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VORWÄRTS/1376: PatientInnen aller Länder, vereinigt euch!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 26. April 2018

PatientInnen aller Länder, vereinigt euch!

von Sabine Hunziker


Bereits Marx und Engels beobachteten, dass viele Krankheiten einen gesellschaftlichen, nicht individuellen Ursprung hatten: Krankmachende Produktionsmethoden und Elendsquartiere. In den 70er Jahren versuchten Zürcher MedizinerInnen, im Dienste der ArbeiterInnen zu wirken.


Obwohl Gesundheit eigentlich ein wichtiger Faktor für das Kapital ist, gehen die KapitalistInnen nicht übermässig achtsam damit um. Die Realität zeigt: die Gesundheit der ProletarierInnen wird indirekt geopfert, um den Mehrwert zu steigern. Minimaler Schutz wurde den KapitalbesitzerInnen sogar per Gesetz und Arbeitsbestimmungen aufgezwungen. Umso mehr ist der Schutz von Gesundheit ein wichtiges Thema in der marxistischen Agenda. Es gibt nicht wenige Schriften zum Thema Krankheit/Gesundheit und Klassenmedizin bei marxistischen AutorInnen.


Gesellschaftliche Basis

Fündig wird man bereits bei Marx und Engels. Engels beschrieb in "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" die Situation der Arbeitenden mit Berufskrankheiten und einer hohen Sterblichkeitsrate. Durch Überarbeitung und elende Lebensverhältnisse wurden Männer, Frauen und Kinder buchstäblich zu Tode geschunden, beobachtete Engels. Krankmachende Produktionsmethoden und Elendsquartiere mit viel Armut waren Hauptfaktoren für Krankheit. In der gesellschaftlichen Basis muss also die Ursache für Krankheiten gesucht werden - nicht beim Individuum selbst. Auch als soziale Verbesserungen Cholera oder Typhus ausgemerzt hatten und andere körperliche Krankheiten und Unfälle erfolgreicher mit Medizin und/oder in den entsprechenden Institutionen behandelt werden konnten, kamen psychische Krankheiten vermehrt auf (oder wurden vermehrt diagnostiziert).

Bereits Marx beobachtete dies und kritisierte zugleich die Praxis des Einsperrens in Armenhäuser. Es schien eine Tendenz da zu sein, chronische und permanente Fälle zu schaffen, die man wahrscheinlich bei rechtzeitiger Pflege hätte heilen können. "Für die leitenden Armenbehörden ist das entscheidende Prinzip die Sparsamkeit", meinte Karl Marx in seiner Schrift "Die steigende Anzahl der Geisteskrankheiten in England". Deutlicher wurde er in "Das Kapital", wo er Engels Beobachtungen bestätigte und schrieb: "Eine gewisse geistige und körperliche Verkrüppelung ist untrennlich selbst von der Teilung der Arbeit im ganzen und grossen der Gesellschaft."


Prinzip der Selbsthilfe

Immer versuchte die Arbeiterschaft auf verschiedene Arten, ihre Gesundheit zu schützen und gegen die Klassenmedizin zu kämpfen. Im 19. Jahrhundert entstanden erste freiwillige Arbeiterkrankenkassen, die auf dem Prinzip der Selbsthilfe basierten. Jedoch fand diese Selbstorganisation nur bei bestimmten "Berufsgruppen" statt. Arbeitende schlossen sich zunehmend zusammen, um als Gemeinschaft Schwierigkeiten begegnen zu können. So wuchsen Parteien im letzten Drittel des vorletzten Jahrhunderts zu Massen. Um die Macht zu schwächen, wurde dieses Wachstum entweder mit Verboten und Repression gehemmt oder durch Einführung von sozialen Reformen im Sinne kleiner Zugeständnisse an die Bewegung geschwächt.

Die Einführung des Sozialversicherungssystems war einerseits indirekt ein Zeichen des Aufstiegs der proletarischen Bewegung und andererseits entstand hier langsam der Sozialstaat mit dem Ziel, dass revolutionäre Ziele verbürgerlicht werden. Den Sozialstaat gibt es heute immer noch - obwohl jedes Jahr in Form von "Sparpaketen" immer Leistungen weggezwackt werden. Mit der Krankheit ist ein Markt dazugekommen: Industrien verdienen Milliarden mit dem Verkauf und der Produktion von Medikamenten - diese sind aufgrund der Preise zum Teil nicht für alle erschwinglich. Probleme rund um Gesundheit, Krankheit und Kapital sind nach wie vor zuoberst in der Agenda der Gewerkschaften und Bewegungen.


Klassenmedizin im Fokus

Zurück ins Jahr 1971 an der Vollversammlung am Vorabend 1. Mai: Rund um die Basisgruppe Medizin organisierten sich Arbeitskräfte und StudentInnen aus dem medizinischen Dienstleistungsbereich und angrenzenden Bereichen, um spezifische Probleme im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu bearbeiten. Das Transparent mit Hammer und Sichel in roter Farbe hing in der Mitte des Raumes nach unten. Jemand hatte die Stoffecken des Tuches mit Reisnägel an der Wand befestigt und wenn man das Archivbild genauer ansieht, sticht die um den Hammer geringelte Schlange - der Asklepiosstab als Zeichen des medizinischen Standes - ins Auge. An vier aneinander geschobenen Tischen sassen Leute Stuhl an Stuhl. Weitere Mitglieder und Interessierte hatten sich im Hintergrund platziert, entweder auf den restlichen Stühlen oder auf dem Boden am Rand bei der Wand sitzend.

Wie viele Menschen schlussendlich zu dieser Vollversammlung wirklich gekommen waren, ist auf dem Bild schwierig zu erkennen. Viele waren es und - ich stelle mir vor - manchmal ging ein Raunen durch den Raum oder jemand zündete sich eine selbstgerollte Zigarette an. "Die Basisgruppe Medizin bezweckt insbesondere", der Sprecher hielt einen Moment inne, um vom Blatt in der Hand ablesen zu können: "1) Analyse und Kritik der bürgerlichen Institutionen im Bereich der Medizin und der Gesundheitspolitik auf der Grundlage von dauernder Schulung und fachbezogener Praxis ausserhalb der Spitäler. 2) Vorantreiben von Verbesserungen im Bereich der Medizin, soweit sie unter kapitalistischen Produktionsbedingungen möglich sind, sei es im institutionellen Rahmen oder durch Selbsthilfe gemäss Bedürfnissen der Mitglieder. 3) Theoretische Vorarbeit und Propaganda für eine Medizin im Dienste des Volkes, wie sie erst dann möglich sein wird, wenn der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen beseitigt worden ist." Tosender Applaus, nachdem die letzte Zeile abgelesen war.


AUFRUF ZUR MITHILFE
Die Idee ist da, den Nachlass der Basisgruppe Medizin, ihre Kämpfe und Ideen rund um Klassenmedizin und das sozialistische Krankenhaus zum Marx-Jubiläum aufzuarbeiten und in einer Broschüre allen zugänglich zu machen. Wir wären also sehr dankbar über Hinweise zur Gruppe oder ZeitzeugInnen, die in Interviews dazu berichten, Quellen etc.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16 - 74. Jahrgang - 26. April 2018, S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2018

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