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VORWÄRTS/960: Tessin befreit Frauen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 35/36 vom 11. Oktober 2013

Tessin befreit Frauen

Von Michi Stegmaier



Die Sonnenstube der Schweiz hat mit 65,4 Prozent das sogenannte Burka-Verbot angenommen. Frauen soll es zukünftig per Gesetz verboten sein, eine Burka oder den Niqab auf der Strasse zu tragen.


Wenn mit Religionen Politik gemacht wird, sind meistens tiefe Sorgenfalten angezeigt. Zwar werden im schönen Tessin noch weniger Burkas gesichtet als in der Schweiz Minarette existieren, trotzdem bezeugten die aufrechten TessinerInnen ihren tiefen Unwillen gegenüber der Unterdrückung der Frau. Okay, nicht der unserigen, aber zumindest derjenigen der anderen. Sowieso sind die Frauenrechte in der Schweiz eine sehr junge Errungenschaft, so hielten der Minirock und der Bikini lange vor dem Wahlrecht für Frauen Einzug im beschaulichen Alpenland. Zur Erinnerung für alle jüngeren LeserInnen: Die Schweiz hat erst im Jahre 1971 überhaupt das Stimmrecht für Frauen an der Urne angenommen, die Türkei schon 1919. Und die Frauenrechte mussten über ein Jahrhundert hinweg von den Frauen hart erkämpft werden. Heute sind es die gleichen nationalkonservativen Kräfte, die nach dem Burka-Verbot schreien, die damals erbittert gegen die Einfühiung des Frauenstimmrechts ankämpften.


Viel Freizügigkeit, sinkender "Tittenfaktor"

Sind Schweizer Frauen heute gleichberechtigt und die Männerherrschaft im letzten Jahrtausend zurück geblieben? Wohl kaum. Im Gegenteil, zumindest was die Kleiderwahl betrifft, sind die Frauen heute wohl um einiges unfreier als noch vor vierzig Jahren. Je körperbetonter die Kleidung, desto besser für die Männerblicke. Und wehe eine kommt auf die Idee, ihre Achselhaare nicht zu rasieren! Das musste schon manch populäre Moderatorin merken, die das achteinhalbstündige Schönmachen vor dem Auftritt verhängte. Da versteht die Volksseele überhaupt keinen Spass. Achselhaare! Pfui Teufel, hängt die Schlampe!

Zwar leben wir in einer immer durchsexualisierteren Welt, die sich gerne als liberal und freizügig darstellt, tatsächlich sinkt der "Tittenfaktor" und was es so im Sommer für angehende Voyeure zu sehen gibt, von Jahr zu Jahr. Ich mag mich noch an Zeiten erinnern, wo es selbst in Wohnblöcken mit vielen migrantischen Arbeiterinnen Normalität war, sich oben ohne in der Sonne zu recken. Heute wohl kaum vorstellbar.

Da kommt doch die Burka-Debatte wie gerufen. Sie ist die ideale Projektionsfläche für allerlei rassistische Ressentiments und die Bestätigung für die eigene zivilisatorische Überlegenheit gegenüber allem anderen. Sie ist Zeigefinger und Disziplinierung zugleich, auch für die westliche Frau. Seht her wie gut ihr es habt! Wir diskutieren zwar über die Kleiderordnung der anderen, führen uns als BefreierInnen der muslimischen Frau auf, gleichzeitig verschärft sich die Intoleranz gegenüber Lebensentwürfen, die nicht in den Mainstream passen und gegen alles, das irgendwie nicht einer gewissen Schönheitsnorm entsprechen will. Oder kann. Nach wie vor ein Tabuthema.


Schweizer Tourismus spricht Machtwort

Zwar ist ein gesamtschweizerisches Burka-Verbot wohl vorerst vom Tisch. Die Schweizer Wirtschaft hat ein Machtwort gesprochen und via Blick und der Handelszeitung Herrn und Frau Schweizer wissen lassen, wie viel Schweizer Fränklis die RetterInnen des Tourismus - diese "Superislamistas" aus Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien - so während ihren Luxusferien verbraten. Stolze 2815 Franken, pro Tag, versteht sich. Spätestens wenn es ums eigene Portemonnaie geht, ist der Schweizer doch lieber kein Wutbürger. Nur um eins müssen wir uns nicht sorgen: Die muslimische Frau wird sich auch ohne uns befreien und emanzipieren.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36 - 69. Jahrgang - 11. Oktober 2013, S. 3
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2013