vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 vom 17. Juni 2016
Zwischen Caritas und Hippiehilfe
Von Andreas Boueke
Im Stadtteil Raval von Barcelona mischt sich Aufbruchstimmung mit rohem Überlebenskampf. Hier führt der deutsche Sozialarbeiter Wolfgang Strebinger seit 30 Jahren ein Obdachlosenzentrum, denn zum Überleben braucht es "Brot und Menschlichkeit", wie er selber sagt.
Nur ein paar Schritte vor der gotischen Kathedrale im Zentrum
Barcelonas entfernt, steht ein Bürogebäude des Wohlfahrtsverbandes
Caritas. Teresa Bermudez ist die Koordinatorin des
Unterstützungsprogramms für Obdachlose: "Den aktuellen Statistiken
zufolge gibt es in Barcelona neunhundert Personen, die auf der Strasse
leben. Aber es gibt noch sehr viel mehr problematische Situationen.
Leute, die in provisorischen Hüttensiedlungen oder in besetzten
Häusern wohnen. Familien, die kurz davor stehen, aus ihren Wohnungen
geworfen zu werden. Das Problem der Obdachlosigkeit ist viel grösser
als man es auf den ersten Blick sieht." Auf die Wirtschaftskrise Mitte
des vergangenen Jahrzehnts hat die Regierung vor allem mit
Sparprogrammen reagiert, um die Staatsschulden einzudämmen. Teresa
Bermudez meint, die Strategie sei falsch gewesen. "Es hat sich
gezeigt, dass Sparen keine Lösung bringt. Im Gegenteil, wir brauchen
viel mehr Investitionen, gerade im Sozialsektor. Sonst folgt auf die
Wirtschaftskrise eine soziale Krise, die noch viel teurer wird. Man
hört jetzt immer öfter, dass es eine wirtschaftliche Erholung gibt,
aber bei unserer Klientel kommt davon nichts an. Das Leid und die
Konsequenzen der Krise sind weiterhin sehr hart."
Keine zehn Minuten Fussweg von den Caritas-Büros entfernt beginnt der Raval, heute ein angesagtes Stadtviertel, in dem aber noch immer Armut und Obdachlosigkeit das Strassenbild prägen. Junge Familien mit Kindern leben neben alteingesessenen SeniorInnen mit einer Minimalrente. IT-Nerds eröffnen Büros in ehemaligen Lagerhallen über Ramschläden pakistanischer MigrantInnen. Altes Elend mischt sich mit neuer Hipsterkultur, moderne Stadtplanung mit offensichtlichem Verfall, optimistischer Aufbruchstimmung mit rohem Überlebenskampf. In dieser Umgebung betreibt der deutsche Sozialarbeiter Wolfgang Strebinger ein kleines Obdachlosenzentrum, den "Chiringuito de Dios", die Imbissstube Gottes. "Wenn ich sage, dass ich unter Armen leben möchte, dann hört sich das vielleicht irgendwie romantisch an", sagt Wolfgang Strebinger, während er einen grossen Frühstückstisch deckt. "Aber es ist ja nicht so, dass arme Leute immer liebe Menschen sind, wie in Not geratene Heilige. Viele sind einfach schwierige Menschen, sehr heruntergekommen, zum Teil auch psychisch angeknackst."
Wolfgang Strebinger ist Jahrgang 1953, geboren und aufgewachsen in der Pfalz. Aber wirklich heimisch hat er sich dort nie gefühlt. Er wollte ein anderes Leben führen, die Welt kennenlernen und solidarisch leben mit Armen und Obdachlosen. "Als junger Mann bin ich nach Indien gereist. Da begann eigentlich alles, in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als es noch Hippies gab. In Indien habe ich selbst auf der Strasse gelebt. Ich war auf der Suche: Drogen, Religion und viel Gefühl."
Später ist er nach Spanien gekommen: "Und irgendwann entschloss ich mich, total lokal zu arbeiten."
Damals war der Raval ein heruntergekommenes Elendsviertel mit düsteren Gassen und kaum Anlaufstellen für Menschen, die in Armut leben, kein Dach über dem Kopf haben oder mit ihrer Sucht nach Drogen und Alkohol kämpfen. Auch Antonio, ein freundlicher Mann mit Stoppelbart, hat mal so gelebt. Er weiss, wie Wolfgang Strebingers Sozialarbeit in Barcelona begonnen hat: "Der Wolfgang ist ja seit dreissig Jahren hier. Damals wollte er einfach nur den Leuten helfen. Er hat hier belegte Brötchen verteilt und gute Laune, so hat er angefangen."
Alle MitarbeiterInnen des Chiringuito de Dios sind Freiwillige, die das Milieu der Obdachlosen gut kennen, meist aus persönlicher Erfahrung. Wolfgang Strebinger steht jeden Morgen neben ihnen in der kleinen Küche. "Alles soll gediegen sein wie im Hotel. Guter Kaffee, gute Marmelade, gutes Brot. Alles mit einer gewissen Qualität, und vor allen Dingen menschenwürdig. Es geht um Brot und Menschenwürde. Brot ist das erste, aber Menschenwürde ist nicht das letzte."
Wolfgang Strebinger ist jetzt 63 Jahre alt. Seit Jahrzehnten kümmert er sich um das Wohl bedürftiger Menschen. Aber auch er selbst hat keine Kranken- und keine Rentenversicherung. "Ich habe keine Ahnung, wie das mal wird, wenn ich alt bin. Ich möchte jetzt nicht unbedingt, dass meine Tochter mich aufnehmen muss. Aber noch habe ich Kraft, noch habe ich Freude."
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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24 - 72. Jahrgang - 17. Juni 2016, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2016
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