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VORWÄRTS/883: "SchülerInnenstreik gegen Sparwut"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 47/48 vom 21. Dezember 2012

"SchülerInnenstreik gegen Sparwut"

von Maurizio Coppola



Auf Facebook wurde für den 10. Dezember 2012 zu einem "Kantonalen Lehrer- und Schülerstreik gegen die Sparwut in Luzern aufgerufen. Am folgenden Tag hat das kantonale Parlament ein Sparprogramm verabschiedet, welches eine Ausgabensenkung von 170 Mio. Franken innerhalb von zwei Jahren vorsieht.


Morgens um 9.00 Uhr in Luzern: Vom Bahnhofausgang ist auf der gegenüberliegenden Seite der Reuss ein immenser Menschenzug zu sehen, Musik und Slogans zu hören. Über 2000 SchülerInnen von den luzernischen Kantons- und Berufsschulen haben entschieden, vom Unterricht fernzubleiben, um gegen die angekündigten Sparmassnahmen zu protestieren. Angesichts des hierzulande ubiquitären "sozialen Friedens" ist dem Protest besondere Aufmerksamkeit zu schenken.


Die gesellschaftliche Bedeutung der Sparpolitik

Sparprogramme sind weder "natürliche" Phänomene, noch sind sie den "stillen Zwängen der wirtschaftlichen Entwicklung" untergeordnet oder "neutral", sondern gesellschaftspolitische Entscheidungen. Hinter den aktuellen Sparprogrammen im Kanton Luzern, die besonders die Schulen treffen, stehen mindestens drei Gründe: Erstens geht es um eine zunehmende soziale Selektion: Durch Neuregelungen beim Schulübergang werden die Möglichkeiten für Menschen der subalternen Klassen drastisch verringert, eine höhere Ausbildung zu absolvieren. Zweitens: Sparpolitik ist immer auch eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Die Neuregelung der Kostenbeteiligung wird massive Auswirkungen haben auf das Budget von Familien, besonders betroffen sind Wenigverdienende und AusländerInnen. Drittens werden schliesslich die Reproduktionskosten der Arbeitskraft verringert. Während in ganz Europa die Sparprogramme alle auf einmal durchgesetzt werden, schaffen es die PolitikerInnen in der Schweiz, eine "Salami-Taktik" anzuwenden, welche die Schmerzensgrenze langsam und in kleinen Schritten heruntersetzt.


Autonome Ausdrucksformen ...

Der Demonstrationszug zum kantonalen Parlament beeindruckte nicht nur aufgrund seiner Grösse, sondern auch wegen seinen autonomen Ausdrucksformen. Parteipolitische Etiketten waren während der ganzen Demo kaum zu sehen. Die einzelnen Schulen waren vielmehr daran zu erkennen, dass sie auf den Transparenten ihre schulspezifischen Reformen anprangerten. Ein gemeinsamer Moment aller SchülerInnen hingegen war vor dem Ratshaus zu erkennen, als sie an die PolitikerInnen appellierten und "ablehne" skandierten.


... aber noch keine autonome Bewegung

Die vordergründig erscheinende Unabhängigkeit von jeglichen politischen Etiketten darf aber nicht über die tatsächliche Involvierung von Parteien hinwegtäuschen. In erster Linie die JungsozialistInnen (Juso) und die Jungen Grünen haben bei den Vorbereitungen stark mitgewirkt. Ihre Beteiligung hatte jedoch nicht nur positive Effekte. Durch die Strukturierung und die Übernahme aller praktischen Fragen (Demogesuch, Leitung der Koordinationssitzung, Diskussion politischer Inhalte etc.) wurden die Freiräume, in denen die SchülerInnen eigenständige kollektive Momente erleben konnten, stark eingeschränkt. Die Haltung der Jungparteien kommt in einem am SchülerInnenstreik verteilten Flyer am besten zur Geltung. In "Stopp dem Sparwahn" raten die Jungen Grünen den Streikenden, "bei den nächsten Wahlen Parteien wie die Jungen Grünen oder andere linke PolitikerInnen" zu wählen. Damit kommt ein grundsätzliches Problem sozialer Bewegungen zum Ausdruck: Die Radikalisierung junger Menschen, das Erleben kollektiver politischer Prozesse, die Überwindung der Repräsentationslogik und die Durchsetzungskraft sozialer Bewegungen werden genau dann geschwächt, wenn der Kampf den politischen Parteien übergeben wird.


Ausweitung der Bewegung?

Die Sparprogramme treffen nicht nur den Bildungsbereich, auch die Beschäftigten des Gesundheitswesens werden mit Verschlechterungen der Arbeits- und Lohnbedingungen konfrontiert sein. Gerade Letztere haben in einigen welschen Kantonen wichtige Mobilisierungen gegen Sparprogramme angestossen.

Die nächsten Wochen werden für den SchülerInnenstreik wegweisend sein: Werden der Streik eine einmalige Sache bleiben und die Anliegen der SchülerInnen den parlamentarischen Institutionen überlassen, wird die Mobilisierung höchstwahrscheinlich abflauten. Wird der SchülerInnenstreik hingegen seine Anliegen durch weitere Mobilisierungen zum Ausdruck bringen und sich gar mit den Forderungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen verbinden, dann kann eine soziale Bewegung entstehen, die Vorbildcharakter annehmen kann für die "Mobilisierungen gegen die Sparwut" in anderen Kantonen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 47/48/2012 - 68. Jahrgang - 21. Dezember 2012, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2013