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VORWÄRTS/1370: Die Hinrichtung von Marielle Franco erschüttert Brasilien


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 11/12 vom 29. März 2018

Die Hinrichtung von Marielle Franco erschüttert Brasilien

von Siro Torresan


Am 14. März wurde die 38-jährige Abgeordnete der Partei Sozialismus und Freiheit PSOL, Marielle Franco, in Rio de Janeiro auf offener Strasse ermordet. Alles deutet darauf hin, dass der Mord auf das Konto der para-polizeilichen Milizen geht. Die linke Aktivistin, die aus der Favelá Maré stammt, kämpfte gegen die staatliche Gewalt.


"Junge schwarze Frauen, die Machtstrukturen verändern" - von dieser Veranstaltung kommt die Afrobrasilianerin und PSOL-Abgeordnete Marielle Franco, als im Zentrum von Rio de Janeiro tödliche Schüsse fallen. Die Angreifer feuern ihre Waffen aus einem Auto ab. Vier Kugeln treffen die Lokalpolitikerin auf der Rückbank ihres Wagens in den Kopf, durch die abgedunkelte Seitenscheibe. Franco stirbt auf der Stelle, auch ihr Fahrer verliert sein Leben. Seither sind Zehntausende Menschen unter anderem in Rio, São Paulo, Belo Horizonte oder Salvador de Bahía auf die Strasse gegangen. In Rio nahmen Tausende an einem Trauermarsch teil. Währenddessen besetzen Demonstranten das Stadtparlament. Sie machten die Polizei selbst für die Tat verantwortlich. Am Ort des Verbrechens hob der langjährige Menschenrechtsaktivist und PSOL-Bürgermeisterkandidat Marcelo Freixo den Aktivismus seiner Genossin Franco hervor: "Sie war eine sehr wichtige Person im Kampf gegen den Rassismus in Rio. Ihre Ermordung ist ein Verbrechen gegen die Demokratie, ein Angriff auf uns alle."


Militärintervention als Farce

Die 38-jährige Franco sass seit 2016 für die PSOL im Stadtrat von Rio de Janeiro. Im 51-köpfigen Rat war sie die einzige afrobrasilianische Frau, die selbst aus der Favelá Maré stammt. Sie setzte sich seit über zehn Jahren aktiv für Menschenrechte und insbesondere die Rechte von Schwarzen und Frauen ein. Zuletzt hatte die linke Politikerin zum wiederholten Male die Polizei für den Tod von Jugendlichen verantwortlich gemacht. Auf ihrem Facebook-Account hatte Franco am 10. März geschrieben, Polizisten des 41. Bataillon "terrorisieren und üben Gewalt gegenüber den Bewohnern von Acari aus. Zwei Jugendliche wurden getötet und in einen Abwassergraben geworfen". Die jüngste Militärintervention habe diesen alltäglichen Zustand von Gewalt gegen Bewohner einkommensschwacher Wohngebiete nur noch schlimmer gemacht, so die Abgeordnete. Tatsächlich führt der Einsatzbereich des 41. Bataillons die Liste mit den meisten Todesfällen im Bundesstaat an. In den letzten fünf Jahren sind nach Angaben des Instituts für Öffentliche Sicherheit (ISP) dort 450 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen.

Anfang März wurde Franco zur Vorsitzenden der Kommission gewählt, welche die Militäraktionen in den Favelas überwachen soll. Dessen Ziel ist es, mögliche Vergehen durch die Sicherheitskräfte zu dokumentieren und zu ahnden. Damit verfügte Franco über weitergehende Einblicke in Arbeit der Exekutivorgane sowie über Kompetenzen der politischen Aufarbeitung von Rechtsverstössen im Zusammenhang mit der Militäraktion. Gegen die massive Intervention der Armee und der Polizei hatte sie sich von Beginn an positioniert. "Das ist eine einzige Farce", so Franco vor einem Monat. "Die Militärintervention dient einzig dem Image der Verantwortlichen für Innere Sicherheit sowie der Rettung der regierenden Partei PMDB und steht in Verbindung mit der Sicherheits- und Waffenindustrie."


Deutliche Hinweise

Die offensichtliche Hinrichtung deutet auf eine klare Botschaft an die Öffentlichkeit und Machtdemonstration hin: Medienberichten zufolge erinnert die Art des Verbrechens an die Ermordung der Richterin Patrícia Acioli aus dem Jahr 2011, die gegen sogenannte Milizen ermittelte und, wie sich herausstellte, von diesen ermordet wurde. Diese para-polizeilichen Gruppen formierten sich unter dem Vorwand, den Drogenhandel und das organisierte Verbrechen zu bekämpfen und rekrutieren sich vorwiegend aus ehemaligen oder ausser Dienst stehenden Polizisten oder Militärangehörigen. Nicht selten finanzieren sie sich aus Schutzgelderpressungen und der Kontrolle lokalen Handels.

Die Bedrohung durch Milizen ist bekannt. Allein im Wahlkampf 2016 sind im Grossraum von Rio de Janeiro neun Kandidaten und Politiker im Amt durch gezielte Schüsse in der Öffentlichkeit ermordet worden. Immer wieder sind dabei Verstrickungen zwischen Milizen und der lokalen Polícia Militar (PM) aufgedeckt worden. Kurz vor dem Mord an Franco hatte die mit Ermittlungen beauftragte Polícia Civil neun Personen festgenommen, die verdächtigt werden, Mitglied einer Miliz zu sein. Vier von ihnen waren Polizisten der Polícia Militar. Nicht selten reagierten Milizen auf Festnahmen und Angriffe mit Rachemorden.

Auch die jüngsten Ermittlungen legen immer mehr den Verdacht nahe, dass die Hinrichtung der Politikerin auf das Konto der para-polizeilichen Milizen geht. Medienberichten zufolge stammen die Patronen ursprünglich aus den Beständen der Bundespolizei Polícia Federal (PF) in Brasília. Dieser waren sie 2006 auf bisher ungeklärte Weise entwendet worden. Zuletzt waren Patronen aus demselben Bestand bei Bandenkriegen nahe Rio de Janeiro sowie im Jahr 2015 bei einem Massaker im Grossraum São Paulo benutzt worden. Für dieses Verbrechen waren Anfang März dieses Jahres vier Polizisten zu Haftstrafen von 100 bis 255 Jahren verurteilt worden. Sie hatten bewiesenermassen ausserhalb der Dienstzeit Rache für den Tod eines Kollegen an vermeintlichen Tätern üben wollen und 17 Menschen hingerichtet, die sie Drogenbanden zurechneten. Einer der verurteilten Polizisten verteidigte sich vor Gericht damit, dass er "niemals einen guten Bürger umgebracht hätte". Wie die Munition nun in den Besitz der Mörder der Politikerin Franco und des Fahrers Gomes gekommen sind, sei Teil der laufenden Untersuchung, so die ermittelnde Bundespolizei.


Internationaler Druck

Unterdessen steigt auch international der Druck auf die brasilianische Regierung. Zuletzt forderte die UN-Menschenrechtskommission die brasilianische Regierung auf, eine "unabhängige und transparente" Untersuchung zu garantieren. Der Vorsitzende der Kommission, Zeid al Hussein, hatte Anfang März die Militäraktionen in Rio kritisiert und von der brasilianischen Regierung gefordert, dass die Sicherheitskräfte durch MenschenrechtsaktivistInnen bei ihren Operationen begleitet werden.

Die Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) hat im EU-Parlament gefordert, die Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur auszusetzen. "Solange kein Ende der Gewalt sowie der Einschüchterungen gegen die politische Opposition und Menschenrechtsaktivisten" absehbar sei, solle die EU-Kommission nicht mit dem südamerikanischen Wirtschaftsblock verhandeln, dem auch Brasilien angehört.

QUELLEN: FERNANDO FRAZAO/AGENCIA BRASIL; AMERICA21.DE

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 11/12/2018 - 74. Jahrgang - 29. März 2018, S. 9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. April 2018

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