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VORWÄRTS/1118: Bürgerliche begraben den Rechtsstaat


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 25/26 vom 3. Juli 2015

Bürgerliche begraben den Rechtsstaat

Von Siro Torresan


Ohne in der Öffentlichkeit für grosses Aufsehen zu sorgen, hat der Nationalrat weitere Geschenke in Millionenhöhe für die Grosskonzerne beschlossen. Ein Geschäft, das selbst der Bundesrätin Widmer-Schlumpf entschieden zu weit geht - und das muss was heissen. Es zeigt sich einmal mehr, dass Demokratie und Rechtsstaat im Interesse der Mächtigen biegsam sind. So fehlt es der radikalen Linken wahrlich nicht an Herausforderungen.


"Ich stelle heute fest, dass rechtsstaatliche Prinzipien in diesem Rat nicht mehr die gleiche Bedeutung haben, wie das vor wenigen Jahren noch der Fall war. Ich bedauere das sehr. Wir sind darauf angewiesen, dass wir uns an unsere rechtsstaatlichen Prinzipien halten, und dies nicht nur fallweise." Das sind die Worte von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf an der Sitzung des Nationalrats vom 16. Juni! Sie fügt hinzu: "Ich halte mich einfach an unsere rechtsstaatlichen Prinzipien und würde mich sehr freuen, wenn man sich auch in diesem Rat immer wieder daran erinnerte, dass es die eben auch gibt." Ja, da staunt man Bauklötze beim Lesen: Eine Bundesrätin, die den gewählten VolksvertreterInnen im Parlament in Erinnerung rufen muss, dass wir in einem Rechtsstaat leben. Es grenzt ans Unglaubliche.


Ein Geschenk von 600 Millionen

Worum geht es? Durch die parlamentarische Initiative mit dem harmlos klingenden Titel "Klarstellung der langjährigen Praxis beim Meldeverfahren bei der Verrechnungssteuer" von BDP-Nationalrat Urs Gasche soll den Grosskonzernen ein Geschenk von rund 600 Millionen gemacht werden. Das Meldeverfahren bei der Verrechnungssteuer ist eine Erleichterung für die Konzerne. Sie müssen die Verrechnungssteuer auf ausgeschüttete Dividenden nicht entrichten und dann wieder zurückfordern, sondern können die Pflicht mit einer Meldung erfüllen. "Dies ist ein Entgegenkommen, eine eigentliche Rechtswohltat, hält Widmer-Schlumpf fest. Voraussetzung dafür ist, dass der steuerbare Ertrag innert 30 Tagen seit Entstehung der Steuerforderung deklariert und das entsprechende amtliche Formular eingereicht wird. Wird diese Frist verpasst, so wird die Verrechnungssteuer im ordentlichen Verfahren erhoben. Sie ist dann auch nachträglich zu deklarieren und zu bezahlen. In der Regel wird dann ein Verzugszins von fünf Prozent fällig. Die "Spielregeln" sind simpel und wurden vom Bundesgericht im Januar 2011 bestätigt. Vor allem hielt das oberste Gericht der Eidgenossenschaft klar fest, dass es sich bei der Deklarationsfrist von 30 Tagen um eine "Verwirkungsfrist" und nicht um eine "Ordnungsfrist" handelt. Konkret: Man muss (und nicht "man sollte wenn möglich" das Formular innert 30 Tagen einreichen, um vom Meldeverfahren profitieren zu können. Ein Gerichtsbeschluss, der den Grosskonzernen nicht passt, und so haben sie einen ihrer vielen Strohmänner im Parlament beauftragt, dies zu ändern. So verlangt die parlamentarische Initiative von Urs Gasche, dass die 30 Tage in eine Ordnungsfrist umgewandelt werden. Weiter soll der Verzugszins ganz entfallen und stattdessen eine Ordnungsbusse von 5000 Franken eingeführt werden, falls die Frist verpasst wird. Ein lächerlicher Betrag angesichts der Milliarden und Millionen, um die es geht: Nach dem Urteil wurden rund 200 Fälle nachträglich für das Verfahren gemeldet. Bei sechs Fällen geht es um eine Verrechnungssteuerforderung von 1,95 Milliarden Franken mit einem Verzugszins von 170 Millionen Franken. Dies ganz einfach darum, weil die Konzerne oder ihre TreuhänderInnen die Frist schlicht verpennt haben. So sagt die Baselbieter SP-Nationalrätin und Vizepräsidentin der "Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats" (WAK-NR) Susanne Leutenegger Oberholzer in ihrer Intervention: "Gut denkbar, dass Treuhänder oder sonstige Beauftragte, die die fristgerechte Meldung unterlassen haben, Schadenersatzforderungen befürchten und deswegen vielleicht die Initiative auch mitinitiiert oder inspiriert haben." Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist dies sogar der Fall. Die LobbyistInnen im Parlament lassen grüssen.


Einfach nur krass

Der Gipfel der Frechheit des Vorschlags der bürgerlichen Mehrheit der WAK-NR ist jedoch, dass die neuen Bestimmungen rückwirkend (!) ab dem 1. Januar 2011 gelten sollen. Leutenegger Oberholzer dazu: "Das ist etwas vom Krassesten, das ich je von der bürgerlichen Mehrheit erlebt habe." Die SP-Frau an die Bürgerlichen: "Ausgerechnet jene, die immer gegen rückwirkende Bestimmungen wettern, die zu Recht monieren, die Rechtssicherheit sei damit nicht gewährleistet, die sagen, wir würden Rechtsungleichheit schaffen, sehen hier eine rückwirkende Anwendung vor." Selbst für Bundesrätin Widmer-Schlumpf, die nun wirklich keine linken Positionen vertritt, geht das schlicht zu weit: "Wenn Sie eine solche Rückwirkung beschliessen und einführen, würde das heissen, dass Sie eine grosse Ungleichbehandlung kreieren würden." Konkret zwischen den Steuer- oder Meldepflichtigen, die vor dem 1. Januar 2011 rechtskräftig veranlagt und deren Verfahren abgeschlossen wurden und allen anderen, die noch offene Verfahren haben. Die Bundesrätin: "Das heisst also, dass es dann auch in diesem Bereich Unternehmen gäbe, die profitieren, und andere Unternehmen, die nicht profitieren würden." Aber, warum sollen überhaupt die Massnahmen rückwirkend angewendet werden? Die Antwort ist einfach: Sie führen zu Einnahmeausfällen in der Höhe von 600 Millionen Franken und diese Ausfälle sind nichts anderes als das Geschenk an die Grosskonzerne im Lande. Vor der Abstimmung flehte Widmer-Schlumpf den Nationalrat richtiggehend an: "Gehen Sie bitte nicht zu solchen Regelungen über, die absolut ungerecht sind, auch gegenüber den KMU, die ihre Verrechnungssteuer innert Frist korrekt deklarieren und entrichten müssen!" Die Mehrheit im Nationalrat liess sich jedoch nicht beirren und stimmte der Vorlage mit 126 Ja, 60 Nein bei 2 Enthaltungen zu. Nun muss sich der Ständerat damit befassen. Angesichts der dortigen Mehrheitsverhältnisse ist heute schon klar, dass die Vorlage diese Hürde ziemlich locker nehmen wird.


Sitzgewinne nützen wenig bis nichts

Diese parlamentarische Initiative von BDP-Mann Gasche reiht sich nahtlos ein in all die Forderungen, die ausschliesslich im Interesse der Konzerne und KapitalbesitzerInnen liegen. Der vorläufige Höhepunkt bildet dabei die Unternehmenssteuerreform III, die in Bälde im National- und Ständerat diskutiert und wohl durchgewinkt werden wird. Dieses Geschenk beträgt zwei Milliarden Franken pro Jahr. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die Mitglieder der aktuellen eidgenössischen Bundesversammlung auf insgesamt 2045 Verwaltungsratsmandate kommen. Sämtliche Grosskonzerne sind somit direkt im Parlament vertreten. Und ihre Männer und Frauen machen da offensichtlich einen guten Job. Die einzelnen Vorstösse und Gesetzesrevisionen im Parlament sind daher nicht einzeln zu betrachten. Sie hängen zusammen und folgen einer klaren Logik mit dem Ziel, den neoliberalen gesellschaftlichen Umbruch kräftig voranzutreiben. Im Parlament oder durch Referenden wird man dieses Vorhaben weder stoppen noch bremsen können und auf den "demokratischen Rechtsstaat" ist auch wenig Verlass. Eventuelle Sitzgewinne der parlamentarischen Linken an den kommenden Wahlen werden auch nicht viel nützen, da sich die realen Machtverhältnisse im Parlament und vor allem in der Gesellschaft nicht verändern werden. Nötig wäre ein breiter Widerstand von unten. Eine gesellschaftliche und politische Bewegung, welche die Zusammenhänge analysiert und Alternativen entwickeln kann - an Herausforderungen fehlt es der radikalen Linken wahrlich nicht.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 25/26 - 71. Jahrgang - 3. Juli 2015, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
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Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2015

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