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VORWÄRTS/972: Die Sache mit der Mehrheit


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.39/40 vom 8. November 2013

Die Sache mit der Mehrheit

Von David Hunziger



Die kapitalistische Gesellschaftsordnung scheitert daran, für die Menschheit zentrale Probleme zu lösen, davon sind wir überzeugt. Die Lösung wäre natürlich eine Revolution. Wer aber glaubt, damit schon viel gesagt zu haben, produziert bloss Ideologie.


Den Schweizer Buchpreis, für den sein vielgelobtes erstes Werk nominiert war, hat der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher zwar nicht gewonnen, ein ordentliches Mass an Aufmerksamkeit war ihm dadurch aber sicher. Auch ein Essay, den er Ende Juli für den "Tages-Anzeiger" geschrieben hatte, erregte dadurch einige Aufmerksamkeit. Darin geht es um Migration, demokratische Entscheide und darum, dass sich die Mehrheit in einer Demokratie oft irrt. Auch wenn die radikale Linke sich nicht so sehr mit dem Thema der Demokratie herumschlägt, formuliert Lüscher eine Haltung, die in ihren Reihen weit verbreitet ist.


Zwei Arten von SchweizerInnen

Lüscher wohnt in München. Wenn er sich im Ausland befinde, treffe er oft auf Leute, denen er sich als Schweizer erklären müsse. Minarettverbot, Ausschaffungsinitiative, Verschärfungen des Asylrechts - seine Gesprächspartner kommen da oft nicht mehr mit. Es gebe in der Schweiz halt zwei Sorten von Leuten, sagt Lüscher dann: Die "aufgeklärten", "weltoffenen", "zuversichtlichen", "kosmopolitischen", "vielsprachigen", "mobilen", "weit gereisten, die an "Neuem", "Fremdem" und der "Welt" interessiert seien. Dann gebe es aber auch jene mit den "diffusen Ängsten, die bereit sind, ihren Ressentiments ein einst mühsam errungenes Gut wie die Religionsfreiheit zu opfern, den Grundsatz, dass jeder vor dem Recht gleich sei, aufzugeben, sich für die Sippenhaft für Ausländer aussprechen und das Völkerrecht als Vögterecht diffamieren." Zur ersten Gruppe gehörten auch jene, "die es in Ordnung finden, wenn eines der reichsten Länder eine der strengsten Asylgesetzgebungen hat."

Lüscher gehört natürlich zur ersten Gruppe und die tst in der Minderheft. Die zweite Gruppe nennt er "unanständig".

Auch wenn sie diese dämliche Wortwahl - als ob Politik mit Anstand etwas zu tun hätte - vermeiden würde, hat die radikale Linke mit Lüschers kosmopolitischen SchweizerInnen doch oft gemeinsam, dass sie sich gegenüber der Mehrheit im Recht fühlt. Dieses Recht verdanken ihre Mitglieder der Erkenntnis, dass irgendeine Form von Marxismus die Wahrheit sei. Oft werden Marx' Schriften dabei behandelt, als würden sie einen privilegierten Zugang zum Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglichen, der den "Mainstream-Ökonomen" verwehrt bleiben muss. Kein Wunder also, sind diese so verwirrt. Den MarxistInnen dagegen ist jederzeit völlig klar, was zu tun ist: nämlich eine Revolution durchzuführen.


Viel verlangt

Auch Lüscher wüsste genau, was zu tun wäre: einfach nein stimmen. Auch wenn das nicht so einfach ist - die Gründe dafür, dass Menschen so stimmen wie sie stimmen, sind wohl tiefer zu suchen als bei einem einfachen Missverständnis, und Lüscher ist sich dessen bewusst - so stellt sein Apell doch vergleichsweise tiefe Anforderungen an die Menschen. Anders die Forderung nach einer RevolutionX Diese verlangt nichts weniger als dem völligen Umsturz aller bestehenden Institutionen. Es geht nicht um Kreuze auf einem Fetzen Papier, sondern darum, die Geschichte aus ihrer derzeitigen Bahn zu werfen.

Wenn man als MarxistIn davon ausgeht, dass nicht alle gesellschaftlichen Erscheinungen das sind, was sie zu sein vorgehen, ist es nicht ketzerisch zu behaupten, dass eine solche Bewegung - eine, die sich der bestehenden Gesellschaft auf der allgemeinsten Ebene widersetzt, eine proletarische also - in Westeuropa nicht einmal im Ansatz existiert. Dass eine andauernde weltweite Krise dem Marxismus neuen Auftrieb gibt, ändert nichts daran, dass die Menschheit den Punkt gerade erst überschritten hat, an dem sie vom Kommunismus weiter weg war als jemals zuvor seit Marx' Zeiten.

Der Begriff der "Spaltung" suggeriert dabei oft, dass nur eine niedrige Hürde des Bewusstseins zu überwinden wäre, um diejenigen zu vereinen, die den Kampf gegen den Kapitalismus gewinnen könnten; um also die Bedingungen für eine Revolution zu schaffen. Doch die Mehrheit der Menschen ist für den Kapitalismus, und das liegt nicht nur daran, dass eine ideologische Obrigkeit ihnen ständig einflösst, die kapitalistische sei die beste aller Welten. Was ihr Leben ausmacht, bewegt sich im Rahmen kapitalistischer Institutionen. In den reichen Ländern bieten diese Institutionen auch den Proletarisierten offenbar immer noch genug, um sie nicht auf eine grundlegend andere Gesellschaft hoffen zu lassen.


Auf zur Revolution!

Die Revolutionärin steht also nahezu alleine da. Doch was macht den Revolutionär zu einem solchen, wenn nicht eine revolutionäre Bewegung? Aus marxistischer Sich hat es nichts mit Radikalität zu tun, irgendeine gesellschaftliche Praxis einfach so als revolutionär zu bezeichnen. Es ist im Gegenteil eine Verharmlosung der Verhältnisse, wie wir sie in diesem verdammten reichen Land vorfinden. Es wird damit suggeriert, dass es geradezu einfach, wäre zu wissen, was zu tun ist. Das Gegenteil ist der Fall und eine marxistische Position muss dies einsehen, wenn sie den Anspruch hat, die tatsächliche gesellschaftliche Bewegung zu beschreiben. Fehlt dieser aber die Durchschlagskraft, ist eine blinde Praxis im Sinne von "besser irgendetwas als nichts" nur wieder Ideologie. Sie vermittelt einem gegen die Tatsachen das beruhigende Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen und seinen Teil zur Weltrevolution beizutragen. Doch in Wahrheit ist alles viel schlimmer: Die Revolution ist beunruhigend.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40 - 69. Jahrgang - 8. November 2013, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2013