Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/1032: Wenn die Moral vorm Fressen kommt


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.25/26 vom 4. Juli 2014

Wenn die Moral vorm Fressen kommt

Von Salvatore Pittà



Hunger und Armut nehmen zu, obwohl weltweit mehr Lebensmittel produziert werden als je zuvor. Was läuft falsch, und was wird dagegen getan? Die sozialistische Zeitschrift Widerspruch widmet ihre 64. Ausgabe mit dem Titel "Ernährung - Agrobusiness oder Agrikultur" diesem Thema.


Ich bin ja kein Ernährungsexperte, aber als Konsument befasse ich mich täglich mit Ernährung. Auf dem Land aufgewachsen, als Älpler, landwirtschaftlicher Mitarbeiter, in den vielen verlassenen Gärten, die ich zeitlebens bearbeitet habe, und als leidenschaftlicher Kräutersammler interessieren mich Fragen der landwirtschaftlichen Produktion zudem seit jeher. Als politischer Journalist schliesslich, der die gesellschaftlichen Brüche in der Schweiz seit Jahrzehnten begleitet, war ich dabei, als eine neue Bewegung gegen die Liberalisierungspolitik der WTO entstand, die Forderungen der Landlosenbewegung in die Schweiz und nach Davos brachte und sich Café Rebeldìa schlürfend anschickte, die internationale Solidarität zu konkretisieren.

Was ist geblieben vom damaligen Aufbruch? Wie können wir ein "gutes Leben für alle" möglich machen? Ich blättere mal durch das Inhaltsverzeichnis und schaue mir die AutorInnen-Portraits am Heftende an. Nein, eine definitive Anleitung findet sich in der im Frühling publizierten Nummer des Widerspruch nicht. Das würde auch der sich stetig verändernden Realität in ihrer Komplexität nicht gerecht. Der Einstieg gelingt mir mit dem Aufsatz "Lebewesen sind ineffizient" ebenfalls nicht. Der Beitrag kommt wie die Bibel daher: Behauptungen, deren Quellen nur dürftig ausgewiesen sind, wenig Praxisbezug, für mich kaum ein Erkenntnisgewinn. Aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich meine, wenn Kühe ineffizient wären, hätte Ford keine Autos gebaut, sondern Laktose-Fabriken.

Nach einigen Tagen finde ich den Einstieg doch, und zwar mit dem Uniterre-Beitrag ab Seite 33, der Ernährung zuerst in einen ökonomischen Kontext stellt, um die Entwicklungen der schweizerischen Agrarpolitik der letzten zwanzig Jahre zu analysieren und schliesslich Alternativen dazu aufzuzeigen. "Landwirtschaft und Ernährungssouveränität sind zu zentralen gesellschaftlichen Fragen der Demokratie geworden", folgern die beiden AutorInnen - und damit "zu einem Anliegen aller".


Von der Region - für die Region?

Schade, dass das Wort Ernährungssouveränität, das durch das ganze Heft hindurchgeistert, erst siebzig Seiten später umrissen wird. Elisabeth Bürgi Bonanomi, Völkerrechtsexpertin der Universität Bern, geht dem Begriff in ihrem Beitrag nach und kritisiert den heutigen, auf Regionalität reduzierten Diskurs scharf. Den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Bäuerinnen und Bauern in verschiedenen Ländern gehen verschiedene, über das ganze Heft gestreute Beiträge nach. Gewerkschafter Philippe Sauvin und Genderexpertin Annemarie Sancar widmen sich den Arbeitskräften in der schweizerischen Landwirtschaft und der Betreuung in bäuerlichen Haushalten. Der Berliner Politikwissenschaftler Uwe Hoering geht gegen Ende des Thementeils den Entwicklungen in Indien nach.

Wir erfahren, dass die drei grössten Agrarkonzerne der Welt - Syngenta, Monsanto und DuPont Pioneer - über die Hälfte des weltweiten kommerziellen Saatgutmarktes kontrollieren. Die zehn grössten Firmen teilen sich zudem neunzig Prozent des Pestizid-Marktes. Das war nicht immer so, und die Erklärung, wie es dazu kam, entwickeln drei Beiträge am Beispiel Syngenta. Die Agrarwissenschaftlerin von Pro Specie Rara, Eva Gelinsky, eröffnet die Syngenta-Trilogie und geht den Entwicklungen nach, die den Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft genährt haben. In ihrem Beitrag schliesst Tina Goethe, Soziologin bei "Brot für Alle", daran an und erklärt, wie "aus einem afrikanischen Kleinbauern ein Syngenta-Kunde" wird: Um sich das patentierte Saatgut leisten zu können, müssten die Bäuerinnen und Bauern über genügend Einkommen verfügen. Die Investitionen dazu nennen Marketingabteilungen heute Hilfe zur Selbsthilfe.

Die beiden Gewerkschafter Roland Herzog und Hans Schäppi zeichnen in ihrem Beitrag den Werdegang des Basler Chemiemultis nach und analysieren dessen heutige Marktmacht. Es folgt ein Artikel von Markus Henn, Referent von Weed Berlin, der die mikro-ökonomischen Folgen massiver Finanzspekulation in den Rohstoffmärkten beleuchtet. Seine Analyse: Als eine Reaktion auf die Krise von 2007 wurden unter dem Stichwort der Diversifizierung gewaltige Geldmengen in Termingeschäfte in Rohstoffmärkten investiert, worauf die Nahrungsmittelpreise explodierten. Dies führte dazu, dass es "genau in den Hochpreisphasen in vielen Staaten zu Unruhen und Aufständen kam". Ein Verbot von Indexfonds tut not oder zumindest die Einführung von Limits.


Systemrelevanz ohne revolutionäre Perspektive?

Als ich den Artikel "Urbane Gärten - ein Schritt zur Ernährungssouveränität?" lese, flippe ich fast aus: Was sollen schon ein paar in der ganzen "essbaren Stadt" verstreute Samen und "Gemüse statt Blumen" in öffentlichen Parks unter diesen Umständen bewirken? Schon eher spricht mich das Konzept der Vertragslandwirtschaft an, das drei ortoloco-AktivistInnen im Beitrag "Loconomie" vorstellen. Dennoch beschleicht mich zunehmend ein mulmiges Gefühl, das ich schon aus der Lektüre früherer Widerspruch-Ausgaben kenne. Das Thema erschlägt einen in dieser geballten Ladung böser Nachrichten, vernichtender Analysen und teils widersprüchlicher Kritikansätze.

Dieses Gefühl konkretisiert Stefan Rist am Schluss des Thementeils, in dem er klarstellt, es gehe "heute nicht mehr um,die Frage, ob (...) Utopien möglich sind, sondern um die Frage, wie wir die existierenden Alternativen so stärken, dass sie zu systemrelevanten Alternativen heranwachsen können". Er benennt richtigerweise auch ein gemeinsames Aktionsfeld: "die Rückeroberung der demokratischen Mitgestaltung der politischen Rahmenbedingungen des Ernährungssystems", gepaart mit der "Demokratisierung der Organisationsstrukturen von heute privaten Firmen und Konzernen, welche Nahrungsmittel produzieren, verarbeiten, verteilen und verkaufen".

Genau darin liegt mein Problem, wofür freilich weder Rist noch die Widerspruch-Redaktion etwas können. Wir sind aufgebrochen, um Utopien möglich zu machen, und finden uns wieder in einer Vielfalt von Reformprojekten, die wir erst mühsam miteinander verbinden müssen. Die revolutionäre Perspektive wird dabei nicht einmal mehr in Erwägung gezogen. Poetisch ausgedrückt: Der Samen, den die Globalisierungsbewegung rund um die Jahrtausendwende gesät hat, droht im Beton zu ersticken. Es genügt dabei eben nicht, dem Keimling Wasser, Stick- und Kohlenstoff zuzuführen, auch wenn dies in einem ausgeklügelten Konzept geschieht. Es braucht auch den Spitzhammer, um ihm Freiräume zu verschaffen. Es liegt an uns, das Feld selbstbestimmt zu bewirtschaften. Dank diesem Heft stehen die Werkzeuge dazu bereit.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 25/26 - 70. Jahrgang - 4. Juli 2014, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2014