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VORWÄRTS/1427: Das Frauenstimmrecht im Landesstreik


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 20. Dezember 2018

Das Frauenstimmrecht im Landesstreik

von Elisabeth Joris


Einführung der vorwärts-Redaktion: Auf dem Forderungskatalog des Landesstreiks von 1918 belegt das Frauenstimmrecht einen prominenten Platz. Dennoch gewinnt das Thema in den heftig geführten Debatten um die Streikziele und den Truppeneinsatz keine Priorität. Während viele politische Forderungen des Landesstreiks in den folgenden Jahren umgesetzt wurden, gelang dies beim Frauenstimmrecht erst Jahrzehnte später.


Vor hundert Jahren, am 12. November 1918, diskutierte das eidgenössische Parlament zum ersten Mal in seiner damals 60-jährigen Geschichte über die Einführung des Frauenstimmrechts. Nicht, dass die Forderung neu gewesen wäre, doch nun musste die Bundesversammlung in der eiligst einberufenen ausserordentlichen Session auf den am Vortag ausgerufenen landesweiten Generalstreik reagieren. Und auf der Liste der neun Streikforderungen belegte das Frauenstimmrecht den prominenten zweiten Platz.


Umsturzgerüchte

Das Oltener Aktionskomitee (OAK), die nationale Streikleitung von Gewerkschaftsbund und Sozialdemokratischer Partei (SP), hatte mit der Proklamierung des Generalstreiks auf die vorangehende militärische Besetzung grösserer Städte reagiert. Der Bundesrat und die Armeeführung rechtfertigten das Truppenaufgebot mit der Gefahr eines revolutionären Umsturzes. Von Revolution war allerdings beim Landesstreik nicht die Rede. Die Forderungen waren mehrheitlich politische und soziale Reformvorschläge: neben dem Frauenstimmrecht unter anderem die Wahl des Nationalrats nach dem Proporzmodell, Massnahmen zur Sicherung der Landesversorgung, die Einführung einer Alters- und Invalidenversicherung und der 48-Stunden-Woche.

Als Zuständige für die Haushaltsführung zeigten sich Frauen an der Versorgungssicherheit und der Verbilligung, der Nahrungsmittel besonders interessiert. Ebenso an der Beschränkung der Erwerbsarbeitszeit, da viele selber in der Industrie tätig waren und darauf zählten, dass die (männlichen) Arbeiter die gewonnenen Stunden ebenfalls für das Wohl der Angehörigen einsetzen würden. Auch die finanzielle Absicherung des Alters war sowohl für die bedürftigen Familien als auch für die von Armut besonders betroffenen alleinstehenden Frauen von Bedeutung. Von offensichtlich frauenspezifischem Charakter war das Frauenstimmrecht.

Im Getöse um die Gerüchte eines bolschewistischen Umsturzes ging jedoch das Thema Frauenstimmrecht sowohl im freisinnig dominierten eidgenössischen (Männer-)Parlament als auch in der Öffentlichkeit beinahe unter. Doch über den Kreis der Sozialistinnen hinaus verfolgten auch die meisten Frauen aus dem Umfeld; der so genannten "bürgerlichen Frauenbewegung" die Auseinandersetzungen rund um diese Frage mit höchster Spannung. Sie alle hofften auf eine positive Reaktion des Bundesrats. Vergeblich. Im Parlament setzten sich - mit wenigen Ausnahmen - einzig Sozialdemokraten für das Frauenstimmrecht ein.


Im transnationalen Diskurs

Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz hatte sich auf Antrag des Arbeiterinnenverbands schon seit dem Parteitag von 1912 verpflichtet, bei jeder Gelegenheit für das Frauenstimmrecht zu agitieren, um so dem entsprechenden Beschluss des internationalen Sozialistenkongresses in Stuttgart von 1907 nachzukommen. In der umstrittenen Frage, ob mit "bürgerlichen" Frauenorganisationen zusammengearbeitet werden sollte, rang sich die SP zum Kompromiss durch, ein Zusammenspannen sei in Bezug auf politische Gleichberechtigung erlaubt. In den ersten Kriegsjahren verschärften sich jedoch die Gegensätze zwischen der "proletarischen" und der "bürgerlichen" Frauenbewegung. Ein nicht geringer Teil der (bürgerlichen) Frauenrechtlerinnen in Europa engagierte sich in gemeinnützigen Tätigkeiten und organisierte Geldsammlungen zur Linderung kriegsbedingter Mangelsituationen, so auch in der nicht direkt in den Krieg involvierten Schweiz. Überall verbanden sie damit die Hoffnung, sich als Staatsbürgerinnen zu beweisen und im Gegenzug mit dem Frauenstimmrecht "belohnt" zu werden, entsprechend dem Diktum der Berner Frauenrechtlerin Emma Graf von 1914: "Pflichten erfüllen heisst Rechte begründen." Die sozialistische Fraueninternationale dagegen, die sich im März 1915 unter dem Präsidium der Deutschen Clara Zetkin in Bern zu einer Konferenz versammelte, lehnte eine solche Haltung grundsätzlich ab. Das Frauenstimmrecht bedürfe keiner Vorleistung und sei für sie im Gegensatz zu den (bürgerlichen) Frauenrechtlerinnen nicht Ziel, sondern lediglich Mittel im Klassenkampf. Doch im konkreten Hier und Jetzt hatte für die Sozialistinnen die Bekämpfung des Elends höchste Priorität. Sie nutzten die Kampagnen für gezielte sozialpolitische Massnahmen gleichzeitig zur Agitation, warfen den Behörden Untätigkeit vor und kritisierten die bürgerliche Wohltätigkeit als Kaschierung von Ausbeutung und Kriegsgewinnen.


Unscharfe Trennlinien

Trotz der scharfen Rhetorik der sozialistischen Fraueninternationale gab es auf lokaler Ebene durchaus Verbindungen zwischen Vertreterinnen der "proletarischen" und der "bürgerlichen" Frauenbewegung. Als sozialdemokratische Brückenbauerin erwies sich in der Schweiz beispielsweise die Pazifistin und Vertreterin der Sozialen Käuferliga Clara Ragaz-Nadig, die bereits vor ihrem Eintritt in die SP Mitglied des Zürcher Frauenstimmrechtsvereins gewesen war. Auf "bürgerlicher" Seite zeigte sich die Präsidentin des Schweizerischen Frauenstimmrechtsverbands, die Genferin Emilie Gourd, als ebenso offene Gesprächspartnerin wie als kompromisslose Kämpferin für Frauenrechte, vom Recht auf Bildung und Berufstätigkeit über die Gleichstellung in der Ehe bis zum Stimm- und Wahlrecht.

Im Sommer 1918 führten dann die vornehmlich von der Arbeiterinnenbewegung angeführten "Hungerdemonstrationen" in Städten wie Bern, Biel, Basel und Zürich zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Flügeln der Frauenbewegung. Ab 1917 präsidierte Rosa Bloch-Bollag die neu gegründete Zentrale Frauenagitationskommission der SP, und die Lehrerin Agnes Robmann nahm in der Geschäftsleitung der Partei Einsitz. Diesen Frauen gelang es dank ihrer Mobilisierungskraft, zentralen Frauenanliegen auf allen Ebenen der Partei mehr Gewicht zu verleihen. Im Oltener Aktionskomitee, dem Bloch-Bollag von Februar bis März 1918 angehörte, spielte zwar die Frauenfrage bis zur Ausrufung des Landesstreiks keine Rolle, doch in verschiedenen Kantonen und Städten kam es zu sozialdemokratischen Eingaben zum Frauenstimmrecht. Das grösste mediale Aufsehen erreichte der von der "roten Rosa" im Juni 1918 angeführte Demonstrationszug in Zürich. Die Frauen erkämpften sich das Recht, dass drei ihrer Vertreterinnen die Anliegen der notleidenden Familien eine Woche später direkt im Kantonsrat begründen konnten. Frauen im Zürcher Kantonsrat - ein einmaliges Ereignis bis zur Einführung des kantonalen Frauenstimm- und -wahlrechts 1970. Vor dem Rathaus blockierten rund 10.000 Personen den Verkehr, die Ratstribüne war vollbesetzt, Zustimmungserklärungen des Frauenstimmrechtsvereins und der Zürcher Frauenzentrale wurden verlesen. Diese verlangten eindringlich, Vertreterinnen der verschiedenen Frauenvereine zur Mitberatung der Anträge der drei Rednerinnen beizuziehen. Sie riefen nun ihrerseits zu einer grossen Frauenversammlung auf, damit bürgerliche und sozialdemokratische Frauen gemeinsame Wege fänden, um der wirtschaftlichen und sozialen Not entgegenzuwirken, beispielsweise mit einem Minimallohngesetz und Lohnkontrollen. Denn auch sie waren sich bewusst, dass viele Frauen weit weniger verdienten als Männer, zu wenig vor allem, um damit den Lebensunterhalt sichern zu können. In der Folge solcher Aktionen nahmen nun Frauen verschiedenster politischer und sozialer Zugehörigkeit Einsitz in städtischen, kantonalen und eidgenössischen Gremien zur Sicherung der Versorgung.


Männliche Basis dagegen

Vor diesem Hintergrund erstaunt das grosse Interesse der Frauenrechtlerinnen an der Landesstreikdebatte vom 12. November 1918 im eidgenössischen Parlament nicht. Mit Ausnahme des Schweizerischen Katholischen Frauenbunds setzten sich nach dem Landesstreik alle grossen Frauenverbände für das Frauenstimm- und -wahlrecht ein. Doch ihre Hoffnungen wurden enttäuscht. Die beiden in der Wintersession 1918 eingereichten Motionen des Basler Liberalen Emil Göttisheim und des Zürcher Sozialdemokraten Herman Greulich zum Frauenstimm- und -wahlrecht wurden im Nationalrat nie behandelt. Die von den Linken angestossene Einführung des Frauenstimmrechts auf lokaler Ebene lehnten die Männer an der Urne überall wuchtig ab, in den sozialdemokratisch dominierten städtischen Arbeiterkreisen zum Teil noch deutlicher als in bürgerlichen Stadtkreisen. Die männliche Basis der Arbeiterbewegung zeigte sich mehrheitlich weder an die Beschlüsse der Partei gebunden noch solidarisch mit den Genossinnen.

Wegen des fehlenden Wahl- und Stimmrechts blieben im Gefolge des Landesstreiks die spezifischen Interessen der Frauen auf der Strecke, während sich die Wahl des Nationalrats nach Proporz und die 48-Stunden-Woche - obwohl umstritten - als mehrheitsfähig erwiesen. Auch die AHV wurde bereits in den Zwanzigerjahren im Grundsatz befürwortet, wegen des Streits um die Finanzierung jedoch erst 1948 umgesetzt, wenn auch in einer Form, die Frauen benachteiligte.


Solidarität und Zusammenarbeit

Um den nötigen politischen Druck zur Durchsetzung von Fraueninteressen zu erzeugen, genügt, wie wir aus Erfahrung wissen, das Stimm- und Wahlrecht allerdings nicht. Vielmehr braucht es, wie bei den Hungerdemonstrationen im Sommer 1918, die Solidarisierung über ideologische Trennlinien hinweg, die Fokussierung auf die spezifische Betroffenheit des weiblichen Geschlechts, die Nutzung von institutionellen Wegen bei gleichzeitiger medienwirksamer Inszenierung der Forderungen und Sichtbarmachung von Frauen als politische Akteurinnen. Dieses Vorgehen erwies sich 1968/69 bei der Reaktion auf die Absicht des Bundesrats, die Europäische Menschenrechtskonvention mit Vorbehalt zu unterzeichnen, wiederum als erfolgreich. Im Zusammenspiel von schriftlichem Protest und intensivem Lobbying der Frauenverbände bei Bundesrat, Verwaltungsbehörden und Parlamentariern einerseits und dem von Frauenrechtlerinnen organisierten und von jungen 68erinnen mitgeprägten "Marsch nach Bern" anderseits erkämpften sich Frauen 1971 das Stimm- und Wahlrecht.

Auch der landesweite Frauenstreik von 1991, der mit der Parole "Wenn Frau will, steht alles still" an die Parole des Landesstreiks "Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still" von 1918 anknüpfte, wurde von Verbänden und Organisationen bis hin zu kleinsten spontanen Gruppierungen mitgetragen. Er schaffte den notwendigen gesellschaftlichen und politischen Druck, damit das Parlament 1993 (nach der Nichtwahl von Christiane Brunner) mit Ruth Dreifuss dennoch eine Frau in den Bundesrat wählte und 1995 das Gleichstellungsgesetz verwirklichte.


Der hier leicht gekürzte Artikel der freischaffenden Historikerin Elisabeth Joris ist in der Ausgabe 2018 der Fachzeitschrift "Frauenfragen" der eidgenössischen Kommission für Frauenfragen (EKF) erschienen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42 - 74. Jahrgang - 20. Dezember 2018, S. 13
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2019

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