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VORWÄRTS/830: Die politische Organisation einer humanitären Katastrophe


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 vom 8. Juni 2012

Die politische Organisation einer humanitären Katastrophe



pb. Während das Kapital weltweit immer freier zirkuliert, wird die Bewegungsfreiheit der Menschen repressiv eingeschränkt.
Tausende sterben jährlich beim Versuch, sich innerhalb der Festung Europa niederzulassen.


Das "European network against nationalism, racism, fascism and in support of migrants and refugees" führt seit 1993 eine Liste der verstorbenen Opfer der europäischen Migrationsregime. Dokumentiert werden Todesfälle von Personen, die an der Aussengrenze des Schengenraumes, in (halb-)geschlossenen Asyllagern oder während Ausschaffungen ums Leben kamen. Am 29. Januar 2012 wurde der 16.136. Todesfall verzeichnet. Ein junger Iraner erhängte sich in Würzburg in einem Asylheim. Offizielle Zahlen gibt es kaum. Die NGOs decken nur die Spitze eines schrecklichen Eisberges auf.


Die Festung Europa

Im 2008 unterzeichneten "Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl" finden sich die offiziellen Prinzipien dieses mörderischen Migrationsregimes: "Null-Einwanderung ist illusorisch. Strukturierte und regulierte Migration hingegen kann als Chance verstanden werden, denn es handelt sich hierbei um wachstumsfördernde Faktoren". Um diese Chance zu realisieren, fusst die Festung Europa auf fünf Säulen:

  1. Wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Regulation der Einwanderungsströme;
  2. Konsequente Ausschaffung der abgewiesenen Asylsuchenden und Sans-Papiers;
  3. Stärke und koordinierte Grenzkontrollen;
  4. Vereinheitlichte Asylverfahren;
  5. Kopplung der Entwicklungshilfe an eigennützliche politische Ziele;

Das Programm schafft eine scharfe Trennung von legaler und illegaler Migration. Im Innern der "Festung" werden exterritorialisierte Internierungslager, Ausschaffungsgefängnisse oder Asylanlagen geschaffen, in denen Menschen, die nicht als offiziell anwesend gelten, ihrer Grundrechte beraubt werden. Über das "Schengener Informationssystem" (SIS), ein polizeiliches Datensystem, und das biometrische Visa-Informationssystem (VIS) werden Daten von MigrantInnen gesamteuropäisch zentralisiert erfasst und verwaltet. An der Aussengrenze wächst eine sich ausdehnende Festungsmauer. Die Festung Europa macht aus der Kontrolle der Grenzen und der Verwaltung der Migration einen Machtgegenstand. Auf der Strecke bleiben das Asylrecht der Genfer Flüchtlingskonvention und das Menschenrecht "sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen" (Art. 13).


Externalisierung der Grenzkontrollen

Das Netzwerk "Migreurop" spricht in diesem Zusammenhang von der "Externalisierung der Grenzkontrollen". Diese Praxis ist seit den 90er Jahren bekannt. Damals liessen sich Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn in die interessensgeleitete Überwachung ihrer Westgrenzen einspannen, um damit ihre Aufnahme in die EU zu erreichen. 2004 sprach der damalige Bundesrat Blocher davon, die Armee zur Einrichtung von Flüchtlingslagern in Nordafrika einzusetzen und der sozialdemokratische Otto Schilly, damals deutscher Innenminister, erklärte, dass Afrikas Probleme in Afrika gelöst werden sollen. Mit dem "Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht" kommt es 2005 zum Dammbruch.


Säulen des Grenzregimes

1. Wesentlich an der Externalisierung der Grenzkontrollen sind die Militarisierung und Technisierung der Grenzkontrollen:

Der "Schutz der Aussengrenzen" erfüllt seit 2005 die "Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen" (Frontex). MigrantInnen sollen bereits ausserhalb der EU abgefangen und geprüft werden. In Küstengebieten werden laufend Radaranlagen installiert. Zudem wird der Seeweg nach Spanien und Italien durch Frontex-Kontrollen auf offener See dichtgemacht. Flüchtlinge müssen heute meist über die griechische Landgrenze einreisen. Auch dort kreisen Frontex-Flugzeuge über der 206 Kilometer langen Landgrenze zur Türkei.

Die Agentur Frontex untersteht kaum einer demokratischen Kontrolle, erlebt aber einen kontinuierlichen personellen und finanziellen Ausbau. Das Jahresbudget stieg von 19 Millionen Euro im Jahre 2006 auf rund 89 Millionen 2010, die Zahl der Beschäftigten wuchs von 45 auf 286. Die Schweiz beteiligt sich jährlich mit durchschnittlich 9 Millionen Euro an Frontex.

2. Die Vereinnahmung von Nicht-EU Staaten als Pufferzone:

Grenz- und Transitländer werden gedrängt, sich stärker bei der Kontrolle der Migration zu beteiligen. Dadurch soll die "zirkuläre Migration" gefördert werden: Qualifizierte Arbeitskräfte aus Drittstaaten dürfen in den Schengenraum einwandern und die Entwicklungshilfe wird erhöht, dafür beteiligt sich der Drittstaat an der Eindämmung der Einwanderung durch stärkere Grenzkontrollen und die Rücknahme von "illegal" in die EU Eingewanderten. So ging die EU 2007 mit Marokko eine so genannte Migrationspartnerschaft ein. Bis zum Sturz von Gaddafi war auch Libyen ein Beispiel für die Einbeziehung von Ländern in das europäische Überwachungs- und Kontrollsystem. Seit 2003 wurden durchschnittlich 50.000 Menschen nach Libyen abgeschoben. Vor allem Italien hatte der ehemaligen Kolonie riesige Geldsummen für den Bau von Abschiebelagern und Rückführungen angeboten. Heute erfüllt die Türkei diese Funktionen.

3. Die Errichtung von Lagern rund um die Aussengrenze:

Lager wurden zum privilegierten Instrument der Verwaltung von MigrantInnen. MigrantInnen werden diesen ohne richterlichen Beschluss zugewiesen. Das "Delikt" der Migration führt zu menschenunwürdigen Behandlungen. Die Anwendung von physischer und psychischer Gewalt gehört zum Organisationsprinzip. Die Bewegungsfreiheit wird nicht nur in geschlossenen, sondern auch in halbgeschlossenen oder sogenannt offenen Lagern eingeschränkt. Privatsphäre existiert kaum. Obwohl diese Lager immer einen provisorischen Charakter aufweisen, bleiben die Menschen immer langfristiger in ihnen "gefangen".


Rassismus und Xenophobie

Das europäische Grenzregime vermittelt die Illusion einer technokratischen Kontrolle der weltweiten Migrationsbewegungen. Die unkontrollierbare Realität wird offiziell ausgeblendet. Migration wird zur Straftat deklariert und MigrantInnen als Kriminelle stigmatisiert. Die Wahlerfolge der "Goldenen Morgenröte" und die faschistischen Aktionen in Griechenland, das staatsrassistische Regime Ungarns oder die salonfähigen rechtpopulistischen Parteien Westeuropas sind Folgen dieser politischen Organisation einer humanitären Katastrophe. Es zeigt sich, dass migrationspolitischer Utilitarismus und das Aufkommen von Xenophobie und Rassismus zusammengedacht werden müssen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24/2012 - 68. Jahrgang - 8. Juni 2012, S. 5
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2012