Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1532: Zerstörungswahn


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38 vom 15. November 2019

Zerstörungswahn

von Damian Bugmann


Die geplante megalomane Stadtautobahn Westast durch Biel und Nidau ist nach den Grossdemonstrationen 2016 bis 2018 in Biel und durch die Verhandlungen des "Runden Tischs" aufgeschoben. "Stadtwanderer" Benedikt Loderer veröffentlichte ein Sachbuch zur schweizerischen und Bieler Autobahngeschichte.


Der Widerstand gegen die Westast-Autobahn in der Stadt regte sich anläßlich der Gemeindewahlen vom Herbst 2016. An die Demonstrationen gegen den Westast kamen ab Frühling 2017 Tausende, die Vorstellung der ökoscheinheiligen Begleitplanung der Städte Nidau und Biel im Herbst dieses Jahrs gab dem Widerstand Schub. Die PdA Biel/POP Bienne war von Anfang an gegen das Projekt engagiert. Zuerst hiess es von Vertreter*innen von Biel, Nidau und dem Kanton Bern, das Projekt sei beschlossen, es gebe keine Alternative und auch keine Rekursmöglichkeit. 2018 musste der Kanton wegen des Drucks aus Bevölkerung und Politik einlenken und setzte auf "Dialog" - um Zeit zu gewinnen und auf das Abebben des Widerstands zu hoffen. Im Februar 2019 wurde ein "Runder Tisch" ins Leben gerufen: 30 Organisationen suchen im Auftrag der A5-Behördendelegation nach Alternativen zur offiziellen Stadtautobahn, welche zehn Voll- und Halbanschlüsse in der Region Biel vorsieht. Befürworter, Kritiker und Behörden verhandeln in der Dialoggruppe, welche Entscheide fällt. Bis im Juni 2020 soll die Gruppe eine breit abgestützte Empfehlung abgeben. Es wird debattiert und der anvisierte Baubeginn von 2020 ist unrealistisch geworden.


Angst umfahren zu werden

Aufschlussreich, reich dokumentiert und pointiert formuliert ist das Buch "Das Bieler Dreieck" von "Stadtwanderer" Benedikt Loderer über die Autobahngeschichte in Biel und der Schweiz, über das offizielle Projekt und die Variante von Westast so nicht. Loderer war Chefredaktor und kreativer, wortgewaltiger Schreiber der Architekturzeitschrift "Hochparterre", lebt in Biel, ist Parlamentarier der Grünen im Stadtrat und engagiert sich gegen den Westast-Gigantismus. Zwei von vielen herausragenden Zitaten aus dem Buch: "Am Anfang stand die Angst, die Schweiz könnte umfahren werden" und "Stau ist eine Zusammenrottung von Unschuldigen".

Zu Beginn der Sechziger Jahre gab es wenig touristischen Verkehr und Schwertransport, nur Durchgangsverkehr durch die Hauptstrassen der Dörfer und Städte. Da er in der Tendenz zunahm, machten sich vor allem Städte Gedanken, wie er durchgeleitet werden könne, ohne den Stadtverkehr zu behindern. Im Kreuzungspunkt Biel mit Verbindungen zu Bern, Neuenburg, Jura und Solothurn überlegte man sich, die Achse Solothurn - Neuenburg mitten durch die Stadt zu leiten, die Schüss mit einer Strasse zu überdecken und diese beim Zentralplatz über eine Brücke zu führen.


Bundesgeld herausholen

In den Sechzigern setzte man auf Umfahrungen und erträumte und projektierte Autobahnen mit riesigen Anschlüssen, Brücken und Viadukten wie in den USA und in Deutschland. Der Planungsbegriff "das Bieler Dreieck" hat die Eckpunkte Bözingenfeld (Richtung Jura, Solothurn), Brüggmoos (Bern) und Strandboden (Neuenburg) und den Seiten Ostast, Westast und Nordumfahrung. Die Nordumfahrung mit dem Altstadttunnel wurde fallen gelassen, weil der Kanton sie nicht bezahlte. Dazu führt Benedikt Loderer aus: "Da die Kantone mit Bundesgeld bauen, ist das Ab- und Herausholen von Bundesgeld eine der Hauptaufgaben der kantonalen Baudirektor*innen." Der vierspurige, fünf Kilometer lange Ostast wurde im Oktober 2017 eröffnet, ein Tunnel führt vom Bözingenfeld unter den Naherholungsgebieten Holzmatt und Längholz durch zum gewaltigen Anschluss im Industriegebiet Brüggmoos. Von da aus soll der vierspurige Westast anstelle der zweispurigen Durchgangsstrasse einst den Verkehr Richtung Bielersee-Nordufer und Neuenburg führen.


Riesige Baustellen-Brache

Das Projekt A5-Westast des Kantons will eine gedeckte Autobahn vom Ostast-Anschluss bis zur zweispurigen Nationalstrasse am Nordufer des Bielersees im Tunneltagbau erstellen. Ein offener Anschluss am Bahnhof (von 14 Metern Tiefe in der Grösse der Nidauer Altstadt) und ein offener Halbanschluss bei der Seevorstadt sollen den See von der Stadt abschneiden und das Naherholungsgebiet Strandboden und das Naturschutzgebiet "Rusel" eindecken mit Lärm und Abgasen. Eine Bauzeit von etwa 20 Jahren mit geschätzten 600000 Lastwagenfahrten müsste in Kauf genommen werden. 74 Häuser würden abgebrochen, 750 Bäume gefällt. Riesige brache Flächen rund um die Baustellen ohne Vegetation und mit stark beeinträchtigter Bodenfauna würden als Schuttablage, Materiallager und Maschinenpark dienen. Durch die massive Abholzung würde das Stadtklima deutlich wärmer. Für den Westast, die schweizweit teuersten sieben Autobahn-Kilometer, sind 2,2 Milliarden Franken budgetiert, massive Budget-Überschreitungen sind bei Grossprojekten häufig.


Westast light

Die Alternativversion von "Westast so nicht" will auf die beiden Anschlüsse verzichten und die Autobahn in einem Tunnel unterhalb der problematischen Grundwasserzone führen. Mit der Hälfte der Baukosten und ohne Baumfällungen, Häuserabrisse, Schuttablagerung, Baustellen und Lastwageninvasion in der Stadt. Das redimensionierte Alternativprojekt ist zwar stadtverträglicher, aber immer noch überdimensioniert. Das System West-/Ostast ist ausgelegt für Verkehrskapazitäten, die sechs Mal höher sind als jene in und um Biel. Die Projektgegner*innen kritisieren, dass heute und im Fall von Biel immer noch die Verkehrshochrechnungen der Sechziger als Grundlage Jahre für die Lösung aktueller Verkehrsprobleme genommen werden. Aber eben, Bund und Kanton bezahlen, Bauunternehmen profitieren, die private Mobilität wird attraktiver und Gemeindepolitiker*innen brüsten sich mit der Realisierung von innovativen Visionen. Einzelne gezielte Anpassungen und Verbesserungen der Verkehrsinfrastruktur würden genügen, das sagen unter der Hand auch Leute, die am "Runden Tisch" beteiligt sind.


Benedikt Loderer:
Das Bieler Dreieck - Eine kleine Geschichte der Autobahn 1953 bis 2017.
110 Seiten. edition clandestin Biel/Bienne/Westast so nicht, 2019

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38 - 75. Jahrgang - 15. November 2019, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang