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VORWÄRTS/1236: Wer eine anfasst, fasst alle an


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 39/40 vom 4. November 2016

Wer eine anfasst, fasst alle an

Von Sabine Hunziker


Es reicht: Lateinamerikanische Länder demonstrieren gegen Frauenmorde und Macho-Kultur. In Argentinien legten Tausende Frauen die Arbeit nieder.


Feminicidio (Femizid) ist in Lateinamerika nicht ein praxisferner Fachbegriff, sondern Realität. Die Anzahl der Morde aus Frauenhass ist gross. Die Nichtregierungsorganisation "Haus der Begegnung" zählte zwischen 2008 und 2016 beispielsweise allein in Argentinien 2094 registrierte Fälle. Sicher gibt es eine Dunkelziffer, zudem bleiben 98 Prozent der Gewaltverbrechen unaufgeklärt, so dass die Täter straffrei bleiben. Man sagt, dass alle 30 Stunden in Argentinien eine Frau stirbt. In der Praxis sind alle Zahlen Menschen: Lucia Pérez, ein 16-jähriges Mädchen aus Mar del Plata, wurde in der Nacht vom 8. Oktober ermordet, vorher mit Drogen betäubt und vergewaltigt. Schlussendlich führten innere Verletzungen zum Tod.


Ein nationaler Frauenstreik

Das wird nicht mehr einfach so hingenommen: Am 19. Oktober demonstrierten nach dem Aufruf der Fraueninitiative #NiUnaMenos 100.000 Leute in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires gegen Feminicidio. Zwischen 13 und 14 Uhr wurde in 80 Städten die Arbeit niedergelegt und später fanden landesweit Versammlungen und Demonstrationen im öffentlichen Raum statt. Viele linke und feministische Organisationen forderten an diesem nationalen Frauenstreik Massnahmen für ein Ende der ökonomischen und sozialen Benachteiligung von Frauen sowie die Anerkennung der nach wie vor unbezahlten Haus- und Erziehungsarbeit. Die Benachteiligung der Frau im Allgemeinen ist einer der Mitgründe für die geschlechtsbezogene Gewalt. Zwar gibt es in Argentinien seit 2012 ein Gesetz, das eine lebenslange Haftstrafe für Frauenmorde vorsieht. Doch es braucht zusätzliche Massnahmen. "Der Kampf für sexuelle und reproduktive Rechte ist einer der zentralen Schwerpunkte. Dazu gehört die Entkriminalisierung der Abtreibung und ein landesweit einheitlicher Zugang zum legalen Schwangerschaftsabbruch bei Vergewaltigungen oder bei Risiken für die Gesundheit der betroffenen Frauen oder Mädchen", meint Beat Gerber, Mediensprecher von Amnesty International Deutschschweiz.

Dies sind Forderungen, die immer mehr Gewicht erhalten, da sich neben einer grossen Masse auch bekannte Persönlichkeiten aus Kultur und Politik, darunter die Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und der Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel dafür stark machen. "Dass die Forderungen der Proteste in Argentinien auch strukturelle Gewalt und Anerkennung von unbezahlter Care-Arbeit beinhalten, begrüssen wir. Es zeigt, wie tief das Problem geht", sagt Milena Geiser von der feministischen Friedensorganisation cfd.


Eine Protestkultur entsteht

Neu sind Frauenmorde nicht, zumal es ohnehin eine hohe Anzahl von Gewaltopfern in lateinamerikanischen Ländern gibt. International bekanntgeworden sind diese spezifischen Morde unter anderem durch den Roman "2666" des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño. Grundlage für den Roman waren die Frauenmorde von Ciudad Juárez, einer seit mindestens Anfang der 1990er-Jahre andauernden Mordserie in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez. Was sich mittlerweile geändert hat, ist, dass sich AktivistInnen in grosser Zahl organisieren. In Peru demonstrierten im August 150.000 Menschen unter dem Motto "Wer eine anfasst, fasst alle an"; in diesem Jahr wurden bis im August bereits 54 Frauen getötet. Andere Länder ziehen mit. Auch in Mexiko, wo je nach Angaben jeden Tag sieben Frauen getötet werden, konnte eine Protestkultur aufgebaut werden. In Kolumbien versammelten sich Frauen zu Kundgebungen in verschiedenen Städten - so auch in Venezuela, Brasilien, Uruguay, Paraguay, Bolivien, Chile, Honduras, Ecuador, Costa Rica, El Salvador und Guatemala. Trotz der Gesetze, die - ähnlich wie in Argentinien - zum sogenannten "Schutz der Frauen" geschaffen wurden, ist die Gewalt nicht kleiner geworden. Es ist ein kultureller Wandel nötig, um dies zu verändern.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40 - 72. Jahrgang - 4. November 2016, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2016

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