Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1458: "Die grosse Mehrheit in Venezuela will Frieden!"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 13/14 vom 26. April 2019

"Die grosse Mehrheit in Venezuela will Frieden!"

von Fabian Perlini


Carolus Wimmer ist als Mitglied der Kommunistischen Partei Venezuelas Abgeordneter der Nationalversammlung. Im Interview mit dem vorwärts erzählt er vom Kampf der Frauen* und dem Zusammenhalt in der venezolanischen Gesellschaft - aber auch von Fanatismus, Rassismus und Faschismus.


vorwärts: Genosse Carolus, wie erlebst du die aktuelle politische Situation in Venezuela? Sind die Menschen eher für oder gegen Maduro?

Carolus: Es gibt ein breites Bewusstsein in der Bevölkerung, dass der Kampf nicht uns, sondern der nächsten Generation gilt. Gegen Maduro zu sein, ist in einer Demokratie völlig legitim. Das Volk weiss aber auch, dass wir Frieden brauchen sowie die Unabhängigkeit. Die Mehrheit des Volkes ist für die bolivarische Verfassung von 1999. Und diese wird vor allem von den Frauen* verteidigt.


vorwärts: Was schätzen die Frauen* an der neuen Verfassung?

Carolus: Die Verfassung gibt den Frauen* Rechte, die sie zuvor nicht hatten. Vorher war die Frau* irgendwie immer im Hintergrund, aber heute wird beispielsweise der ökonomische Wert der Hausfrau* anerkannt. Hausfrauen*, die im kapitalistischen Sinn nie gearbeitet hatten, haben heute ein Recht auf eine Rente und erhalten diese auch. Es gibt neue Rechte für die Versorgung der Kinder, die im übrigen Südamerika kaum vorhanden sind: Mutterschaftsurlaub, kostenlose Erziehung, ärztliche Behandlung usw. Deshalb wird die Verfassung verteidigt. Auch werden die Kriegsdrohungen der USA von breiten Bevölkerungsschichten abgelehnt. Denn die grosse Mehrheit - weit über die Maduro-Anhänger*innen hinaus - will Frieden. Sie ist sich bewusst, dass die USA das Problem vergrössern und eine Bombardierung die Probleme nicht lösen, sondern erschweren wird.

Es gibt jedoch einige Teile der Opposition, die möchten, dass die USA einmarschiert. Doch deren 'Führer' leben nicht in Venezuela. Es gibt eine grosse Einheit im Volk, die bis weit in die Opposition reicht, und weder einen US-Angriff noch einen Bürgerkrieg, sondern - wie bereits betont - Frieden will. Diese Werte vereinen die Venezolaner*innen. Und wenn eine Einheit des Volkes besteht, dann ist es auch möglich, erfolgreich Widerstand zu leisten.


vorwärts: Du lebst mit deiner Familie in Venezuela. Wie erlebt Ihr die konkrete Situation vor Ort?

Carolus: Ich wohne seit 48 Jahren im Bundesstaat Barinas, bekannt als Geburtsstadt von Chavez, in der Kleinstadt Barinitas. Vor vier Tagen war ein erneuter Stromausfall. Anscheinend wurde von Scharfschütz*innen auf die Generatoren geschossen. Meine Familie schrieb mir aber heute, dass der Strom stundenweise bereits wieder fliesse. Strom bedeutet Wasser, Banküberweisungen, Operationen. Einem Volk den Strom zu nehmen, ist eine höchst kriminelle Handlung. Ich wohne in einem riesigen Wohnblock mit rund 150 Wohnungen verteilt auf 16 Stockwerke. Da ist alles drin: da leben Chavist*innen sowie Anhänger*innen der Opposition. Und mich kennen alle als Kommunisten, weil ich als Abgeordneter in den Medien erscheine. Doch trotz dieser krassen Unterschiede gibt es das Bewusstsein, dass wir zusammenhalten müssen! So organisieren wir uns in einer gemeinsamen WhatsApp-Gruppe, mit der gegenseitig Hilfe geleistet wird. Zum Beispiel als ein Wasserrohr brach, das die Wohnungen eines ganzen Stockwerks überschwemmte - und zwar unabhängig von der politischen Linie von deren Bewohner*innen. (lacht).


vorwärts: Werden die Lebensmittel-Pakete der Regierung auch bei euch verteilt?

Carolus: Natürlich. Diese Lebensmittel kommen jedoch nicht einfach "von Maduro", wie oft behauptet wird, sondern werden von kommunalen Räten organisiert, die hauptsächlich von Frauen* mit einem hohen Bewusstsein für die Gesellschaft geleitet werden. Um die Pakete zu erhalten, muss man sich nun für einen Kommunalrat einschreiben. Und es gibt halt auch elitäre Leute, die sich besser fühlen als die Arbeiterklasse, und sich weigern, diesen Räten beizutreten. Dann erhalten sie auch keine Pakete.


vorwärts: Vielleicht haben es diese Leute auch einfach nicht nötig, Lebensmittelpakete zu kriegen.

Carolus: Eigentlich schon, denn viele dieser Familien sind nicht reich. Doch ihnen steht der Fanatismus im Weg. Sie sagen: "Das kommt von Maduro, das nehme ich nicht an." oder sie wollen mit dem 'gemeinen Volk' nichts zu tun haben. Der Rassismus spielt dabei eine grosse Rolle. Die Menschen aus dem venezolanischen Volk haben oft eine schwarze oder braune Hautfarbe - wir sprechen von afro-venezolano - während der Mittelstand weiss sein möchte. Oft ist er das aber nicht. Guaidó ist ja auch nicht weiss, auch wenn er sich noch so blauäugig fühlt. Der grösste Teil der Bevölkerung ist gemischt und hat eine zimtfarbene Haut. Und auch die Mittelschicht hat diese Hautfarbe, doch sie fühlt sich weiss und geht auf Distanz zur dunkleren Bevölkerung.


vorwärts: Du bist seit 2015 gewählter Vertreter der Kommunistischen Partei. Doch wie steht es um die Nationalversammlung?

Carolus: Ich bin für den benachbarten Bundesstaat Trujillo gewählt. Doch aufgrund meiner politischen Aufgaben bin ich oft in Caracas, jedoch nicht in der Nationalversammlung, denn sie wurde vom obersten Gerichtshof wegen Verstössen gegen die Verfassung als illegal erklärt. Deshalb geht unser ganzes Bündnis, wie auch ein Grossteil der Opposition, nicht hin und übernimmt keine Geschäfte. Aber hin und wieder setzen sich im Parlament vielleicht 20 Vertreter*innen der Opposition auf illegale Weise zusammen. Sie sind aber nicht entscheidungsfähig, da sie nie das nötige Quorum von 50 Prozent erreichen. Es geht ihnen lediglich darum, etwas in der Presse zu veröffentlichen. Diese Situation wird von einer faschistischen Minderheit ausgenutzt: von der Primera Hosticia ("Zuerst Gerechtigkeit") und der Voluntad Popular ("Volkswille") von Guaidó.


vorwärts: Du sprichst von faschistischen Parteien. Es ist aber so, dass sich so gut wie alle Parteien in Venezuela, von links bis rechts, als "sozialdemokratisch" bezeichnen.

Carolus: Da hast Du vollkommen recht: Die Partei von Guaidó sitzt in der Sozialistischen Internationale. Aber wenn man liest was die sagen und sieht, was ihre Anhänger machen: mit brutalen Methoden gehen sie gegen Mitglieder ihrer eigenen Allianz vor. Zum Beispiel wurden Firmen gezwungen zu schliessen, ansonsten man ihre Läden kaputtschlagen würde.


vorwärts: Das sind mafiöse Methoden.

Carolus: Richtig faschistisch. Verdächtigte Chavist*innen wurden ausgezogen, an den Pfahl gebunden, gefoltert und gefilmt. Alles wird gefilmt, denn sie wollen, dass dies gesehen wird. Vor ein paar Jahren wurden diese Organisationen, die Guarimba, zum erstenmal sichtbar. Wegen ihnen haben wir in Venezuela damit begonnen, von Faschismus zu sprechen. Schau dir die Videos auf Youtube an!


vorwärts: Werde ich machen. Danke für das spannende Interview.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 13/14 - 75. Jahrgang - 26. April 2019, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang