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VORWÄRTS/1390: Mehr Selbstbestimmung


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 21/22 vom 14. Juni 2018

Mehr Selbstbestimmung


TGNS. Der Vorschlag des Bundesrats zur leichteren Personenstandsänderung ist ein wichtiger Fortschritt für die TGNS-Community. Es besteht jedoch Verbesserungsbedarf: So schliesst der Vorentwurf nicht-binäre Menschen explizit weiter aus und für Minderjährige hält er sogar Verschlechterungen gegenüber heute bereit.


Der Bundesrat hat einen Vorentwurf zur vereinfachten Personenstandsänderung von Transmenschen und Menschen mit einer Geschlechtsvariante vorgelegt. Das Transgender Network Switzerland (TGNS) begrüsst die grundlegenden Ziele der Vorlage, die es ermöglichen soll, den amtlichen Geschlechtseintrag und den Vornamen selbstbestimmt, das heisst ohne psychiatrische Gutachten und ohne medizinische Voraussetzungen ändern zu können.

Wenn Transmenschen den Geschlechtseintrag ihrer amtlichen Dokumente ändern lassen möchten, müssen sie heute dafür vor Gericht gehen. In der Regel genügt es, ein schriftliches Gesuch und ein Schreiben einer Psychiater_in vorzulegen, das die Transidentität bestätigt. Seit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2017 wird kein Nachweis der Unfruchtbarkeit oder anderer medizinischer Eingriffe mehr verlangt. Vor allem störend sind die von einigen Gerichten durchgeführten persönlichen Anhörungen und die Gerichtskosten im Rahmen von etwa 300 bis gut 1000 Franken, die für viele Transmenschen eine ernsthafte finanzielle Belastung darstellen. Mit der vom Bundesrat angestrebten Änderung des Zivilgesetzbuches soll künftig hingegen eine einfache Erklärung vor dem Zivilstandesamt ausreichen. Henry Hohmann, TGNS-Beauftragter für Politik, sagt dazu: "Die aktuelle Praxis stellt hohe Anforderungen für die Änderung des Geschlechtsantrags an Transmenschen, die viele nicht alleine meistern können."

Die Änderung des amtlichen Geschlechts und des Namens ist für Transmenschen von grosser Alltagsrelevanz. Denn erst damit können sie Dokumente erhalten, die ihr Geschlecht korrekt widerspiegeln und sie nicht konstant dazu zwingen, sich als trans erkennen zu geben. Solche Zwangsoutings sind nicht nur eine enorme psychische Belastung, sie erhöhen auch die Gefahr von Diskriminierung und Gewalt.


Grundsätzlich positiv

Die Stossrichtung des jetzt veröffentlichten Vorentwurfes ist grundsätzlich positiv, dessen Erläuterungen an die Forderungen der Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarats von 2015 und an die vorbildlichen Gesetze von Ländern wie Malta (2015), Irland (2015), Norwegen (2016) oder Belgien (2018) anknüpfen. Dort genügt zur Personenstandsänderung eine einfache Erklärung ohne weitere Voraussetzungen.

Der vom Bundesrat heute unterbreitete Vorentwurf entspricht in einigen Punkten den langjährigen Forderungen von Trans-Organisationen in der Schweiz, doch es besteht Nachbesserungsbedarf im nun begonnenen politischen Prozess. Die drei offensichtlich kritischsten Punkte der Vorlage sind:

Die als Ziel genannte einfache Erklärung basierend auf der Selbstbestimmung entspricht den menschenrechtlichen Standards, zu denen sich die Schweiz verpflichtet, und ist zu begrüssen. Jedoch verankert der Vorentwurf gerade nicht ein Verfahren, das auf Selbstbestimmung beruht. Die Zivilstandsbeamt_innen, so der Bundesrat, sollen den Spielraum erhalten, zusätzliche Abklärungen vorzunehmen und beispielsweise ärztliche Zeugnisse einzuverlangen, oder gar allein aufgrund von "Zweifeln" Anträge zurückzuweisen. Dies widerspricht dem Gedanken der Selbstbestimmung zutiefst, wird dadurch doch der Willkür der persönlichen Anschauung der jeweiligen Beamt_in Tür und Tor geöffnet. TGNS empfiehlt daher unbedingt, sowohl ein tatsächlich auf Selbstbestimmung beruhendes Verfahren zu statuieren sowie die für diese Verfahren zuständigen Beamt_innen zur Trans- und Inter-Thematik zu schulen, damit sie ihrer verantwortungsvollen Aufgabe gerecht werden können. Alecs Recher, Leiter der TGNS-Rechtsberatung, kommentiert: "Wirkliche Selbstbestimmung kann nicht von der persönlichen Einschätzung eine_r_s Zivilstandsbeamtin abhängig gemacht werden."


Rückschritt für Minderjährige

Die eigentlichen Verlier_innen im Vorentwurf des Bundesrates sind die Minderjährigen. TGNS ist bestürzt, dass die Rechtsstellung gerade dieser besonders verletzlichen und durch die Kinderrechte besonders geschützten Gruppe gegenüber heute verschlechtert werden soll. Bislang stellen urteilsfähige Minderjährige den Antrag auf Änderung des amtlichen Geschlechts und Namens selbst. Für Urteilsunfähige kann die gesetzliche Vertretung die Änderungen beantragen. Diese Regelung hat sich bewährt, bringt in der Praxis keinerlei Probleme mit sich und gilt im internationalen Vergleich als besonders positives Beispiel. Nach dem Willen des Bundesrates dürften künftig urteilsfähige Minderjährige einen Antrag auf Geschlechtsänderung nur noch mit Zustimmung der gesetzlichen Vertretung stellen. Dies wäre ein deutlicher Rückschritt.

Der Bundesrat schlägt auch explizit vor, bei einem rein binären System, der Begrenzung auf die zwei amtlichen Geschlechter "weiblich" und "männlich" zu bleiben. Für Menschen, die sich in diesen gängigen Geschlechterkategorien nicht wiederfinden - was etwa die Hälfte aller Transmenschen ist -, gäbe es damit weiterhin keine rechtliche Anerkennung. Beispielsweise zeigte eine Studie aus Deutschland, dass 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung sich nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Von diesen wiederum identifizieren sich 60 Prozent weder (ausschliesslich) als weiblich noch (ausschliesslich) als männlich. TGNS fordert daher, dass im Rahmen dieses Gesetzgebungsprozesses auch das Bedürfnis von Menschen mit einer nicht-binären Geschlechtsidentität, vor dem Staat zu existieren, einbezogen wird und dies nicht weiter auf die lange Bank geschoben wird.


Mehr als zwei Geschlechter

Stefanie Hetjens, Präsidentin von TGNS, fasst zusammen: "Bereits auf den ersten Blick sticht hervor, dass Nachbesserungsbedarf besteht: für eine tatsächliche Selbstbestimmung, bei dem zu schützenden Kindeswohl und der Öffnung auf mehr als zwei Geschlechter." Besonders positiv stechen hingegen die vorgeschlagenen Regelungen zum internationalen Privatrecht hervor. Insbesondere Auslandschweizer_innen werden davon profitieren können, wenn sie künftig die Änderung entweder im Wohnsitzstaat nach dortigem Recht oder in ihrem Schweizer Heimatkanton nach ZGB vornehmen können.

Der Bundesrat will mit dem heute vorgestellten Vorentwurf die Änderung von Name und amtlichem Geschlecht einer gesetzlichen Regelung zuführen. Während diese Änderungen für viele Transmenschen wichtig sind, darf aber nicht vergessen werden, dass verschiedene weitere Probleme bestehen, wie beispielsweise im Krankenversicherungsrecht. Das TGNS erwartet vom Bundesrat, dass er sich der zahlreichen weiteren Schwierigkeiten, mit denen Transmenschen konfrontiert werden, zeitnah annimmt.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 21/22 - 74. Jahrgang - 14. Juni 2018, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2018

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