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VORWÄRTS/923: Gebremste Wut - Klassenkämpfe im deutschen Krisenland


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.15/16 vom 26. April 2013

Gebremste Wut: Klassenkämpfe im deutschen Krisenland

Von Christian Frings



Im globalen Kontext betrachtet scheint Deutschland eine Oase des sozialen Friedens in einem welthistorisch einmaligen Sturm der sozialen Kämpfe zu sein. Die Kämpfe des globalen Proletariats von Tunesien und Ägypten über Südafrika, Bangladesch und China bis nach Lateinamerika verdichten sich und fordern das kapitalistische Entwicklungsmodell der letzten dreissig Jahre ernsthaft heraus. Währenddessen bescheinigen Regierung und UnternehmerInnen in Deutschland den DGB-Gewerkschaften seit 2009 immer wieder, welch stabilisierende Rolle sie bei der "Überwindung" der Krise gespielt haben.


Umgekehrt fragen sich linke TheoretikerInnen, wie diese "Krise ohne Widerstand" zu erklären sei und meinen in den Besonderheiten eines "deutschen" Klassenbewusstseins fündig zu werden. Dabei wird leicht übersehen, dass es seit dem Durchschlagen der 2007 einsetzenden Finanzkrise auf die industrielle Produktion im Herbst 2008 eine ganze Reihe von Konflikten und Protesten gab, die sich zu einer breiteren Bewegung hätten ausweiten können - wenn sie nicht auf vielfältige Weise zurückgehalten und ausgegrenzt worden wären. Nach einer kurzen Skizze dieser Kampfansätze will ich versuchen, die strukturellen Ursachen für das bisherige Ausbleiben offener Kämpfe zu benennen, die sich bei genauerem Hinsehen als ein auch für das Kapital höchst problematisches Bündel von Widersprüchen erweisen.


Neue Tendenzen im Klassenkampf vor der Krise

In der Entwicklung der ArbeiterInnenkämpfe in Deutschland markierte 2004 ein Wendejahr, das zudem weitreichende ökonomische Folgen für die gesamte europäische Ökonomie haben sollte. Die rotgrüne Regierung unter Schröder ging daran, einschneidende Arbeitsmarktreformen umzusetzen, die später mit dem Namen "Hartz" versehen wurden und nicht nur die Absenkung von Lohnersatzleistungen, sondern auch die weitere Liberalisierung von Leiharbeit und prekärer Beschäftigung beinhalteten. Das Kapital sah darin den Startschuss, den ArbeiterInnen immer weitergehende Zugeständnisse wie kostenlose Mehrarbeit abzupressen, während die Gewerkschaften auf Widerstand verzichteten und ihre korporatistische Politik der Sozialpartnerschaft fortsetzten, die sie in der Krise 2002/2003 durch Tariföffnungsklauseln und den ergebnislos abgebrochenen Streik in der ostdeutschen Metallindustrie so deutlich praktiziert hatten. Dieser "Komplettausfall" gewerkschaftlicher Vermittlung der sozialen Angriffe führte aber dazu, dass sich in diesem Jahr eine für deutsche Verhältnisse bemerkenswerte Reihe von selbständigen Kämpfen entwickelte: Im Sommer bei Daimler in Stuttgart, ab Ende Juli die "Montagsdemonstrationen" gegen die Hartz-Reformen und schliesslich im Oktober der sechstägige wilde Streik bei Opel in Bochum - ein selbständiger Kampf in einer grossen Autofabrik, wie es ihn das letzte Mal 1973 bei Ford in Köln gegeben hatte. Diese Kämpfe hinterliessen in den folgenden Jahren Spuren im Klassenverhalten. In einigen betrieblichen Kämpfen wie bei Gate Gourmet am Düsseldorfer Flughafen, bei AEG in Nürnberg oder bei Bosch-Siemens in Berlin zeigte sich eine neue Dimension von selbständigem ArbeiterInnenverhalten, die auf den schleichenden Legitimationsverlust der gewerkschaftlichen Repräsentation hinwies. Die bis dato mit einem Monopolanspruch der Interessenvertretung ausgestatteten DGB-Gewerkschaften gerieten in dieser Zeit noch von einer anderen Seite unter Druck: Kleine "Spartengewerkschaften" einzelner Berufsgruppen demonstrierten, dass sich durch einen effektiven Einsatz der durchaus noch vorhandenen Macht im Produktionsprozess die gegebenen Verteilungsspielräume nutzen liessen. Politisch beachtet wurden vor allem die (wenigen) Streiks der LokführerInnen im Sommer und Herbst 2007, da sie selbst aus den Reihen des DGBs Solidarität und Unterstützung erfuhren und dessen Stillhaltepolitik in Frage stellten.


Spaltung des Arbeitsmarkts und Weltmarktkonkurrenz

Aber 2004 war auch der Beginn einer ökonomischen Sonderentwicklung Deutschlands im europäischen Rahmen, deren Bedeutung erst mit der Krise 2008/2009 zu Tage trat. Ab 2004 blieb der Anstieg der Lohnstückkosten in Deutschland drastisch hinter den übrigen Ländern zurück und verschaffte der hiesigen Industrie einen enormen Wettbewerbsvorteil. Dieses Auseinanderdriften, das für die ökonomische Misere gerade der südeuropäischen Länder mitverantwortlich ist und das WirtschaftswissenschaftlerInnen schon seit langem kritisierten, wird aktuell zunehmend zu einem Politikum, wenn ranghohe PolitikerInnen aus Frankreich, Spanien und Luxemburg - von Griechenland und Zypern ganz zu schweigen - mehr oder weniger offen die durch Lohnzurückhaltung erwirtschaftete "imperialistische" Vormachtstellung Deutschlands anprangern. Grundlage dieses Konkurrenzvorteils ist die zunehmende Spaltung der ArbeiterInnenklasse in einen schrumpfenden Teil der Stammbelegschaften in den exportorientierten Industrien und einen allmählich aber stetig anwachsenden Teil prekär und zu Niedriglöhnen Beschäftigter, die aus allen gewerkschaftlich vermittelten und damit oft auch aus den arbeitsrechtlichen Regulierungen herausfallen.

In Deutschland war es nach dem heftigen, aber nur kurzen, Einbruch der Industrieproduktion im Winter 2008/2009 sehr schnell gelungen, durch Überstundenabbau, Kurzarbeit und "Abwrackprämie" den Eindruck von Normalität und Wirtschaftswachstum wiederherzustellen. Statistisch gesehen kam es tatsächlich zum Anwachsen der Beschäftigung, allerdings vorrangig in den prekären Segmenten des Arbeitsmarkts, was die Spaltung im Zuge der Krise noch vertiefte. Den Gewerkschaften erlaubte dies, für ihre Klientel der schrumpfenden Stammbelegschaften wieder deutlichere Lohnzuwächse durchzusetzen, was ihnen vom Kapital auch zugestanden wurde, solange sie sich nicht in die weitere Ausweitung des Niedriglohnsektors einmischen würden. Genau darin liegt aber heute das Konfliktpotential.


Gefesselter Widerstand in der Krise

Die vor der Krise eingeleitete Prekarisierung war selbst ein wesentlicher Faktor, um die Krisenfolgen konfliktfrei zu verarbeiten - denn dieser Formwandel machte sie unsichtbar. Von September 2008 bis April 2009 wurden statistisch gesehen 235.000 LeiharbeiterInnen entlassen, was real knapp eine halbe Million bedeuten dürfte. Und für die Kompensation des zeitweilig zurückgehenden Arbeitsvolumens war der Stundenabbau auf Arbeitszeitkonten, die als Form der Zeitprekarisierung betrachtet werden können, noch wichtiger als die Kurzarbeit. Gegen diese, durch die Prekarisierung verschleierten, Angriffe gab es einige isolierte Widerstandsversuche, wie die Proteste der von VW entlassenen LeiharbeiterInnen in Hannover, die aber so wie viele andere kleine Kampfinitiativen von den Gewerkschaften gezielt marginalisiert und ausgeblendet wurden. Typisch für eine ganze Vielzahl kleiner Kämpfe gegen die Krisenfolgen war es, dass sie von Minderheiten oder von durch die rassistische Segregation der Arbeitsmärkte benachteiligten Gruppen ausgingen, die von den Gewerkschaften zugunsten ihres neuerlichen Einbezugs in das Krisenmanagement der Regierung geopfert wurden. Selbst gewerkschaftsnahe Soziologen wie Klaus Dörre aus Jena, die vor der Krise grosse Hoffnungen auf eine Revitalisierung der Gewerkschafen durch "Organizing" gesetzt hatten, stellten resigniert fest, dass der "Krisenkorporatismus" in den Jahren nach 2008 eine neue Blüte erlebte.


Bruchpunkte der deutschen Stabilität

Mit dem Fortdauern der Scheinstabilität sind aber zwei offene Flanken dieses "Krisenkorporatismus" deutlich geworden, die auch die Regierenden und das Unternehmenslager beunruhigen. Zum einen verlieren die DGB-Gewerkschaften gerade aufgrund ihrer korporatistischen Politik zunehmend die für ihre stabilisierende Funktion unverzichtbare Monopolstellung in der Repräsentation "des ArbeiterInneninteresses" und müssen gegenlenken. Ein typisches Beispiel dafür sind die Streiks des Sicherheitspersonals an den Flughäfen Hamburg, Düsseldorf und Köln/Bonn im Januar und Februar dieses Jahres. Aussergewöhnlich an ihnen war, dass hier zum ersten Mal eine DGB-Gewerkschaft durch Arbeitsniederlegungen eines kleinen und schlecht bezahlten Teils der Flughafenbeschäftigten diese geheiligten Drehkreuze des internationalen Transports ernsthaft blockierte und damit zeigte, dass Niedriglöhne kein unabwendbares Schicksal sind. Getrieben wurden sie aber durch die Konkurrenz von "Spartengewerkschaften" am Flughafen wie der Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) und der Flugbegleitergewerkschaft (UFO), die 2012 mit Streiks demonstriert hatten, über welche Produktionsmacht die MassenarbeiterInnen des modernen Transportwesens verfügen. Auch die Herrschenden befinden sich hier in einem Dilemma. Einerseits entspricht die, mittlerweile auch rechtlich sanktionierte, Aufhebung der zwangsweisen Tarifeinheit ganz den neoliberalen Vorstellungen der freien Konkurrenz. Aber die Hoffnung, damit die Kampfstärke der Beschäftigten zu schwächen, verkehrt sich ins Gegenteil, wenn nun diese Liberalisierung zu einer Vervielfältigung der Kämpfe und "Balkanisierung" der Tariflandschaft führt. Der politische Ruf nach einer rechtlichen Rückkehr zur repressiven Tarifeinheit steht im Raum.

Der zweite Bruchpunkt ist die offene Frage, wie weit die das imperiale Streben Deutschlands stützende Polarisierung der Klassenverhältnisse getrieben werden kann, bevor es zu Explosionen wie in den französischen Banlieus 2005 oder auf den Strassen Londons 2011 kommen wird. Die Sorge um Kämpfe, die sich nicht mehr gewerkschaftlich vermittelt pazifieren lassen, steht hinter dem Einlenken aller grossen Parteien auf die Forderung nach staatlich verordneten Mindestlöhnen oder einer gewissen Reregulierung der Leiharbeit. Diese Besorgnis lässt sich auch an der zu Jahresanfang im deutschen Blätterwald breit diskutierten Frage ablesen, ob die Mittelschicht in Deutschland noch stabil ist oder schrumpft, was sich dann in das parteipolitische Tauziehen um den Armutsbericht der Bundesregierung verlängerte. An der medialen Aufdeckung der Arbeitsbedingungen beim Online-Versandhaus Amazon im Februar, die an und für sich und für jede hierzulande prekär Beschäftigte wenig Überraschendes bot, waren vor allem die besorgten politischen Reaktionen interessant. Die Bourgeoisie verfügt zwar über kein soziales Gewissen, sehr wohl aber über ein gesundes Gespür dafür, wann ihr der ganze Laden um die Ohren fliegen könnte.


Christian Frings, Köln, schrieb ausführlicher über die Entwicklung der Kämpfe im Buch "Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung. Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien", hrsg. von Anna Leder, Verlag Promedia, Wien, 2011.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16 - 69. Jahrgang - 26. April 2013, S. 15
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2013