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VORWÄRTS/855: Massvoll ist zu wenig!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.33/34 vom 14. September 2012

Massvoll ist zu wenig!

Von Siro Torresan



Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hat am 3. September die Lohnrunde 2013 lanciert: Eine generelle Lohnerhöhung, höhere Mindestlöhne und die Lohngleichheit zwischen Mann und Frau bilden dabei die Schwerpunkte. Der Nachholbedarf bei den Löhnen - ganz speziell bei den Frauen - ist ausgewiesen. Gerade deshalb stellen sich grundsätzliche Fragen, beispielsweise: Wem nützt die "Sozialpartnerschaft"?


"Die Lohnrunden der letzten Jahre sind für die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Schweiz über alles gesehen bescheiden ausgefallen", hält Paul Rechtsteiner, Präsident des SGB, an der Medienkonferenz vom 3. September fest. "Bescheiden" ist schon fast übertrieben: Etliche Branchen und Betriebe haben in den letzten Jahren immer wieder eine Null-Runde hinnehmen müssen. Die gewerkschaftlichen Forderungen nach einer generellen Lohnerhöhung von 1.5 bis 2.5 Prozent, höhere Mindestlöhne von 100 bis 200 Franken je nach Branche und die "Lohngleichheit für Frauen" bezeichnete Rechtsteiner als "massvoll". Stellt sich die Frage, ob für die Lohnrunde 2013 eine "massvolle" Forderung nicht schlicht zu wenig ist.


Ziel nicht erreicht

Sicher ist, dass in Sachen Lohnerhöhung ein grosser Aufholbedarf besteht. Dies zeigte Daniel Lampart, Leiter SGB-Sekretariat und Chefökonom, deutlich auf. So ist die Arbeitsproduktivität in den letzten Jahren um 1 bis 1.4 Prozent pro Jahr gestiegen. Damit die Verteilung zwischen Kapital und Arbeit unverändert bleibt, müssen die Reallöhne im Ausmass der Produktivität steigen. Diese Vorgabe bedeutet, dass die Reallöhne jährlich dementsprechend hätten steigen müssen. "Das Ziel wurde in der jüngeren Vergangenheit gemäss den verfügbaren Statistiken verfehlt. Die Löhne sind hinter der Produktivität zurückgeblieben", hält Lampart fest. Die Lohnverteilung der letzten Jahre entwickelte sich stark zugunsten der hohen und höchsten Saläre. Die tiefen und mittleren Löhne stiegen real hingegen vergleichsweise wenig: In der Zeitspanne von 2002 bis 2010 betrug die Reallohnerhöhung bei den tiefen Einkommen 3.6 Prozent und bei den mittleren 3.2 Prozent.

Besonders bedenklich ist die Entwicklung der Löhne für ArbeiterInnen mit einer abgeschlossenen Lehre. Im Zeitraum zwischen 2002 und 2010 gingen ihre Löhne real noch stärker zurück. Der SGB-Chefökonom verwies auch darauf, dass "in zahlreichen Branchen sehr tiefe Löhne bezahlt werden". Mehr als 140.000 Beschäftigte mit Lehre verdienen auf eine Vollzeitstelle hochgerechnet weniger als 4.000 Franken im Monat. Sie arbeiten zum Beispiel als VerkäuferInnen, BäckerInnen, FloristInnen. "Ihr Lohn reicht nicht zum Leben, namentlich dann nicht, wenn sie Kinder haben. Solche Schandlöhne sind in der reichen Schweiz ein Skandal", beschwerte sich Lampart zurecht.


Lohnpolitisch ein Entwicklungsgebiet

Ein weiterer Schwerpunkt der Lohnrunde 2013 liegt für den SGB bei der "Lohngleichheit von Frau und Mann". Frauen verdienen noch immer viel weniger als Männer - auch für gleiche Arbeit. Im Verkauf liegt dieser Unterschied bei 18 Prozent. Rund 39 Prozent des Lohnunterschieds zwischen Frauen und Männern in der Privatwirtschaft und knapp 20 Prozent im öffentlichen Sektor können nicht durch Unterschiede bezüglich Qualifikationsmerkmalen, Anforderungen, Position im Betrieb, Branchenzugehörigkeit und übrigen Merkmalen erklärt werden. "Dieser Teil stellt eine Lohndiskriminierung dar und muss gemäss Gleichstellungsgesetz - bereits seit 1996 in Kraft - eliminiert werden", fordert Lampart.

Die Lohndiskriminierung hat sich in den letzten 10 Jahren, beispielsweise im Privatsektor, nur um 2,2 Prozent verringert. "Das ist nicht länger tragbar, der gesetzliche Anspruch auf Lohngleichheit muss endlich umgesetzt werden - mit flächendeckenden verbindlichen Mindestlöhnen und darüber hinaus speziellen Lohnerhöhungen für Frauen", forderte Vania Alleva, Mitglied der Geschäftsleitung der Unia. Auch Paul Rechtsteiner sprach unmissverständliche Worte: "Solange die Lohngleichheit in der Praxis in vielen Branchen und Unternehmen nicht realisiert ist, bleibt die Schweiz lohnpolitisch ein Entwicklungsgebiet".


Die Grenzen sprengen

Angesichts der aufgezeigten Lohnmissstände für die ArbeiterInnen forderte Chefökonom Lampart eine "Korrektur über eine spürbare Erhöhung der Reallöhne". Er liefert somit die Antwort auf die Frage, ob eine "massvolle" Forderung, wie sie der SGB für die Lohnrunde 2013 stellt, nicht einfach viel zu wenig ist: Denn maximal 200 Franken mehr Lohn in der Tüte sind für die ArbeiterInnen im tiefen und mittleren Einkommensbereich kaum eine "spürbare Erhöhung". Es steht ausser Zweifel, dass angesichts des ausgewiesenen Nachholbedarfes, der für 2013 zu erwartenden Teuerung sowie der erneuten Anstieg der Krankenkassenprämien eine weit grössere Lohnerhöhung zu fordern wäre. So ist die SGB-Forderung wohl "massvoll" für die Arbeitgeber und ungenügend für die ArbeiterInnen. Doch der SGB weiss, dass die aktuelle Realität der Kräfteverhältnisse nichts anderes zulässt. Und genau hier liegt der Hund begraben: Lohnforderungen ohne den entsprechenden Druck der Betroffenen bleiben Forderungen auf Papier. Sicher, das ist keine neue Erkenntnis. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es bei Lohnforderungen grundsätzlich um die Frage geht, wie der gesellschaftlich produzierte Reichtum verteilt werden soll - wer bekommt wie viel vom Kuchen? Und hier stossen die ArbeiterInnen im Kapitalismus immer sehr schnell an die Grenzen, die vom Kapital gesetzt werden. Daher ist es nötig und sinnvoll, die Lohnrunden mit Überlegungen zu verknüpfen, wie diese Grenzen gesprengt werden können. Und dabei lautet eine ganz konkrete Frage: Wem nützt die "Sozialpartnerschaft"?

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 33/34/2012 - 68. Jahrgang - 14. September 2012, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. September 2012