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VORWÄRTS/867: "Solidarisch handeln in einer unsolidarischen Welt"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.41/42 vom 9. November 2012

"Solidarisch handeln in einer unsolidarischen Welt"

Von Michi Stegmaier



Das Hilfswerk "medico international schweiz" feiert in Zürich am 17. November seinen 75. Geburtstag mit einem vielfältigen Angebot an Veranstaltungen. Anlässlich dieses runden Jubiläums führte der vorwärts mit dem langjährigen medico-Mitarbeiter Jochi Weil(*) ein Interview.


VORWÄRTS: Welche Philosophie steht hinter "medico" und wodurch unterscheidet ihr euch von anderen Hilfswerken?

JOCHI WEIL: Unsere Organisation trug während Jahrzehnten den Namen "Centrale Sanitaire Suisse" (CSS). Die CSS wurde am 9. Dezember 1937 während des Spanischen Bürgerkrieges in Zürich gegründet. Eines der damaligen Gründungsmitglieder - Dr. med. Hans von Fischer - schrieb 1946 unter anderem: "Humanitäre Arbeit muss aufs engste mit politisch fortschrittlichem Denken verbunden sein, denn der Sinn jedes Fortschritts kann nur der sein, das Leben möglichst vieler Menschen lebenswert zu machen." Von den meisten Hilfswerken unterscheiden wir uns durch eine antifaschistische, antiimperialistische und linke Geschichte, die für uns weiterhin Verpflichtung bedeutet, angepasst an heutige Situationen. Es geht uns dabei um gelebte Solidarität mit den "Verdammten dieser Erde", den Unterdrückten, Benachteiligten und um deren Rechte.

VORWÄRTS: Was sind die Schwerpunkte von "medico"?

JOCHI WEIL: Zentral ist das Recht auf Zugang zu Gesundheitsversorgung, was für viele Menschen keineswegs selbstverständlich ist. Wir unterstützen heute basis-medizinische Projekte in Vietnam, Palästina, El Salvador, Guatemala, Nicaragua, Kuba und Südmexiko, etwa in Bereichen der Aus- und Weiterbildung von Hebammen und GesundheitspflegerInnen.

VORWÄRTS: Welche Projekte von "medico" betreust du? Wie sieht deine Arbeit konkret aus und wie muss man sich dein Engagement vorstellen?

JOCHI WEIL: Seit 1982 bin ich verantwortlich für palästinensische Projekte, seit 1987 für solche in Palästina selbst. Wichtig dabei sind Aufbau und Pflege der Kontakte mit unseren Partnerorganisationen: Der "Palestinian Medical Relief Society" (PMRS) in Ramallah und Gaza, "Medical Relief Society" (MRS) in Ostjerusalem, dem "Gaza Community Mental Health Programme" (GCMHP) und den "Physicians for Human Rights" (PHR-Israel) in Jaffa bei Tel Aviv. Deren "medizinische Brücke" zwischen Israel und Palästina unterstützen wir seit anfangs der 90er-Jahre. Im Laufe der Zeit sind Freundschaften entstanden, was - angesichts der furchtbaren Besatzungspolitik Israels - für mich als Jude keineswegs selbstverständlich ist. Die Arbeit selbst ist vielseitig und seit einigen Jahren auch anspruchsvoller geworden: Projektanträge und Berichterstattung erfordern mehr Aufwand, anstrengende Arbeit sind die Gesuche um finanzielle Unterstützung. Zum Glück erhalten wir regelmässig Geld von unseren treuen SpenderInnen! Wesentlich sind für mich die jährlichen Besuche bei den PartnerInnen vor Ort. Da kann ich jeweils direkt erleben, dass unsere Unterstützungsbeiträge bei den Menschen ankommen, was befriedigend ist. Selbstverständlich sind da immer wieder Fragen, die es zu klären gilt. Ein bedeutsames Projekt ist die Ausbildung von Fachleuten des GCMHP und der PMRS-Gaza im Bereich des Psychodramas durch die Spezialistinnen Ursula Hauser und Maja Hess, welches 2003 begonnen hat.

VORWÄRTS: Wie reagieren die Menschen vor Ort auf "medico"? Was sind die Reaktionen? Gibt es etwa Widerstand aus der lokalen Bevölkerung, weil ein Projekt als zu progressiv empfunden wird und gibt es Länder, wo "medico" seitens der Regierung Steine in den Weg gelegt werden?

JOCHI WEIL: Was ich von meinen KollegInnen, den Projektverantwortlichen der sechs anderen Länder, höre, sind die Reaktionen der Menschen weitgehend positiv. Mir ist nicht bekannt, dass unsere Projekte als zu progressiv empfunden werden. Dies weil wir ja mit fortschrittlich gesinnten Organisationen zusammenarbeiten. Verschiedene Schwierigkeiten bei der Realisierung von Projekten ergaben sich in den letzten Jahren in Eritrea, wo sich die politische Situation zunehmend verschlechterte. Es ist uns und vor allem den beiden engagierten und kompetenten Projektverantwortlichen nicht leicht gefallen, die Unterstützungsarbeit dort abzuschliessen.

VORWÄRTS: Du bist ja schon sehr lange aktiv am Ball. Was sind deine politischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte? Was hat sich deiner Meinung nach in dieser Zeit verändert und inwieweit haben die aktuellen Rahmenbedingungen einen Einfluss auf die Arbeit von "medico"?

JOCHI WEIL: Ja, ich arbeite seit 1981 mit. In den 80er-Jahren bis anfangs der 90er spürte ich in vielen Ländern mehr oder weniger Aufbruchstimmung und Hoffnungen. Mit Beginn des dritten Jahrtausends hat sich Enttäuschung breit gemacht. Zu erwähnen sind hier die Verhältnisse in Guatemala, Eritrea, Südmexiko und vor allem in Palästina, wo keine Silberstreifen am Horizont zu sehen sind. Vietnam bedeutet für mich weiterhin Hoffnung, auch mit all den Schwierigkeiten dort. Die weltweite Krise und die Entsolidarisierung erschweren uns die Verbreiterung unseres Wirkens, auch medial, wodurch die Möglichkeiten zur Unterstützung beschränkt werden.

VORWÄRTS: Heutzutage wird sehr aggressiv um Spendengelder geworben. Selbst Organisationen wie Amnesty International oder Greenpeace setzen voll auf bezahlte FundraiserInnen auf der Strasse. Leiden nicht vor allem die kleineren Hilfswerke unter dieser unschönen Entwicklung?

JOCHI WEIL: Absolut, die finanzielle Situation bereitet uns seit längerer Zeit Sorgen. "Medico" ist in einer breiteren Öffentlichkeit unbekannt. Zudem haben wir finanziell nicht die Mittel, um uns bekannter zu machen. Umso dankbarer sind wir, wenn unsere SpenderInnen die Projektarbeit weiterhin unterstützen.

VORWÄRTS: In Ländern wie etwa Tunesien wurden in der Vergangenheit viele progressive Projekte aufgebaut. Im postrevolutionären Tunesien erweist sich das nun als Bumerang für viele NGO's, etwa für Frauenprojekte, da ein breiter Bevölkerungsteil diese vom Westen finanzierten Projekte als Teil eines unterdrückenden Systems empfinden. Diese andere Seite der Medaille wird nur bedingt thematisiert. Wie ist das zu erklären?

JOCHI WEIL: In Tunesien unterstützt "medico" keine Projekte. Du stellst aber eine generelle Frage. Oft sind wir im Alltag dermassen mit Arbeit ausgelastet, dass uns wenig Zeit zur Reflektion und vor allem zum kritischen Hinterfragen bleibt. Dennoch erlebe ich meine KollegInnen in der Regel als kritisch und selbstkritisch, wenngleich die nötige Distanz schwierig ist, wenn wir "mitten drin" sind. Ein Einblick in Richtung deines Wunsches wird das Podiumsgespräch am Jubiläumstag mit dem Thema "Solidarisches Handeln in einer unsolidarischen Welt" (Podiumsgespräch am 17. November, 18 Uhr, Kulturmarkt, Aemtlerstr. 23, Zürich) sein.

VORWÄRTS: Wo siehst du persönlich die Grenzen für die Arbeit von NGO's im Allgemeinen? Macht es Sinn, in "problematischen" Ländern überhaupt präsent zu sein? Was müsste deiner Meinung nach unbedingt berücksichtigt werden, um nicht als Feigenblatt für ein Unrechtsregime instrumentalisiert zu werden?

JOCHI WEIL: Lass mich diese Frage mit einem Erlebnis beantworten. Im Mai war ich mit den PHR-Israel in Tamoun, einem Dorf in der Westbank. Viele PalästinenserInnen waren wegen medizinischen Konsultationen bei der "medizinischen Brücke" anwesend. Ein junger Mann sagte mir deutlich: "Wir brauchen eure Hilfe nicht. Wir brauchen unsere Rechte als PalästinenserInnen." Da fühlte ich mich einigermassen ohnmächtig. Andererseits sind die Unterstützungswünsche unserer PartnerInnen so gross und berechtigt, dass auch das Ohnmacht auslöst. Welch ein Dilemma.


(*) Jochi Weil, geboren 1942, ehemaliger Lehrer, arbeitet seit 1981 bei Medico International Schweiz/CSS Zürich, dies in verschiedenen Funktionen. Bis Ende 2012 ist er noch Projektverantwortlicher für Palästina.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42/2012 - 68. Jahrgang - 9. November 2012, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2012