Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/839: Krisen Proteste


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.25/26 vom 22. Juni 2012

Krisen Proteste

von Maurico Coppola

Im letzten April erschien im Assoziation A Verlag ein Sammelband mit dem Titel "Krisen Proteste". Die Autoren gehen darin auf die Proteste der letzten Jahre und ihren Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung ein. Die sozialhistorischen Beiträge dienen als Hilfe, den Nexus zwischen Krisen und Protesten besser zu verstehen.



Die Einleitung der Herausgeber ist ein zusammenfassender Versuch, die einzelnen Beiträge "unter ein Dach" zu bringen. Denn die Beiträge sind nicht aufeinander abgestimmt, sondern Texte, die in der online Zeitschrift Sozial.Geschichte erschienen sind. Sie haben alle das Ziel, den "Zusammenhang von wirtschaftlicher Entwicklung und Protest, Revolte, auch Revolution" (5. 7) zu verstehen, ohne dabei in mechanische Erklärungsmuster zu verfallen. Dieser Versuch einen Zusammenhang herzustellen, spiegelt sich auch im Titel: "Krisen Proteste" sollte zur Sammlung von Fragen beitragen, die Krisen und Proteste betreffen. Das Leerzeichen zwischen den beiden "eigensinnigen und stets auseinandertreibenden Seiten einer komplexen historischen Entwicklung" ist beabsichtigt. "Wie die historische Figur aussehen wird, die dieses Leerzeichen füllen könnte, wird unsicher bleiben - und ohnehin ist dies eine Frage, die nicht auf dem Papier zu entscheiden ist." (S. 8) Der einzige übergreifende Moment der unterschiedlich artikulierten Proteste ist der Anspruch auf die gesicherte Reproduktion der Menschen.

Von Tunesien...
Der erste Beitrag von Helmut Dietrich befasst sich mit der Revolte in Tunesien. Der Autor geht detailliert auf die Geschehnisse ein und versucht zu verstehen, wie aus der spezifischen sozialen Lage in Tunesien Unruhen entstehen konnten, die zum Fall von Präsident Ben Ali beigetragen haben. Nebst wissenschaftlichen Artikeln stützt sich der Autor auf journalistische Berichterstattungen tunesischer Medien. Es waren in erster Linie die Preiserhöhungen bei Lebensmitteln, die den Unruhen den Anstoss gaben. Sie akzentuierten die Verarmung eines grossen Teils der Bevölkerung, die im informellen Sektor arbeitet und ausserordentlich wenig verdient. Hinzu kamen repressive Kontrollmechanismen (Internetzensur) und mafiöse Strukturen (Klientelismus, Kleptokratie), welche die Bevölkerung schikanierten. Die lokal ausgebrochenen Unruhen wurden zu einer landesweiten Bewegung, schliesslich erfolgte die internationale Ausweitung (Libyen, Ägypten, etc.). "Ben Ali, dégage!" war ein gemeinsamer Anspruch dieser Bewegung für Demokratie und Wohlstand.

... über Deutschland
Einen wichtigen Beitrag liefert Peter Birkes Analyse des deutschen Korporatismus. In Deutschland waren die typischen "Krisenproteste" eher marginal und mündeten in keine breite Bewegung. Dies fusst nicht auf einer wirtschaftlichen und sozialen Stabilität, denn die "Wiederkehr der Proletarität im Sinne einer durchgreifenden Hierarchisierung der Arbeitsmärkte und der Lebenschancen" (S. 169) hat auch Deutschland erfasst. Vielmehr sind immer zahlreicher dezentrale soziale Konflikte zu erkennen, die zwar in ihrer Massenhaftigkeit abnehmen, aber auf eine wichtige qualitative Veränderung der Klassenkämpfe hinweisen: Es ist eine "Verschiebung zugunsten von Arbeitsfeldern" beobachtbar, "die von weiblichen und migrantischen Arbeitenden geprägt sind und in denen die Produktion öffentlicher Güter zur täglichen Herausforderung wird" (S. 175). Diese Verschiebung geht mit einer gewerkschaftlichen Politik einher, die als "Stillhalteabkommen" bezeichnet werden kann: "Der Verzicht auf stabile Löhne wurde gegen die Sicherung der Arbeitsplätze der Kernbelegschaft getauscht, wobei dem Staat die Aufgabe zugewiesen wurde, diesen Tausch extern abzusichern und zu regulieren" (S. 177). Aus linker Perspektive sollte solchen Entwicklungen und Protestformen besondere Beachtung geschenkt werden, denn sie stellen eine doppelte Herausforderung dar: Einerseits wird die Frage nach der Aktualität der Repräsentanz klassischer Organisationen (Parteien und Gewerkschaften) gestellt, andererseits geht es um den sporadischen, eruptiven Charakter der Proteste und daher darum, wie ihre Kontinuität und Zusammenführung gesichert werden kann.

... in die USA
Die Verarmungsprozesse in den USA und die Occupy-Bewegung werden in einem Gespräch zwischen Max Henninger und der feministischen Autorin und Aktivistin Silvia Federici thematisiert. Die Autorin beschreibt in ihren Ausführungen, wie die Zahl der armutsbetroffenen AmerikanerInnen auf den Stand von vor 52 Jahren zurückkehrte, wie sich die Einkommen auf dramatische Weise polarisierten und wie durch diese sozialen Ungleichheiten ethnische Spaltungen produziert wurden. Gleichzeitig stellt die Autorin eine Abkehr der Linken von der parlamentarischen Politik und das Aufkommen neuer Organisationsformen fest. "Die Bewegung ist Ausdruck eines neuen politischen Ansatzes, der in den letzten zehn Jahren aus der Krise der globalisierungskritischen und anti-militaristischen Bewegungen hervorgegangen ist und der sich aus dem Zusammenschluss des Feminismus und der Commons-Bewegung ergeben hat" (S.161). Zentral für das Bestehen der Occupy-Bewegung war die Verbindung von politischen Forderungen und Alltagsproblemen: "Wir haben anzuerkennen begonnen, dass unsere Bewegungen, wenn sie funktionieren und gedeihen sollen, eine Vergesellschaftung unserer Erfahrungen von Trauer, Krankheit, Schmerz und Tod erfordern, von Erfahrungen also, mit denen wir uns in unserer politischen Arbeit oft nur am Rande oder auch überhaupt nicht beschäftigen" (S. 162).

Anknüpfungspunkte für Forschung und Aktivismus
Weitere Beiträge befassen sich mit Griechenland, Spanien, Grossbritannien, Italien, China und den Hungersnöten in Afrika. Die AutorInnen vollziehen bemerkenswerte Ausgrabungsarbeit, um Unbekanntes darstellen zu können. Es ist keine Glorifizierung der Proteste, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit den beobachtbaren Schwierigkeiten. In dieser Hinsicht ist diese Textsammlung vielversprechend für diejenigen ForscherInnen und AktivistInnen, welche die vielen offenen Fragen der Krisen und Proteste nicht mit vorgefertigten Antworten angehen, sondern eine "historische Offenheit" an den Tag legen. Oder anders gesagt, "anstatt die Bewegungen dafür zu kritisieren, dass sie daran scheitern, vorgefertigte Ideale zu erfüllen, sollten wir fragen, was sie uns über die Neuzusammensetzung des Sozialen sagen können" (S. 229). Genau da sollten wir ansetzen.

Peter Birke, Max Henninger (Hg.)
Krisen Proteste. Beiträge aus Sozial.Geschichte online
ISBN 978-3-86241-413-0 1, 312 Seiten

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 25/26/2012 - 68. Jahrgang - 22. Juni 2012, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2012