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VORWÄRTS/1155: Ernährungssouveränität - ein Modell für ein anderes Wirtschaften


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 45/46 vom 18. Dezember 2015

Ernährungssouveränität - ein Modell für ein anderes Wirtschaften

Von Ulrike Minkner


"WTO out of agriculture!" Diese Parole von La Via Campesina ist brandaktuell, auch wenn diese Forderung bereits in den Jahren der Gründung der WTO aufgestellt wurde. Die Mitglieder von La Via Campesina waren sich der Bedrohung, die von dieser Organisation und ihren Abkommen ausgehen, bewusst. Deshalb wurde das Konzept der Ernährungssouveränität entworfen.


Damals wie heute verstehen wir das Konzept als antikoloniale Kritik an der Fremdbestimmung von Staaten durch die internationalen Handelsregeln der WTO und die neoliberalen Kreditauflagen des IWF und der Weltbank. Obwohl diese Fremdbestimmung nicht einzig über die Lebensmittelproduktion vorangetrieben wird, sind es sicher die Freihandelsabkommen, die in naher Zukunft unsere demokratischen Mittel und Rechte am gravierendsten beschneiden werden.

Wenn wir das heutige Agrarsystem in der Schweiz unter die Lupe nehmen, wird schnell klar, es ist krank, es macht krank und das nicht nur uns, sondern den gesamten Planeten. Die Landwirtschaft in der Schweiz braucht viel Soja, Körnermais und Getreide, damit unsere Kühe genug zu fressen haben und immer genug und immer mehr Milch geben. Unsere Hühner und die vielen Schweine würden ohne diese Importe längst keine Futtergrundlage mehr haben. Wir sind abhärtgig und wir verbrauchen über den Import aus anderen Ländern erhebliche Ressourcen. Der Anbau dieser Agrarprodukte verlangt nach viel Dünger und Pflanzengiften. Er fördert Monokulturen und verschlechtert die Lebensgrundlage der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in diesen Regionen erheblich.


Umdenken statt Wachstum um jeden Preis

Das alles ist uns, aber auch den Regierungen und den Bundesämtern längst bekannt. Aber die Wachstumsstrategie und der Freihandel, die Macht der Finanzbranche und der Grosskonzerne stehen einem Umdenken diametral entgegen. Auch die Biobranche in der Schweiz macht keine Anstalten zu radikalen Einschnitten oder Verhaltensänderungen. Vieles wird im Biolandbau angedacht, aber nicht konsequent weiter verfolgt. Denn auch Bio muss wachsen. Nun sollen Bio-Futtermittel, wie etwa Soja, nicht mehr aus Süd- und Nordamerika oder China importiert werden, sondern aus der Donauregion. Es wurde eine Donau-Allianz gebildet, die in den osteuropäischen Ländern den Soja-Anbau fördern und "ernten" will. Auch das FIBL (Forschungsinstitut für biologischen Landbau) ist Mitglied dieser mächtigen Donau-Soja-Allianz. Rumänien ist in den Fokus dieser Allianz geraten, denn es hat besonders geeignete Böden. Aber was passiert in einer Region, in der plötzlich enorm viel mehr Kulturland für den Export von Soja genutzt werden soll? Eco Ruralis, eine KleinbäuerInnenorganisation aus Rumänien und Mitglied von La Via Campesina beschreibt es so: "Die bäuerliche Landwirtschaft ernährt einen grossen Teil der Bevölkerung. Soja wurde nie von Bauern und Bäuerinnen angebaut, und es wurde auch nicht als Futtermittel eingesetzt. Das Land wird nun noch stärker der Spekulation und dem Landgrabbing von grossen Konzernen ausgesetzt. Wir brauchen kein weiteres industrielles Projekt, denn die Zielsetzungen haben nichts mit den Bedürfnissen der rumänischen Bäuerinnen und Bauern zu tun!"


Exportierte Umweltprobleme

Und so ändern wir nur die Parameter und lösen damit keines der Probleme. Und die Probleme sind sichtbar, messbar, berechenbar. Studien gibt es zur Genüge. Auch in Paris wird am Klimagipfel um Parameter gefeilscht, es geht um viel Geld und Privilegien. Und genau die Bevölkerungen, die bereits unter den Auswirkungen des Freihandels leiden, sind auch vom Klimawandel am stärksten betroffen. La Via Campesina schlägt deshalb vor, das Weltklima mit einer bäuerlichen Landwirtschaft abzukühlen, basierend auf dem Konzept der Ernährungssouveränität. Das mag sich kühn anhören, aber wir wissen,. dass das heutige industrielle Agrarsystem einzig die Konzerne reicher macht und gleichzeitig der ländlichen Bevölkerung die Lebensgrundlage entzieht. Wie gesagt, das Wissen ist vorhanden. Auf der Internetseite des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) können wir lesen: "Der globale Stickstoffkreislauf ist überlastet. Mit dem Import von Kraftfutter führt die Schweiz nicht nur Stickstoff ein, sondern exportiert auch Umweltprobleme ins Ausland. Schweizer Kühe sind Einkaufstouristen. Ein beachtlicher Teil von dem, was sie im Stall an Kraftfutter wie Körnermais, Gerste, Hirse, Acker- oder Sojabohnen fressen, stammt nicht von den heimischen Äckern. (...) Die inländische Fleischproduktion - beziehungsweise der hohe Fleischkonsum der Schweizer Bevölkerung - beansprucht insgesamt eine Ackerfläche im Ausland, die derjenigen entspricht, die in der Schweiz Jahr für Jahr unter den Pflug genommen wird."

Beim Lösungsansatz wird das BAFU eher kleinlaut. Festgestellt wird, dass wir zu viel Kunstdünger verbrauchen und dieser in Afrikaeingesetzt werden sollte. Beat Achermann von der Abteilung Luftreinhaltung und Chemikalien beim BAFU fordert: "Der globale Kreislauf muss dringend optimiert werden." Uniterre und La Via Campesina glauben nicht an "chemikalische" Lösungen. Wir setzen auf eine ressourcenschonende Landwirtschaft, eine Kreislaufwirtschaft auf den Betrieben und auf agroökologische Anbauformen.


Debatte in die Bevölkerung tragen

Uniterre hat im September 2014 in Zusammenarbeit mit La Via Campesina die Initiative für Ernährungssouveränität lanciert. Uns muss klar werden, dass die heutigen Lebensmittelpreise beim Grossverteiler kein Spiegelbild der effektiven Kosten sind. Am Schluss zahlt die Allgemeinheit die Kosten für ein nicht nachhaltiges Landwirtschaftssystem. Uniterre hat uns allen mit der Initiative für Ernährungssouveränität einen Vorschlag gemacht. Wir können das heutige Wirtschaftssystem nicht aus den Angeln heben, aber wir können die Debatte über Alternativen in die Bevölkerung tragen. Wir fordern Regulierungsmöglichkeiten an den Grenzen, Markttransparenz, und wir stellen den Freihandel mit Agrargütern in Frage, wir wollen eine Förderung der regionalen Strukturen anstatt Steuergeschenke an die grossen Konzerne.

Die Initiative für Ernährungssouveränität ist kein Allerweltheilmittel, aber sie ist das Versprechen, dass die Themen auf das politische Parkett kommen. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir als einzelne Individuen viel zum "anders Wirtschaften" beitragen können, aber wir sehen auch die Regierung in der Verantwortung. Das Konzept der Ernährungssouveränität setzt sich für ein anderes Wirtschaften ein, futuristisch für die einen, unrealistisch für die anderen, aber es ist eine Chance für eine breite gesamtschweizerische Debatte über fundamentale Änderungen unseres Wirtschaftssystems.


Aktuell sind knapp 90.000 Unterschriften beisammen. Mit eurer aktiven Hilfe können wir es schaffen und die Initiative im März 2016 erfolgreich einreichen.
Weitere Informationen unter:
www.ernaehrungssouveraenitaet.ch oder
www.uniterre.ch

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 45/46 - 71. Jahrgang - 18. Dezember 2015, S. 12
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2016

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