Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/834: Kampf um Nahrungsmittelressourcen - The Great Game, neueste Folge


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.23/24 vom 8. Juni 2012

The Great Game, neueste Folge

Von Axel Berger



Der Kampf um die Nahrungsmittelressourcen der Erde wird immer intensiver geführt. Es ist mit einem Ausbau der Spekulation in diesem Bereich zu rechnen. Die VerliererInnen in diesem Game zwischen Unternehmen und Nationalstaaten stehen fest. Statt aber ein Zurück zur Subsistenzwirtschaft zu fordern, sollte man die technischen Möglichkeiten ihrer kapitalistischen Hülle entwinden.


Kaum zwei Jahre ist es her, da hatte der damalige Chef der Welternährungsorganisation FAO, Jacques Diouf vor dem Heraufziehen eines "neokolonialen Systems" gewarnt, als dessen Folge Afrika aufgeteilt werden könnte wie weiland auf der Berliner Konferenz durch die europäischen Grossmächte. Hintergrund waren die spektakulären Landkäufe in Afrika und in etwas geringerem Masse auch in Zentralasien durch spezialisierte Investmentbanken, vor allem aber zumeist arabische oder ostasiatische Staatsfonds. In den letzten Jahren sollen durch dieses land grabbing nach Schätzungen der FAO mindestens 50 Millionen Hektar Agrarfläche den Besitzer gewechselt haben. Die Gründe für diesen neuen Scramble for Africa - ein Begriff, der den Wettlauf der europäischen Kolonialmächte Ende des 19. Jahrhunderts um die Rohstoffe des Schwarzen Kontinents bezeichnete - bringt die Deutsche-Bank-Tochter DWS auf den Punkt, die eigens zwei neue Agrarfonds mit den programmatischen Namen "Invest Global Agribusiness" und "Invest Global Infrastructure" in ihr Programm aufgenommen hat. In ihren Magazin "DWS active" wirbt sie offensiv für den Zukunftsmarkt: "Pro Kopf steht immer weniger Ackerfläche für den Anbau von Nahrungsmitteln zur Verfügung. Engpässe und steigende Preise scheinen damit vorprogrammiert." Der passende Werbeslogan der Deutschen Bank für ihre Rohstofffonds lautete dementsprechend zynisch: "Freuen Sie sich über steigende Preise".


Vergeudung und schwindende Nutzflächen

1,5 Milliarden Hektar beträgt die derzeit genutzte Ackerfläche auf der Welt, die annähernd sieben Milliarden Menschen ernähren soll. Anders noch als im 19. Jahrhundert, als Friedrich Engels angesichts des Preisverfalls der Produkte der europäischen Agrarwirtschaft von der Konkurrenz gigantischer Flächen "jungfräulichen Steppenbodens" jenseits des alten Kontinents sprechen konnte, ist davon auszugehen, dass trotz mancher Erschliessungen - zuletzt selbst in Form des "Urban Farming" in der früheren "Motor City" Detroit - die Nutzfläche nicht nur endlich ist, sondern auch nicht in gleichem Masse wie die Weltbevölkerung wird steigen können. Im Gegenteil: Angesichts von Wassermangel, Erosion, Überdüngung, Verstädterung und Versteppung schwinden allerorten Grösse und Erträge des Ackerlandes, wie Wolfgang Hirn in seinem Bestseller "Der Kampf ums Brot" aktuell festgestellt hat. So ist die globale Getreideproduktion pro Kopf, nachdem sie über Jahrhunderte stetig gestiegen war, seit Mitte der 1980er Jahre trotz absoluter Verdreieinhalbfachung in den letzten 50 Jahren im Fallen begriffen. "Wir erleben derzeit eine epochale Veränderung auf dem globalen Nahrungsmittelmarkt: Die Nachfrage übersteigt erstmals wieder seit langer, langer Zeit das Angebot", so Hirn.

In der Nahrungsmittelkrise 2007 und den Hungerrevolten des Frühjahres 2008, die fast die gesamte Peripherie des Weltmarktes erfassten, haben sich die Folgen dieses Szenarios bereits deutlich gezeigt. Die Umstellung auf Biokraftstoffe, die Nutzung von Getreide als Futtermittel für die Fleischproduktion und die zunehmende Zerstörung der Subsistenzwirtschaften beziehungsweise der Übergang zu bewässerungsintensiven Monokulturanbauflächen verschärfen den tagtäglichen Kampf ums Überleben noch zusätzlich. Hinzu kommt noch die Vernichtung von Lebensmitteln. Laut einem Bericht der Welternährungsorganisation FAO mit dem Titel "Global Food Losses and Food Waste", der im Mai des letzten Jahres veröffentlicht wurde, wird zirka ein Drittel der globalen Nahrungsmittelproduktion schlichtweg vergeudet, weil diese dahin exportiert werden, wo sie theoretisch bezahlt werden könnten, faktisch aber nicht gebraucht werden. Bei dem aktuellen Wert der Weltagrarproduktion von etwa 2800 kCal pro Kopf täglich bedeutet dies, dass diese angesichts dieser Vergeudung auf das Mass einer durchschnittlich notwendigen Unterernährung gedrückt wird. Dieses Mass wird von der FAO auf 1800 kCal taxiert. Die Ausmasse dieses Zynismus wurden einem grösseren Publikum im letzten Jahr durch den Dokumentarfilm "Taste the Waste" von Valentin Thurn vor Augen geführt.


Agrarland: "bald teurer als Öl?"

Länder wie China, dessen Agrarfläche lediglich 9 Prozent der Fläche des Landes ausmacht, oder auch Japan, das seine Nahrungsmittel zu 60 Prozent importiert - in den arabischen Staaten ist die Quote gewöhnlich noch höher -, sehen dementsprechend im Ankauf und der Industrialisierung gigantischer Agrarländereien die einzige Möglichkeit, eine relative Nahrungssicherheit im Heimatland gewährleisten zu können. Für die überwiegend noch von der Landwirtschaft lebende Bevölkerung in den Zielländern des Bodenankaufs dürfte dies drastische Folgen haben, vor allem auch weil andere Einkommensmöglichkeiten kaum existieren. In einem Bericht der NGO "Grain" vom Qktober 2008 heisst es dazu: "Diese Transaktionen verstärken eine exportorientierte Landwirtschaft. Sie fördern das Modell der Industrielandwirtschaft, das Armut schuf, Zerstörung der lokalen Systeme, diverse Verschmutzungen, Zerstörung der Umwelt und Verarmung der Biodiversität, Waldrodung und Bauernvertreibung bewirkte. Sie verschlimmern die Situation in allen betroffenen Ländern." Vor allem aber die drastische Verteuerung der Lebensmittel, derzeit bereits zu beobachten, werde Millionen weitere Menschen vom Zugang zu Nahrung ausschliessen. Nach Ansicht des Finanzexperten Chris Mayer sei Agrarland als Anlage "wie Gold, nur besser". Auf dem letzten Weltwirtschaftsforum in Davos wurde die aktuelle Entwicklung des Weltagrarmarktes dementsprechend unter der Überschrift "Wird der Boden bald teurer als Öl?" diskutiert.

Dabei hat die globale Finanzkrise das land grabbing und die Spekulationen im Nahrungsmittelbereich weiter angetrieben, wie die Anthropologin und Afrikaexpertin Joan Baxter unlängst in Le Monde Diplomatique nachgewiesen hat. Bereits im "Grain"-Bericht hiess es dazu: "Der Slogan 'in die Landwirtschaft investieren' ist bei praktisch allen Behörden und Experten, die mit der Lösung der Nahrungsmittelkrise beauftragt sind, aktuell zu einem Glaubensbekenntnis geworden. Die Explosion von Landraub im grossen Stil ist in diesem Zusammenhang zu sehen." Zugute kommt den InvestorInnen dabei, dass die Weltbank, ihre internationale Finanzgesellschaft und die "Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung" (EBWE) den Weg für diese Investitionen geebnet haben, indem sie - mit mehr oder weniger Druck - die jeweiligen Regierungen überzeugten, ihre Bodengesetze zu liberalisieren. Trotz gegenteiliger Bekenntnisse stehen diese Institutionen damit in der Tradition der berüchtigten Strukturanpassungsprogramme des IWF, die zuletzt der Träger des Alternativen Nobelpreises Walden Bello in seinem gleichnamigen Buch als geplante "Politik des Hungers" bezeichnet hatte. So war die Freigabe des Verkaufs von Agrarland noch 2008 Bedingung zur Teilnahme an dem Finanzpaket der Weltbank zur Bekämpfung der von ihr selbst mit hervorgerufenen Nahrungsmittelkrise in Afrika in Höhe von 1,2 Milliarden Dollar.


Verschleierung und Ausverkauf

Auch wenn Weltbank und FAO seit 2010 mittlerweile eingestehen, dass die bisher von ihnen propagierten "Win-Win-Situationen" nicht in allen Fällen zustande gekommen seien, so stellen auch die von ihnen gemeinsam mit der "Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung" (Unctad) und dem "Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung" (Ifad) verabschiedeten Grundsätze "für verantwortungsvolles Agrarinvestment" aus diesem Jahr, die explizit als unverbindliche Empfehlungen in Hinsicht auf die Herstellung von mehr Transparenz und soziale und ökologische Nachhaltigkeitskonzepte formuliert sind, lediglich einen allzu plumpen und harmlosen Versuch zur Beruhigung der Öffentlichkeit dar. Ein grundsätzlicher Schwenk der Institutionen ist jedenfalls nicht zu beobachten. 130 NGOs aus dem Bereich hatten die Empfehlungen der Weltbank in einem Manifest bereits wenige Monate nach seinem Erscheinen dementsprechend auch als Versuch, "die tatsächlichen Verhältnisse zu verschleiern" dargestellt und zudem auf die weiterhin existierenden wirtschaftsliberalen Grundsätze der Weltbank und ihrer Agrarpolitik hingewiesen. Denn nach wie vor fordert die Weltbank nicht nur zu mehr Investitionen in einem möglichst freien Weltagrarmarkt auf, sondern stellt den Begriff der "ökonomischen Tragfähigkeit" ins Zentrum ihrer Forderungen.

Mehr als hilfreich dabei ist die notorische Korruption in vielen Staaten vor allem Afrikas, deren Eliten allzu häufig den Landverkauf neben der Entwicklungshilfe als letzte Bereicherungsquelle ansehen. Die vorletzte Regierung Madagaskars etwa verpachtete die Hälfte der nutzbaren Flächen zu einem Spottpreis an den südkoreanischen Konzern Daewoo. Auch wenn dieser Plan aufgrund des unter anderem wegen dieses Deals erfolgten Putsches in dem Inselstaat letztlich nicht zustande kam, so wurden die möglichen Ausmasse dieses Regierungshandelns doch sichtbar. In fast allen Ländern Afrikas überbieten sich die Regierungen in der Gewährung grosszügiger Steuernachlässe gegenüber den InvestorInnen. Die Beispiele vom Kongo über Äthiopien, Tansania und Mali zum Sudan sind Legion. Ein besonderes Dilemma besteht ausgerechnet in der Verstaatlichung der Agrarflächen in vielen Ländern des "Schwarzen Kontinents" in der Folge der Entkolonialisierung. Was zunächst als Blockade gegenüber der Abhängigkeit von neuen indirekten HerrscherInnen in den Industrieländern gedacht war, erweist sich Jahrzehnte später als Hebel für das Bündnis aus regierungsamtlichem Nepotismus und neuen Kolonialherren, weil erstere frei über den Boden verfügen können. Stefano Liberti, Autor einer gerade erschienenen Reportage über den Landraub unter dem Titel "Reisen ins Reich des neuen Kolonialismus" beschreibt Konferenzen, auf denen die verantwortlichen PolitikerInnen sich gegenseitig in ihren finanziellen Forderungen gegenüber Staatsfonds und privaten InvestorInnen unterbieten, um wenigstens einen kleinen Teil der Erträge ihr zukünftiges Eigen nennen zu können. Libertis Fazit fällt so auch in Hinsicht auf die postkolonialen Eliten Afrikas vernichtend aus: "Die Hauptverantwortlichen für diesen Ausverkauf der Anbauflächen sind die nationalen Regierungen, die die Ressourcen für eine Handvoll Dollar verhökern oder, im schlimmsten Fall, für eine Gutschrift in Dollar, die auf einem ausländischen Konto landet."


Spekulationen an der "Hunger-Börse"

Dass vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen auch die Spekulation mit Rohstoffen und vor allem Nahrungsmitteln boomt, kann da kaum überraschen. Zuletzt hatte der Tagesspiegel-Journalist Harald Schumann einen vielbeachteten Bericht im Auftrag von "Foodwatch" vorgelegt, in dem er die Spekulation für die Verdoppelung der Nahrungsmittelrohstoffpreise im letzten Jahrzehnt verantwortlich macht. Schumann hat darauf hingewiesen, dass im Gegensatz zu anderen Branchen die Eigenheit der Lebensmittelproduktion zudem gerade darin bestehe, dass ihr Erwerb für alle Menschen absolut unverzichtbar ist, was die Macht derer, die über diese verfügen, noch steigert und die Agrarwirtschaft letztlich zum zentralen Bereich aller Gesellschaften macht. So war es auch der Handel mit Lebensmitteln, der am Beginn der Erfindung der in der jüngsten Vergangenheit in Verruf geratenen Finanztitel stand. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts führten die Getreidehändler an der US-Rohstoffbörse in Chicago (CBOT) den Warenterminhandel ein, der schnell unter dem Begriff der Futures firmierte und zunehmend für den gesamten Rohstoffhandel gebräuchlich wurde. Was zunächst als Versicherung für die Farmer gedacht war, für eine festgesetzte Menge Getreide zukünftig einen festgesetzten Preis zu erhalten, und zudem saisonale Preisschwankungen ausgleichen sollte, entwickelte sich rasch zu einer Finanzindustrie, die sich zunehmend von der physischen Form des Austauschs löste. Nachdem bereits in der Weltwirtschaftskrise dadurch "alle Zweige der Landwirtschaft in schärfster Form von der Agrarkrise erfasst" wurden, wie der damalige Chefökonom der Kommunistischen Internationale Eugen Varga treffend konstatiert hatte, war es eine der zentralen Massnahmen des "New Deal" unter dem damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, Positionslimits für den Erwerb von Rohstoffen zu erlassen, die bis Ende der 1990er Jahre den Lebensmittelhandel regulierten. Bis zur Jahrtausendwende waren die SpekulantInnen so lediglich "Mitspieler auf den Rohstoffmärkten", wie es das ehemalige Vorstandsmitglied der CBOT, Ann Berg, zuletzt ausdrückte.

Dies änderte sich rapide seit der Jahrtausendwende. Als die Blase der New Economy geplatzt war und neue an Realwerten orientierte Anlagestrategien gesucht wurden, entwickelte zunächst die Investmentbank "Goldman Sachs" ihren Commodity-Index, in dem die Preise von insgesamt 25 Rohstoffen gespiegelt wurden. Seitdem und noch verstärkt durch die endgültige Aufhebung aller Positionsgrenzen im Jahr 2005 durch den US-Kongress schossen Rohstofffonds wie Pilze aus dem Boden und liessen die Lebensmittelpreise im vergangenen Jahrzehnt explodieren - allein in den Jahren 2006 bis 2008 stiegen die Preise für Reis, Weizen und Pflanzenöl um jährlich mehr als 30 Prozent. Mittlerweile sind rund 600 Milliarden US-Dollar in den diversen Fonds, noch zusätzlich gepusht durch die "Politik des billigen Geldes", gebunden. Zu den grössten Spielern auf dem Gebiet gehören auch zwei deutsche Global Player: Die Deutsche Bank und der sich im Besitz des Allianz-Konzerns befindliche weltgrösste Verwalter von Vermögensanlagen "Pimco", dessen "Commodity Real Return Strategie Fund" mit einem geschätzten Anlagevermögen von deutlich über 30 Milliarden Dollar der grösste Fonds seiner Art weltweit sein dürfte. Die Gewinnaussichten sind dabei gigantisch: Einer der grössten Hedgefonds im Agrarbereich, das britisch-südafrikanische Konsortium "Emergment", kann so Renditen von bis zu 30 Prozent versprechen. Weil die fehlende Versorgung mit Lebensmitteln letztlich das probateste Mittel zum Preisantrieb darstellt, scheint Libertis Bezeichnung der CBOT als "Hunger-Börse" kaum übertrieben zu sein.


Regulationen nicht in Sicht

Trotz einzelner grossspuriger Ankündigungen - Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy etwa hatte bei der Übernahme der Präsidentschaft der G20 im Januar 2011 prognostiziert, ohne Regulierung des Weltagrarmarktes riskiere man weitere Hungerrevolten und "schlimme Folgen für die Weltwirtschaft" -ist eine grundlegende Einschränkung der Spekulation mit Lebensmitteln nicht in Sicht. Weder die Initiative der US-Aufsichtsbehörde CFTC, erneut Positionsgrenzen zu erlassen, noch ein ähnlicher Antrag im Europaparlament haben trotz kleinerer Änderungen die Regularien grundlegend verändert, obwohl im Vorfeld alle Fraktionen in Brüssel zum Kampf gegen die "Exzesse der Spekulationen auf den Rohstoffmärkten" aufgerufen hatten. Letztlich sind auch auf Druck der Lobbyorganisationen hin zu viele Schlupflöcher in die Gesetze eingebaut worden. Einer der Initiatoren in den USA, der demokratische Senator Bernie Sanders, musste letztlich selbst eingestehen, dass sich durch den Entwurf "wenig bis gar nichts" an den bisherigen Praktiken ändern werde. Auch die zuletzt von der deutschen Bundesregierung beschlossene Meldepflicht der Rohstoffderivatepositionen durch die HändlerInnen bleibt letztlich Makulatur, weil Sanktionen hier gar nicht vorgesehen sind. Zur Beruhigung der Branche hatte bereits im Vorfeld Agrarministerin Ilse Aigner den Nutzen der Agrarfonds ausdrücklich verteidigt und angekündigt, man wolle lediglich "Fehlentwicklungen angemessen begegnen können". Grosse Angst wird dies den InvestorInnen nicht gemacht haben.

Immerhin wird die Kritik an der Rohstoffspekulation immer lauter. Laut einer "Forsa"-Umfrage lehnen selbst in der Bundesrepublik 84 Prozent der Befragten diese Praxis grundsätzlich ab. Dioufs Nachfolger als Chef der FAO, der Brasilianer José Graziano da Silva, hatte zu Beginn des Jahres gar den Abschied von der industriellen Landwirtschaft hin zu einer "nachhaltigen, regional angepassten Landwirtschaft" gefordert und zur zentralen Aufgabe seiner Präsidentschaft ausgerufen. Ähnliche Konzepte hatte auch bereits Walden Bello angesichts der Food-Riots ins Gespräch zu bringen versucht. Um wie viel es gehen könnte, darauf hat Liberti hingewiesen. "Diese Konflikte (um die Aneignung des Bodens, A.B.) werden sich auf globaler Ebene ausweiten mit immer härteren Zusammenstössen zwischen Kleinbauern und Grosskapitalisten, so der italienische Journalist. "Der Ausgang dieses Kampfes wird wahrscheinlich darüber entscheiden, wie unser Planet in naher Zukunft aussehen wird."


Kein Zurück zur Subsistenzwirtschaft

Ob der Weg zurück zur Bauernrevolution und ihrer Utopie einer Kleinbauern- oder gar Subsistenzwirtschaft allerdings der Weisheit letzter Schluss ist, muss ebenso bezweifelt werden. Waren es doch gerade die agrarischen Industrialisierungstendenzen im Europa und Nordamerika des 19. Jahrhunderts und der "Grünen Revolution" im Rest der Welt nach 1945, die trotz aller Barbareien immerhin auch theoretisch erstmalig in der Geschichte eine dauerhafte Nahrungsmittelsicherheit der wachsenden Weltbevölkerung ermöglichten. Noch 1980 betrug die pro Kopf produzierte Nahrungsmittelmenge auf der Welt lediglich 1980 kCal und damit kaum mehr als die Untergrenze der von der FAO festgelegten Minimalsumme zur Überwindung des Hungers. Interessanter könnte ein Rückbezug auf Marx sein. Dieser hatte bereits im "Kapital", trotz der auch von ihm konstatierten "Verwüstung und Versiechung" von Mensch und Natur, die revolutionäre Rolle der Industrialisierung der Agrikultur als Schaffung "der materiellen Voraussetzungen einer neuen, höheren Synthese" der Gesellschaft, als Vorbedingung des Kommunismus skizziert. Die Feststellung, dass die "Fehlentwicklung" (Aigner) also weniger in den Rationalisierungstendenzen, sondern im Warencharakter der von den Menschen benötigten Güter liegt, könnte also ausnahmsweise nicht die Konkurrenz um den Mangel ins Zentrum der Diskussionen rücken, sondern die Debatten um den gesellschaftlich bewusst geplanten Umgang mit den Ressourcen sogar befeuern. Nur so wäre ein Ende der Barbarei des organisierten Entzugs von Lebensmitteln trotz aller berechtigten Kritik am Zynismus der Herrschenden letztlich in Sicht.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24/2012 - 68. Jahrgang - 8. Juni 2012, S. 6-7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2012