt die direkte Verschuldung der Privathaushalte und der Finanzunternehmen, wobei der Anteil der letzteren an der Gesamtverschuldung innerhalb von 25 Jahren von Null auf fast 40 Prozent zugenommen hat. In beiden Fällen lässt sich der Prozess der Verschuldung leicht erklären.

Angesichts des durch spekulative Investitionen ausgelösten Anstiegs der Grundstücks- und Immobilienpreise haben viele Eigenheimbesitzer auf ihre Immobilien noch eine zweite oder dritte Hypothek aufgenommen und sich damit ein zusätzliches Pseudoeinkommen verschafft. Damit konnten sie ein Stück weit die sinkenden Reallöhne ausgleichen, vor allem um die gewaltig gestiegenen Krankheits- und Ausbildungskosten aufzufangen, aber auch, um sich weiterhin dauerhafte Konsumgüter leisten zu können. Soweit zur Nachfrageseite für Kredite. Auf der Angebotsseite stellt sich die Schwemme an verleihbaren (Geld-)Mitteln als Nebenprodukt der gigantischen Umwandlung von Geldkapital in spekulatives Kapital dar. Während bei der Verwandlung von Geldkapital in produktives Kapital flüssige Mittel tendenziell festlegt werden, behalten beim spekulativen Anlegen von Geldkapital die Bankeinlagen, die als Zirkulationsmittel dienen, dauerhaft ihre direkt flüssige Form und bleiben deshalb direkt verleihbar. Die wachsende Liquidität des Kreditgelds hat zu sinkenden Zinsen geführt, deren Abwärtskurve sich fast perfekt mit der Dauer des Spekulationsbooms deckt: vom Höchststand von 18,2 Prozent im Jahr 1982 auf den Tiefststand von 2,2 Prozent im Jahr 2006.(4) Und diese Abwärtsbewegung hat ihrerseits den relativen Anstieg der Verschuldung stark begünstigt und angeregt. Trotzdem zeigen die Zahlen über die Entwicklung von Bankkrediten und Obligationen nicht vollständig die tatsächliche Verschuldung des Finanzsektors; diese ist zum größten Teil jeder Messung entzogen, da sie in den Derivaten enthalten ist, deren Volumen seit Beginn der 90er Jahre, als der Spekulationsboom also schon lief über jedes vorstellbare Maß hinaus angewachsen ist.(5)

Trotz allen - oft recht poetischen - Geraunes über das Wesen der Derivate ist kein großes Geheimnis dabei. Derivate sind bloß eine besondere Art von Wette, bei der auf die Bewegung von Wertpapieren, Währungen, Zinsraten und/oder einem mehr oder weniger komplizierten Mix daraus gesetzt wird. Derivate sind im wesentlichen eine Form von spekulativer Investition ohne Kapitalvorschuss; vom Verkäufer der Derivatverträge aus gesehen fungieren sie als Versicherung gegen eine ungünstige Bewegung, während sie vom Standpunkt des Käufers aus die entgegengesetzte Funktion erfüllen, d.h. dazu dienen, einen Spekulationsgewinn zu erzielen. Der Handel mit Derivaten als solcher hat keinen Einfluss auf die Entwicklung der eigentlichen Spekulation, bzw. er hat nur indirekten Einfluss, wenn nämlich - wie es bei Futures oft geschieht - seine Auswirkungen vom spekulativen Kapital als Wegweiser genommen werden. Andererseits beinhaltet die Akkumulation von Derivaten eine sowohl in ihrer Richtung wie auch in ihrer Höhe vollkommen zufällige Verschuldung, die um ein Vielfaches höher liegt als die mögliche Verschuldung über die verschiedenen Formen des Kredits.(6)


4. Kreditketten

Der unendliche Anstieg der Verschuldung muss irgendwann an Grenzen stoßen, die von der Produktion von neuem Ertrag gesetzt werden. Der Kredit dient als Voraussetzung zur Produktion von Ertrag; und der produzierte Ertrag muss zum Ausgangspunkt zurückkehren und den zu Beginn der Bewegung vorgestreckten Kredit tilgen.

Damit dieser Kreislauf stattfinden kann, müssen aber am Ende des Kredit-Ertrag-Zyklus einige Faktoren gegeben sein, die am Anfang noch nicht vorhanden waren. Der erste davon ist die Zinsrate. Steigt diese im Laufe des Prozesses an, dann könnte es sein, dass der produzierte Endertrag nicht mehr ausreicht, um die vorgeschossene Kreditsumme zu tilgen. Der zweite Faktor ist die Grundlage des ausgegebenen Kredits. In Industrie und Handel beruht der Kredit darauf, dass die Forderungen aus Lieferungen und Leistungen (Schecks, Wechsel usw.) zu Geld gemacht werden; indem die Waren zirkulieren, verwandeln sie den Kredit in Geld, das, indem es zum Ausgangspunkt zurückfließt, wieder die Bedingungen für eine neue Kreditvergabe schafft und so weiter. In der spekulativen Zirkulation entspricht der Kredit keiner Warenzirkulation, im Derivatgeschäft noch viel weniger. Jegliche Rhythmusstörung in der Zirkulation kann ein krasses Missverhältnis zwischen verfügbarem Ertrag und angehäuften Schulden auslösen. Besonders dann, wenn in der sogenannten "Realwirtschaft" nicht mindestens gewisse Erträge produziert werden und/oder nicht ständig mindestens ein gewisser Teil dieser Erträge in spekulative Anlagen fließt, nimmt die Verschuldung gegenüber dem verfügbaren Ertrag offenbar sehr schnell unverhältnismäßig zu, bis schließlich zwangsläufig die Zirkulation unterbrochen wird. Natürlich brechen zuerst die schwachen Glieder der Kreditkette; in unserem Fall war das der Subprime-Hypotheken-Sektor, der, anders als die offizielle Propaganda es behauptet, nicht daran kaputt gegangen ist, dass zuviele Kredite gewährt wurde, sondern daran, dass die Kredite sich nicht auf ausreichende Lohneinkommen stützen konnten (und können).

Was auf der einen Seite Kredit ist, sind auf der anderen Seite Schulden. Wenn irgendwo in der Transaktionskette die Schulden nicht mehr bedient werden können, dann können sie sich nicht mehr in Erträge verwandeln, wodurch dann zwangsläufig auch irgendwo anders die Erträge fehlen, um die Schulden zu bedienen. Damit wird eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, deren Reichweite der Ausdehnung des allgemeinen Verhältnisses zwischen Verschuldung und laufenden Einnahmen entspricht. Genau diese Reaktion können wir gerade beobachten: von den Subprimes zu den Kreditinstituten, von diesen zu den Geschäftsbanken und von denen weiter zu den Handelsbanken. Je riesiger die relative Verschuldung der Finanzbranche, auf desto dünneres Eis geraten die spekulative Anlage von Geldkapital und die erzielbaren Gewinne in allen Teilen dieser Branche und desto wahrscheinlicher wird ein Umsichgreifen der Insolvenz.

Der Bruch der Zahlungskette hat sich über verschiedene Kanäle von der Finanzbranche zur sogenannten "Realwirtschaft" fortgepflanzt. Zu den unmittelbaren Auswirkungen der Krise gehörte der plötzliche Rückgang der Nachfrage nach Industriegütern und Dienstleistungen seitens der Finanz- und Kreditbranche, was viele Unternehmen dazu gezwungen hat, zusätzliche Bankkredite zum Ausgleich ihres gesunkenen Umsatzes aufzunehmen - was sich aber plötzlich als ziemlich schwierig herausstellte, zum einen weil die Handelsbanken über weniger liquide Mittel verfügten, zum andern weil die Titel im Besitz der Firmen der "Realwirtschaft" so rasch an Wert verloren, dass sie immer weniger als Sicherheit für Kredite taugten. Die Nachfrage der Privathaushalte nach Konsumgütern war schon einige Zeit vor dem Krisenausbruch zurückgegangen, jetzt beschleunigt sich der Rückgang dank des Einbruchs der Kreditnachfrage in der zweiten Jahreshälfte 2008 (die Kreditaufnahme der Privathaushalte fiel in den letzten fünf Monaten des Jahres 2008 von 10,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts praktisch auf Null, und die Kreditaufnahme der Nicht-Finanzunternehmen fiel von 10,3 auf 1,9 Prozent).


5. Auswege?

Seit Ausbruch der Krise dachten praktisch alle Linkskeynesianer, sie könnten der Welt die gute Nachricht vom Ende des Neoliberalismus und von der Rückkehr zum lang ersehnten Big Government bzw. zum Deficit Spending zu verkünden, dem sich die Regierungen nun wohl oder übel beugen müssten, um zu verhindern, dass alles zusammenbricht. Dabei handelt es sich jedoch um ein Gemisch aus Lügen und frommen Illusionen. Deficit Spending hatte noch nie etwas mit einer hohen Akkumulationsrate und einem steigenden Nationalprodukt zu tun; in dieser Hinsicht hat es in den Zeiten normaler Kapitalakkumulation nie eine "keynesianische" Epoche gegeben. Vor allem bedeutet der von den Regierungen und besonders von der Regierung Obama jetzt eingeschlagene Weg nicht Big Government, sondern ausschließlich Big Finance bzw. erstens die Verwandlung der Zentralbank in eine Handelsbank, damit sie direkt beliebige Wertpapiere und/oder Schuldverschreibungen jedes beliebigen Teils des Finanzsystems in Geld verwandeln kann, und zweitens Geldschöpfung mit dem Ziel, alle wertlos gewordenen Kapitaltitel aus den Bilanzen des Finanzsystems zu entfernen und durch liquide Mittel zu ersetzen. Es geht eindeutig darum, die Zirkulation des spekulativen Kapitals wieder genau wie vorher in Gang zu bringen, d.h. sogar noch mehr als vorher, denn ab jetzt wäre es eine spekulative Zirkulation, die ständig von einem Interventionssystem der Zentralbank und der Regierung gestützt wird, das beim kleinsten Anzeichen eines Liquiditätsmangels blitzschnell eingreift. Der ganze Rest - Erhöhung der Sozialausgaben, Re-regulierung des Finanzsystems und der Banken usw. - ist nur pathetisches Geschwätz.

Da dem vom Staat im Austausch gegen uneinbringliche Titel (die inzwischen allseits bekannten toxic assets) in die Finanz- und Kreditbranche gepumpten Geldkapital kein Gegenwert gegenüber steht, werden die Handelsbanken, die Investmentbanken, die Finanzgesellschaften usw. es nicht als Kreditkapital einsetzen, sondern horten und damit letztlich die Spekulation von Neuem anheizen; ein Verhalten, das auch in den anderen Teilen der Wirtschaft, insbesondere in der "Realwirtschaft" um sich greifen wird. Da die von der Regierung an Banken und Finanzunternehmen ausgegebene Menge an Geldkapital zwar unermesslich groß, aber doch entschieden kleiner ist als die Schulden, die sie tilgen soll, läuft die Intervention zur Rettung der Sphäre des spekulativen Kapitals ernsthaft Gefahr, die Implosion des Wirtschaftssystems nicht zu verhindern, sondern eine spektakuläre Spirale von immer neuen und immer größeren Wiederholungen der aktuellen Krise in Gang zu setzen.

Theoretisch könnten die Politiker andere Wege gehen, jedoch nur theoretisch. Das spekulative Finanzwesen ausschalten und dabei Investmentbanken, Finanzgesellschaften, Fonds usw. Konkurs gehen lassen; dem Nicht-Finanzsektor die spekulative Anlage von Geldkapital verbieten; die Derivate abschaffen und die Begleichung der mit ihnen erzeugten Schulden verbieten; die Pensionsfonds verstaatlichen, indem man sie garantiert und auf ein Umlageverfahren umstellt; die Handelsbanken verstaatlichen und direkt der Zentralbank unterstellen, die wiederum unter die Kontrolle der Regierung gestellt werden würde, kurz: ein Programm, das konsequent versucht, wieder günstige Bedingungen für die Akkumulation von produktivem Kapital zu schaffen und somit letztlich "den Kapitalismus zu retten". Angenommen, wir wollten einen Polit-Fiction-Film drehen, der von der Hypothese ausgeht, dass die Regierungen der großen Staaten sich daran machen, die Zirkulation von spekulativem Kapital auf ein Minimum zu reduzieren - welche Folgen müssten wir uns ausmalen? Keine besonderen. Es würde auf eine erweiterte Neuauflage der 70er Jahre hinauslaufen. Der Fall der Profitrate würde mehr oder weniger direkt dazu führen, dass auch die Akkumulationsrate sinkt, während die wachsende öffentliche Verschuldung zu einer steigenden Inflationsrate führen würde. Dieser Zustand einer andauernden Stagnation würde eher früher als später an einen Scheideweg führen: Entweder würden sich die ArbeiterInnen durchsetzen und die Voraussetzungen für ein anderes Wirtschaftssystem schaffen, oder wir würden ein brutales dejà vu genau der Entwicklung der späten 70er und 80er Jahre erleben, das zur heutigen Situation geführt hat.

Der einzige wirkliche Vorläufer eines Mechanismus, der die Bedingungen für eine langandauernde Phase von Akkumulation von produktivem Kapital wiederhergestellt hat, war der Zweite Weltkrieg. Die Depression von 1930 bis 1939 hatte nicht ausgereicht. Sie reichte aus, um das spekulativ akkumulierte Kapital zu beseitigen, aber um einen Akkumulationsprozess von fixem Kapital über einen langen Zeitraum in Gang zu bringen, war mehr nötig: Dazu musste das überakkumulierte Kapital vernichtet und die Profitrate auf ein Niveau angehoben werden, das höher lag als der Höchststand der vorhergehenden Phase: Für beides sorgte auf wundersame Weise die Kriegswirtschaft von 1939 bis 1945, die die potentielle Energie schuf, die in den darauf folgenden 30 Jahren ausgebeutet wurde.(7) Die heutige Ökonomie steckt in einer totalen Sackgasse, und es ist kein Mechanismus bzw. kein externer Mechanismus verfügbar oder vorstellbar, der dieselben Wirkungen erzielen könnte. Das ist natürlich nicht der einzige Grund, warum die Politiker kein Interesse an einer Politik wie der eben beschriebenen (8) zur Rettung "des Systems" (wie man früher sagte) als Ganzem haben können. Sie haben nicht nur keine Ahnung, was das "System" ist, sie können es nicht einmal sehen. Seit etwa 30 Jahren haben sie sich nach und nach von jeglicher Beziehung zur ökonomisch-sozialen Basis abgekoppelt und sich fast vollständig vom allgemeinen Spekulationsgeschäft in seinen fast unendlichen Varianten und Formen abhängig gemacht - vor allem in jenen Formen, an denen der Staat beteiligt ist, was sie vollkommen unfähig gemacht hat, auch nur die banalsten Maßnahmen gegen die sich abzeichnende wirtschaftliche Katastrophe zu ergreifen, an die sie im übrigen nicht glauben können.

Aber der wahre Mörder in diesem Krimi ist ein anderer. Solange die Masse der ArbeiterInnen der reichsten Länder wie bisher den getreuen Spiegel der Politiker und Manager mimt, werden diese ungerührt noch mitten im kolossalsten ökonomischen Desaster so weitermachen. Hoffen wir, dass die Morgenröte der Krise die ArbeiterInnen zwingt, ihr selbstmörderisches Verhalten zu ändern.


Randnotizen

(1) Zu einem Vergleich der Depression der 30er Jahre mit der gegenwärtigen Krise siehe B. Eichengreen und K.H. O'Rourke, A Tale of Two Depressions, (April 2009) auf http://www.voxeu.org/index.php?q=node/3421. Hieraus haben wir die Schaubilder auf der nächsten Doppelseite entnommen.

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Welche Krise macht das Rennen? Hier der Stand nach 12 Monaten:
- Rückgang der weltweiten Industrieproduktion im Vergleich nach Juni 1929 bzw. April 2009
- Rückgang des Welthandels im Vergleich nach Juni 1929 bzw. April 2008 - Entwicklung der Kreditaufnahme in den USA (in Milliarden Dollar)

(2) Im selben Zeitraum stieg der reale Index der Wall Street (S&P 500) von 390,40 im Jahr 1975 auf den historischen Höchststand von 1765,14 im Jahr 2000. Das bedeutet ein Plus von 369 Prozent und eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 6,8 Prozent. In den 30 Jahren davor (1945-1975) war der reale Index S&P 500 nur um 119,1 Prozent gestiegen. Das bedeutet eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 2,16 Prozent. Gleichzeitig stieg das Verhältnis zwischen Börsenwert und Unternehmensgewinnen - das von Kriegsende bis 1975 fast durchgängig um einen Durchschnittswert von 14,32 pendelte - von zuletzt 11,09 auf 46,71, was einen Gesamtanstieg von 349 Prozent bzw. ein jährliches Wachstum von 4,74 Prozent bedeutet.

(3) Siehe The speculation economy von L.E. Mitchell (San Francisco: Berret-Koehler 2007), wo der Übergang von der Personengesellschaft zur Aktiengesellschaft und die allgemeinsten ökonomischen Folgen dieser Verwandlung dargestellt werden.

(4) Die Zahlen beziehen sich auf das Mittel der verschiedenen Zinsraten für kurzfristige Kredite.

(5) Nach (teilweisen) Schätzungen der International Association for Swaps and Derivatives ist die nominale Gesamtsumme der Derivatverträge von 1994 bis zum ersten Halbjahr 2008 von 11 Billionen auf 530 Billionen US-Dollar gestiegen.

(6) Eben darum hat der berühmte amerikanische Finanzier Warren Buffet die Derivate "finanzielle Massenvernichtungswaffen" genannt. Wie treffend diese Bezeichnung war, zeigte sich beim blitzartigen Zusammenbruch des ganzen Systems der amerikanischen Investmentbanken, der bei weitem größten Besitzer von Derivaten.

(7) Mechanismus, der während des Kriegs die Grundlage für die riesige Nachkriegsexpansion geschaffen hat, sah natürlich anders aus, als es sich die Keynesianer vorgestellt hatten, und er hat wenig mit einer durch öffentliche Ausgaben geschaffenen effektiven Nachfrage zu tun. Heute ist fast vergessen, dass viele Keynesianer 1943, als die amerikanische Regierung schnell die Kriegswirtschaft beendete, Roosevelt heftig kritisierten und vorhersagten, dass das Ende der Kriegswirtschaft zum raschen Ausbruch einer neuen und noch schlimmeren Depression als im vorigen Jahrzehnt führen würde. Es ist ja bekannt, wie die Dinge dann liefen.

(8) Nicht einmal an schüchternen Maßnahmen gegen das Finanzsystem, wie sie Helmut Schmidt vorschlug ("Der Markt ist keine sichere Bank", Die Zeit Nr. 40, 28. September 2008), den danach fast alle wie eine Kreuzung aus neobolschewistischem Umstürzler und verkalktem Tattergreis behandelten.

Raute

Ein post-fordistischer Streik

Bericht über die Auseinandersetzung bei Ford-Visteon in Großbritannien

Im Juni 2000 wurde bei der Ford Motor Company die Produktion von bestimmten Teilen an eine neue Firma namens Visteon outgesourct - tatsächlich handelte es sich um eine Ausgründung von Ford, die weiterhin zu 60 Prozent Ford gehörte. Inzwischen hat Visteon Fabriken auf der ganzen Welt. In England schlossen Ford und die Gewerkschaft einen Vertrag ab, der den ehemaligen Ford- (und jetzigen Visteon-)ArbeiterInnen zusicherte, dass sie weiterhin die gleichen Löhne und Arbeitsbedingungen wie bei Ford haben würden (d.h. "gespiegelte" Bedingungen). Alle neu eingestellten Visteon-ArbeiterInnen bekamen aber schlechtere Verträge.

Am 31. März 2009 gab Ford-Visteon die Schließung von drei Fabriken in Großbritannien und die Entlassung aller 610 ArbeiterInnen bekannt. Die Firma wurde für insolvent erklärt und unter Konkursverwaltung gestellt. Ohne Vorwarnung wurde den ArbeiterInnen mitgeteilt, sie seien gekündigt und müssten in wenigen Minuten gehen, weil die Firma pleite sei, worauf die ArbeiterInnen fragten, was aus ihren Abfindungen und Renten werde. Das Management hatte sie bis zur letzten Minute arbeiten lassen, im Wissen, dass sie für ihre letzten Schichten noch nicht mal bezahlt werden würden.

Am 1. April besetzten die ArbeiterInnen in Belfast ihre Fabrik. Innerhalb von zwei Stunden kamen schon mehrere hundert lokale UnterstützerInnen vorbei. Zwei Verwalter des Wirtschaftsprüfungsunternehmens KPMG waren auf dem Gelände, während die Besetzung losging, und weigerten sich zu gehen. Also sperrten die ArbeiterInnen sie in einem Bürocontainer ein - wo sie 36 Stunden ohne Essen blieben, bevor sie endlich bereit waren, zu gehen! So viel sinnloser Einsatz für ihren Job ...

Am selben Tag besetzten auch die Visteon-ArbeiterInnen in Basildon (Essex) und Enfield (Nord-London) ihre Werke, nachdem sie von der Besetzung in Belfast gehört hatten. Im Werk in Basildon befanden sich keine Lagerbestände oder Maschinen, die für die Firma von größerem Wert gewesen wären; also verwüsteten die ArbeiterInnen dort die Büros. Bullen in Demoausrüstung liefen auf und "überredeten" die ArbeiterInnen, ihre Besetzung zu beenden, angeblich mit der Drohung: "Haut ab, oder wir nehmen euch fest wegen Sachbeschädigung." Danach standen rund um die Uhr Streikposten vor dem Werk.

Die Bedingungen vor Ort bestimmten den Charakter der Auseinandersetzung in den drei Werken; in Belfast wohnten viele ArbeiterInnen in der Nähe des Werks und hatten ein gutes Verhältnis zu den Leuten in der unmittelbaren Nachbarschaft. Über die Jahre waren sie in vielen lokalen Auseinandersetzungen solidarisch gewesen. Folglich bekamen sie nun massenhaft praktische Unterstützung; innerhalb von Stunden kamen Leute und Ladenbesitzer aus der Gegend mit Lebensmitteln und anderen Sachen für die BesetzerInnen. Anders als in den anderen Werken wurde in Belfast auch der Weiterbetrieb des Werkes und der Erhalt der Arbeitsplätze gefordert (auch wenn nur wenige das für wahrscheinlich hielten).

In Basildon und Enfield kamen die ArbeiterInnen aus einem großen Einzugsbereich in und um London. In Enfield waren viele - vor allem Frauen - seit 20 bis 30 Jahren bei Ford! Visteon; sie hatten miterlebt, wie die Fabrik von 2000 auf 260 Beschäftigte schrumpfte, als die Zündkerzen- und Elektronikproduktion in andere Fabriken verlagert wurde - teilweise bis in die Türkei oder nach Südafrika. Die Arbeiter waren sehr bunt zusammengesetzt; ungefähr die Hälfte war in Indien, Sri Lanka, Italien, der Karibik usw. geboren.

Die ArbeiterInnen in allen Werken waren Mitglieder der Gewerkschaft Unite. In Enfield lief der Kontakt zu Unite allein über die Convenors.(1) Ein paar Gewerkschaftsbosse ließen sich kurz blicken und erklärten ihre Unterstützung, aber außer ein wenig dürftiger Rechtsberatung kam nichts von ihnen. Die Besetzer waren auf sich allein gestellt. Die ArbeiterInnen hatten jahrelang Beiträge gezahlt, nun dauerte es über drei Wochen, bis die Gewerkschaft endlich ein bisschen Geld locker machte. Die Gewerkschaft erwähnte die Auseinandersetzung weder auf ihrer Website noch informierte sie ihre Mitglieder. Die Aufrechterhaltung der Besetzung und der Streikposten hingen also ausschließlich an den ArbeiterInnen und UnterstützerInnen. In Enfield war die Unterstützung aus der Nachbarschaft sehr schwach - das Werk liegt zwar in der Nähe eines Arbeiterviertels, aber das Industriegebiet ist durch eine Hauptstraße abgetrennt. Als Pendler hatten die ArbeiterInnen keine lokalen Kontakte wie in Belfast.

In Basildon fanden die ArbeiterInnen Belege dafür, dass die Schließungen seit Jahren geplant gewesen waren und dass die gesamte Ausgliederung von Visteon durch Ford möglicherweise Teil eines langfristigen Plans zur möglichst bequemen und kostengünstigen Schließung unrentabler Firmenteile war. Sie fanden auch heraus, dass einer der Chefs vorhatte, die Fabrik später mit billigeren Arbeitskräften wieder zu eröffnen, und dass die Manager ihre eigenen Pensionen in Sicherheit gebracht hatten, indem sie sie in einen anderen Fonds verschoben hatten. Also besuchten sie diesen Chef auf seinem Anwesen. Leider war er nicht zu Hause, und Visteon hatte schon Wachleute vor seinem Haus postiert. Die ArbeiterInnen gaben einen Brief mit ihren Forderungen ab.(2)


Protest oder Klassenkampf?

Die Besetzung in Enfield fiel zeitlich zusammen mit den G20-Protesten im Finanzzentrum in der Londoner City, wo einige tausend AktivistInnen den versammelten Führern der Welt ihre antikapitalistische Haltung demonstrierten. Hier wurden Flugblätter verteilt, um die Protestierenden über die Besetzung bei Visteon zu informieren, aber es gab wenig Reaktionen. In einem Internetforum kommentierte jemand später die Aktion folgendermaßen:

Der Kontrast zwischen der Energie und dem Aufwand für die Organisierung der G20-Proteste und der Unterstützungfür die Visteon-Besetzung war krass. Teilweise zeigt das, welche unterschiedlichen Prioritäten für einige Leute der Protest von AktivistInnen auf der einen und der Klassenkampf auf der anderen Seite haben. Teilweise zeigt es auch, dass viele nützliche G20-Ressourcen [die wir bei der Besetzung und später bei den Streikposten hätten brauchen können] schon wieder weg aus London auf dem Weg nach Hause waren. [...] Die Besetzung läuft jetzt seit zehn Tagen, und ich glaube nicht, dass irgendwann viel mehr als 300 Leute draußen vor der Fabrik waren, einschließlich den ArbeiterInnen, ihren Familien und FreundInnen und der SWP, während Tausende beim G20 waren. Natürlich leben nicht alle in Londen, aber viele wollen einfach nichts mit "Klassenkampf" zu tun haben.

AktivistInnen klagen manchmal darüber, dass die Gewerkschaften, der Staat usw. Kämpfe zu isolieren versuchen - aber einige Leute kriegen das mit ihrer politischen Ideologie auch ohne fremde Hilfe hin ...


Während der Besetzung

Die Besetzung in Enfield selbst organisierte sich informell - die Leute, die sich von der Arbeit kannten, kamen jetzt in einem ganzen anderen Verhältnis zum Betrieb zusammen. Die Aufgaben wurden nach Bedarf und nach Fähigkeiten verteilt. Von insgesamt 210 Beschäftigten hielt ein harter Kern von 70 bis 80 ehemaligen ArbeiterInnen(3) plus einer Handvoll UnterstützerInnen die Besetzung aufrecht.(4)

Mit dem Fortgang der Besetzung entstand ein Netzwerk von UnterstützerInnen; am vierten Tag der Besetzung, einem Samstag, fand eine Kundgebung statt. Danach trafen sich AktivistInnen aus der anarchistischen und libertären Szene und gründeten um die bestehende libertäre Haringay Solidarity Group(5) herum eine Unterstützergruppe. Dieser harte Kern von etwa 15 bis 20 Leuten organisierte während der weiteren Besetzung die Streikposten rund um die Uhr vor dem Werk und den größten Teil der Unterstützung für die ehemaligen ArbeiterInnen. Das war wichtig; die ArbeiterInnen selbst sagten, dass es diese überraschende Unterstützung war, die sie in ihrem Kampf bestärkte. Flugblattaktionen, Spendensammeln, Öffentlichkeitsarbeit und Streikposten wurden gemeinsam von ehemaligen ArbeiterInnen und UnterstützerInnen durchgezogen. In diesem Betrieb gab es keine militante Geschichte, und nur wenige hatten eigene politische Erfahrungen. Nach der spontanen Entscheidung, den Betrieb zu besetzen, war diese Solidarität - die verglichen mit früheren Zeiten des Klassenkampfs durchaus begrenzt war - eine willkommene Überraschung.

Die linken Gruppen kamen zu den verschiedenen Events und Möglichkeiten, um Fotos zu machen und Zeitungen zu verkaufen. Abgesehen von ein, zwei individuellen Ausnahmen trugen sie aber sehr wenig aktiv zum Kampf bei. Tatsächlich wurden mehrere Mitglieder der SWP [Trotzkisten, die größte linke Partei in Großbritannien] wegen ihrer gönnerhaften Haltung rausgeworfen.

Nach neun Tagen, am 9. April, wurde die Besetzung jedoch beendet. Damals schrieben wir:

"Die Gewerkschaft hat die ArbeiterInnen heute (Donnerstag, 9. April) überredet, die Besetzung zu beenden, ohne ihnen irgendwas Genaueres über den angeblichen Deal mitzuteilen. Am Dienstag soll angeblich alles offengelegt werden. Da stellt sich natürlich die Frage: Warum können sie dann nicht erst am Dienstag entscheiden, ob sie die Fabrik verlassen? [...] Die statt der Besetzung geplanten Streikposten werden dem Abtransport von Visteon-Materialien weniger in den Weg stellen können. Außerdem lässt sich sicher auch die Aktivität der Streikposten mit juristischen Drohungen einschränken. [...]

Auf der letzten BesetzerInnenversammlung wurde kein echter Widerstand laut gegen die Linie der Gewerkschaft, den Betrieb zu verlassen - obwohl einige BesetzerInnen vorher in Gesprächen gesagt hatten, dass sie weitermachen wollten, bis ein anständiger Deal rauskommt. Dieselben Gewerkschafts-Convenors, die anfangs gesagt hatten, sie und die anderen BesetzerInnen würden niemals die Fabrik verlassen, bevor ein zufriedenstellender Abschluss unterschrieben wäre, mussten nun die ArbeiterInnen davon überzeugen rauszugehen, obwohl es keine Garantien gab, sondern nur Gerüchte über einen möglichen mysteriösen kommenden Deal. Auf der Versammlung kritisierten einige Leute heftig die Gewerkschaft, weil die sie im Dunkeln über die Entwicklungen ließ und die Besetzung nicht genügend unterstützte; die meisten waren aber inzwischen entweder erleichtert oder fügten sich dem Beschluss, die Fabrik zu verlassen. Dass letztlich die Gewerkschaft über das Schicksal der ArbeiterInnen entscheidet, wurde nicht in Frage gestellt. Als in der Frühphase der Besetzung angesprochen wurde, dass die Gewerkschaft gegen den Willen der ArbeiterInnen auf ein Ende der Besetzung drängen könnte, antworteten einige ArbeiterInnen: "Die Gewerkschaft sind doch wir", als könne die kollektive Stimme der ArbeiterInnen die Gewerkschaftsstrukturen kontrollieren. Aber sobald die Funktionäre - am anderen Ende der Welt - mit Verhandlungen begonnen hatten und der ganze Prozess - abgetrennt und geheimgehalten vor den ArbeiterInnen - in der Hand von Spezialisten war, konnten sie sich nicht mehr auf ihr eigenes Wissen verlassen, sondern waren abhängig davon, was man ihnen erzählte. Aus langer Erfahrung wissen wir, dass die Gewerkschaftshierarchie eigene Interessen verfolgt, die sich oft nicht mit denen der ArbeiterInnen decken."(6)

Ein Video von der letzten BesetzerInnenversammlung zeigt, wie die Gewerkschaft erklärt, warum es zu Ende gehen muss.(7) Es sieht danach aus, als sei mit Drohungen, bewusst vagen Informationen und zweifelhaften Ratschlägen hantiert worden. Die juristischen Argumente und die Einschätzung der Risiken waren aus verschiedenen Gründen extrem dubios. Wenn die BesetzerInnen sich geweigert hätten zu gehen und die Sache wieder vor Gericht gekommen wäre, hätte man zur Verteidigung von Unite und den BesetzerInnen argumentieren können, dass die Besetzung ursprünglich Verhandlungen über einen Abschluss durchsetzen sollte. Da die Firma aber zum vorher vereinbarten Termin am Donnerstag um 12 Uhr kein Angebot vorgelegt hatte, waren die BesetzerInnen nicht mehr daran gebunden, ihrerseits das Gelände zu verlassen. Aber Gewerkschaftsbürokraten mögen Dinge wie Besetzungen nicht - es verunsichert sie, wenn sie sehen, dass ArbeiterInnen selbst die Initiative ergreifen.

Alles sieht danach aus, als wolle die Regierung die Auseinandersetzung bei Ford-Visteon so wenig wie möglich eskalieren lassen. Es ist eine der ersten großen Auseinandersetzungen in der Kreditkrise, bei der es um Abfindungen und Renten geht. Der Umgang damit - und vielleicht auch die Reaktionen der ArbeiterInnen - könnte ein Präzedenzfall für zukünftige Firmenpleiten sein. Eine brutale Räumung von ArbeiterInnen, die nach einem ganzen Arbeitsleben von ihren Arbeitgebern bestohlen wurden, hätte wahrscheinlich Benzin ins Feuer gegossen, weil sie Millionen von zukünftigen Arbeitslosen klargemacht hätte, was auch ihnen bevorsteht. Die Regierung hat Angst vor einer Eskalation, wenn die nächsten Insolvenzen kommen.

In Belfast wurde zur gleichen Zeit noch weiter besetzt, und die Firma - der klar war, dass es dort mehr Unterstützung vor Ort und eine kämpferische Geschichte gab - hatte noch keinen gerichtlichen Räumungsbeschluss beantragt. Als der Räumungsbeschluss dann auch in Belfast kam, verbrannten ihn die BesetzerInnen feierlich und setzten die Besetzung fort.

In Enfield ging es nach dem Ende der Besetzung vor allem darum, zu verhindern, dass Waren und Maschinen aus dem Werk abtransportiert wurden - denn man wollte noch irgendwelche Verhandlungsmacht behalten. (In Enfield stand von allen drei Werken das wertvollste Inventar - unter anderem teure Spritzgussmaschinen). Jetzt standen rund um die Uhr Streikposten vor dem Werk. Von der Gewerkschaft kam immer noch keine Unterstützung: Kohlepfannen, Dixiklos, Zelte und einen Wohnwagen besorgten ehemalige ArbeiterInnen und UnterstützerInnen. Die ehemaligen ArbeiterInnen hatten inzwischen alle Illusionen über die Gewerkschaft verloren - aber die mangelnde Unterstützung durch die Gewerkschaft bewirkte, dass sie anfingen, sich Fähigkeiten zur kollektiven Selbstorganisation anzueignen.

Gleichzeitig wurden die Convenors aus den drei Werken zusammen mit den Unite-Bossen in die USA geflogen, um mit den Visteon-Bossen zu verhandeln. Laut einem Bericht waren die Convenors bei den Verhandlungen nicht mit im Raum, sondern wurden an der Bar abgesetzt, während die Ford- und Gewerkschaftsbosse über das Schicksal "ihrer" ArbeiterInnen entschieden.

Nach dieser ersten Verhandlungsrunde machten die Insolvenzverwalter ein Angebot - das bestand aber schlicht aus dem Lohn für 90 Tage, dem gesetzlichen Mindestbetrag! Als Antwort auf diese Beleidigung verstärkten die Streikposten in Enfield jetzt die Barrikaden um die Fabriktore herum. Wie nicht anders zu erwarten, war es viel schwieriger, rund um die Uhr Streikposten aufzustellen, als eine Besetzung durchzuziehen. Die ehemaligen ArbeiterInnen und UnterstützerInnen stellten Schichtpläne auf und schafften es so, an den fünf Toren die Präsenz aufrechtzuerhalten. Außerdem gab es Streikposten und Flugblattaktionen bei Ford-Händlern im ganzen Land. Das meiste Geld kam durch Spenden von Gewerkschaftsortsgruppen zusammen; und auch die Gewerkschaft kam schließlich nach drei Wochen mit etwas Kohle rüber.

Je länger die Auseinandersetzung andauerte, um so mehr schlug die Desillusionierung der ehemaligen ArbeiterInnen über die Gewerkschaft in dauerhaften Zynismus um - kaum verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Gewerkschaft die ehemaligen ArbeiterInnen weder unterstützte noch informierte. Viele meinten, ihre Convenors stünden den Gewerkschaftsbossen zu nahe oder unter ihrem Einfluss und könnten deshalb nicht mehr im Interesse aller agieren. An dieser Stelle wollen wir nur kurz anmerken, dass jede Gewerkschaftskritik erkennen muss, dass es nicht stimmt, dass die Gewerkschaft "ihren Job nicht richtig macht", wie einige UnterstützerInnen und ArbeiterInnen meinten, sondern dass sie ihren Job als kapitalistische Institution nur zu gut macht. Sie hat wie immer in erster Linie nach ihren eigenen Organisationsinteressen gehandelt und versucht, für die ArbeiterInnen nicht mehr zu erreichen, als mit ihren eigenen Organisationsinteressen und den Interessen der Wirtschaft allgemein vereinbar ist. Nach wie vor bestehen enge politische und finanzielle Beziehungen zwischen den britischen Gewerkschaften und der Labour Party (und ehemalige Gewerkschaftsbosse werden oft mit einem Sitz im Oberhaus und dem dazugehörigen Titel belohnt). Solche Auseinandersetzungen zeigen, dass Gewerkschaften zu den Mechanismen gehören, mit denen die Finanzkrise für das Kapital gemanagt werden wird. Ein weiteres Beispiel dafür ist die 55-Prozent-Beteiligung der UAW-Gewerkschaft in den USA an Chrysler (dieser Deal enthält einen Streikverzicht bis 2015!).

Ein verbessertes Angebot kam, als die entlassenen Visteon-ArbeiterInnen drohten, Streikposten vor dem Werk in Swansea aufzuziehen - dem einzigen Werk von Ford UK, das noch voll ausgelastet und ein wesentlicher Teil ihrer Zulieferkette ist. Das brachte Ford an den Verhandlungstisch.

Möglicherweise hat auch die britische Regierung Druck auf Ford ausgeübt, ein verbessertes Angebot vorzulegen; denn wenn Ford-Visteon zum Präzedenzfall dafür geworden wäre, dass Firmen bei solchen Werkschließungen sämtliche finanziellen Verpflichtungen loswerden können, dann müsste der Staat sehr viel mehr Unterstützung an entlassene ArbeiterInnen zahlen. (Hingegen können ArbeiterInnen, die Abfindungen bekommen haben, solange keine Arbeitslosenunterstützung beantragen, bis dieses Geld ausgegeben ist - der Staat legt dabei fest, wie lange man"üblicherweise" von einer bestimmten Summe leben kann. Man kann also nicht einfach die Abfindung für ein dickes Auto und Ferien unter Palmen ausgeben und dann zum Arbeitsamt laufen und Geld beantragen. Leider ...) Eine Rolle spielt vielleicht auch, dass Ford im Vergleich zu den anderen weltweiten Autokonzernen zur Zeit noch ganz gut da steht. Damit das auch so bleibt, wollen sie ihren jetzigen und zukünftigen Beschäftigten gegenüber den Ruf wahren, dass die Löhne gezahlt werden.

Der neue Deal war viel besser, individualisierte aber auch stark: nach Alter, Beschäftigungsdauer, offenen Hypothekenschulden, zukünftigen Beschäftigungschancen usw. Die Einzelheiten des Deals hatten die Convenors nur vorgelesen, eine handschriftliche Version der einzelnen Punkte bekamen nur ein paar Leute zu Gesicht. Die Gewerkschaft wollte möglichst schnell die Abstimmung über die Bühne kriegen, diesen bedauerlichen Fall von Arbeiterkampf hinter sich bringen und wieder zum glatten und sauberen bürokratischen Gewerkschaftsalltag zurückzukehren. Da war es wohl zu viel verlangt, den Deal abzutippen und allen ArbeiterInnen ein Exemplar auszudrucken, damit sie so gut informiert wie möglich über ihre eigene finanzielle Zukunft abstimmen konnten. Die Abstimmung wurde von der Gewerkschaft bewusst so arrangiert, dass Enfield und Basildon am Freitag, den 1. Mai abstimmten, während in Belfast, wo die Besetzung immer noch lief und das einen militanteren Ruf hatte, am Sonntag abgestimmt werden sollte. Man dachte, wenn Enfield und Basildon erst mal zugestimmt hätten, würde auch Belfast zustimmen. Der Deal wurde in allen Werken angenommen: in Enfield mit 178 zu 5, in Basildon mit 159 zu 0 und in Belfast mit 147 zu 34 Stimmen.

Nach der ersten Euphorie über die klare Zustimmung und den verbesserten Deal fragten sich die ArbeiterInnen, wofür genau sie eigentlich gestimmt hatten. Weil in den Monaten vor den Betriebsschließungen die Schichtmodelle geändert und kürzer gearbeitet worden war, wusste niemand genau, wie letztlich gerechnet werden würde. Nach genauerer Prüfung können die ArbeiterInnen den Deal zu Recht als Teilsieg sehen, für den sich der Kampf gelohnt hat: sie haben das Zehnfache des ursprünglichen Angebots herausgeholt. Nur eine kleine Gruppe von ArbeiterInnen - erst nach der Visteon-Ausgründung eingestellte "CCRs"(8) - hatte keine Ford-, sondern schlechtere Arbeitsverträge und bekam daher niedrigere Abfindungen. Eine unnötige Spaltung, meinten einige ArbeiterInnen - sowohl CCRs als auch ehemalige Fordianer - und machten sowohl Ford-Visteon als auch die Gewerkschaftsbosse dafür verantwortlich; trotzdem gab es dicke Luft zwischen den ArbeiterInnen wegen der unterschiedlichen Bedingungen und der Tatsache, dass kein einheitlicher Deal durchgesetzt worden war. Schade, dass jetzt einige mit solchen Gefühlen aus dem Kampf herausgehen. Teilweise liegt das wohl daran, dass die ArbeiterInnen während des Kampfes nicht genügend regelmäßige Versammlungen abgehalten haben, um auf umfassender Information über alle Entwicklungen zu bestehen und alles gemeinsam zu diskutieren. In Enfield bildeten sich Cliquen aus Leuten, die immer an den gleichen Tore standen, es gab zu wenig Diskussion unter allen ArbeiterInnen.

Offene Fragen bleiben die Renten der ehemaligen ArbeiterInnen - dies wird in einem Gerichtsverfahren entschieden, das sich über zwei Jahre hinziehen könnte und das leider die bislang unfähigen (aber bestimmt teuren) Gewerkschaftsanwälte für die ArbeiterInnen führen. Sollte wenig dabei herumkommen, so erwarten die ehemaligen ArbeiterInnen, dass 60 bis 90 Prozent ihrer Betriebsrenten über eine staatliche Auffangmaßnahme abgedeckt werden. Die Betriebsrenten werden ab 58 gezahlt, die staatlichen Leistungen allerdings erst ab 65.

Rob Williams, ein militanter Convenor bei Linamar in Swansea, einer weiteren ausgelagerten Fabrik, die vorher zu Visteon gehörte, wurde wegen Unterstützung der entlassenen Ford/Visteon-ArbeiterInnen gefeuert. Als seine KollegInnen deswegen in den Streik traten, wurde er zunächst unter Auflagen wieder eingestellt, kurz danach aber endgültig entlassen. Seine ArbeitskollegInnen stimmen jetzt über einen Streik ab. Außerdem gibt es eine Unterstützungskampagne für ihn.(9)

Am Montag, den 18. Mai beendeten die ArbeiterInnen nach 48 Tagen den Konflikt in allen drei Werken. Obwohl es nur ein Teilsieg ist, hat der Kampf große Bedeutung, trotz aller Begrenzungen und Schwächen. Die ehemaligen ArbeiterInnen haben mehr erreicht als zu erwarten war (besonders nach dem Ende der Besetzung in Enfield). Verglichen mit den meisten Arbeiterkämpfen der letzten 25 Jahre in Großbritannien war das Ergebnis ziemlich gut; und es macht anderen ArbeiterInnen in ähnlichen Situationen Mut.

London, 24. Mai 2009

Ein Unterstützer


Randnotizen

Artikel über Visteon / Dtld. in wildcat 70: Visteon - eine ganz normale Fabrik

(1) Der (oder die) Convenor ist in großen Betrieben der Privatwirtschaft der oberste Gewerkschaftsfunktionär im Betrieb. Er/sie wird von den Vertrauensleuten, den Shop Stewards, gewählt und ist meistens zumindest teilweise freigestellt.

(2) Video hier: http://libcom.org/news/video-visteon-factory-occupation-workers-go-bosss-house-08042009

(3) Wir schreiben die ganze Zeit von "ehemaligen ArbeiterInnen", weil sie ab der Pleite offiziell nicht mehr bei Visteon beschäftigt waren. Vor allem aber nannten sie selbst und die UnterstützerInnen sie so.

(4) Siehe dazu: Ford Visteon Workers Occupation - an eyewitness account and first thoughts, Alan Woodward, CopyLeft, Gorter Press, c/o PO Box 45155, London N15 4SL.

(5) HSG ist ein aus der Anti-Poll-Tax-Bewegung der 80er Jahre entstandener loser linksradikaler Zusammenhang im Londoner Bezirk Haringey, der sich mit verschiedenen Kampagnen zu Themen wie Mieten, Antifa, Überwachungsstaat und Schulden beschäftigt.

(6) Der vollständige Text ist zu finden unter
http://libcom.org/news/enfield-ford-visteon-occupation-ends-no-conclusion-10042009.

(7) Video hier: http://libcom.org/news/video-visteonworkers-eviction-enfield-14042009.

(8) Competitive Cost Rate - konkurrenzfähiger Kostensatz. So hießen die Verträge der nach der Ausgründung Neueingestellten offiziell.

(9) Siehe http://libcom.org/news/swansea-union-convenor-sacked-supporting-fordvisteon-workers-28042009.

Raute

Großbritannien:

Staatliche Kontrolle und proletarische Reproduktion

Seit seinen Anfängen hatte der Wohlfahrtsstaat auch immer eine Kontrollfunktion.(1) Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es nicht nur darum, unzufriedene und aufrührerische Arbeiter durch Zugeständnisse stillzuhalten, sie sollten auch durch eine zentralisierte Organisation ihrer Reproduktion in den Staat eingebunden und somit besser kontrollierbar werden; der Staat gewann eine genauere Einsicht in die Lebensumstände der ArbeiterInnen und konnte bestimmte Aspekte gezielter regulieren. Außerdem war die Verelendung der Bevölkerung nach dem Krieg auch eine Gefahr, bedrohte sie doch die Arbeitsfähigkeit der ArbeiterInnen!

Seit den Thatcher-Jahren wird in Großbritannien die Frage der gesellschaftlichen Reproduktion als Teil des Sozialstaats immer stärker auf die Ebene des Individuums eingegrenzt. Die auf Thatcher folgende New Labour-Regierung hat Sozialleistungen weiter privatisiert, zerstückelt und gekürzt. Gleichzeitig müssen sich diejenigen, die von materieller staatlicher Unterstützung abhängig sind, also die unteren Schichten der Arbeiterklasse, viel stärker als früher dem Staat gegenüber sichtbar machen. Verschärft hat das eine neoliberale Arbeitsmarktpolitik, die durch verstärkte Konkurrenz, mehr "Flexibilität" (hire & fire) und stagnierende Löhne in den letzten Jahren zu einer starken Verschuldung der Arbeiterhaushalte geführt hat, so dass eine durchschnittliche proletarische Familie nicht nur den Ansprüchen von Staat und Arbeitgeber, sondern auch denen von Kreditgebern nachzukommen hat. Rückzug des Staates aus der Makroregulation der Reproduktion und verstärkte Kontrolle auf der Mikroebene (d.h. Reproduktion des Einzelnen): reproduktions- und arbeitsmarktpolitische Strategien des neoliberalen Projekts greifen ineinander. Die Überwachung des Einzelnen soll seine Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt garantieren, indem sie andere (selbstorganisierte, "halb-legale" usw.) Formen der Reproduktion unmöglich macht.

Steckt ein Ansatzpunkt Ihr gemeinsame Kämpfe in der Tatsache, dass im Zuge der Krise bald mehr vormals unbehelligte 'gute Bürger' auf Sozialhilfe angewiesen und somit diesem Kontrollapparat ausgesetzt sein werden?


Es ist deine Schuld

Während Tony Blairs Amtszeit wurden mehr als 3000 neue Straftatbestände ins Gesetzbuch eingetragen, größtenteils Kleinstvergehen wie legale Tauschgeschäfte, nicht angemeldete Babysitter-Dienste, auf dem Boden ausgedrückte Kippen, Schule schwänzen (dann kommen die Eltern vors Gericht), Alkoholkonsum in "trockenen" Gegenden (Hackney und Brixton z.B. haben große Teile ihrer Straßen und öffentlichen Plätze mit Alkoholkonsumverbot belegt; das gilt natürlich nicht für Alkoholkonsum im Straßencafé...), oder low-level benefiz fraud ("Sozialbetrug") wie auf Arbeitslosen- oder Krankengeld schwarzarbeiten, Untermieter haben oder ohne Anmeldung mit einem Partner leben. Alltägliches ArbeiterInnen- Verhalten wird (stärker) kriminalisiert, und das wird durch mehr Polizei auf der Straße und Überwachungskameras an jeder Straßenecke durchgesetzt bzw. klassenspezifisch bestraft (z.B. Rausschmiss aus der kommunalen Wohnung). Dazu kam 1998 die Einführung der anti-social behavior order (ASBO)(2), ein Zivilerlass, der unerwünschtes, aber zuvor legales Verhalten kriminalisiert. Er kann etwa den Aufenthalt an bestimmten Orten verbieten oder spezifische Handlungsweisen untersagen und lautet dann etwa: "Du darfst dich nicht auf der Hauptstraße aufhalten" oder "keine Freunde zuhause empfangen". Außerdem wurde 2004 eine seit Mitte der 90er Jahre gängige Polizeipraxis legalisiert: in England, Nordirland und Wales werden "Verdächtigen" DNA-Proben entnommen und diese gespeichert - auch wenn der "Verdacht" niemals bestätigt wird. Großbritannien hat die weltweit größte DNA-Datenbank in Relation zu Einwohnern (7 Prozent der Bevölkerung, dabei ist das Verhältnis Farbige:Weiße 4:1).


Es ist deine Natur

Die Kontrolle gesellschaftlicher Reproduktion wird nicht nur durch zero tolerance-Polizeiarbeit verschärft. Sozial- und Gesundheitswesen tragen intensiv dazu bei, die Verantwortung für die sich radikal verschlechternden Umstände der Arbeiterklasse auf den Einzelnen abzuschieben, ja sie ihm sogar als 'angeborene Charakterdefekte' zuzuschreiben. Der Staat hält jeden Einzelnen an, 'sich' aktiv zu verändern - wer das nicht tut, wird verstärkt kontrolliert und gegebenenfalls bestraft. Der - mittlerweile auch schon fast ganz privatisierte - National Health Service (NHS) macht z.B. Präventionskampagnen wie Your 5 a day (man muss mindestens fünf Portionen Obst oder Gemüse am Tag essen), eine Fettleibigkeits- und eine Antiraucherkampagne (Allgemeinärzte bekommen für jeden geheilten Süchtigen einen Bonus). Wir sind verantwortlich für unsere Gesundheit. Menschen, die 'vorsätzlich' weiter billig essen, kann die beste ärztliche Behandlung verweigert werden, sie können in Wartelisten nach hinten verschoben oder auf Zwangsdiät gesetzt werden; dicken oder rauchenden Frauen kann eine künstliche Befruchtung verweigert werden, 'ungesund lebende Paare' haben Schwierigkeiten, ein Kind zu adoptieren. Am stärksten werden schwangere Frauen oder junge Mütter unter Druck und (Zwangs(3)-)Beobachtung gesetzt, wobei es zuallererst um die 'Gesundheit' des Ungeborenen oder kleinen Kindes geht. Gleichzeitig sollen Ärzte chronisch Kranke nicht mehr langzeit krankschreiben, um die Zahl der Krankengeld-BezieherInnen zu verringern(4), da auf Arbeitslose mehr institutioneller Druck ausgeübt werden kann.

Arbeitslosen- oder Sozialhilfe-BezieherInnen werden am stärksten kontrolliert und am meisten bestraft. Das hat sich seit 2004 noch verschärft, indem große Bevölkerungsteile in dehnbaren (und ständig gedehnten) Kategorien wie at risk oder hard-to-reach erfasst werden. Um "eventuellen Problemen" ('kriminelles Verhalten') zuvorzukommen, wird man in Risikogruppen eingeteilt, werden deine Daten gesammelt, festgehalten und weiter verfolgt, um dich dabei zu 'unterstützen', dich aus deiner Situation (die darin besteht, als at risk klassifiziert zu sein) 'herauszuarbeiten'. Wer sich durch solcherart Erpressung nicht arbeitsfähig machen lässt, bekommt den Titel hard-to-reach, was härtere staatliche Eingriffe nach sich ziehen kann: Zwangsarbeit, Rauswurf aus dem council house(5), Wegnahme der Kinder, Streichung von Geldern. Auf jeden Fall werden erneut Daten gesammelt (die in Gerichtsverfahren verwendet werden können), und zwar nicht nur über die so Klassifizierten, sondern auch über ihr gesamtes Umfeld. Der at risk-Status wird etwa einer Familie zugeschrieben, in der ein Mitglied arbeitslos ist und die in einem council house in einer armen Nachbarschaft wohnt. Sie muss nun ständig vor den Agenturen ihren 'Integrationswillen' beweisen (durch Teilnahme an Jobtraining, Einlassen von unangemeldeten Sozialarbeitern, Mithilfe bei Nachforschungen usw.), um nicht weiter nach unten, in die hard-to-reach Kategorie verschoben zu werden.

Nicht der Staat, der den Druck ausübt, sondern die "Erfassten" müssen sich gegen "Fehler" behaupten; sie riskieren Gerichtsverfahren oder zumindest Einkommensverlust, wenn sie das nicht können. Weichen die Daten von der Realität ab, muss die Antragstellerin darauf hinwirken, dass die Information entweder überarbeitet wird, oder sie muss ihr Leben den Daten anpassen. Eine Sozialhilfe beziehende alleinerziehende Mutter muss den erstbesten Scheißjob annehmen oder zumindest in Weiterbildungsprogramme einsteigen und ihre Kinder in von Sozialarbeitern betreute Kindergärten geben - wo ihr Umgang mit dem Kind von SozialarbeiterInnen überwacht wird und man ihr die gute englische Küche beibringt; sie muss der Erfassung und Weitergabe ihrer Daten zustimmen - sonst bekommt das Kind den sure start-Kindergartenplatz(6) nicht; sonst wird sie als hard-to-reach klassifiziert und mit Entzug der Leistungen oder Wegnahme der Kinder bedroht. Wenn ein Kind zu oft die Schule schwänzt, Schokolade klaut oder 'zu früh' schwanger wird, sind es und seine Familie at risk.

Der staatliche Eingriff soll dich nicht mehr materiell unterstützen (etwa eine größere Wohnung für die fünfköpfige Familie in der Ein-Zimmer-Wohnung), sondern verstärkt kontrollieren:(7) Sozialarbeiter müssen Daten von anderen Einrichtungen (Schule, Arbeitsamt, Gefängnis, Krankenhaus, Arzt usw.) sammeln und in ihre eigenen Datenbanken einfügen, Interviews arrangieren, Nachbarn ausfragen, die Kinder nochmal separat überwachen lassen usw. usf. Und sie müssen alle Informationen an andere Agenturen weitergeben.

Jede Möglichkeit, durch eine Kombination von mickriger Staatsunterstützung und halb-legalen unabhängigen Reproduktionsstrategien zu überleben, wird verbaut, um die Leute in den Arbeitsmarkt zu drücken, sie zueinander und zum Rest der Arbeiterklasse als Reservearmee für die schlechtest bezahlten Jobs in Konkurrenz zu setzen.


Es sind deine Schulden

Seit Jahren stagniert oder sinkt das tatsächliche Einkommen, und für immer mehr Leistungen, die früher gratis waren, muss man bezahlen. Wer es sich leisten konnte, versicherte sich privat, um ewige Wartelisten für Operationen zu umgehen. Öffentliche Schulen sind am Verschwinden und werden durch privat-gesponsorte Academies(8) ersetzt, für den gesellschaftlichen "Aufstieg" braucht's sowieso eine public school... Viele Arbeiterfamilien haben sich hoch verschuldet, für die eigene Gesundheitsversorgung, für die Ausbildung der Kinder oder für die private Rentenversicherung, weil die staatliche Rente nicht mehr reicht. Der Einschnitt bei der Sozialhilfe zwang viele Familien sogar, Kredite zum bloßen Überleben aufzunehmen. Die Privatisierung von council houses vervielfachte die Hypothekenkredite. Die Ausweitung des Kredits verschob die soziale Absicherung heimlich und unter wenig Protest auf das Individuum. Die aggressive Kreditvergabe der Banken tat ein übriges, um ArbeiterInnen direkt vom Finanzmarkt abhängig zu machen. Die Reproduktion des Einzelnen ist nun verpfändet, und Arbeiterinnen müssen nicht mehr nur den Ansprüchen ihres Arbeitgebers nachkommen (der oft selbst den Ansprüchen seiner Kreditgeber nachzukommen hat), sondern eben auch denen der Kreditgeber.(9) In der "Kreditkrise" werden Rechnungen präsentiert: Gläubiger, Schuldeneintreiber und Gerichtsvollzieher sind die anderen Grimassen der Kontrolle. Der Arbeiter-Konsument befindet sich in einer Doppelabhängigkeit, die gemeinsame Kämpfe fast unmöglich scheinen lässt.

Übrigens ist auch der mit der Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion betraute Apparat mittlerweile in seinem Fortbestand abhängig vom Finanzmarkt:(10) Sozialwesen, Wohnungswesen, Gesundheit, Bildung, öffentliche Einrichtungen usw. wurden in den letzten Jahren unter der "PFI-Initiative"(11) schleichend privatisiert.


Happiness can't buy you money

Nur durch ein solches Ausmaß an Verelendung, Kontrolle und Abhängigkeit kann der Arbeiter überhaupt gezwungen werden, auf den krassen Arbeitsmarktwettbewerb einzusteigen. Der Umweg über halb-legale Formen der unabhängigen Reproduktion ist abgeschnitten. Vor New Labour war es noch möglich, Arbeitslosen- oder Krankengeld zu beziehen und nebenbei schwarz zu arbeiten (Schwarzlöhne waren damals höher!). Andere, mittlerweile kriminalisierte, halb-legale Tricks, um noch ein von Staatsalmosen oder Kreditaufnahme relativ unabhängiges Leben zu führen, waren/sind: Schwarzfahren, ärztliche Atteste (die Namen von Ärzten, die einen krank schrieben, wenn man auf incapacity benefit wollte, gab man sich im Bekanntenkreis weiter), Untervermieten von council flats, Nachbarschaftshilfe gegen Gläubiger, Schuldeneintreiber und Gerichtsvollzieher, alle Arten von "Graumarkt"-Schmuggelei und der Austausch (oder die Geheimhaltung) von Informationen, um das Sozial-, Steuer- und Immigrationssystem zu bescheißen usw. Dieser 'Spielraum' verengt sich, ASBOs und zero tolerance-Polizeiarbeit zielen genau darauf ab, solche 'Schattenökonomien' zu kriminalisieren. Noch immer droht die Einführung eines Personalausweises mit biometrischen Daten und ämterübergreifender Datenbank (Berichten zufolge wird es möglicherweise nur die Datenbank, nicht aber die Karte geben). Für Leute, die vom 'grauen Markt' abhängig sind, bedeutet das einen fatalen Verlust an notwendiger Anonymität. Also "ab in die Arbeit": mit der welfare reform sollen Leute von incapacity benefit (Arbeitsunfähigkeitsrente) in jobseekers' allowance (Arbeitslosenhilfe) gedrückt werden; ab 2010 sollen von Arbeitslosen "arbeitsgleiche Aktivitäten" verlangt werden, d.h. entweder acht Stunden im Jobcentre unter Bewachung Jobs suchen(12) oder "Gemeinschaftsdienst" (Zwangsarbeit) verrichten. Zudem sollen nun Lügendetektoren die Telefonanrufe von Antragstellern scannen.

Gleichzeitig werden Kampagnen hochgefahren, die den Wettbewerb in 'benachteiligte Nachbarschaften' tragen sollen: nicht nur durch Antreiben der Klassenspaltung (durch Ermutigung und Belohnung von gegenseitigem Anschwärzen, dem Wegrationalisieren von notwendigen Ressourcen, durch "Individualisierung" von benefits, so dass Gemeinsamkeiten nicht mehr erkennbar sind, durch die Ghettoisierung von council estates und die Aufspaltung der in ihnen lebenden Bevölkerung.),(13) sondern auch durch 'kommunitaristische' Initiativen, die meist bei Schulkindern ansetzen (die ganze Klasse muss mitmachen), zu denen aber auch Arbeitslose und alleinstehende Mütter verdonnert werden, bei denen eifrige Teilnahme in echter Wettbewerbsmanier ermutigt und belohnt wird (wer sich am besten 'kümmert', gewinnt).


Defending Anonymity

Liberale Bürgerrechtler beklagen die staatliche Kontrolle von "allem und jedem". England sei ein Nanny state (man beachte die Verniedlichung!), der uns vorschreibe, was gut und schlecht für uns sei. Aber, so die Kritiker, wir können auf uns selbst aufpassen und brauchen weder staatliche Unterstützung noch Kontrolle. Je weniger Staat desto besser. Dabei vergessen sie, dass der Wohlfahrtsstaat ihren eigenen Status und den der restlichen "Mittelklasse" überhaupt erst möglich gemacht hat. Durch den breiten Zugang zu höherer Bildung seit den 60er Jahren, die zuvor nur den oberen Schichten vorbehalten war, durch die Bereitstellung von staatlich finanzierten billigen Wohnungen (council flats) , die der aufstrebende Arbeiter letztendlich kaufen konnte (right to buy), mit gratis Gesundheitsversorgung und Rentenabsicherung und all den Jobs, die der riesige Wohlfahrtsapparat zu besetzen hatte, konnten viele ArbeiterInnen 'sozial aufsteigen', bessere Jobs bekommen, sparen, gar ein Eigenheim besitzen, und sich selbst als Teil einer middle class definieren. Ein wichtiger Aspekt dieser gesellschaftlichen Veränderung war, dass dieser 'Aufstieg' als "persönliche Leistung" wahrgenommen wurde, als etwas, das jeder "für sich" geschafft hatte. Dies verschleierte einerseits die Abhängigkeit der Mittelklasse als solche vom Wohlfahrtsstaat und führte andererseits zur Aufspaltung der Klasse: heute definiert sich der Großteil der britischen Bevölkerung als Mittelschicht!

Der Wohlfahrtsstaat 'belohnt' staats- und marktkonformes Verhalten, während er gleichzeitig den Druck auf jene verstärkt, die sich nicht einbinden lassen können oder wollen. Die Kritik der Bürgerrechtler, (biometrische) Datensammlung, ID-Karte usw. seien staatliche Eingriffe in "unsere" Privatsphäre, vergisst, dass alle hier beschriebenen Kontrollmechanismen auf diejenigen zielen, die in Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge leben. Auch zero tolerance und die Kriminalisierung minimaler Vergehen sind eine deutlich klassenspezifische Bestrafung.(14) Deshalb geht das Argument, die Datenbanken seien ineffizient, sammelten zu unterschiedslos, Daten gingen verloren usw., am Problem vorbei; aus Staatssicht funktioniert das System, wenn die darin enthaltene Information rechtsgültig ist. Die 'persönliche Freiheit', welche die liberalen Bürgerrechtler der Mittelklasse verteidigen, überdeckt den Klasseninhalt der ganzen Sache. Alles, was nicht direkt zum BIP beiträgt, soll kenntlich gemacht und bestraft werden (wenn nicht mit Gefängnis, dann zumindest mit Entzug der staatlichen Unterstützung), jeder noch so kleine Drogendeal, jedes noch so informelle Arrangement. Hier soll nicht der Romantisierung halb-legaler oder illegaler Reproduktionsstrategien (Gangster-Rap, Ghetto-style etc.) das Wort geredet werden. Diese Strategien sind oft auch nur Teil einer Struktur, die Druck, Zwang, Erpressung usw. auf die Arbeiter und 'Kunden' ausübt. Das "cool, ich mach ne Menge Kohle" des kleinen Dealers könnte auch heißen: "meine Mutter ist alleinerziehend, ich habe vier Geschwister und bin der einzige Geldverdiener".(15) Die Verklärung vereitelt jeden Versuch, gegen die Umstände anzukämpfen, die illegale/halblegale Reproduktionsstrategien überhaupt notwendig machen.


Kollektive Verweigerung der Mikrokontrolle?

Im Gegensatz zu den Bürgerrechtlern der Mittelklasse ist den Betroffenen die klassenspezifische Natur des Angriffs sehr wohl bewusst. Aber gegen die individualisierenden Kontrollen der Einzelnen und ihres Umfelds ist kollektiver Widerstand schwierig, vor allem dann, wenn sichtbare Aktionen für einige der Betroffenen gefährlich werden können (Migranten, Vorbestrafte usw.). Das größte Hindernis für einen kollektiven Kampf ist aber die Klassenspaltung. Die Abgrenzung der 'aufstrebenden' Arbeiterklasse gegenüber Leuten, die als at risk oder hard to reach kategorisiert werden, ist das wichtigste Ergebnis von Kontrollstrategien, die Verweigerungsverhalten als krankhaft denunzieren - wozu die Medien beflissen beitragen. Diese Abgrenzung hat aber ihre materielle Grundlage auch darin, dass sich solche Leute im zurückliegenden Boom halb totgearbeitet haben, um Eigentum (bzw. Schulden) zu erlangen. Dabei haben sie tatsächlich das entwickelt, was normalerweise den SozialhilfebezieherInnen vorgeworfen wird: Anspruchsmentalität (entitlement mentality), und mit ihr den Glauben, dass andere 'nicht-anspruchsberechtigt' seien. Die Politik hat eine solche Selbstaufspaltung in der Klasse genährt z.B. durch Sozialhilfekürzungen und die Ghettoisierung von council housing. Sie hat den Horror der 'Aufstrebenden' vor den 'Unterklassen' verstärkt und die Angst, dass diese (als Alternative zum 'Aufstreben') vermehrt auf Gewalt und Verbrechen zurückgreifen; all das hat die Feindseligkeit zwischen den hard working und den hard to reach-Schichten der Arbeiterklasse erhöht. Auch David Blunkett, Innenminister unter Tony Blair und einer der stärksten Befürworter der Mikrokontrolle, hat seine Argumente immer mit seinem eigenen 'Arbeiterklassen-Hintergrund' unterstrichen.(16)

Diese Klassenspaltung hat sich über Jahrzehnte entwickelt. Wird sie von der Krise infrage gestellt werden? Führt der soziale Abstieg vieler 'aufstrebender' ArbeiterInnen zur Solidarisierung oder zur Verschärfung des individuellen Konkurrenzkampfs auf dem untersten Level?


Aufhebung der Klassenspaltung?

Schon jetzt werden ehemalige Eigenheimbesitzer zu Sozialhilfeempfängern - und ihre Bedingungen werden sich als Folge der immensen Staatsverschuldung rapide verschlechtern. Wenn frisch arbeitslose Facharbeiter, bankrotte Schuldner, Ex-Hausbesitzer usw. sich gegen die für sie neuen Formen der Kontrolle wehren - parallel zu denen, die dem schon lange ausgesetzt sind -, könnte die direkte Erfahrung der Ursache ihrer Lage - Kapitalismus und Eigentumsverhältnisse - einen gemeinsamen Kampf möglich machen, der individuellen Antiautoritarismus, kommunitaristische Identitätsbewahrung und bürgerrechtliche Abstraktionen überwindet. Die Wut der Leute würde sich nicht mehr gegen individuelle Verfehlungen von Bankiers, Politikern usw. richten, Streikende würden von Konsumenten nicht mehr als Spaßverderber gesehen, sondern als gutes Beispiel für secondary actions wahrgenommen;(17) Gewerkschaftsführer könnten Konflikte nicht mehr zur Sicherung einer Berufsgruppe abwiegeln. Institutionelle, systemische, Klassenfragen würden in den Vordergrund treten: Organisierte Aktionen gegen Privatfirmen, die Arbeit an Arbeitslosenhilfebeziehende vermitteln und gegen Wohlfahrtsverbände und NGOs, die 'Gemeinschaftsdienst' für Arbeitslose organisieren; Verweigerung von Zwangsarbeit gegen Sozialhilfe; Verweigerung von 'Dienstleistungen', die aus solcher Arbeit kommen; Aktionen gegen Ärzte, die eigens angestellt worden sind, um Leute vom Krankengeldbezug auf Arbeitslosenbezug zu bringen; Organisierung im medizinischen Sektor, um Krankengeldbeziehende zu unterstützen; kollektive Verteidigung gegen Rauswurf von Mietern, Untermietern und Squattern; kollektiver Druck auf Vermieter (egal ob Staat, 'social' oder privat), die Mieten zu senken und die Infrastruktur zu verbessern; Kampf gegen den weiteren Verkauf von council housing und Verweigerung der Kontrollen, die auf Neumieter angewandt werden; kollektive Organisation von Kinderbetreuung unter halb- oder nicht arbeitenden Erwachsenen, damit sie nicht der Staatskontrolle ausgesetzt sind oder sich für private Betreuung dumm und dämlich blechen; Identitäts'verteilung', wenn die ID-Karten durchgehen sollten, Daten und Anträge auf mehrere Leute verteilen usw. Und vielleicht wird endlich Something for Nothing gefordert - eine 'Anspruchsmentalität', wie sie sich gehört!


Randnotizen

(1) Siehe Wildcat 39, www.wildcat-www.de/wildcat/39/w39welfa.htm

(2) ASBOS werden oft auf Bitte von Anwohnern/Betroffenen gegen eine Person beantragt; die ASBO verbietet erst einmal den Aufenthalt an bestimmten Orten und kann in weiteren Instanzen zu Strafprozessen und Rauswurf aus der Sozialwohnung führen; sie ist eine Kriminalisierung noch-nicht krimineller Taten, etwa wenn eine Person zu laut Musik spielt, oft 'verdächtige' Besucher oder Parties hat, wenn eine Gruppe auf der Straße rumhängt und pöbelt etc.; nur drei Prozent von Anträgen auf ASBOs werden abgelehnt. Meist werden ASBOs auf Teenager angewandt (60 Prozent), die Eltern sind aber in letzter Instanz mitbetroffen. Verstoß gegen eine ASBO führt zu einem Gerichtsverfahren am Strafgericht (und durchschnittlich zwei bis fünf Jahren Gefängnis). Die meisten ASBOs werden in traditionellen Arbeiterklasse-Gegenden vergeben: Manchester, Nordengland, Wales u. Teilen von London.

(3) Wenn sie Sozialhilfe beziehen, müssen sie zu allen Kontrollbehandlungen erscheinen. Wenn sie für die Geburt und Vor- und Nachbehandlungen vom NHS abhängig sind, ebenfalls.

(4) Die unter Thatcher stark angestiegen war, weil damals dazu geraten wurde, Arbeitslose in de-industrialisierten Gebieten langzeit krankzuschreiben, um die Arbeitslosenzahlen niedrig zu halten.

(5) Council housing ist eine Form des öffentlichen Wohnungsbaus in UK, die gemeindeeigene Häuschen oder Wohnungen, zum Teil in eigenen Siedlungen oder Hochhäusern, in häufig relativ guter Qualität zu günstigen Mieten für die Arbeiterklasse bereitstellte. Da der private Mietmarkt kaum existierte, waren diese Wohnung für jede Person erhältlich, die zeigen konnte, dass sie nicht die Mittel hatte, ein eigenes Haus zu kaufen. Ein Großteil der Bevölkerung lebte bis in die 80er Jahre in council housing. In der Thatcher-Ära änderte 1980 mit dem right to buy - Mieter konnten ihre Wohnungen zu 60-70 Prozent des Marktpreises kaufen - das council housing seinen Charakter grundlegend zugunsten der Förderung von Hausbesitz und privaten Wohnungsbaugesellschaften. Council housing bekam einen eher stigmatisierenden Charakter als Wohnung für SozialhilfebezieherInnen.

(6) Sure start ist ein typisches New Labour-Projekt, eine Kombination von Kindergarten, Gesundheits'centre' und Job centre, wo die ganze Familie unter einem Dach, unter Aufsicht von SozialarbeiterInnen 'betreut' werden kann.

(7) Die Finanzpläne von sowohl NHS als auch SS (Social security) der letzten Jahre zeigen klar, dass Gelder aus front-line services abgezogen und in 'IT-Entwicklung' umgeleitet wurden.

(8) Eine Academy ist eine öffentlich-privat geführte Schule: private Sponsoren müssen zwei Millionen Pfund auftreiben, die Regierung zahlt ca. 25 Millionen für die Anfangskosten. Sie wird nach dem nationalen Curriculum geführt, aber die privaten Sponsoren haben die Mehrheit im Vorsitz der Schule; Lehrkräfte müssen nicht mehr beim GTC (General Teaching Council) registriert sein und arbeiten unter schlechteren Bedingungen als an öffentlichen Schulen. Der Ausschluss von Problemschülern ist an Academies viel höher als an anderen Schulen. Die meisten Academies waren früher verrufene Innenstadtschulen.

(9) Ohne Hypotheken sind Privathaushalte heute durchschnittlich mit 9600 Pfund verschuldet, Hypotheken mitgerechnet sind es 59.670 Pfund.

(10) Neueste Nachrichten: angedrohte Schließung von 25 Grundschulen und Kindergärten in Glasgow wegen finanziellem Missmanagement!!!.

(11) Siehe: Antisoziale Solidarität, Wildcat 83, S. 13; siehe auch: http://www.david-morrison.org.uklpfi/pfi.htm und http://www.metamute.org/en/The-3-Ps

(12) Zur Zeit bemüht sich die Regierung, Arbeitsvermittlung an Privatfirmen abzugeben: Sie werden nach Anzahl der vermittelten Jobs bezahlt - bereits dann, wenn die Leute 12 Wochen im neuen Job aushalten! Man kann sich ausmalen, welche Taktiken die Jobvermittler anwenden werden, um so viele Arbeitslose wie möglich irgendwie in miesen Jobs unterzubringen.

(13) Seit neuestem haben die Gemeinden Mitspracherecht bei Bestrafungen: die Gemeinde kann über die Art der Zwangsarbeit bestimmen, die die Übeltäter auszuführen haben. Diese müssen dann beim Ausführen der Arbeit Neon-Jacken tragen mit der Aufschrift: "Community Payback".

(14) Das 'neue' Straftatenregister kriminalisiert vor allem eine bestimmte Art von 'klassentypischem' Verhalten außerhalb der Arbeit - durch ASBOs, Gerichtsverfahren bei Sozialbetrug usw. mit Strafandrohungen wie Entzug von öffentlichen Geldern, Rausschmiss aus dem council house. Überwachung findet hauptsächlich in council estates oder ärmeren Gegenden statt (in Westlondon sind Überwachungskameras meist privat: vor Geschäften oder Wohnhäusern der Reichen), Plakate mit der Aufforderung zur Denunziation (Inform on benefit fraud) bedecken die Säulen in Tower Hamlets, Islington, Hackney und Brixton, nicht aber in South Kensington oder Chelsea. Die Ministerien, die sich mit Arbeit, Wohlfahrt, Steuer, Immigration, Polizei/Recht/Gefängnis, Wohnungsbau, Gesundheit, Ausbildung und Schulen (neuerdings: Children, Schools and Families), Umwelt und Communities and Local Government befassen, werden befugt, ihre Funktionen und Informationen klarer und enger mit denen anderer Abteilungen zu verbinden. Was als technische Innovation präsentiert wird, die den Zugang zu Sozialleistungen vereinfacht, ist in Wirklichkeit klar gegen bestimmte soziale Schichten gerichtet.

(15) In Brixton z.B. ist sich die Community ihrer Abhängigkeit von illegalen Reproduktionsstrategien sehr bewusst. Auch heute noch, mehr als zehn Jahre seit dem letzten Aufstand in Brixton (1981, 1985, 1995), stellen sich Passanten als Schutzwall vor einen Teenager, den die Polizei durchsuchen oder abführen will. Das ist zum einen Kampf gegen ein klar rassistisches Polizeivorgehen (nicht nur bei stop and search), zum anderen aber auch Kampf gegen die Zerstörung unabhängiger Reproduktionsstrategien. Viele männliche Jugendliche verdienen hier das Geld für sich und ihre Familien, indem sie (gestreckte) Drogen an weiße britische Party-Kids verkaufen. Von dieser Einkommensquelle sind große Teile der Gemeinde abhängig.

(16) Die 'aufstrebende' Mittelklasse ist natürlich nicht homogen; wichtig und ambivalent ist etwa der stetig wachsende Anteil, der im erweiterten Staatssektor angestellt ist, und zwar in der Kontrolle der hard-to-reach-Bevölkerungsteile (Sozialhilfe, Job centres, Gefängnisse usw.). Wie sich hier Lohnkürzungen und die brisante Stellung in vorderster Front gegen die Krisengeschädigten auswirken werden, wird sich noch zeigen. (Ein positives Beispiel war das dole workers/claimants Experiment in Brighton 1999; www.wildcat-www.de/wildcat/71/w71_dole.htm)

(17) D.h. aktive Unterstützung und Gesetzverstoß wie z.B. bei der secondary action für Arbeitslose bei den Lindsey-Streiks.

Raute

"Bossnapping" und andere Vorkommnisse in Frankreich

(Bericht eines französischen Genossen)


Zunächst kurz zum Hintergrund, vor dem die jüngsten Arbeiter"aktionen" im März und April 2009 stattfanden.


"Wirtschaft

Die Industrie Frankreichs leidet unter den Folgen der Krise. Die Kreditklemme hat kleine Firmen in den Bankrott befördert (unabhängig davon, ob sie vorher gut dastanden oder nicht). Das heißt, die Banken entscheiden, welche Firmen überleben. Für große Firmen stellt sich das Problem ganz anders dar. Die es getroffen hat, waren auf einem Markt mit Überkapazitäten tätig. Die Krise ist für sie eine gute Gelegenheit, ihre Produktionskapazitäten an den Markt anzupassen und damit die Produktivität ohne Investitionen zu erhöhen: Hier werden einige Abteilungen geschlossen, dort eine ganze Fabrik. Hier wird die Produktion gestoppt, dort werden ausgelagerte Produktionsschritte wieder zurückgeholt. Das Hauptangriffsziel ist somit die Arbeitskraft: gesamte Belegschaften oder Teile davon werden entlassen, die Arbeitszeit wird flexibilisiert. Aber das ist in Frankreich nichts Neues und passt absolut zum 35-Stunden-Gesetz.(1) Neu ist hingegen die schnelle Reaktion der Bosse. Renault kündigte z.B. Anfang Oktober 2008 an, in allen Montagewerken (vor allem in Sandouville, wo ein Drittel der Belegschaft endgültig entlassen werden soll) in großem Maßstab Kurzarbeit einzuführen. Daraufhin kündigten innerhalb weniger Tage Teilelieferanten aus der Stahl- (Arcelor) und Aluminiumindustrie (Pechiney) dieselben Maßnahmen an, und dies breitete sich rasant auf Zulieferer der ersten Ebene (Valeo, Faurecia, Visteon, Delphi) und dann auf jene der zweiten und dritten Ebene aus, die dadurch in Schwierigkeiten gerieten.

Die Bosse versuchen generell, aus der aktuellen Krise den größtmöglichen Profit herauszuschlagen, indem sie die ArbeiterInnen erpressen, sich entweder mit verschärfter Arbeitshetze, mit Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, mit Entlassungen oder sogar Lohnsenkungen abzufinden. Letzteres hat es in Frankreich seit über 70 Jahren nicht mehr gegeben! Ein Zitat aus der Wirtschaftspresse: "Wir können jetzt Dinge tun, die vor einem Jahr noch unmöglich gewesen wären." Doch selbst in einer angeschlagenen Branche wie dem Automobilbau liegen die Dinge nicht so einfach. Im Renault-Montagewerk Flins waren die ArbeiterInnen seit Oktober 2008 auf Kurzarbeit mit drei Tage-Woche und verlängerten Weihnachtsferien. Ende März wurden für jeden Samstag bis in den September hinein Sonderschichten angekündigt (ohne Wochenendzuschlag), weil der neue Clio ein Verkaufsschlager ist! (Inzwischen wurde die Samstagsarbeit für den Mai ausgesetzt, kann aber im Juni je nach den Verkaufszahlen für den Clio wieder aufgenommen werden.)


Politik

Sarkozy spielt mit der Angst, indem er überall behauptet, die Wirtschaftskrise sei sehr hart und tief, demnächst würden soziale Unruhen ausbrechen, und nichts Geringeres als die Revolution stünde auf der Tagesordnung! Ende April wurde Ex-Premier Villepin in der Presse sogar damit zitiert, es könne eine revolutionäre Krise eintreten, und zwei Wochenmagazine erschienen mit Titelbildern von der Französischen Revolution! Letzten Dezember hatte die Presse berichtet, Sarkozy befürchte in Frankreich "griechische Verhältnisse", und das müsse mit allen Mitteln verhindert werden.

Seit vielen Jahren berichtet die Presse über Arbeiterkämpfe nur auf zwei Arten: Entweder zeigt sie bemitleidenswerte, weinende ArbeiterInnen, die ihren Job verloren haben (wie 2003 bei Moulinex), oder sie zeigt außer Kontrolle geratene wilde Tiere (wie im Sommer 2001 bei Cellatex(2)). Aber sie zeigt nie organisierte ArbeiterInnen, die für ihre eigenen Ziele (was wir auch immer davon halten mögen) kämpfen wie 2000/2001 bei Unilever. Offensichtlich verstärkt die jetzige Krise diese Haltung noch. Regierung und Medien kommentieren Arbeiterkämpfe mit Begriffen wie "normal" und "verständlich". Man signalisiert den betroffenen, verzweifelten ArbeiterInnen, dass etwas mehr für sie drin ist, damit diese nicht auf die Idee kommen, einen "harten Kampf" zu führen; andere, nicht betroffene ArbeiterInnen sollen sehen, dass ihre eigene Lage ja noch vergleichsweise gut ist, da es ja schließlich auch schlechter stehen könnte (soll heißen: "Ihr dürft jetzt keine Forderungen stellen!").

In dieser Situation brachen nun Kämpfe gegen Entlassungen und Fabrikschließungen aus.


Kämpfe

Von Faurecia (in der Nähe von Étampes, südlich von Paris) über Fulmen (in Auxerre, Burgund), Caterpillar (Grenoble, Alpenregion), 3M (Pithiviers, in der Region Loiret) und einige andere bis hin zu Continental (in Clairoix, in der Picardie) gab es immer mehr Kämpfe gegen Entlassungen und Fabrikschließungen.

"Neu" daran war das von den Medien herausgestellte sogenannte 'Bossnapping', das zeitweilige Festsetzen von Firmenbossen. Insgesamt waren es aber nur elf Fälle, die zwischen zwei und vier Tagen dauerten, ohne Eingriffe der Polizei. Es war also weder eine riesige noch eine harte Welle. Das Festsetzen lief ziemlich friedlich ab (keine Gewalt und - außer bei Caterpillar - keine Unterbrechung der Kommunikation mit der Außenwelt usw.). "Unnormal" handelten einzig die ArbeiterInnen der Batteriefabrik Fulmen, die ihren Manager zwangen, auf den Straßen von Auxerre mit ihnen zu demonstrieren. In all diesen Fällen ging es um nichts anderes als das aussichtslose, schmerzhafte Nicht-Kämpfen gegen Entlassungen und Fabrikschließungen, wie so oft in den letzten Jahren.

Ob sie den Gewerkschaften folgten oder nicht, die ArbeiterInnen brachten vor, dass:

• sie die Produktion wie bisher als Arbeitsplatzgarantie weiterführen wollen,

• sie den Bossen Vorschläge machen, wie sie Fabrik und Produktion besser organisieren können,

• sie gute und sehr produktive ArbeiterInnen seien; und manchmal auch, dass die Bosse unfair wären und besser beraten, andere Fabriken zu schließen statt "ihrer".

• Im Molex-Werk (bei Toulouse) demonstrierten ArbeiterInnen sogar mit der Trikolore und riefen Parolen gegen die "amerikanischen Diebe" (eine US-Firma hatte Molex gekauft).

• Vor allem fordern sie vom Staat, dass er eine Lösung finde (selbst wenn sie 2007 für Sarkozy gestimmt haben und jetzt von der Regierung enttäuscht sind), statt selbst zu kämpfen.

Natürlich gibt es bei keinem Kampf eine Garantie auf Erfolg. Das ist der Ausgangspunkt, egal ob die Kämpfe von den Gewerkschaften geführt werden oder nicht. Wir hoffen alle, dass die Dinge einen anderen Verlauf nehmen, wenn der Kampf einmal begonnen hat. Doch bis jetzt hat sich nichts in diese Richtung entwickelt, ganz sicher auch nicht bei Continental, der größten betroffenen Fabrik, noch in den Fabriken, in denen es zu Bossnapping kam.


Continental Clairoix

Wenn dieses Werk geschlossen wird, gehen 1120 Jobs verloren. Die Aktionen der ArbeiterInnen waren nach französischen Maßstäben die üblichen: Demonstrationen, einmal gewalttätig (gescheiterter Versuch, die Unterpräfektur von Compiègne zu besetzen), brennende Reifen, Aufrufe zu passiver Solidarität, Appelle an den Staat usw.

Bis Mitte April gab es keine Versuche, zur anderen französischen Fabrik von Continental in Sarreguemines zu gehen oder zumindest ein paar Leute zur neuen Fabrik in Sibiu (Rumänien) zu schicken, wohin die Produktion von Clairoix verlagert werden soll. Am 23. April führen sie zur Demo nach Hannover. 1000 Leute kamen aus Clairoix, 100 aus Sarreguemines und 1000 aus Deutschland, wo das Werk in Stöcken von Schließung bedroht ist.(3) Eine solche Demo kann sicherlich die Kampfstimmung heben, aber es es gab überhaupt keine Idee, welche Aktionen nach der Demo kommen könnten.

Anfang Mai erhielten Versuche zur Kontaktaufnahme zu anderen Werken einen empfindlichen Dämpfer. 300-400 Arbeiterinnen aus Clairoix (ein Drittel der Belegschaft) waren auf dem Weg nach Aachen, um vor dem dortigen Reifenwerk gegen die Schließungspläne zu demonstrieren, als sie die Nachricht erhielten, dass sich vor dem Aachener Werk ein riesiges Polizeiaufgebot aufgebaut hatte und die deutsche Gewerkschaft die Protestkundgebung daraufhin abgesagt hatte. Daraufhin beschlossen sie, stattdessen das andere Continental-Werk in Frankreich (in Sarreguemines, Moselle) heimzusuchen, wo 1250 Leute arbeiten. Sie verbrannten wie üblich ein paar Reifen vor dem Werkstor und stürmten dann mit Parolen wie "On est chez nous" (Wir sind hier zuhause) und "Continental Solidarité" aufs Betriebsgelände. Aber das große Problem war, dass sich ihnen nur 100 ArbeiterInnen aus Sarreguemines anschlossen. Die meisten waren nur indifferent, aber einige reagierten feindlich und wollten sie aus dem Werk rausschmeißen. Die ArbeiterInnen aus Sarreguemines, die von den Entlassungen nicht betroffen sind, wollten ihren KollegInnen aus Clairoix nicht helfen. Der Fehler der ArbeiterInnen von Clairoix war, dass sie ihre Aktion nicht angekündigt hatten und erst gar nicht versucht haben, zu diskutieren und sie zu vermitteln, sondern einfach stur in die Fabrik stürmten. Jetzt sind sie wieder zurück in Clairoix, alleine und isoliert.(4)

Das Problem liegt in der Strategie des Streiks: Man kann nicht einerseits "radikale Aktionen" versuchen wie die Demo in Deutschland oder zuletzt in Sarreguemines und gleichzeitig nach einem Boss rufen, der die Fabrik übernehmen soll, oder den Staat auffordern, Continental zu verstaatlichen.


Warum steckt der Kampf dermaßen in der Sackgasse?

Der Hauptgrund ist, dass der sehr populäre CGT-Führer bei Continental, Xavier Mathieu, Mitglied von Lutte Ouvrière ist. Und LO hat beschlossen, bei den jetzigen Streiks eine Politik der harten örtlichen "Widerstandsherde" zu fahren, mit langen Streiks, wie sie es im März/April 2007 beim PSA Citroen-Streik in Aulnay gemacht hatten.

LO hat den Streik mit einem Komitee gut organisiert, das Gewerkschaftsmitgliedern und Nichtmitgliedern offensteht, demokratisch gewählt ist und im Interesse der ArbeiterInnen handelt. Die Beteiligung an den täglichen Vollversammlungen ist immer noch hoch (700 bis 800 ArbeiterInnen). Und LO arbeitet nicht gegen die ArbeiterInnen und manipuliert sie nicht wie die KPF. Aber die Strategie von LO zieht nicht in Betracht, dass das Kräfteverhältnis zwischen den von Entlassung Betroffenen und den nicht Betroffenen den Kampf (der jetzt schon acht Wochen andauert) in eine Sackgasse führen wird, wie vor zwei Jahren in Aulnay.

Im Juni 1994 hatten die ArbeiterInnen von Continental (damals noch Uniroyal) einen interessanten militanten Streik geführt, in dem sie für die Festeinstellung von Befristeten, gegen Überstunden und für eine Lohnerhöhung von 1500 Francs (etwa 250 Euro) kämpften. Nicht alle Streikziele wurden durchgesetzt (zwölf Befristete wurden fest eingestellt, und es gab keine Überstunden mehr), aber in den Augen der ArbeiterInnen war es ein Erfolg. Und so war Continental ein Vorbild für die ganze Region. Doch Ende 2007 willigten die AbeiterInnen ein, statt 35 Stunden in der Woche 40 zu arbeiten, ohne mehr Lohn zu bekommen! Diese Übereinkunft war eine schreckliche Niederlage. Wenn man sich einmal auf die Erpressung durch die Bosse eingelassen hat, ist es sehr schwer, das wieder umzudrehen. Dafür gibt es in Frankreich in den letzten 30 Jahren eine Menge Beispiele.

Die aktuellen Kämpfe stehen völlig unter gewerkschaftlicher Kontrolle. Und die ArbeiterInnen stehen mit dem Rücken zur Wand, weil in der Branche gewaltige Überkapazitäten herrschen und ihre klassischen Arbeiterqualifikationen nicht mehr gebraucht werden.


Caterpillar

Ein weiterer Kampf, den die Medien zum Beispiel erhoben haben, fand bei Caterpillar in Grenoble statt, wo 763 Jobs bedroht sind. Hier richtete sich das Hauptaugenmerk auf das Bossnapping und die Art der Freilassung: Gewerkschaftsmitglieder schützten die Bosse vor wütenden ArbeiterInnen. Im Fernsehen konnte man sehen, dass außerhalb der Fabrik 150 CRS-Bullen warteten, während drinnen eine Atmosphäre des Hasses gegen die Bosse herrschte. Diesmal hatten ihnen die Streikenden die Handys weggenommen. Als die Bosse nach zwei Tagen wieder freigelassen wurden, geschah das wirklich unter dem Schutz der CGT. Streikende brachten ihre Wut und Ablehnung zum Ausdruck, Journalisten nahmen das auf. Na und?

Beim Festsetzen übernahm und behielt die CGT die Führung. Selbst diese "wütenden" ArbeiterInnen waren nicht in der Lage, darüber hinauszugehen. Ein Teil der ArbeiterInnen ist zufrieden mit dieser Sackgasse, sie begreifen nicht, dass der Angriff auf einen oder mehrere Bosse kein Angriff auf die Firma Caterpillar ist. Und auch hier wurde keine Initiative ergriffen, um etwa durch einfaches Besuchen anderer Fabriken den Horizont des Streiks zu erweitern.


Eine kurze Erinnerung an einige "französische" Besonderheiten

Leute im Ausland könnten - verstärkt durch die mediale Darstellung - Demonstrationen kämpfender ArbeiterInnen für etwas Wertvolles halten, an dem sich ein großer Schritt in Richtung "Revolution" ablesen lässt: Konfrontation mit der Polizei, Angriffe auf staatliche Gebäude (Präfektur, Arbeitsämter usw.), Straßen- oder Schienenblockaden, die Zerstörung von Industrieprodukten auf den Straßen (Reifen, Stahlrollen usw.). Der Rauch brennender Reifen unterstreicht die Qualität des Spektakels. Aber in Frankreich haben wir das in den letzten 30 Jahren oft gesehen, vom großen Stahlarbeiterstreik im Februar/März 1979 über die Bergarbeiterdemo in Metz im November 1995 bis zu Continental heute. Das soll nicht heißen, diese ganzen Aktionen seien an sich nutzlos. Sie werden es aber, wenn sie als Ersatz für kollektiv organisierte Kämpfe dienen, die die Bosse wirksam treffen. Es ist klar, dass die Gewerkschaften diese "gimmicks" gut finden, denn sie benutzen sie, um die Kampfkraft der ArbeiterInnen zu erschöpfen - zudem lassen sie die Gewerkschaften wieder radikal erscheinen.

Aber auch hier sind die Dinge komplexer als sie scheinen: am 29. Januar verwandelte sich während des gewerkschaftlichen Aktionstags in Saint Nazaire eine friedlich schlafende Gewerkschaftsdemo von 6000 Leuten gegen Ende plötzlich von selbst in eine unkontrollierte Kampftruppe, die sich stundenlang der Polizei entgegenstellte...


Hoffnung?

Ich erzähle euch mal ein anderes Beispiel. Im Jahr 2004 verkaufte PSA Citroen sein Presswerk in der Montagefabrik von Aulnay bei Paris an eine italienische Firma namens Magneto. Die Anlagen und die Belegschaft blieben unverändert, nur der Boss wechselte. Magneto beschäftigte rund 300 ArbeiterInnen. 2006 hatte die Kampagne einiger kämpferischer ArbeiterInnen zur Schaffung einer Sektion der CGT Erfolg. Und bei den darauf folgenden Delegiertenwahlen gewann die CGT alle Sitze. Im Februar 2007 war der Boss dabei, die Erneuerung der Verträge mit Citroen zu verhandeln und befand sich dadurch in einer schwachen Situation. Unter der Führung der CGT begann ein Streik für 100 Euro Lohnerhöhung, an dem sich 220 ArbeiterInnen beteiligten. Nach zehn Tagen gab der Boss auf und die ArbeiterInnen hatten gewonnen. Nach diesem Sieg versuchten einige ArbeiterInnen bei Citroen, dasselbe zu erreichen und begannen im März 2007 einen Streik, aber erfolglos. Im März 2008 taten die Magneto-ArbeiterInnen unter der Führung derselben CGT-Delegierten dasselbe, die Beteiligung lag auf demselben Level, und sie erreichten eine Lohnerhöhung von 60 Euro. Daraus kann jede/r die eigenen Schlüsse ziehen...

23.5.2009


Ergänzung vom 9.6.2009:
Bei Continental in Clairoix haben Gewerkschaften und Betrieb überraschend vereinbart, dass die Löhne bis Oktober regulär bezahlt werden und alle Entlassenen zusätzlich zur normalen Abfindung 50.000 Euro erhalten.


Randnotizen

(1) Siehe Wildcat-Zirkular 55 "35 Stunden gegen das Proletariat" und Wildcat 73 "Was bleibt von der 35-Stunden-Woche? Schöner scheinen"

(2) Zu Cellatex siehe Wildcat-Zirkular 58: "153 ArbeiterInnen verschaffen sich Gehör."

(3) Mitte Mai mit "Kompromiss" beigelegt: 200 Leute werden sozialverträglich, 250 betriebsbedingt gekündigt; etwa 350 arbeiten zunächst weiter.

(4) Inzwischen hat Continental in Verhandlungen zugesagt, die Schließung von Juli 2010 auf Dez. 2011 zu verschieben; die CGT hält das für einen großen Erfolg.

Raute

"Unsere Konzepte waren nicht mehr adäquat..."

Gespräch mit Ex-Militanten der RZ

Die Teilnehmer am folgenden Gespräch sind alles Männer: M. und L. standen vor einigen Jahren in Berlin vor Gericht; T. war Ende '87 abgetaucht und hatte Anfang 2009 einen (kurzen) Prozess in Stammheim.

Nachschlagen und Weiterlesen könnt Ihr auf www.freilassung.de; und müsst Ihr wohl auch, denn vieles erklärt sich nicht von selber, und soviel Platz gab es in der Marginalspalte bei weitem nicht!


Wildcat: Ende 1987 sind einige von Euch vor dem drohenden Zugriff abgetaucht, Ende 2006 haben sich zwei davon gestellt und einen Deal mit der Bundesanwaltschaft (BAW) gemacht. Bereits 2000 haben andere von Euch in Berlin vor Gericht gestanden, damals war Abtauchen kein Thema mehr, sagt Ihr. Was hatte und hat sich seit 1987 geändert?

M: 1987 bewegten sich Rote Zora und RZ auf einem politischen Hoch, 2000 gab es beide nicht mehr und auch sonst keine Gruppen, in deren Rahmen man hätte abtauchen können, um aus dem Untergrund heraus politisch weiter zu machen.

L: Dass '87 plötzlich eine Reihe von Leuten illegal war, hat die Organisation ganz schön gefordert. Inhaltliche Auseinandersetzungen mussten zugunsten struktureller Unterstützung zurückgestellt werden: Geld beschaffen, Papiere besorgen, Übergaben regeln und die Illegalen auch politisch wieder einbinden, das alles war sehr aufwendig. Dann sind die RZ-Gruppen zerfallen, und das Abtauchen hat den Zusammenhalt nicht gefördert, sondern erwies sich als zusätzliche Belastung.

T: Wir haben die Illegalität zunächst als neu gewonnene Bewegungsfreiheit gesehen. Aber im Zuge der Auflösungstendenzen Anfang der 90er Jahre wurde sie mehr und mehr zur Flucht, eine politische Anbindung war nicht mehr möglich. Einzelne Leute mussten unsere Unterstützung auf die eigene Kappe nehmen. Der Preis des Wegbleibens war hoch, ohne dass dem was gegenüber stand. Und es macht was mit dir! Du musst dich regelmäßig an neue Umgebungen anpassen, bist nicht frei in der Entscheidung für Leute, musst dich mit denen arrangieren, die da sind. Und selbst wenn du gute Leute kennen lernst, verarschst du sie erstmal, weil du ihnen ja nicht gleich auf die Nase binden willst, dass sie es mit Illegalen zu tun haben.

Wildcat: Habt Ihr in dieser Phase '92 bis '95 nie die Idee gehabt, Euch zu stellen? Ein politischer Prozess in diesem Zeitraum hätte doch Chancen geboten, in die Auflösungs- und Fraktionierungsprozesse hinein zu wirken.

T: Das haben wir nicht ernsthaft erwogen. Damals ging Benz mit dem Rückkehrangebot des VS hausieren, und in dessen Nähe wollten wir auf keinen Fall geraten. Nachdem sich die RZ aufgelöst hatten und unsere kurze Suche nach einem Exil ohne Erfolg geblieben war, haben wir uns ab Mitte der 90er Jahre dort eingerichtet, wo wir Unterschlupf gefunden hatten. Und angefangen in Verjährungsfristen zu rechnen: 10 Jahre hatten wir uns gegeben, demnach hätten wir 1997 wieder auftauchen können. Mittlerweile weiß ich, dass es illusorisch ist, auf Verjährung zu bauen. Wenn es den Verfolgungsbehörden opportun erscheint, finden oder schaffen sie immer irgendeinen trivialen Anlass, um eine Unterbrechung der Verjährung zu begründen. In meinem Fall kam die Verhaftung von Mousli hinzu - nach dessen Aussagen konnte ich mir die Verjährung sowieso abschminken; stattdessen wurde im Dezember 2000 ein neuer Haftbefehl gegen mich erlassen, der frühestens 2019 verjährt wäre. Damit stellte sich die Frage völlig anders: entscheiden wir uns endgültig für ein Leben in der Illegalität bis zum Ende unserer Tage, oder machen wir den Versuch, uns zu legalisieren - und das war aus unserer Sicht letztlich gleichbedeutend mit Rückkehr.

Wildcat: Hätte es dazu Alternativen gegeben?

T: Wir hatten überlegt, uns in Frankreich verhaften zu lassen - mit der Spekulation, nicht ausgeliefert zu werden. Sonja S. und Christian G. waren im Januar 2000 in Paris verhaftet worden und die französische Justiz hatte ihre Auslieferung jahrelang verweigert. Unser Versuch ist allerdings schon im Vorfeld gescheitert. Inzwischen stehen aber auch die beiden unmittelbar vor ihrer Auslieferung, weil der europäische Haftbefehl angepasst worden ist!


Anna & Arthur lassen sich (auf Neues) ein


Wildcat: Letztlich habt Ihr entschieden, Euch zu stellen und über Rechtsanwälte Kontakt zur BAW aufgenommen. Wie lief dann der Deal?

T: Das war unterschiedlich. Der Haftbefehl gegen mich lautete auf Rädelsführerschaft. Die Mindeststrafe dafür beträgt drei Jahre, und die können nicht zur Bewährung ausgesetzt werden. Ich hatte deshalb lediglich die Zusage, dass der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt wird, wenn ich mich stelle. Bei A. war das anders, sie wurde beschuldigt, Mitglied der Roten Zora zu sein und die Wecker für zwei Anschläge beschafft zu haben. In dem Fall konnte die BAW sich vorstellen, die Strafe zur Bewährung auszusetzen, wenn es eine entsprechende Einlassung gäbe.

Wildcat: Eure Vorstellung war, wenn was mit Bewährung rauskommt, geht Ihr drauf ein, wenn aber Knast droht, kommt Ihr nicht zurück?

T: Richtig. Ich kehre nicht nach 19 Jahren Illegalität aus freien Stücken zurück, um stattdessen ein paar Jahre abzusitzen. Dann hätten wir so weiter gelebt wie gehabt, das hätte schon irgendwie geklappt. Aber wir wollten eine Situation beenden, die politisch obsolet geworden war, und unser Leben wieder in die eigene Hand nehmen. Wir wollten uns ohne die Einschränkungen, die der Status zwangsläufig mit sich bringt, neu orientieren, wieder mitmischen.

M: Der Prozess gegen T. wurde aber nach Stammheim verlegt und die Situation war bis zum ersten Prozesstag offen: Gibt es zwei Jahre auf Bewährung oder ziehen sie die Anklage durch? Dann hätte man dagegen gehalten und geguckt, was man mit dem Prozess erreichen kann: wie weit trägt z.B. Mousli mit seinen Aussagen im Jahr 2009 noch? Aus eigener Erfahrung muss ich allerdings sagen, dass man der Justiz zu viel Ehre antut, wenn man meint, ein Kronzeuge ließe sich kippen, nur weil es Zweifel an seiner Aussage gibt.

T: Die Vorwürfe gegen mich beruhten nur auf den vagen Geschichten von Mousli, die dieser wiederum vom Hörensagen kannte. Deshalb war ein streitiges Verfahren lange Zeit durchaus eine Option. Aber wenn sie ihn in meinem Prozess hätten fallen lassen müssen, weil er unglaubwürdig ist, hätte ihnen ein Wiederaufnahmeverfahren in Berlin gedroht. Deshalb konnte sich vermutlich auch die BAW mit einem Deal anfreunden. Ihr Aufklärungsinteresse in meinem Verfahren schien mir jedenfalls insgesamt sehr gering.

Wildcat: Wie war das in Deinem Fall? Was haben die BAW und das Berliner Kammergericht von Dir verlangt?

L: Die Formulierung lautete, dass die Geschichte glaubwürdig und nachvollziehbar sein muss und dass ich Sachen einräumen muss, die strafrechtlich noch relevant sind. Es wurde nicht vorgeschrieben 'Beteiligung hier, Beteiligung da', das war mir freigestellt. Und im Gegenzug gab es dann diese Kombination aus Haftverschonung und maximal zwei Jahren auf Bewährung.

M: Der Preis in mehreren RZ-Verfahren war immer der gleiche: du gibst eine so genannte Selbstbelastung ab und räumst mindestens eine nicht verjährte Straftat ein, damit sie dich überhaupt verurteilen können. Dafür garantieren sie dir, dass du nicht mehr als zwei Jahre auf Bewährung bekommst; das ist praktisch der Deal. Ob das, was du einräumst, der Wahrheit entspricht, interessiert wahrscheinlich nur am Rande. Niemand verlangt von dir, dass du andere belastest. Das ist ihnen auch klar, dass sie doch nichts bekommen würden, was andere gefährdet. Deshalb versuchen sie es gar nicht erst.

T: Mir wurde keine Geste der Reue abverlangt, ich brauchte nicht abzuschwören und musste keine Besserung geloben. Das ist wahrscheinlich das Privileg des 60-jährigen.

Wildcat: Aber kann nicht die BAW über die verschiedenen Einlassungen Stück für die Stück die Geschichte der RZ rekonstruieren?

M: Es ist eh nur am Rande von Interesse, ob eine Einlassung sich mit der Wahrheit deckt. Die verschiedenen Einlassungen verdichten sich nicht wie Mosaiksteinchen zu einem Gesamtbild, das sich irgendwann mit der Wahrheit deckt. Wenn es dafür den geringsten Anhaltspunkt gäbe, hätte keiner von uns eine Einlassung befürwortet.

L: Natürlich gibt es genügend Fälle, wo sich die Bullen aufgrund vieler verschiedener Zeugenaussagen schließlich ein Bild über eine Gruppe oder eine Person machen können. Deshalb war die Parole 'Anna und Arthur halten das Maul' nicht nur 1987 völlig richtig. Sie funktioniert aber nicht als Glaubensbekenntnis der Art 'niemals mit Bullen reden!'. 15 Jahre nach der Auflösung der RZ muss man in der konkreten Situation nach den politischen und den juristischen Bedingungen fragen, und vor diesem Hintergrund die Vor- und Nachteile einer Einlassung abwägen.

M: Der Weg, den T. gewählt hat, ist selbstverständlich nicht der einzig mögliche. Andere Wege wären ebenfalls denkbar gewesen und hätten die gleiche Berechtigung gehabt. Aber er ist gangbar und aus meiner Sicht im konkreten Fall auch richtig. Nicht akzeptabel ist es, wenn Einlassungen wie diese in die Nähe von Verrat gerückt werden. Da wird es politisch ärgerlich.

Wildcat: Im Berliner Verfahren wurden Eure Schwierigkeiten, sich auf eine Prozessstrategie zu verständigen, aber durch Einlassungen noch verschärft...

L: Das Fatale war, dass die fünf Leute, die in Berlin angeklagt waren, sich gut ein Jahrzehnt vorher als Gruppe getrennt und seither keine gemeinsame Diskussion mehr geführt hatten. Die sind erst im Verfahren wieder zusammengesetzt worden.

M: Die Einlassung von Sabine und Rudolf war faktisch die erste Bestätigung des Kronzeugen. Damit war der Versuch gestorben, ihn mit juristischen Mitteln zu kippen. Sie war aber auch politisch ärgerlich, weil dummes Zeug drin steht. Schließlich kann es bei der Auseinandersetzung doch nicht darum gehen, wer namentlich auf dem Motorrad gesessen, wer geschossen oder wer das Auto gefahren hat, solche Sachen finde ich bei Einlassungskrams relativ sinnlos oder sogar schädlich. Als Gruppe, die dafür verantwortlich ist, hattest du gemeinsam darüber diskutiert und aus ganz vielschichtigen Gründen die Aufgaben untereinander verteilt. Letztlich tragen alle Beteiligten die gleiche Verantwortung für das, was sie getan haben. Da gab's ja niemand, der gesagt hätte, ich war eigentlich schon immer dagegen.

Wildcat: Bei einer Einlassung musst du also zudem darauf achten, keine Aussagen zu bestätigen, die der Kronzeuge Mousli gemacht hat.

M: Du wirst dir sehr gut überlegen, irgendwas zuzugeben, was der Kronzeuge behauptet hat, denn damit würdest du ja suggerieren, dass an seiner Version und dem Konstrukt der Anklage doch was dran sein könnte. Im Verfahren gegen T. war die Diskrepanz zwischen der Einlassung und der Aussage von Mousli so groß, dass der Kronzeuge weder im Plädoyer noch im Urteil überhaupt erwähnt wird, obwohl die gesamte Anklage darauf basierte. Das wichtigste Kriterium aber bleibt trotzdem: kann das, was ich sage, jetzt oder später gegen jemand anderes in irgendeiner Form verwendet werden, und das ist nicht der Fall.


"Authentisch rüberkommen"


Wildcat: Es gibt aktuell offensichtlich großes Interesse von Seiten einer neuen, jungen Generation, sich mit vergangenen Militanzerfahrungen auseinanderzusetzen, einerseits. Andererseits: Wie können wir eine solche Debatte so führen, dass Leute und Strömungen (wieder) zusammenkommen, wie lässt sich die große Zerstrittenheit überwinden, wie lassen sich eventuell sogar Leute reaktivieren?

T: Ich hatte gedacht, dass ich mich diesen Ansprüchen stelle, sobald der Prozess vorbei ist - und nicht damit gerechnet, dass sich das über mehr als zwei Jahre hinziehen würde! Mal abgesehen davon, dass ich auch unterschätzt habe, was es bedeutet, sich in der Szene zu orientieren und auch im Alltag zurechtzufinden. Es gibt n Haufen zu diskutieren, was war wichtig, was haben wir falsch gemacht, welche Erfahrungen können wir weiter geben... Stattdessen grenzen sich alle von einander ab und jeder schreibt seine eigene Autobiografie. Ich will das auf jeden Fall nur mit anderen zusammen machen!

M: Ich kann jetzt relativ frei über die Positionen und Erfahrungen reden, die mich damals dazu gebracht haben, eine bestimmte Politik zu machen. Das kann und will ich anbieten. Früher warst du ja in der relativ behämmerten Position, eine Politik zu machen, die du nicht selbst vertreten konntest. Du musstest mit Dingen zurückhalten, die dir wichtig waren und bist deshalb nicht authentisch in der Diskussion rüber gekommen. Das wäre jetzt einfacher. Wenn jemand darüber reden mag, dann kann man das tun, z.B. auf Veranstaltungen.

L: Damit könnten wir anknüpfen an diesen ersten Schritt in die linke Öffentlichkeit. Und dokumentieren, dass es die Bereitschaft gibt, über diese Zeit zu reden. Auch über unterschiedliche Sichtweisen auf diese Zeit, es gibt ja bestimmt viele, die eine ganz andere Meinung dazu haben oder was ganz anderes mitbekommen haben. Ich weiß auch nicht, wie unsere diversen Weggefährtinnen und Weggefährten auf dieses Interview reagieren werden, da lasse ich mich überraschen.

T: Im Zusammenhang mit der drohenden Auslieferung der beiden aus Frankreich müsste so was sowieso Teil einer breiteren Mobilisierung sein...

M: ... die könnten den Weg, den sie gehen wollen, dort darstellen und Solidarität einfordern.

Wildcat: Es geht heute ja nicht nur um die Diskussion über militante Aktionsformen, sondern auch um den Grundgedanken, dass Revolution einen Bruch voraussetzt und kein reformistisches Reinwachsen in irgend einen "Sozialismus" möglich ist - diese Selbstverständlichkeit ist nämlich während Eures 19jährigen Wegseins auch in der radikalen Linken abhanden gekommen.


Halbherzige Abschiede


Wildcat: Im Zusammenhang mit der globalen Krise werden sich die sozialen Auseinandersetzungen verschärfen. Was wäre heute zu tun, damit Militanz nicht wieder wie in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zum Fetisch wird? Was ist in der Phase passiert, wo die radikale Linke verlernt hat, Militanz in Bezug auf emanzipatorische soziale Prozesse zu diskutieren? '88 bis '93 zerfällt sowohl die RZ als auch die radikale und autonome Linke. Anläufe zu inhaltlichen Debatten funktionieren nicht und beschleunigen eher die Auflösungsprozesse, die sich um die drei großen Antis drehen: Anti-Sexismus, Anti-Rassismus - und eben auch Anti-Imperialismus bzw. Anti-Deutschtum, als sein Gegenstück. Das "Gerd-Albartus-ist-tot"-Papier versuchte zum ersten Mal öffentlich, die antiimperialistischen Leichen im Keller der RZ zu thematisieren, blieb aber auf halber Strecke stecken...

T: Am Albartus-Papier ist schlecht, dass es nur halbherzig vom Antiimperialismus der 70er Jahre Abschied nimmt und immer noch was zu retten versucht. Anstatt das wenige, was wir tatsächlich wussten und wissen, konkret zu benennen, ist beispielsweise vage die Rede von einer "Gruppe aus dem palästinensischen Widerstand", die Gerd umgebracht hat. Wir hatten ja selbst nur Informationen aus zweiter Hand und standen vor dem Dilemma, Position zu beziehen, ohne Genaues zu wissen. Deshalb haben wir uns zu Recht den Vorwurf eingehandelt, dass wir den palästinensischen Widerstand pauschal diffamieren. Faktisch haben Intifada und Carlos-Truppe, die für den Tod von Gerd verantwortlich ist, natürlich wenig miteinander zu tun.

M: Es war richtig, unser Verhältnis zum "Befreiungsnationalismus" zu überdenken. Aber wir hätten diese Debatte nicht erst im Kontext mit der Ermordung von Gerd öffentlich machen dürfen. Die Trennung von der Carlos-Truppe hatten wir intern viel früher vollzogen. Nach heftigen Streitereien über unsere Zusammenarbeit mit diesen Gruppen, die ja noch auf die Gründungszeit der RZ zurückging. Mit einigen Aktionen, die der Carlos-Truppe zugeschrieben werden, möchte ich im Leben nicht identifiziert werden. Sprengstoffanschläge auf Bahnhöfe oder Züge sind weder moralisch noch politisch vertretbar und stellen unsere Vorstellung von Befreiung auf den Kopf.

T: Der Antiimperialismus hatte ja auch eine ganz pragmatische Seite. Um die Gefangenen zu befreien, brauchten wir die internationalen Kontakte. Damit begibst du dich auch zugleich auf das Parkett von Macht, Diplomatie und Staatlichkeit. ... Wir haben das Guerillakonzept von Lateinamerika in einer Phase übernommen, wo es dort schon obsolet geworden war. Die Tupamaros hatten lange aufgehört, Aktionen zu machen, als die RZ erst angefangen haben. Die Fokustheorie war von Debray schon 1969 beerdigt worden, und du fingst in den 70er Jahren an, fokistische Theorien zu reaktivieren. Das ist eine Zeitverschiebung, wo du heute denkst, das hätte auch anders laufen können.

Wildcat: Kurz nach dem Albartus-Papier erschien ein weiteres RZ-Papier: Das "Ende unserer Politik" verkündete das Ende einer geschichtlichen Etappe ...

T: ... und bezeichnete den internationalen Terrorismus en passant als historischen Ursprungsort der RZ. Ein dritter, sehr orthodoxer Text vom Mai 1992 rückte das Albartus-Papier in die Nähe neokolonialer Denk- und Handlungsmuster. Damit stand unser Papier unter dem Verdacht, eine verklausulierte Auflösungserklärung zu sein.

M: Aus dem "Ende unserer Politik" sprach in erster Linie Frust und Resignation. Wir hören auf wir machen Fehler, wir kommen mit der Sache nicht mehr weiter. Der Frust war nach vollziehbar, die Argumentation umso weniger. Die "Tendenz für eine internationale soziale Revolution" gab vor allem Durchhalteparolen aus und weigerte sich überhaupt, über Veränderungen nachzudenken. Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass es danach um diese Gruppe still geworden ist. Wir saßen zwischen den Stühlen, hatten aber auch keine Idee, wie wir mit den weltpolitischen Umbrüchen und mit der eigenen Schwäche als Organisation umgehen sollten. Mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus war das ganze Koordinatensystem des Kalten Kriegs weggerutscht. Entwicklungen, über deren Folgen wir gerne in einem größeren Zusammenhang diskutiert hätten. Da waren wir mit den drei oder fünf Figuren in der RZ zu dünn bestückt, um zu überlegen, welche Konsequenzen das hat.

Wildcat: Gleichzeitig lief - nicht nur - bei den RZ eine zweite Debatte, die sich z.B. im Papier "Was ist das Patriarchat" ausdrückte...

L: ... dessen eigentlicher Titel ja "Das Spiel ist aus" ist - das hat jedenfalls Sabine im Berliner Prozess behauptet. Und dabei deutlich zu verstehen gegeben, dass der Text alle bisherigen Revolutionsentwürfe und somit auch das bewaffnete Konzept der RZ in Frage stellen sollte.

M: Ein paar Leute haben aber damals mit dieser Argumentation behauptet, dass der Antipat eine Alternative zur Flüchtlingskampagne sein könnte. Aus der so genannten Feminisierung der RZ sollten sich Aktionsmöglichkeiten ergeben, die das auch nach außen tragen. Das Dilemma war, dass auf der einen Seite zurecht gefordert wurde, wir müssten uns auch innerhalb der eigenen Zusammenhänge mit patriarchalen Strukturen auseinandersetzen, es auf der anderen Seite aber lähmend wirkte, weil sich die entsprechenden Diskussionen nicht in praktische Politik umsetzen ließen. Praktisch gab es ja nur ein, zwei Erklärungen, aus denen kein Mensch mehr schlau wurde. Siehe Siegessäule. Stattdessen hat es die Auflösung der RZ beschleunigt. Wenn du der Ansicht bist: 'Was wir machen, ist so radikal falsch, dass wir besser gar nix mehr machen!', dann sollte man das auch so sagen und dafür gerade stehen!

T: Unsere Konzepte waren nicht mehr adäquat, deshalb konnten solche Diskussionen so reinhauen. Die "blinden Flecken" waren eine Auflistung von sozialen Verhältnissen, vor denen wir die Augen verschlossen hatten. Ich glaube nicht, dass die Beschäftigung mit den eigenen Defiziten zufällig Anfang der 90er Jahre aufgekommen ist. Du merkst, dass dir die Felle davon schwimmen und suchst nach eigenen Fehlern. Wir führten eine nach innen gewandte Antipat-Debatte, die mitunter inquisitorische Züge hatte, waren primär mit uns selbst beschäftigt, und hatten kaum noch ein Auge für das, was um uns herum ablief. Es war nicht mehr möglich zu diskutieren: wie ändert sich Migration, was bedeutet es, dass die Mauer weg ist - das waren doch die Fragen, vor denen wir standen!


Triple A


Wildcat: In diese Situation hinein erschien Ende 1990 das 3:1-Papier. Es argumentiert gegen das klassische Denken des Antiimperialismus in Haupt- und Nebenwidersprüchen und setzt dem die drei "antis" entgegen: "Anti-Klassismus, Anti-Sexismus, Anti-Rassismus". Es nimmt viel von dem vorweg, was Negri später ausbreitet: Konflikte finden molekular, überall statt. Die Intersektionalitätsforschung geht von 13 verschiedenen "Unterdrückungsformen" bzw. "bipolaren hierarchischen Grenzlinien" aus. Die ganzen Ansätze klammern "Ausbeutung" komplett aus der Analyse aus und sehen nur noch tausende von Herrschaftsverhältnissen...

M: ... um schließlich bei Fragen der Identität und der politischen Korrektheit zu landen. 3:1 orientiert sich an der amerikanischen Debatte über Geschlechterdifferenz und ethnische Vielfalt. Ich weiß nicht, ob man Anfang der 90er Jahre schon hätte sehen können, dass mit dieser Verschiebung eine Kulturalisierung des Sozialen einhergeht. Jedenfalls hatte man in den letzten Jahren häufig den Eindruck, dass das eigentliche Problem nicht Ausbeutung und Armut ist, sondern der fehlende Respekt gegenüber den davon Betroffenen. Da reiben sich die Neoliberalen die Hände.

T: Nicht von ungefähr stellt das 3:1-Papier den Begriff des "Netzes" zentral. Das ist ein gängiger Begriff in den Sozialtechnologien und Managementtheorien. Seither ist die radikale Linke nur noch am "sich Vernetzen". Natürlich ist 3:1 nicht "schuld" an dieser Entwicklung - aber es hat sicherlich nicht zur Stabilisierung einer revolutionären Linken beigetragen. Zumal es Leute bedient hat, die eh nicht mehr weiter wussten und nach Argumenten suchten, um sich zurückzuziehen.

Wildcat: Die reale Antifa waren die migrantischen Jugendlichen, die den Faschos auf der Straße und im Viertel entgegengetreten sind. Nach der Wiedervereinigung hatten wir ein Faschoproblem in der DDR - u.a. weil es dort eben keine migrantischen Jugendlichen gab. Und gerade in diesen Jahren wurde Antifa immer mehr zu einer Diskurspolitik - und bei dieser Entwicklung hat das 3:1-Papier schon eine Rolle gespielt. Der Antirassismus hat die 'soziale Frage' entsorgt...

T: ... indem er soziale Verhältnisse individualisiert und biologisiert hat! Um mich "korrekt zu verhalten", muss ich meine Umgebung scannen, was unterscheidet mich von den anderen Menschen, in welcher Stufe stehe ich in dem Verhältnis; und das bestimmt mich in dem, was ich sagen und tun kann. Das ist doch irre! Wie willst du da politisch handlungsfähig bleiben?

L: Der Grundquatsch dieses Ansatzes setzt sich bis heute fort: vor jedes Übel dieser Welt ein "anti" setzen. Das letzte - und einzig gute - "anti" war und ist das anti-autoritäre!


Anstöße


T: Ich sehe das Interview als Anfang. Entmythologisierung gehört unbedingt zur Vermittlung von Erfahrung! Nun geht es drum, dass andere ins Gespräch einsteigen: Was denken sie dazu? Wie bewerten wir heute das, was wir damals gesagt und getan haben? Ich will nicht nur Anekdoten erzählen und Geschichten reproduzieren, sondern diese aus heutiger Sicht und unter heutigen Konditionen betrachten. Ich hab mich verändert, aber noch mehr haben sich die gesellschaftlichen Bedingungen verändert, unter denen ich agiere.

L: Wir müssen erkunden, wie unter den heutigen Bedingungen eine politische Debatte über die bewaffnete Politik in den 70er und 80er Jahren geführt werden kann. Was ist davon noch brauchbar, was hat vielleicht damals schon nicht getaugt, und was würde heute allemal nicht taugen? Das Ausspielen moralischer Ansprüche aus den 70er Jahren verhindert das eher - das Hochfahren der moralischen Frage hat in der Geschichte der bewaffneten Gruppen in der BRD schon oft dazu gedient, eine politische Diskussion zu verhindern.

Wildcat: Ein paar Themen für die Debatte, an denen weitergearbeitet werden muss und die auf Veranstaltungen behandelt werden könnten, haben wir oben angerissen. Ein paar sind aus Platzmangel weggefallen, wie z.B. das Verhältnis zwischen linken Gruppen und bewaffneten Gruppen - das immer hochproblematisch war. Ein gerade wieder sehr aktuelles Thema sind "Freiräume" bzw. "befreite Gebiete", wo einer von Euch während des Gesprächs geäußert hatte, es sei ihm "auch persönlich sehr wichtig, diesen Begriff zu destruieren".

M: Ich finde aber genauso wichtig, dass wir über die Ansprüche an Kollektivität reden, die groß waren, mit den Bedingungen von Konspirativität und Illegalität aber oftmals kollidierten, über die Diskrepanz zwischen legalem Leben und konspirativem Handeln, über Illegalität und Knast unter heutigen Bedingungen.

Wildcat: Andere Themen haben wir erstmal ausgeklammert, weil wir in der zweiten Hälfte der 80er Jahre schon ne Menge drüber geschrieben haben und das erstmal aufgearbeitet werden müsste, der Kampf gegen die Startbahn West, die Flüchtlingskampagne...

T: Die Flüchtlingskampagne Mitte der 80er Jahre war der Versuch, eine neue Art von Antiimperialismus mit dem Bezug auf hiesige soziale Auseinandersetzungen zu verknüpfen.

M: Sie war eins der wenigen Male, wo die RZ selber versucht hat, ein Thema zu benennen und zu besetzen, und zu dem Thema Aktionen zu machen, die aus unserer Sicht sowohl soziale Situationen in der BRD beschrieben haben, als auch was mit einem konkreten Antiimperialismus zu tun hatten.

T: Auch wenn die RZ es mitunter aus den Augen verloren hat, so war doch klar: wenn es nicht gelingt, uns auf das zu beziehen, was hier läuft, dann haben wir sowieso keine Chance. Putte, Fahrkartengeschichten usw. usf. - eine ganze Reihe von Aktionen, die einen eindeutigen Bezug zu dem haben, was hier stattfindet. Eine der Gründungsaktionen der RZ war die Krone-Aktion...

M: ... an der man auch sehen konnte, dass der Versuch, sich mit real existierenden Menschen auseinanderzusetzen, nicht immer dazu führt, dass man geliebt wird. Da gab's Reaktionen aus dem Kreis der Krone-Arbeiter und der Betriebsgruppe, die keineswegs besonders freundlich der RZ gesagt haben, wenn sie vorhätten, bei Krone Autos anzustecken, würden sie das schon alleine schaffen, dafür bräuchten sie keine Guerilla.


Randnotizen

http://www.freilassung.de/prozess/urteil/index.htm
http://www.freilassung.de/prozess/thomas.htm

"Benz" war der Alias-Name eines Verfassungsschützers, dessen Kölner Telefonnummer Ausstiegswillige aus der RAF und der RZ in den 90er Jahren anrufen konnten; siehe dazu:
http://www.tolmein.de/linkegeschichte,revolutionaerezellen,198,benz-variante.html
http://www.tolmein.de/linkegeschichte,raf,185,vs-stern-auf-allen-wegen.html

http://de.indymedia.org/2009/03/244015.shtml

zu A.: http://www.freilassung.de/presse/rz/taz120407.htm

Siegessäule: http://www.freilassung.de/div/texte/rz/zorn/Zorn57a.htm

Kritik von wildcat an 3:1 auf http://www.wildcat-www.de/wildcat/57/w57_3zu1.htm

Siehe zu diesem Diskussion das Interview mit Fransceschini in wildcat 56: http://www.wildcat-www.de/wildcat/56/w56_frances.htm

Die 'Putte' war ein selbstverwaltetes Jugendzentrum in Berlin. 1974 wurde das Auto des für den Abriss Verantwortlichen abgefackelt.

'Fahrkartengeschichte': gemeint ist das Verteilen von gefälschten Fahrkarten in großem Stil, Sabotage von Fahrkartenautomaten usw.

Krone war eine Telefonfabrik in Berlin

Raute

Was bisher geschah

Nach längerer Pause nehmen wir unsere Rubrik wieder auf. Schon allein, um uns für die ärgerlichen Zeilenumbruch-Fehler in der letzten Beilage zu entschuld(ig)en. Außerdem wollten wir den Artikel zur "Krise der Autoindustrie" updaten. Dann waren da noch einige Beobachtungen über Demos der letzten Zeit und ein paar Fetzen über aktuellen Arbeiterwiderstand unterzubringen.


*


Errata

AUSGRABUNGEN: Hochaktuelle Fundstücke aus der Zeitschrift "Primo Maggio"

Beilage zur Wildcat 83.

In der "Editorischen Notiz" auf der zweiten Umschlagseite sind bei einer Reparaturaktion einige Zeilen "geschluckt" worden. Deshalb vorsichtshalber nochmal der ganze Text:

Editorische Notiz:

Karl-Heinz Roth hielt seinen Vortrag auf einem Kongress in Mestre, den das Förderkomitee des Arbeiterarchivs "Augusto Finzi"in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Marghera veranstaltet hat. Der Kongress war Teil eines größeren Buch- und Filmprojekts. Ca. 20 Interviews mit ehemaligen AktivistInnen des Arbeiterkomitees bzw. der Autonomen Versammlung von Porto Marghera sind geführt und zu einem Dokumentarfilm verarbeitet worden. Die wichtigsten Redebeiträge vom Kongress werden als Buch erscheinen, die Interviews liegen als CD/DVD bei. Vorläufiger Titel: Devi Sacchetto, Gianni Sbrogiò (a cura di), Soggettività e percorsi politici a Porto Marghera tra il 1960-70.

Der Beitrag von Steve Wright erscheint in: Marcel van der Linden, Karl Heinz Roth (Hg.) Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff im 21. Jahrhundert, Verlag Assoziation A.

Zum Buchprojekt "Primo Maggio", für das Karl-Heinz Roth den Beitrag "Benedetta Sconfitta" geschrieben hat und das alle Jahrgänge der Zeitschrift auf CD enthalten wird, fehlen leider noch die genauen Daten.

Bei der Gelegenheit wollen wir Euch fragen, wie Ihr diese Beilage fandet - wir haben unterschiedlichste Meinungen gehört von "warum sollte ich so alte Texte lesen?" bis "die beste Beilage der letzten Jahre". Am häufigsten war leider die Antwort: "Hab ich noch nicht gelesen" - aber das lässt sich ja nachholen! Derweil treten wir in Beilagen-Streik!


*


Simulation "sozialer Unruhen"

Nicht nur die Klasse, auch die Linke tut sich schwer mit angemessenen Antworten auf die Weltwirtschaftskrise. Gewerkschaftslinke, Attac und Die Linke riefen bereits im November 2008 entschlossen zum business as usual auf. Anlässlich des G20-Gipfels in London wollte man in Frankfurt und Berlin am 28. März demonstrieren. Zu Beginn spekulierte man damit, die Gewerkschaftsspitzen zu einer Beteiligung drängen zu können. Die DGB-Führung zeigte ihrem linken Flügel aber die kalte Schulter und mobilisierte stattdessen für den 16. Mai. Damit hatte sie dem ganzen Unterfangen den Wind aus den Segeln genommen. Die Demos am 28. März blieben weit hinter den Erwartungen der Veranstalter zurück. Hier ein paar Berichte/Stimmungsbilder von Demonstrationen in Berlin, Frankfurt, Freiburg, Köln und Straßburg.


28. März:

[Ffm:] "Überhaupt mal wieder 20000 zusammen auf der Straße war nicht schlecht, aber wirkliche Aufbruchstimmung war's nicht ... kaum Leute, die nicht entweder Kader oder Mitglied einer Gewerkschaft oder politischen Organisation sind. Das Bündnis - von Lafontaine bis FAU - war so breit, dass viele TeilnehmerInnen es wohl selbst unangenehm empfanden. Für die "normalen Proletarier" sind solche Unternehmungen kein "Angebot", das sind Pflichtübungen der Linken."

[Berlin:] "Viele Gruppen aus allen Spektren von verdi bis zu den Autonomen, kaum migrantische Organisationen. Ich habe viele aus den 80ern gesehen, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Es gab eine gemeinsame Demo, mit den diversesten Blöcken und Positionen, hier war wischi-waschi Einheitsbrei."

In Frankfurt scheint das anders gewesen zu sein: "Mir schmecken beide Seiten nicht, weder die Gewerkschafts-Anbiederungs-Taktik der IL, noch der FAU-Organisationsfetischismus, der sie selbst dahin bringt, mit den Antideutschen einen gemeinsamen Block vor der Demo zu machen und sich damit bewusst von ihr abzusetzen. Wenn ich ein Interesse daran habe, auf einer Demo was von anderen Leuten mitzubekommen, dann laufe ich mit Sicherheit nicht in diesem »sozialrevolutionären-anti-nationalen« Block...."

Die Demonstrationen waren nicht Ausdruck einer sozialen Wut - so waren sie ja auch gar nicht konzipiert. Sie sollten Druck auf die DGB-Spitze machen, damit diese Druck auf ... (wen eigentlich?) macht.

Der 1. Mai in Berlin stand dieses Jahr - nicht ganz überraschend - im Zeichen der Wiederbelebung der Straßenrandale.

"Bis tief in die Nacht gingen die Bullen immer wieder - meist mit Reizgas und Fäusten/Tritten ohne Schlagstockeinsatz - mit Greiftrupps von acht bis zwanzig in die Menge rein, nahmen Leutefest, holten sich Pfandmaterial ab und zogen wieder von dannen, dafür kam dann nach 30 Sekunden aus Richtung Waldemarstr. der nächste Trupp. Vielleicht hat es in einigen Auseinandersetzungen verantwortliche Gruppen gegeben, doch dominiert hat das betrunkene, johlende Männergepose."

"Auch bei der Demo am 28. März in Berlin waren mir komplizierteste Greiftechniken der Bullen aufgefallen, die langwieriges Training erfordern. Der Gekaschte wird während des Falls am Unterkiefer gepackt und der Kopf hin- und her gedreht."

Zuvor hatten in Straßburg die Anti-Nato-Proteste stattgefunden.

[Vorbereitungsdemo in Freiburg:] "Um die 2000 Leute, die Szene war bis an die Ränder mobilisiert: 'Black Block' und 'Grauer/Geronto-Block'. Da waren Leute, die hatte man seit Jahren nicht mehr auf Demos gesehen. Keine Neuzusammensetzung zwischen Jungen und Alten in Sicht; was auch daran liegt, dass inhaltlich und organisatorisch 'business as usual' gemacht wird, sich also niemand Gedanken macht, was z.B. Ansetzen an der Krise heißen könnte."

[Straßburg:] "Am Freitagabend waren an die 5000 Leute auf dem Camp. Im Vergleich zu z.B. Heiligendamm war es ein kurzes Campleben, sehr Aktions- und Bezugsgruppen orientiert, wenig eigene Campdynamik. Die zusammen angereisten ('Bezugs'-)Gruppen bestimmten die Struktur - schon weil die Abläufe für den nächsten Tag besprochen werden mussten. Die Leute kommen durchaus organisiert an - entweder in ihren Bezugsgruppen oder über die Klammer einer Großorganisation: 'Block Nato' hatte ein eigenes Zelt, ebenso die "Junge Welt", auch die 'Solid Jugend'. Darüber hinaus wird es schwierig, was sich dann letztlich auch in den Aktionen widerspiegelt, sie sind im Kleinen pfiffig, aber es entwickelt sich nicht wirklich eine gemeinsame Stärke. Was dann passiert, ist letztlich auch recht zufällig. Beim Aktionstag am Samstag haben die meisten wohl das gemacht, was sie sich vorgenommen hatten: es wurde konferiert, campiert, blockiert, randaliert, barrikadiert. Am Sonntag, eigentlich schon Samstag Nachmittag, war's vorbei, und was davon bleiben wird, ist schwer zu sagen."


DGB-Groß-Demo in Berlin am 16. Mai

"Der DGB gab die Teilnehmerzahl mit 100.000 an, was mir nicht grob übertrieben scheint. Die Rede war von 300 Bussen und 17 Sonderzügen. Auf der Straße viele Gewerkschafts- und Linkspartei-Fahnen, aber auch viel MLPD, DKP, DIDF, verschiedene trotzkistische Internationalen und ein Haufen selbstgemalter Transparente, die alle im wesentlichen dieselbe Aussage trugen: 'Wir zahlen nicht für eure Krise! kein Verzicht! Es muss endlich gekämpft werden!' Dem Augenschein nach waren viele Leute aus Betrieben zusammen zur Demo gefahren. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ganze 'Belegschaften' zusammen demonstriert haben, aber es war deutlich zu sehen, dass es in der BRD sowas wie eine organisierte linke Gewerkschaftsbasis in den Betrieben gibt. Der DGB hatte die Frechheit, den Zug von mehreren Bundestagsabgeordneten von SPD und Grünen anführen zu lassen, diese Parteien waren im Zug abersonst nicht zu sehen, ebenso wenig wie die linksradikale Szene. Die Reden auf dem Podium waren das bekannte hohle Gewerkschaftsgefasel. Dies stand in deutlichem Kontrast zur inhaltlichen Orientierung sämtlicher Transparente, die auf der Demo getragen wurden. Kaum vorstellbar, dass auch nur eine relevante Minderheit mit diesen Reden inhaltlich einverstanden war. Und trotzdem funktionierten die bekannten Rituale: Zum Beispiel kamen jedesmal, wenn ein Redner mit einer Pause einen Absatz andeutete, reflexartig die Tröten aus der Menge.

Und trotzdem sind viel mehr Leute auf diese Demo gekommen als auf die linken Demos Ende März - was sich bestimmt nicht nur mit den kostenlosen Bustickets erklären lässt. Die (De-)Mobilisierungsfähigkeit des DGB hängt offensichtlich nur teilweise damit zusammen, welche Politik er betreibt ..."

Während es bei den Krisen-Demos an "Aufbruchstimmung" mangelt, mobilisieren sich beispielsweise in Köln viele Junge um Aktionen für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum (im übrigen werden gerade viele "linke" Konzerträume durch Bauamts- u.ä. Auflagen angegriffen, SO36 Berlin, Linkes Zentrum Düsseldorf, Schnapsfabrik Köln usw.):

Am 31.1. gab's eine angemeldete Tanzdemo, inhaltlich nicht sehr weitreichend, aber mit hunderten von Leuten und guter Musik kam einiges an Power rüber.

"Der Finanz Tanz war nicht angemeldet. [...] Mit Soundsystem im Einkaufswagen, Generator und mobiler Band mit Stromgitarren wurde zuerst die Volksbank gerockt. Beim Auftauchen der ersten Bullen zog die Partygemeinde von etwa 150 Leuten weiter, die Deutsche Bank war nicht weit. Dort wieder Party im Automatenraum, bis die Bullen nach kamen. Die dritte Bank hatte eine absolut diskotaugliche Halle, viel room to move, und dahinter noch einen Veranstaltungsraum, in dem einige Arbeiter die Beleuchtung am Installieren waren, sich aber von der Partygemeinde nicht weiter irritieren ließen. Auf diese Weise ging's mit wachsender Fangemeinde durch weitere Banken. Die Bullen haben sich - bis auf wenige Momente, wo Eskalationen verhindert werden konnten - sehr kölsch zurückgehalten. Dem entsprach die Haltung der Demonstrantinnen: es wird Party gemacht, aber nix kaputtgemacht. Bei den Leuten kam's gut an: 'Das Beste, was man heute mit Banken machen kann.' 'Eh, super, ne illegale Aktion', usw."

Die Idee der Besetzung steht wieder im Raum, auch in anderen Städten...


Demo und Hungerstreik von entlassenen Leiharbeitern bei VW

Drei Tage vor den linken Krisendemos, am 25. März, zogen über 100 Leiharbeiter des Werks VW Nutzfahrzeuge in Hannover-Stöcken vom Klagesmarkt durch die Innenstadt. Unter den Losungen "Zeitarbeit abschaffen!", "Heute wir, morgen ihr!" und Hochrufen auf die internationale Solidarität verschafften sie sich lautstark Gehör. Der Anlass: Ende März liefen ihre Verträge aus. Die LeiharbeiterInnen der WOB AG forderten, dass sie wie ihre KollegInnen aus der Stammbelegschaft ins gesetzliche Kurzarbeiterprogramm aufgenommen werden. Bereits am 19. März hatten 200 LeiharbeiterInnen die Sitzung des Betriebsrats bei VW Nutzfahrzeuge Stöcken besucht, um ihre Forderungen vorzutragen. Dieser ließ den Werkschutz rufen, um sie aus dem Sitzungsraum zu drängen. Am 27. März traten mehrere Leiharbeiter in den Hungerstreik und richteten sich in einem Zelt vor dem Werkstor ein. Eigentlich eine gute Anlaufstelle - doch "Gewerkschaftslinke scheinen Schwierigkeiten zu haben, wenn eine Aktion ganz ohne die Gewerkschaften stattfindet." Außer der örtlichen FAU schauten v.a. die türkische Community oder ein Motorradclub vorbei.

"War heute mit C. dort und es war richtig gut! Sind alles türkische Jungs, so Mitte, Ende 20. Die Lage: Bis Herbst 2008 haben ca. 900 Leiharbeiter der VW-eigenen Leihfirma WOB-AG bei VW Nutzfahrzeuge in Hannover gearbeitet. Die sind peu à peu entlassen worden. Zum ersten Januar sind nochmal 300 rausgeflogen. Der BR und die IG Metall haben den Abbau mitgestaltet, Informationen verweigert, Leute vertröstet usw. Gleichzeitig sucht VW in Wolfsburg seit der Abwrackprämie verzweifelt Leute, um die Mehrarbeit zu bewältigen - natürlich nicht zur Festeinstellung, sondern als befristete Leiharbeiter. VW hat mit der IG Metall einen 'Equal Pay'-Vertrag abgeschlossen. Das heißt, die Leiharbeiter werden bei der WOB-AG eingestellt für den Grundlohn von 7,38 Euro. Wenn sie bei VW arbeiten, bekommen sie im ersten Jahr ca. 11 Euro, im zweiten ca. 13 und im dritten Jahr ca. 16 Euro. Bei Urlaub und Krankheit usw. nur die 7,38 Euro. Die Jahresprämien der Festangestellten bekommen sie nicht. Nach zwei Jahren müssten sie fest eingestellt werden. Das ist bei vielen auch das Problem: Die WOB-AG, sprich VW will sie nicht weiter beschäftigen, um eine Festeinstellung und die relativ hohen Equal-Pay-Löhne zu vermeiden. Deshalb werden (wenn überhaupt), ihnen nur Verträge bei der zweiten VW-eigenen Leibfirma Auto Vision angeboten. Das hieße, neuer Arbeitgeber, neuer Arbeitsvertrag, 'gehe zurück auf Los!'

Die letzten 230 haben im März einen Qualifizierungskurs gemacht - für sie prima, weil sie zum ersten Mal viele ihrer Kollegen auf einem Haufen gesehen haben. Dort hat sich der Kreis, der jetzt die Proteste organisiert, kennengelernt. Einige haben die Initiative ergriffen, und versucht, was zu organisieren. Zunächst sind sie zum Betriebsrat, der hat sie lt. Presse mit dem Werksschutz rausgekickt. Als der mitkriegte, dass sie eine Kundgebung/Demo planen, hat er versucht, die Leute hinzuhalten ('vielleicht können wir ja bei dem einen oder dem anderen was machen, ... seid mal lieber ruhig...!') Allen war klar, dass das hohle Versprechungen sind. Sie haben die Demo gemacht. Danach hieß es auf einmal, dass ca. 90 Leute doch über Auto Vision nach Wolfsburg können. Viele haben das Angebot angenommen, im Moment kommen noch etwa 30 regelmäßig zum Tor, sieben beteiligen sich am Hungerstreik (einer ist im Krankenhaus). BR/IG Metall sitzen das ganze aus - ihr einziger Tipp: 'Leute, ihr gefährdet durch den Hungerstreik eure Gesundheit!'. Die Reaktion der Festangestellten ist verhalten. Als sie eine Kundgebung zum Schichtwechsel gemacht haben, sind gerade 22 VWler zu ihnen gekommen (im Werk arbeiten über 10.000). Sie meinen aber: "immerhin!" und sehen die Angst bei den Leuten. Kein Gehetze auf die Stammbelegschaft."

"Was mich beeindruckt hat, war die Atmosphäre und der Umgang untereinander - auch mit den Besuchern. Alle wurden mit Handschlag begrüßt, und jeder stellte sich mit Vornamen vor. Auch wenn von ihnen Leute dazu kamen. Besucher wurden gefragt, was sie machen, wo sie arbeiten, woher man sich kennt. Wir mussten von uns berichten, usw.. Sie erzählten teilweise auch ihren "Lebenslauf". Sie stellten uns ihr Flugblatt vor, dass sie es selber gemacht hätten, fragten, was wir davon halten. Suchten Diskussion über die Funktion von Leiharbeit, wollten von uns Sachen wissen, die ihnen unklar sind, z.B. warum der Staat die Leibarbeit so unterstützt, über die Entwicklung von Leiharbeit in Deutschland..." [Zwei Besucher]


Randnotiz

Zu den neuen Beschäftigungsverhältnissen bei Volkswagen siehe wildcat 79, Herbst 2007 und wildcat 80, Winter 2007/08


*


AUTO: Ende einer Schlüsselindustrie

Die Strukturkrise des kapitalintensivsten industriellen Leitsektors ist ein prägender Faktor der Weltwirtschaftskrise. Als der größte US-Automobilzulieferer Delphi (eine Ausgliederung von GM, so wie Visteon eine Ausgliederung von Ford ist) im Herbst 2005 Konkurs anmeldete, führte das zu großen Turbulenzen bei Kreditderivaten. Die globale Krise betrifft den gesamten Sektor einschließlich seiner solidesten und technologisch innovativsten Unternehmen, samt Vorprodukt- und Komponentenlieferanten. Deshalb blühen hier die wildesten Verdunklungsmanöver. Krampfhaft versucht man, die Abwicklung bzw. Verlagerung Opels als Verkauf auszugeben - zumindest bis zu den Bundestagswahlen. Und die Regierung schiebt den Kapitalisten bis zu neun Milliarden Euro für Pensionslasten und Bürgschaften über den Tisch. Das sind pro direkt bei Opel Beschäftigten über 350.000 Euro. Vom amerikanischen Staat sollen weiter 30 Milliarden für Opel fließen. In die insolvente Mutter GM flossen 20 Milliarden und 12,5 Milliarden an den Autofinanzierer, um Kredite für Händler und Kunden bereitzustellen. Im Glauben, einen Bankrott zu vermeiden, macht die Gewerkschaft weitere Zugeständnisse. Im Tausch gegen die Hälfte von 20 Milliarden Dollar Schulden von GM gegenüber den Betriebsrentnern soll die Gewerkschaft 39 Prozent der Firmenanteile übernehmen. Feiertage und Lohnkosten werden gestrichen. Mit 51 Prozent Staatsanteilen ist GM praktisch nationalisiert.

Es gib kein neues Produkt, um die Bedeutung des Autos im Kapitalismus zu ersetzen. In den nächsten zehn Jahren wird es keine produktionsreifen alternativen Antriebe geben; erst recht, weil die Abwrackprämien noch einmal dafür sorgen, dass viele neue Autos mit herkömmlichen Motoren auf die Straßen kommen (was die ökologischen Probleme nochmal verschärft). Technisch wird man sich nicht einig, und preislich kann sich weltweit kein Arbeiter die "Zukunftsmodelle" leisten. Auch der "Nano" ist keine Alternative, er wäre nur eine andere Art des Runterfahrens der bisherigen Leitindustrie, kein Ersatz!

1. Überkapazitäten
In den weltweiten Produktionsstätten können 95 Millionen Fahrzeuge jährlich hergestellt werden, 20 Prozent mehr als der Gesamtausstoß von 2008. Japan, die USA und Russland hatten im ersten Quartal 2009 Absatzeinbrüche von 25, 34 und 50 Prozent - Europa von "nur" 16 Prozent, aufgrund der vielen Neuzulassungen in der BRD durch die Abwrackprämie. Für 2009 und 2010 wird bei den PKWs mit einem Absatzrückgang von jeweils 20 Prozent ausgegangen, bei den Nutzfahrzeugen von weit mehr. Bis 2015 wird keine wesentliche "Verbesserung" erwartet. Weltweit gibt es demnach 50 Prozent Überkapazitäten bei den Fahrzeugherstellern. Das heißt, dass sie Werke schließen müssen.

Auch die Autozulieferer haben weltweit Umsatzeinbußen von 40 Prozent. Mein in Deutschland meldeten bisher 22 Zulieferer Insolvenz an, bis Jahresende werden mindestens 50-80 weitere folgen. Nicht nur die deutschen Fahrzeugbauer produzierten bislang zu 75 Prozent für den Export, auch die Zulieferindustrie exportiert 50 Prozent ihrer Produkte.

2. Zulieferer
Die bevorstehende Pleite vieler Zulieferer könnte zum Kollaps der ganzen Branche führen, da Lieferungen zusammenbrechen. Einige Fahrzeugbauer stützen deshalb ihre Hauptzulieferer finanziell. Da die Zulieferer für mehrere Fahrzeugbauer produzieren, reißt die Pleite eines Fahrzeugbauers nicht nur "seine" Zulieferer, sondern auch die Konkurrenz mit. Deswegen müssen Ford und Toyota die Insolvenz von GM verhindern, da die nötigen Zulieferer nur überleben können, wenn sie alle drei Unternehmen beliefern. VW, Daimler und BMW sind auf die Produktionsketten und Werke von GM und Chrysler angewiesen, da sie ihre amerikanischen Modelle über deren Bänder laufen lassen.

Den Zulieferern kommt in der Krisenentwicklung eine besondere Rolle zu. Denn einigen von ihnen sind Schritte gelungen, die in der Krise zum Maßstab für alle Unternehmen werden. Sowohl was die Flexibilisierung der Belegschaften angeht (bis zu 21 Schichten pro Woche) als auch was den Einsatz modernster Fertigungstechnologien betrifft: Die Zulieferer produzieren bereits verschiedene Modelle auf demselben Band - und sie haben die Fusionierungen, von denen die Fahrzeugbauer noch reden, bereits vorweg genommen. Die miesen Arbeitsbedingungen in diesen Werken und die hohe Produktivität sind der "Beweis" gegenüber den Entwicklungsabteilungen und den Belegschaften in den "alten" Autofabriken: es geht auch anders!

3. Überakkumulation
Die kapitalintensiven Werke, die Masse an Maschinerie, die sie um die Leute gestellt haben, benötigen einen riesigen Output (bei den Zulieferern, wie bei den Fahrzeugbauern), um sich zu rechnen. Seit Ausbruch der Krise wurden die Arbeitszeiten und Arbeitstakte weiter erhöht! Es wird aber auch deutlich, dass in bestimmten Abteilungen (Entwicklung, Vertrieb, Qualitätssicherung) zwar jahrelang die Kosten gedrückt wurden, sie aber weiterhin unflexibel und momentan sehr kostenintensiv sind. Das zwingt gerade die Fahrzeugbauer, bestimmte Entwicklungsschritte zurückzuholen. Technisch versuchen sie die Endmontage und die Entwicklung der Zulieferkomponenten im laufenden Produktionsprozess zusammenzuführen. Für die Arbeiter bedeutet das die Ausweitung des "kontinuierlichen Verbesserungsprozesses", um die Entwicklungsabteilungen zu flexibilisieren. Für das Kapital bedeutet das: keine Lösung der Überakkumulationskrise in Sicht.

4. Staatsknete
In den letzten Jahrzehnten stieg die Subventionierung der Autoindustrie beständig an. Aus Kapitalsicht gibt es keine Alternative zur weiteren Beschleunigung dieser Entwicklung. Denn "Gesundschrumpfen" ist durch die voneinander abhängigen Produktionsketten ein sehr langwieriger Prozess. Und "Einstampfen" käme dem Ende des Kapitalismus gleich, da keine neuen Bereiche derart kapitalisiert werden können. Der Staat subventionierte sowohl die steigenden Absätze, wie auch die kostenintensive Abwicklung von Arbeitsplätzen. In den USA wurden in den letzten Jahren hunderttausende Arbeitsplätze abgebaut, während gleichzeitig die Produktion ausgeweitet wurde. Das wird mit Staatskohle in Deutschland gerade umgesetzt. Damit verschärfen sie nur die Situation - aber wo wollen sie denn hin?

Die Ausweitung der Kreditvergabe für Autos steigt weltweit rasant an und lässt erahnen, welche Einbrüche noch bevorstehen. In China senkte der Staat die Steuer für Autokäufe, und die Neuzulassungen stiegen um 24 Prozent; in Indien wurden die Kreditzinsen gesenkt, und die Neuzulassungen stiegen leicht; in Italien kriegt man selbst für die Verschrottung einer alten Vespa 500 Euro und bis zu 3000 Euro für einen PKW - trotzdem stagnieren die Autoverkäufe...

Milliardensubventionen, Abwrackprämien, Kurzarbeit, Steuerentlastungen garantieren das Überleben der Autoindustrie samt deren Überkapazitäten. Denn zu viele andere Industriezweige hängen daran: Textilindustrie, Rundfunk-, Nachrichten, Steuermesstechnik, Glas-, Elektro-, Kunstoff-, Möbel-, Schmuckindustrie, Metallerzeugung, Metallbearbeitung usw. verdienen in der BRD 12 bis 30 Prozent ihres Umsatzes mit der Autoindustrie - siehe die Pleite von Trevira!

Eine Branche wie den Bergbau abzuwickeln, hat Jahrzehnte gedauert. Der stand aber am Anfang der Produktionskette. Momentan versucht der Staat gerade die Abwicklung des Kapitalismus zu verhindern, indem er mit der Subventionierung des Endprodukts das gesamte überakkumulierte Kapital subventioniert.

5. Objektiv- subjektiv
Autounternehmer und Staat sind sich noch nicht einig, welche Strategie sie verfolgen. Auf welche Werke sind sie ökonomisch angewiesen, da daran sämtliche Werke hängen? Sind die kleinen Endmontagewerke im Osten der BRD, in Polen überhaupt noch wirtschaftlich, wenn sie nicht im Dreischichtbetrieb mit Sonderschichten arbeiten? Es bleibt ein langwieriger Prozess, der genügend Raum für Widerstand gibt. Wichtig ist erstens zu beobachten, wo ihr Angriff auf die Arbeiter ökonomisch zusammenbricht. Und zweitens darauf hinzuweisen, dass ihr Angriff nicht mehr auf bestimmte Teile einer Belegschaft zielt, sondern auf die gesamte Arbeiterschaft einmal um den Globus herum. Das klingt doch nach der besten Voraussetzung zur Revolution. Es betrifft alle!

Objektiv müsste die Tiefe der Krise die Arbeiter zusammenschweißen. Subjektiv wird das noch nicht wahrgenommen, selbst wenn in Betriebsvereinbarungen schon die internationale Einsetzbarkeit verabschiedet ist. Nokia Arbeiterinnen hätten mit nach Rumänien gehen dürfen. Den "Opelanern" steht das gleiche Angebot nach Petersburg bevor. Aber die Standortkonkurrenz verdeckt die allseitige Abhängigkeit. Der Glaube an eine Erholung der Auftragslage lässt die Leute ruhig bleiben. Während die Milliarden des Staates nur fiktive Bürgschaften sind, werden gleichzeitig ganz reale Zugeständnisse seitens der Arbeiter gemacht, die mit der dauerhaften Tiefe der Krise erklärt werden.

In der BRD greifen die Flexibilisierungsprogramme. Leiharbeiter fliegen raus, befristete Verträge werden nicht verlängert. In den Kurzarbeitsphasen werden weiterreichende Schritte geplant und vor allem derweil die Produktion optimiert. In vielen Werken werden die Arbeitszeiten noch weiter individualisiert.

Meine Daimler-KollegInnen sagten mir Mitte Mai, dass "das Geld noch stimmt", Kurzarbeit empfinden sie eher als angenehm (sie würden lieber auch zukünftig weniger arbeiten als in Dreischicht mehr zu verdienen). Aber es wird immer unklarer, was auf uns zukommt, individuelle Auswege sollen über die eigene Ratlosigkeit hinweghelfen. "Mir hat ein Freund gesagt, dass sie bei Philipp Morris Leute suchen, das ist krisenfest, die Japaner kaufen wohl wie wild Kippen aus Deutschland. Da bewerb ich mich nebenbei". Kein Wunder, dass die Maßnahmen der Unternehmer allgemein unterschätzt werden. "Heute mussten wir eine halbe Stunde länger arbeiten und oben stand als Soll 295 Autos. Anfang der Woche waren es 270, Mitte der Woche 280. Pünktlich zu Schichtende, also eine halbe Stunde früher, hatten wir die drinne. Mussten aber die halbe Stunde noch warten. Dafür brauchen wir morgen nicht zu kommen, sie haben keine Motoren."


*


Kämpfe bei Autozulieferern gegen Werksschließungen und Entlassungen

"Bei den Zulieferern ist der Gegner für die Beschäftigten nicht klar erkennbar. Während in den Autokonzernen wie z.B. bei Opel der Vorstand als Entscheidungsträger einer Betriebsschließung klar erkennbar ist, ist das in der Zulieferindustrie nicht der Fall. Der Bestand der Firma hängt von den Aufträgen durch die Autoindustrie ab. Für die Beschäftigten gerät der eigene Kapitalist aus dem Blickfeld. Argument der Kollegen bei Stillegung des Fahrzeugsbaus: Was sollen die machen, wenn sie keine Arbeit für uns haben." [ein Vertrauensmann bei Karmann]

Es gab in den letzten Monaten mehrere Kämpfe gegen Werksschließungen bei Zulieferern, z.B. bei Federal Mogul in Wiesbaden (die Firma ist noch in schlechter Erinnerung aus dem fehlgeschlagenen Streik für die 35-Stunden-Woche im Osten...); bei Mahle gegen die Schließung des Werks in Alzenau (spektakulär: gleichzeitig besetzten die KollegInnen in Rosario/Argentinien das vor der Verlagerung nach Brasilien stehende Mahle-Werk).

Bisher ergibt sich das Bild von streikbereiten Belegschaften, die von der Gewerkschaft ausgebremst werden. Weil gegen Entlassungen nicht legal gestreikt werden darf - es gehört zur unternehmerischen Freiheit, hierüber zu entscheiden - streiken sie mal wieder für Sozialtarifverträge, sprich: Abfindungsregeln. Die Regierung hat die Höchstdauer der Kurzarbeit auf 24 Monate verlängert, um diese Konflikte zu entschärfen: Die Entlassungen werden aufgeschoben, die Arbeitsagentur kommt für den Lebensunterhalt auf, die Konzerne können weiter restrukturieren.


Keine Besetzung bei Mahle in Alzenau
Am Mittwoch, 13.5.09 fuhren rund 200 Mahle-Arbeiter aus Alzenau in einem Auto-Corso zum Mahle-Werk im elsässischen Colmar und solidarisierten sich mit den französischen Kollegen, denen Personallabbau droht. Auf der Rückfahrt entwickelte sich der Plan, am nächsten Morgen mit der Frühschicht die Kantine zu besetzen.

350 von 420 Beschäftigten legten am 14.5. tatsächlich die Arbeit nieder, um die Firmenleitung in Stuttgart zu konkreten Aussagen zu zwingen.

"Diese Tat zeigte zwei Wirkungen: 1. Der Geschäftsführer von Mahle Alzenau sprach mündlich und per Aushang in der Kantine die fristlose Kündigung aller Anwesenden aus. 2. 'Wir reden heute erstmals nicht über eine Schließung', so das Main Echo vom 15.5. über den Kommentar von Herbert Reitz, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Aschaffenburg über sein Verhandlungsergebnis vom Abend des 14.5. Jetzt könnte man denken, dass dieser Streik innerhalb weniger Stunden zu einem Nachdenken der Konzernleitung in Stuttgart geführt hätte, also mehr bewirkt hätte als viele Wochen fruchtloser Verhandlungen. Eine Unterstützung durch die Gewerkschaften wäre fällig - doch nein! Am Samstag, 16.5. eilen Herbert Reitz und Werner Neugebauer zur Mahle-Belegschaft ins Alzenauer Werk [Neugebauer hatte noch am 18.4. 'die heißesten Tänze, die sie je gesehen haben', angekündigt, falls das Werk schließen würde...] und sprachen von 'heißem Herzen aber kühlem Kopf'. Die beiden IG-Metaller warnen vor der Staatsmacht, die hier eingreifen werde. Dann könne für die betroffenen Kollegen nichts mehr getan werden. Immerhin hatte die Polizei zu diesem Zeitpunkt bereits die Brentanostraße oberhalb und unterhalb des Werkstores abgesperrt. Neugebauer malt das Bild einer Entlassungswelle im großen Stil an die Wand, die Alzenau vergessen machen werde. Im Einklang mit der Konzernleitung spricht er von der Absatzkrise des Automobilbaus und der Chancenlosigkeit der Kolbenfertigung in Deutschland [...] Reitz berichtet von der bayerischen Staatsanwaltschaft, die bereit stehe, und von dem Alzenauer Mahle-Geschäftführer, der verkündet habe, dass er um sein Leben fürchte und weiterhin davon, dass am Montag ein TV-Vertreter vorhabe vor dem Eingang einen Übertragungswagen aufzustellen, weil er hörte, es werde Blut fließen. Als die Rede davon aufkam, dass 50.000 Kolben vor dem Abtransport bewahrt werden sollten, geiferte Neugebauer ins Mikrofon, dass dann eben die Polizei diese abhole. Reitz klärte die Belegschaft auf dass die Mahle Konzernleitung verkündete, selbst wenn sie umsonst arbeiten würden, wären sie zu teuer. Demotiviert wurden die Arbeiter des Werks alleine gelassen, die reisten zufrieden ab - Druck weg, Deckel wieder drauf Auftrag erfüllt!" [Augenzeugenbericht auf Labournet]

Bei Karmann hatten die Mobilisierungen schon vor über zwei Jahren begonnen, als in anderen Betrieben von Krise noch nicht die Rede war. Deshalb blieben sie damals ziemlich einsam. Jetzt droht ihnen als erste, was in Zukunft auf noch viel mehr ArbeiterInnen zukommen wird: Massenentlassungen ohne das Trostpflaster einer Abfindung.


Karmann / Osnabrück
"Auf die Familie Karmann trifft jede verkürzte Kapitalismuskritik zu", beginnt ein Bericht auf indymedia über die letzte einer ganzen Reihe von Bewegungsversuchen von Arbeitern, die sich durch die Schließung ihrer Fabrik nun auch noch um die Abfindung geprellt sehen. Karmann gehört den Familien Karmann, Battenfeld, Boll. Dabei besitzt die seit 1937 bestehende Wilhelm Karmann KG Immobilien, Gebäude und Maschinen, während die Beschäftigten in der Karmann GmbH sind, die eine niedrige Eigenkapitaldecke hat und an der die Familien nur mit einem kleinen Anteil beteiligt sind. Die GmbH zahlt monatlich eine Miete/Leasing (Mietvertrag von 1937, von beiden Seiten unterschrieben von Wilhelm Karmann) von 6,75 Prozent des Rohertrages - etwa zwei Millionen Euro - an die KG. Die Aneignung des Mehrwerts erfolgt über zwei Wege: einmal die Gewinne der GmbH (ein Prozent Rendite vom Rohertrag); außerdem die Zinsen für Kredite, die die Eigentümer aus dem Privatvermögen an die GmbH vergeben - zu handelsüblichen Zinssätzen. Von der drohenden Insolvenz ist nur die GmbH betroffen.

Bei Karmann wurden bis 1995 Sportwagen für VW gefertigt, danach v.a. Dachsysteme und Cabrios für unterschiedliche Autofirmen. Seit mehreren Jahren ging es auf und ab: mit neuen Aufträgen wurden Leute befristet eingestellt. 2004 gab es die erste Entlassungswelle im Fahrzeugbau. "Damals hatten wir alle noch im Kopf die Befristeten haben eine unsichere Situation, das sind arme Schweine, aber wir sind ja Stammbelegschaft, wir sind ja sicher - jetzt wissen wir, wir sind alle befristet, nur der Termin ist noch nicht eingetragen." 2005 wurden 250 Jüngere entlassen, da konnte der Betriebsrat was rausholen. "Die dritte Entlassungswelle [2006] war die erste, die massiv die Stammbelegschaft betroffen hat. Um die es dann entsprechende Auseinandersetzungen gab. ... Bei Karmann hat es nie so was gegeben wie bei den großen Autobuden: Aufstockung von Kurzarbeitergeld und Beschäftigungssicherung. Auch die Abfindungen hatten nie die Größenordnung wie bei VW und Mercedes. Halbes Bruttoeinkommen pro Beschäftigungsjahr war die Regel. ...

2007 kamen zwei neue Elemente hinzu, die dazu beitrugen, dass die Kollegen sich selber bewegt haben. Erstens die Ankündigung neuer Entlassungen mit der Drohung, den Fahrzeugbau in Osnabrück und Rheine komplett zu schließen, wenn es keine neuen Aufträge bis 2008 geben würde. Zweitens wurde gesagt, die Mittel für einen Sozialplan in bisheriger Höhe stehen nicht mehr zur Verfügung. An dem Punkt hat es sich in den letzten Monaten zugespitzt. ... Die IG Metall hat die Initiative 'Arbeit für Karmann' begonnen, was als Standortpolitik fragwürdig ist. Es geht um den Arbeitsplatz hier, und nicht übergreifend um eine Arbeitszeitreduzierung. Das ist Kollegen von VW schwer zu vermitteln, warum wir den Auftrag kriegen sollen und nicht sie. ... Anfang 2007 gab es eine wichtige Kampferfahrung, als Karmann die Umsetzung von ERA (EntgeltRahmenAbkommen der IG Metall) dazu nutzen wollte, 90 Prozent der Belegschaft abzugruppieren. Da hat die Geschäftsführung relativ ungeschickt reagiert. Sie hat zum Wochenende allen Leuten einen Brief nach Hause geschickt ... Deine neue Einstufung ... . Das war eine Watsche für die Leute ... Das war auch an die Leute gerichtet, die bisher immer ihre soziale Stütze im Betrieb waren: hoch qualifizierte, sehr betriebstreue Meister, Ingenieure bekamen den gleichen Brief wie jeder Bandarbeiter, alle tendenziell in die tiefstmöglichste Kategorie. Wir haben an dem Morgen Flugblätter verteilt.., es war gerade Ostern ... 'Faules Osterei' ..., haben die Briefe zitiert und aus dem Betriebsverfassungsgesetz die Beschwerde- und Informationsrechte und die ganzen Individualrechte. Die Kollegen sind alle morgens um 6 zum Personalbüro marschiert. Das ging über drei Schichten und wir haben eine dynamische Absicherung durchgesetzt. D.h., dass keiner Geld verliert. Da haben ganz, ganz große Teile der Belegschaft teilgenommen. Alle Abteilungen, die Vorgesetzten. Mein Bereichsleiter hat den ganzen Morgen versucht, die Meister zu einer Besprechung zusammenzurufen ... Die waren aber alle bei uns im Betriebsratsbüro. Das war das erste Mal, dass ich so eine Einheit erlebt habe. Das war für die Kollegen eine Erfahrung der Stärke und hat dann später, als es darum ging, was machen wir gegen die Entlassungen, eine Rolle gespielt. Wir schmeißen die Brocken hin und marschieren gemeinsam zum Betriebsrat. Das war dann auch die Form, die bei den drei spontanen Arbeitsniederlegungen gelaufen ist."

Am Dienstag, 17.2.2009 kündigte Karmann an, dass der Fahrzeugbau geschlossen werde, aber kein Geld für Abfindungen da sei. Während BR-IGM-Spitze sagen: wenn jetzt die Arbeit niedergelegt wird, geht der Betrieb noch schneller in die Insolvenz, beschließen die Vertrauensleute, am Donnertag der folgenden Woche mit der Belegschaft zu den Villen der Eigentümer zu marschieren. "Dann hat uns das Leben überholt, bzw. die Belegschaft, weil die Kollegen aus dem Fahrzeugbau am Freitag die Arbeit niedergelegt haben: sie sind ausgehend von der Fertigmontage und Dachsysteme zum Betriebsrat marschiert. Die anderen Abteilungen haben sich im Laufe des Tages angeschlossen. Das ging am Montag weiter. Auf einer Versammlung der Streikenden aus dem Fahrzeugbau wurde beschlossen, den Marsch zum Westerberg auf den Dienstag vorzuziehen, weil ein Streik allein keine öffentliche Wirkung mehr hatte und weil wir den Eindruck hatten, die Gegenseite versucht uns die Schuld an der Insolvenz, die sie eigentlich wollen, in die Schuhe zu schieben. Deshalb wollten wir einen Höhepunkt setzen, mit dem wir auch die Gesamtbelegschaft mitziehen können. Danach ist allerdings auch die Arbeitsniederlegung abgebrochen worden."

Zur Aufsichtsratssitzung am 7. Mai wurde eine Arbeitsniederlegung organisiert. Als die Sitzung kurzfristig auf ein anderes Firmengelände verlegt. wurde, zogen 700-800 Beschäftigte - und zwar nicht nur aus dem betroffenen Fahrzeugbau - dorthin, befestigten ihre Transparente am Tor und verschlossen dieses symbolisch mit Kabelbindern. Auf dem eigenen Gelände hätte mehr laufen können, so bröckelte die Aktion bald ab; zur Mittagspause war das Tor wieder frei.

Raute

Impressum:

Eigendruck im Selbstverlag, V.i.S.d.P.: P. Müller

Abo: 6 Ausgaben (incl. Versand)
Deutschland und Österreich 18 € / Ausland 30 €
Förderabo 30 €
Einzelheft: Deutschland und Österreich 4 €
sonstiges Ausland 5 € (zzgl. Versand)
Für WeiterverkäuferInnen:
8 Exemplare des aktuellen Heftes (incl. Versand)
Deutschland und Österreich 16 €
sonstiges Ausland 20 €

Bestellung per
Brief: Wildcat, Postfach 80 10 43, 151010 Köln
E-Mail: versand@wildcat-www.de
oder per Aboformular auf unserer Webseite.

Kontakt: redaktion@wildcat-www.de

Archiv und Aktuelles
www.wildcat-www.de


*


Quelle:
Wildcat 84 - Sommer 2009
E-Mail: redaktion@wildcat-www.de
Internet: www.wildcat-www.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2009