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VORWÄRTS/974: Die Sache mit der Revolution


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.41/42 vom 22. November 2013

Die Sache mit der Revolution

Von Thomas Schwendener



In der letzten Ausgabe des vorwärts hat der Redaktor David Hunziker unter dem Titel "Die Sache mit der Mehrheit" einen Artikel verfasst, in dem er einige richtige Fragen stellt. Leider beantwortet er diese teilweise falsch. Dieser Text ist eine kurze Antwort auf seine Überlegungen und zugleich der zaghafte Versuch einer Ehrrettung des revolutionären Anspruchs in Zeiten seiner gesellschaftlichen Liquidation.


In Davids Artikel finden sich einige richtige Überlegungen: Etwa wenn er den oft relativ unreflektierten Aktivismus der linken Szene problematisiert oder wenn er erklärt, dass die Probleme der Revolution nicht durch mediale Manipulation zustande kommen, sondern in der kapitalistischen Struktur und ihren Erscheinungen selbst zu suchen sind. Dennoch lassen sich vor allem zwei Stränge von Missverständnissen in seinem Text finden: einerseits eine falsche Interpretation der marxschen Kritik, andererseits eine verkehrte Vorstellung der Bedingungen einer revolutionären Bewegung.


Zur Ehrrettung der marxschen Kritik

David mokiert sich darüber, dass sich marxsche KritikerInnen gegenüber der Mehrheit im Recht fühlten, weil sie glauben würden, "dass irgendeine Form des Marxismus die Wahrheit sei". Oft würden "Marx' Schriften dabei behandelt, als würden sie einen privilegierten Zugang zum Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglichen (...)". Das ist keine inhaltliche Kritik an der Kritik der Politischen Ökonomie von Marx, sondern ein Geschmacksurteil über den vermeintlichen Wahrheitsdünkel marxscher DenkerInnen. Es wird mit keinem Wort auf den Inhalt eingegangen. Natürlich muss man die eigene Theorie immer wieder einer kritischen Prüfung unterziehen, aber es dürfte nicht von der Hand zu weisen sein, dass die ökonomischen Prognosen von Marx - in Bezug auf die proletarische Revolution hat er sich leider ziemlich geirrt - gegenüber den handelsüblichen ökonomischen Theorien richtig geblieben sind und mit der aktuellen Krise nochmals bestätigt wurden. Marx war tatsächlich der erste, der hinter den Erscheinungsformen der kapitalistIschen Gesellschaft die strukturierenden und bestimmenden Momente entdeckte und so die Entwicklungsgesetze des Kapitals erst nachvollziehbar machte. Und ja, darin hat die Theorie der bürgerlichen Ideologie tatsächlich einiges voraus. Nicht als ewig gültiges Dogma, sondern als ein Instrument zum Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungen, das längst nicht so monolithisch ist, wie das David mit dem grossen Begriff der "Wahrheit" suggeriert oder wie es die schlechteren unter den marxistischen DenkerInnen für sich beanspruchen.


Kritik der politischen Ökonomie und Revolution

Dass die marxschen DenkerInnen aufgrund ihrer Analyse das richtige Heilmittel wüssten, wie David behauptet, ist auch nur halb richtig. Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen der Kritik der politischen Ökonomie und der Theorie der proletarischen Revolution. Es ist bisher aber leider keinem Kommunisten gelungen, den notwendigen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und ihren Folgen und der proletarischen Revolution offenzulegen.

Bei Marx selber finden sich diesbezüglich problematische aber von ihm selbst relativierte Aussagen. In der Linken kursieren dagegen Verelendungstheorien, die nicht nur den Zusammenhang schematisch und falsch fassen, sondern auch vor dem Faschismus schlicht hätten kapitulieren müssen. Bei David schimmert so etwas leider auch durch, wenn er schreibt, dass in den reichen Ländern die "Institutionen auch den Proletarisierten offenbar immer noch genug [bieten], um sie nicht auf eine grundlegend andere Gesellschaft hoffen zu lassen". Der Zusammenhang ist weit komplexer: Es gab auf Verelendungstendenzen immer wieder Aufstände und die aktuelle Krise beweist, dass sich die Proletarisierten mancherorts nicht alles gefallen lassen. Aber die Verschlechterung der Lebensbedingungen war oftmals auch ein fruchtbarer Boden für reaktionäre Mobilisierungen. Ausserdem kann etwa die Revolte nach 1968 mit dieser "Theorie" nicht erklärt werden. Die marxsche Theorie ist ein taugliches Instrument zur Analyse gesellschaftlicher Bewegungen, aber ihre Dogmatisierung hat immer wieder auch astreine Ideologie produziert.


Die falsche Oberfläche

Wenn David schreibt, dass die Revolution in den reichen Ländern deshalb zur Zeit suspendiert sei, weil diese den Proletarisierten noch genügend bieten würden und die Revolution als kommunistische Bewegung noch nicht im Ansatz bestehe, dann trifft er gleich zwei Fehlannahmen. Die Integration der Arbeiterklasse in den Metropolen beruht zwar tatsächlich auch darauf, dass man ihr über einen längeren Zeitraum - der aber in den 80er Jahren und erst recht nach 2008 an verschiedenen Orten aufgekündigt wurde - die Produktivkraftzuwächse in Form von Lohnerhöhungen und Sozialleistungen zuteil werden liess. In der Erscheinungsweise des Kapitalismus liegt aber ein weiterer Grund für die Möglichkeit der Integration der Proletarisierten. Der Kapitalismus erscheint auf seiner Oberfläche als gerechte Gesellschaft des Tausches: Man verkauft seine Arbeitskraft und kriegt dafür einen mehr oder weniger fairen Lohn. Die Aneignung der Arbeit und ihre Ausbeutung durch das Kapital verschwinden hinter der Lohnform und finden ihren ideologischen Niederschlag in den Köpfen und Lehrbüchern dieser Gesellschaft. Da gibt es dann drei gleichberechtigte Produktions- und Einkommensquellen. So erscheint es, als wenn KapitalistInnen, GrundbesitzerInnen und ArbeiterInnen gemeinsam den gesellschaftlichen Reichtum produzieren und ihn entsprechend ihren Revenuequellen verteilen. Darin liegt die systematische Grundlage für die Eingemeindung der Arbeiterklasse in die nationale Produktionsgemeinschaft.


Problem der Revolution

Wesentlich ist aber auch, dass die Proletarisierten in Zeiten der gesellschaftlichen Abwesenheit einer kommunistischen Perspektive an Kapital und Staat gefesselt sind. Sie können sich überhaupt nur darüber reproduzieren, einerseits indem sie ihre Arbeitskraft für einen Lohn verkaufen, andererseits indem der Staat ihnen die Sozialleistungen garantiert und den Wirtschaftsstandort vertritt. Das ist die Krux der proletarischen Revolution: Erst wenn eine fundamentale Veränderung dieser Gesellschaft und eine neue Art und Weise des Zusammenlebens reell eine Perspektive darstellt, werden sich die Proletarisierten massenhaft dafür einsetzen. Gleichzeitig wird eine solche Perspektive erst greifbar, wenn sie massenhaft praktiziert wird. Diese Dialektik (Entschuldigung!) von reeller Perspektive und der massenhaften kommunistischen Praxis kann sich nur in den Kämpfen entfalten.

Darum ist es falsch zu behaupten, wir seien vom "Kommunismus weiter weg als jemals zuvor seit Marx' Zeiten". Die Kämpfe, die in den letzten Jahren ausgebrochen sind, mögen keine strammen kommunistischen Programme vertreten haben, aber sie waren erste Anzeichen, dass die Proletarisierten sich nicht alles gefallen lassen. Alle Kämpfe hatten ihre Beschränkungen und konnten in der Regel ihre Forderungen nicht durchsetzen, weil das Kapital die Spielräume nicht mehr hatte, aber sie haben doch ein Potential, das über sie hinausweisen kann.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42 - 69. Jahrgang - 22. November 2013, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2013