vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 43/44 vom 4. Dezember 2015
"Die Heuchelei überwinden"
Interview mit Professor Heiner Bielefeldt von Andreas Boueke
Die Behindertenrechtskonvention der UNO wurde bisher von 147 Staaten ratifiziert. Heiner Bielefeldt, Professor für Menschenrechtspolitik an der Universität Nürnberg-Erlangen, war sechs Jahre lang als Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte zuständig für das Monitoring der Konvention. Anlässlich des "Internationalen Tags der Menschen mit Behinderung" vom 3. Dezember publizieren wir ein Interview mit Professor Heiner Bielefeldt.
vorwärts: Die Behindertenrechtskonvention spricht
Menschen mit Beeinträchtigungen ein Recht auf Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben zu. Ist das nicht eine
Selbstverständlichkeit?
Professor Bielefeldt: Historisch betrachtet ist es eine grosse Errungenschaft. Zum Beispiel gab es in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg sehr aggressive Debatten über - ich zitiere - "nutzlose Esser". Die Helden waren im Krieg gefallen, überlebt haben also angeblich diejenigen, die nicht in der Lage waren, das Vaterland zu verteidigen. Menschen mit Behinderungen galten als Belastung für die Volkswirtschaft. So eine Sicht ist natürlich fürchterlich. Nach dem 1. Weltkrieg gab es Diskussionen, die Programme der Euthanasie und Rassenhygiene befördert haben, und zwar keineswegs nur im extremen rechten Spektrum der Gesellschaft. Heute verbinden wir diese Begriffe so sehr mit der Nazi-Zeit, dass wir vergessen haben, dass solche Formen massivster Ausgrenzung nicht nur von Extremisten propagiert wurden.
vorwärts: Seitdem hat sich das gesellschaftliche
Bewusstsein deutlich verändert. Wie ist es soweit gekommen, dass die
Staaten weltweit die Forderungen des Übereinkommens über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen akzeptiert haben?
Professor Bielefeldt: Die zivilgesellschaftlichen Organisationen haben für die Behindertenrechtskonvention gekämpft, auch gegen den Widerstand vieler Staaten. Es gab häufig Reaktionen so nach dem Motto: "Oh je, schon wieder eine Konvention. Schon wieder Bürokratie. Das Ganze kostet ja." Es kostet nicht nur Geld, es kostet auch Zeit, es kostet Aufmerksamkeit. Es geht auch um Konflikte, um Veränderung von Gesellschaft. Darauf reagieren viele Menschen genervt und verunsichert. Etablierte Strukturen werden aufgemischt, denn Gerechtigkeit für Behinderte ist ein verdammt politisches Thema. Es geht nicht einfach nur um ein bisschen Goodwill.
vorwärts: Welche neuen Möglichkeiten hat die
Behindertenrechtskonvention geschaffen, um die Situation zu
verbessern?
Professor Bielefeldt: Es geht um Verteilung. Es geht um Mitwirkung, auch um Macht. Diese Menschen wollen nicht mehr Bittsteller sein. Sie können protestieren, sie können schrill protestieren, laut protestieren. Sie können der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Und dabei können sie sich jetzt auf internationale Standards berufen, denen die eigene Regierung zugestimmt hat. Sie können auf die Differenz von Anspruch und Wirklichkeit hinweisen, auf die Heuchelei, mit der manche Staaten auftreten. Sie können ein Glaubwürdigkeitsdilemma schaffen.
vorwärts: Sie hatten sechs Jahre lang die Aufgabe, aus
verschiedenen Ländern über die Umsetzung der
Behindertenrechtskonvention Bericht zu erstatten. Welche Erfahrungen
haben sie dabei gemacht?
Professor Bielefeldt: Wenn ich in grösseren Städten war, etwa in diesen asiatischen Mega-Citys, dann habe ich mich oft gefragt: "Wie kann ein Rollstuhlfahrer jemals über diese Strasse kommen, die wie eine Autobahn die Stadt durchschneidet?" Doch in der Praxis kommen viele Menschen dort sowieso nie auf die Strasse. Sie werden daheim in der Küche versorgt, zugleich aber auch versteckt. Wenn sich die Angehörigen schämen, dass es einen Menschen mit Behinderung in der Familie gibt, dann ist das eine Situation der vollkommenen Trostlosigkeit. Wenn es gar keine Beziehungen gibt, wenn Menschen völlig vereinsamt sind, weggesperrt werden, dann ist die Situation hoffnungslos.
vorwärts: In Entwicklungsländern erhalten lediglich zwei
bis vier Prozent der Betroffenen eine angemessene medizinische
Versorgung. 90 Prozent der Rehabilitationsmassnahmen werden in den
reichen Industrienationen erbracht.
Professor Bielefeldt: Es darf nicht sein, dass Menschen einfach ignoriert werden. Auch Fragen von Hungerbekämpfung und von Gewaltbekämpfung müssen so angegangen werden, dass alle Menschen dabei sind. Die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen darf nicht erst am Ende der Agenda stehen.
vorwärts: Wie kann die Situation verbessert werden?
Professor Bielefeldt: Wenn sich Menschen regelmässig auf Augenhöhe begegnen, dann werden Vorurteile überwunden. Das heisst nicht, dass alles plötzlich ganz einfach wird, aber diese Vorstellung, dass diese Menschen irgendwie völlig andere Wesen sind, die lässt sich einfach nicht aufrecht erhalten. Im Alltag haben Menschen mit Behinderungen so viele ähnliche Probleme, so viele ähnliche Sorgen, sie machen so ähnliche Witze, dass in der Begegnung ein Stück weit Normalität entsteht.
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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44 - 71. Jahrgang - 4. Dezember 2015, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2015
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