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VORWÄRTS/1007: Viel zu tun und wenig Zeit


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 11/12 vom 28. März 2014

Viel zu tun und wenig Zeit

von Maurizio Coppola



Die gegenwärtige Krise des kapitalistischen Gesellschaftssystems hat die Diskussion um Möglichkeiten des Kommunismus neu entfacht. Martin Birkner trägt in seinem kürzlich im Mandelbaum-Verlag erschienen Buch "Lob des Kommunismus 2.0" zur Diskussion bei, verabschiedet sich aber von der Vorstellung, er könne sich über Parteien noch in positivem Bezug auf den Staat realisieren.


Der Suffix "2.0" ist mittlerweile zu einem notwendigen Anhängsel geworden, um sich von den begangenen Fehlern der historischen Linken abzugrenzen: "Der Bruch mit den zentralen Elementen des historischen 'Kommunismus 1.x', vor allem die Konfiguration rund um die Institutionen Staat und Partei sowie die Verankerung in einer auf der gemeinsamen Produktion und Konsumtion des Kommunen - also jenseits des Eigentumsprinzips -, ist der materielle Hintergrund der Bezeichnung '2.0'" (S. 25). Diese Perspektive beinhaltet somit einerseits eine historische Kritik des "realen Sozialismus, andererseits die Orientierung an der Zukunft. Sie knüpft aber auch an eine Tradition an, die schon Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre mit den Irrwegen der traditionellen kommunistischen Parteien (KP) durch eine neue Lektüre der marx'schen Kritik des Kapitalverhältnisses brach. Die operaistische Tradition schärfte ihren Blick für all jene gesellschaftlichen Beziehungen, die sich nicht dem Akkumulationsimperativ des Kapitals fügten. Nicht die Entwicklung der Produktivkräfte, sondern die Klassenkämpfe galten als Motor gesellschaftlicher Veränderung.


Die Weltrevolution von 1968
Es war dann die radikale Protestbewegung Ende der 1960er Jahre, welche die vorherrschende kapitalistische Form (Fordismus genannt) in die Krise führte. "Nicht ausschliesslich 'mehr vom Gleichen' (d.h. Lohn, Waren, Urlaub) wie die traditionelle ArbeiterInnenbewegung forderte, sondern vor allem der Widerstand gegen die gesellschaftlichen Formen der fordistischen Vergesellschaftung (insbesondere der Arbeit) führten schliesslich zum Anfang vom Ende des fordistischen Regimes" (S. 39). Die radikale Kritik der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die auf globaler Ebene gleichzeitig stattfanden, mündeten jedoch nicht in eine globale revolutionäre Bewegung, die den damaligen Zustand aufhob. Vielmehr vermochte es der Kapitalismus, die radikale Kritik zu absorbieren und eine ganze Generation "zufrieden zu stellen". Und so läuteten die 1970er Jahren eine Transformationsperiode ein - den Postfordismus - in der wir uns laut Birkner heute noch befinden. Diese Transformation hat aber die Widersprüche des Kapitalismus akzentuiert: "Was als Schreckensszenario eines allmächtigen 'biopolitischen' Kapitalismus erscheint - und für (fast) alle Beteiligten eines ist -, trägt in sich als Kehrseite die tödlichste Bedrohung für den Kapitalismus selbst: Das gesellschaftlich gespeicherte Wissen, die ständig zunehmenden Fähigkeiten, ohne Anleitung 'von oben' das gesellschaftliche Leben und die dafür notwendigen Güter und Dienstleistungen zu produzieren - kurzum, den Kommunismus zu realisieren. Das ist der Stand der Produktivkraft der menschlichen Arbeit heute" (S. 43)

Schon postkapitalistisch?

Es seien Elemente wie der erreichte "Vergesellschaftungsgrad der Arbeit", die "Revolutionierung der Kommunikationsmedien", die "Durchsetzung immaterieller und affektiver Bestandteile der Arbeit" in der Dienstleistungsgesellschaft und der "gesellschaftliche Arbeiter", welche die postfordistische Regulierung des Kapitalismus prägen. Diese Perspektive von Birkner auf die Entwicklungen der kapitalistischen Vergesellschaftung stösst aber an wichtige empirische Grenzen: Auch wenn die Bedeutung von dienstleistungsbezogener Arbeit für die Kapitalverwertung gewachsen ist, weist sie klassische Formen der kapitalistischen Ausbeutung auf. Weltweit gehört ein grosser Teil der im Dienstleistungssektor generierten Stellen zu niedrigqualifizierten Bereichen, die einen repetitiven Charakter der Tätigkeit aufweisen. Auch widersprechen Bilder aus den pakistanischen, nigerianischen und ukrainischen Produktionsstätten, wie wir sie beispielsweise aus dem Film "Working Man's Death" kennen, der schwindenden Bedeutung des fordistischen "Massenarbeiters. Um die tatsächlichen Entwicklungen des Produktions- und Verwertungsprozesses des Kapitals zu verstehen, benötigen wir also weiterhin einen geographisch und zeitlich differenzierten empirischen Zugang. Die schlichte Wiederholung theoretischer Sätze ändert die soziale Realität nicht.


Jenseits bürgerlicher Formen

Martin Birkner schafft es jedoch stets, eine radikale Kritik der bürgerlichen Vergesellschaftungsformen mit undogmatischen Reflexionen zu verbinden - und dies auf eine sehr erfrischende Art und Weise, die dem Credo der Stringenz der Theorie und der Flexibilität der Praxis folgt. So kritisiert er beispielsweise auf der einen Seite die Begrenzung des Emanzipationsbegriffs auf Anerkennung und Umverteilung (es geht nicht darum, die Marginalisierten zu bürgerlichen Subjekten zu machen), auf der anderen Seite plädiert er für eine "produktive Gesprächs- und Streitkultur" mit partei- und gewerkschaftspolitischen Organisationen, denn: "Solange die Form des Gesetzes eine wesentliche Form der Bestimmung von Spielregeln einer Gesellschaft ist, wäre es vermessen, auf die Einflussnahme auf staatliche Institutionen durch den Druck von sozialer Bewegung 'aus Reinheitsgründen' zu verzichten" (S. 61).

Auch kritisiert er eine "Politisierung des Alltäglichen" und den Rückzug auf den unmittelbaren sozialen Mikrokosmos, die strategische Aspekte radikaler gesellschaftsverändernden Handels vernachlässigt. "Der Blick über den Tellerrand der eigenen Szene oder Subkultur ist oft mit einer kategorischen Abwehrhaltung gegenüber der schlechten Welt 'da draussen' verbunden. Damit ist aber einer elitären Sichtweise sozialer Veränderung Tür und Tor geöffnet, denn durch den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Handgemenge wird staatlichen und anderen autoritären politischen Formen und Institutionen das Feld politischer Gestaltung überantwortet" (S. 68). Diese Perspektive appelliert direkt an unser Dasein als KommunistInnen. Es gehe weder darum, den Raum des Alltäglichen noch jenen der Politik zu privilegieren, "sondern in beiden jene Massstäbe einer kommunistischen, d.h. befreiten Gesellschaft anzulegen, die der Ethik der politischen Zielsetzung adäquat sind" (S. 93). Soll es nicht bei den schönen Reden über den Kommunismus bleiben, ist es unumgänglich, sich von bürgerlicher Karriere, Kleinfamilie, Eigenheim und Auto zu verabschieden. "Es gibt also viel zu tun und wenig Zeit zu verlieren - für das Einfache, das schwer zu machen ist" (S. 105).


Lesen und Sehen

Birkner, Martin (2014). Lob des Kommunismus 2.0.
Wien: Mandelbaum Verlag, Reihe kritik & utopie.

Working Man's Death (2005). Dokumentarfilm von Michael Glawogger über extremste Arbeitsbedingungen in Indonesien, Nigeria, Pakistan, China und in der Ukraine.

Michel Husson (2003). Sommes-nous entrés dans le "capitalisme cognitif"?. In: Critique communiste, n° 169-170.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 11/12/2014 - 70. Jahrgang - 28. März 2014, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2014