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VORWÄRTS/919: Marx' Traum


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.13/14 vom 12. April 2013

Marx' Traum

Von Peter Streckeisen



Marx wollte die wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus mit dem Kampf für den Kommunismus verbinden. Wenn wir dieses Ziel aufgreifen, müssen wir (selbst)kritisch über das Verhältnis der Intellektuellen zur Arbeiterklasse nachdenken.


Im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten "Kapital"-Bandes schrieb Marx diese eigenartigen Sätze: "Das Verständnis, welches Das Kapital rasch in weiten Kreisen der deutschen Arbeiterklasse fand, ist der beste Lohn meiner Arbeit. Ein Mann, ökonomisch auf dem Bourgeoisstandpunkt, Herr Mayer, Wiener Fabrikant, tat in einer während des deutsch-französischen Kriegs veröffentlichten Broschüre treffend dar, dass der grosse theoretische Sinn, der als deutsches Erbgut galt, den sog. gebildeten Klassen Deutschlands durchaus abhanden gekommen ist, dagegen in seiner Arbeiterklasse neu auflebt."

Marx wollte sein Kapital für die ArbeiterIn schreiben. Er war aber kein Arbeiter, jedenfalls kein "produktiver Arbeiter" im marxistischen Sinne des Begriffs: Sohn eines Anwalts, studierte er Philosophie und heiratete die gebildete Tochter eines Regierungsrats im preussischen Staatsdienst. In beruflicher Hinsicht war er politisch, wissenschaftlich und journalistisch tätig, das heisst als Intellektueller. Finanziell standen Karl und Jenny oft schlecht da und waren auf Unterstützung des Unternehmersohns Friedrich Engels angewiesen, aber eine Hausangestellte hatten sie natürlich doch. Auf der anderen Seite können wir sicher sein, dass nur sehr wenige deutsche ArbeiterInnen "Das Kapital" gelesen haben - damals wie heute.


Ein beglückendes Gefühl

In den Zeilen von Marx spiegelt sich eine doppelte Klassen-Illusion: Der kritische Intellektuelle sieht sich gerne als Arbeiter - zumindest als Teil der Arbeiterklasse - und/oder stellt sich die ArbeiterInnen wie Intellektuelle vor, die seine Texte lesen. Max Horkheimer hat im Aufsatz über "Traditionelle und Kritische Theorie" sehr gut die magische Kraft benannt, die eine solche Illusion ausübt: Wer sich als VertreterIn oder AnführerIn der Arbeiterklasse denkt, die ja gemäss marxistischer Theorie "an sich die Kraft zur Veränderung darstellt", spürt ein "beglückendes Gefühl, mit einer ungeheuren Macht verbunden zu sein". Die Versuchung, sich dieser Illusion hinzugeben und dieses Gefühl zu erleben - und sei es nur in kurzen Momenten, auf die ein politischer Kater folgt - zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Marxismus. Aber es gibt verschiedene Varianten. Zum Beispiel haben die Anführer des russischen Bolschewismus ihre Aufgabe in der Erziehung und Disziplinierung der Arbeiterklasse gesehen ("top down"), wogegen kritische Erneuerer des Marxismus wie Georg Lukacs oder Antonio Gramsci glaubten, die marxistische Philosophie entstehe aus der Klassenlage oder dem "gesunden Menschenverstand" des Proletariats ("bottom-up").


Trotzki im Führerstand

In seiner "Geschichte der russischen Revolution" (Vorwort, Band 1) schreibt Trotzki diese eindrücklichen Sätze: "Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf." Das passt zur Analyse von Horkheimer: Das Proletariat wird als "ungeheure Macht" betrachtet, die den Druck erzeugt, mit dem der Kapitalismus weggefegt wird - sofern eine revolutionäre Avantgarde den Prozess richtig steuert. Wenn wir uns Trotzki im Führerstand einer riesigen Dampflokomotive vorstellen, welche die russische Gesellschaft aus dem Zarismus ins Reich des Sozialismus fährt, können wir das "beglückende", wenn nicht berauschende Gefühl erahnen, das ihn während der Revolution erfasst haben muss. Wir wissen aber auch, dass auf den Rausch ein Kater folgte, der 1940 bei Trotzkis Ermordung durch Stalins Agenten noch nicht zu Ende war.


Der organische Intellektuelle

Im Gegensatz zu Lenin oder Trotzki glaubte Georg Lukacs ("Geschichte und Klassenbewusstsein"), dass den ArbeiterInnen das richtige Klassenbewusstsein nicht von oben eingeflösst werden müsse. Für ihn war die proletarische Klassenlage der einzige Punkt, von dem aus die Gesellschaft als Ganze gesehen und verstanden werden kann. Auch Antonio Gramsci suchte in den "Gefängnisheften" nach einer Erneuerung des Marxismus, die das Alltagsbewusstsein der ArbeiterIn zum Ausgangspunkt seiner "Philosophie der Praxis" macht. Er bleibt hin und her gerissen zwischen der Aussage, alle Menschen seien PhilosophInnen, da ihre Alltagssprache immer eine besondere Lebensweisheit zum Ausdruck bringe, und dem Ziel, die Arbeiterklasse von der "primitiven Philosophie" zur "höheren Lebensauffassung" hinzuführen. In Gramscis Theorie ist die Figur des "organischen Intellektuellen" zentral: Er stellt sich Intellektuelle vor, die aus der Klasse, die sie politisch vertreten, hervorgehen und sich weder kulturell noch politisch von dieser entfernen, auch wenn sie zugleich die Aufgabe haben, die ArbeiterInnen - Gramsci nennt sie "die Einfachen" - zu erziehen. Mir ist Gramscis organischer Intellektueller sympathischer als Trotzkis Avantgarde. Aber beide Theorien haben blinde Flecken, die das Verhältnis der Intellektuellen zur Arbeiterklasse betreffen. Wenn wir zurückschauen, müssen wir uns eingestehen, dass der Marxismus wesentlich eine Bewegung von Intellektuellen war, die nicht nur im Namen der Arbeiterklasse sprachen, sondern auch politische Macht über und gegen ArbeiterInnen ausübten (Kronstadt ist nur ein erschütterndes Beispiel).


Klasseninteressen

Ob wir die Intellektuellen zur Arbeiterklasse zählen (weil sie meistens Lohnabhängige sind) oder nicht, ist eine rein theoretische Frage der Klassen-Definition. Entscheidend ist die politische Frage nach den besonderen Klasseninteressen der Intellektuellen. Denn das Selbstverständnis wie die gesellschaftliche Stellung der Intellektuellen beruhen - selbst wenn sie unter prekären Bedingungen leben wie Marx damals und viele von uns heute - nicht zuletzt darauf, dass die kapitalistische Gesellschaft ihnen die Aufgabe zuweist, Angehörige subalterner Klassen zu bilden, informieren, erziehen oder "coachen". Wenn wir nicht (selbst)kritisch darüber nachdenken, wie wir mit diesem Problem umgehen, droht Marx' Traum immer wieder zum Albtraum zu werden. Wie die Geschichte zeigt, lässt sich das Problem nicht lösen, indem einfach die Vorzeichen ausgewechselt werden: sozialistische statt kapitalistische Erziehung, diese Formel greift zu kurz. Hingegen weist Marx' Gedanke, die Befreiung könne nur das Werk der Unterdrückten selbst sein, wohl in die richtige Richtung.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 13/14 - 69. Jahrgang - 12. April 2013, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2013