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VORWÄRTS/822: "Arbeitsplatz als Menschenrecht"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 17/18/2012 vom 27. April 2012

Krise und Gewerkschaften
"Arbeitsplatz als Menschenrecht"



Pascal Jurt. Frigga Haug ist Vorsitzende des Berliner Instituts für kritische Theorie und unter anderem Redakteurin der Zeitschrift "Das Argument" und des "Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus". Wir haben mit der Soziologin und Philosophin ein Gespräch geführt über die Angriffe des Kapitals, die zunehmende Prekarisierung und die besonderen Auswirkungen auf die Frauen.


VORWÄRTS: Während es in anderen Ländern schon länger Studien zur Prekarisierung gibt, wurde diese in Deutschland von einem grossen Teil der Mainstream-Soziologie und Politologie lange geleugnet. Es dauerte bis zur Veröffentlichung einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebene Studie, an die sich eine absurde Diskussion um die Existenz oder Nichtexistenz einer "Unterschicht" anknüpfte. Was sind die Gründe für die verspätete Wahrnehmung?

FRIGGA HAUG: Deutschland kommt immer zu spät, schrieb Marx. Im Falle der Revolution am Tag der Restauration. Nun ist die Prekarisierung nicht gerade eine Revolution, das Zuspätkommen nicht ähnlich schwerwiegend. Aber die Frage selbst setzt auch ein wenig spät an. Denken wir zurück an die Computerisierung von Produktion und Verwaltung. Da rieten die SozialwissenschaftlerInnen den Gewerkschaften noch, den Umbruch der Produktivkräfte nicht als erheblich zu denken und die Folgen, wenn überhaupt als Dequalifikation. Deshalb sei es günstiger, das Vordringen von Hightech noch in den siebziger Jahren, als es schon mehr computergesteuerte Arbeit gab als solche am Fliessband, zu bekämpfen. Ein äusserst fataler Ratschlag mit bis heute spürbaren Folgen, dass nämlich kein alternatives Kampfkonzept entwickelt wurde, das die Umbrüche zugunsten der Beschäftigten genutzt hätte und der absehbaren Vermehrung von "Überflüssigen" mit einer aggressiven Zeitpolitik begegnet wäre.

Die Folgen tragen wir bis heute. Die Positionen der Gewerkschaften werden zunehmend schwächer, die Kapitalseite zunehmend ruchloser. Arbeitsplätze werden gleich zu tausenden abgeschafft, und so stehen die Gewerkschaften mit dem Rücken zur Wand und kämpfen um verbleibende Arbeitsplätze, nicht um die, die schon herausgeflogen sind.

Statt nun im Einzelnen zu forschen, warum die Diskurse um die Prekarisierung so spät erst aufgenommen wurden, scheint es mir besser, zu fragen, wie die stets wachsende Zahl an Prekarisierten aufgenommen werden könnte in ein allgemeines Konzept kämpferischer Gegenwehr.

VORWÄRTS: Die Entgrenzung von Arbeit und Leben, die Probleme des Ineinanderfallens von Arbeit und Freizeit und physischer Orte von Produktion und Reproduktion umfassen nun alle Lebensverhältnisse, nicht nur das Lohnarbeitsverhältnis. Glauben Sie, dass die Schärfung des Begriffs der Prekarisierung zum Verständnis alter und neuer Unsicherheiten kapitalistischer Vergesellschaftung beitragen kann?

FRIGGA HAUG: Die Strategie des Abwartens und der Nichtthematisierung der Arbeitszeitverkürzung, eben weil es um Arbeitsplatzsicherung stattdessen ging, war gewiss äusserst problematisch. Die Diskurse um immaterielle und postfordistische Wissensarbeit finde ich bis heute eher verwirrend, unnötig kompliziert und nicht geeignet, die anstehenden Fragen eingreifend zu beantworten. Schliesslich geht es ganz brutal darum, dass der zunehmende Reichtum der Arbeit, also dass die Produktivkräfte soweit entwickelt wurden, dass nur mehr ein Bruchteil notwendiger Arbeit für die Reproduktion der Gesellschaft nötig ist (sagen wir die Hälfte oder weniger in den letzten 20 Jahren), ganz den Kapitaleignern zu geschoben wurde. Die Arbeitszeiten blieben stabil oder wuchsen und infolgedessen wurden Arbeitskräfte nicht reicher, sondern entlassen. Dies konnte genutzt werden, um ein Heer von Überschüssigen als Druckmittel gegen das schrumpfende Arbeitsheer zu nutzen. In dieser Weise konnten die Ansprüche, Standard, historisches Niveau der Arbeitenden gesenkt werden. Jetzt muss man froh sein, überhaupt eine Arbeit zu bekommen. Diese Lage nutzt die Kapitalseite, um das Heer der Prekarisierten zugleich zu vermehren und botmässig zu halten: Zeitverträge und Hartz IV allenthalben als Durchschnitt für die Zukunft durchzusetzen. Mehr als einen genauen Begriff von Prekarisierung brauchen wir eine radikale Arbeitszeitverkürzung und damit einen Arbeitsplatz (von vier Stunden) für alle als Menschenrecht.

VORWÄRTS: In den letzten Jahren hat die gesellschaftliche Polarisierung von Armut und Reichtum dazu beigetragen, dass das Interesse an der Prekarisierung auch hierzulande spürbar zugenommen hat. Betrifft soziale Unsicherheit, Leiharbeit, latente und manifeste Armut und das Workfare-Regime zunehmend auch die Mitte der Gesellschaft?

FRIGGA HAUG: Dies ist einer der besseren Effekte der grossen Krise, dass mehr und mehr zugelassen wird, dass, wie es der Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schrieb, die Linken doch recht hatten mit ihrer marxistischen Analyse des Kapitalismus. Marxismus wird als Wissenschaft mehr und mehr ernst genommen, aber, was wichtiger ist, von einer wachsenden Gruppe nachwachsender Intellektueller studiert. Dies ist die eine Seite, die unbedingt von den verbleibenden MarxistInnen angenommen werden muss. Die andere Seite ist, dass die Ungerechtigkeit in Bezug auf die wachsende Armut und den noch schneller wachsenden Reichtum einiger so schreiend ist, dass eine soziale Bewegung oder mehrere, die dies nicht länger aushalten, unausbleiblich ist. Die täglich lesbaren und hörbaren Ziffern der grossen gesellschaftlichen Spaltung in 1 Prozent im Überfluss und 99 Prozent, die das tragen - hat ja schon jetzt begonnen.

VORWÄRTS: Frauen sind nicht nur durch eine verstärkte Kapitalisierung des Reproduktionsverhältnisses, sondern auch durch die unbezahlte Reproduktionsarbeit sprichwörtlich "doppelt belastet" und von Armut gefährdet. Sie analysieren die Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse. Inwieweit kann ihr feministischer Ansatz den Blickwinkel auf Arbeit erweitern?

FRIGGA HAUG: Ich ziehe es neuerlich vor, nicht von einer Erweiterung des Arbeitsbegriffs zu sprechen, was, mir unverständlich, soviel Gegenwehr und Angst hervorgerufen hat, obwohl es mir dem gesunden Menschenverstand angemessen schien, sondern schärfer und offensiver von einer Wiederaneignung des Arbeitsbegriffs. Das bedeutet, dass Arbeit auch begrifflich aus den Fesseln der Lohnarbeit zu befreien ist wie der Kampf für die Arbeitenden ja nicht der Verewigung der Lohnarbeitsverhältnisse gilt, sondern einer alternativen Gesellschaft. Meine feministischen Studien und Kämpfe von fast 40 Jahren haben mich dazu gebracht, die "Vier-in-einem-Perspektive" zu entwickeln, die die verschiedenen gesellschaftlichen Arbeiten zum Ausgangspunkt nimmt, um von daher eine Politik vorzuschlagen, die heute ansetzt aber eine Perspektive hat, die eine alternative Gesellschaft anzielt. Es sind dies die Arbeiten, die jetzt in Lohnform geschehen, dann diejenigen, die der Reproduktion aller zukommen, also die pflegende fürsorgende Arbeit mit Menschen, die Freunde, Alte, Behinderte, Kranke, Kinder umfasst, dann die der Eigenentwicklung aller Fähigkeiten, wodurch die gesamte Menschheit reicher wird und schliesslich der Gesellschaftsgestaltung, was wir Politik nennen, in eigene Hände zu nehmen. Mein nächstes Buch wird der "Tragödie der Arbeit" gewidmet sein.

VORWÄRTS: Vor allem Teilzeitarbeit mit ihrem geringen sozialen Standard hat seit den 1980er Jahren zugenommen und betrifft Frauen, die die knappen Familieneinkommen aufbessern müssen. Warum gibt es so wenig politische Anstrengungen, Teilzeitarbeit auch für Männer attraktiv zu machen?

FRIGGA HAUG: Teilzeitarbeit als politisches Vehikel zu nutzen, daran arbeite ich schon seit Jahren. Teilzeitarbeit für alle! halte ich für eine revolutionäre Forderung. Sie verallgemeinert das besondere und ist damit geeignet auch das Abzulehnende von Teilzeitarbeit öffentlich zu sprechen und damit zu verändern. Ich habe schon eine Kampagne dazu begonnen. Sie ist umstritten und zugleich gehört sie zum Projekt der "Vier-in-Einem-Perspektive", da ja alle nurmehr vier Stunden arbeiten sollten. Es ist nicht leicht, der Angst, alle würden dann auch nur vom halben Entgelt leben müssen, wirksam zu entgegnen. Es muss also diese Kampagne mit der Forderung nach einem Grundeinkommen, besser nach den sozialen Garantien des Lebens, wie dies Rosa Luxemburg ausdrückte, begleitet werden. Ich habe das letzte Sozialforum mit dieser Forderung eröffnet. Und derzeit läuft in der LINKEN in NRW eine Kampagne dazu. In der Tat setzt sich allmählich auch in der herrschenden Politik durch, dass Zeitkämpfe angesagt sind. Sowohl SPD, CDU als auch Grüne bewegen sich in die Zeitpolitik, einzelne Gewerkschaften fordern jetzt die 30-Stundenwoche, was nicht dasselbe ist, aber ein Schritt in die richtige Richtung.

VORWÄRTS: Unter der rot-grünen Regierung kam es mit den Hartz-Regelungen in Deutschland zu einer repressiven Aufwertung von Arbeit. Gesellschaftliche Teilhabe wurde nun direkt an einen "gemilderten" Arbeitszwang geknüpft, Leute in unsichere und prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt, Minijobs und Leiharbeit boomen seitdem. Wie hat sich die Situation für Frauen mit der Einführung der "Hartz-Reformen" verändert?

Nicht der "Zwang" zur Arbeit ist ganz und gar abzulehnen, sondern ein Menschenrecht auf Teilhabe und also auch an gesellschaftlich notwendiger Arbeit gehört doch zu den Forderungen einer Linken für ein würdiges Leben. Aber die mit Hartz durchgesetzten Verhältnisse führen ja keineswegs zum Recht auf sinnvolle Arbeit und Teilhabe an Gesellschaft, sondern zu unwürdigem Lebens- und Zeitverbrauch bei steigender Armut einer Art Verwahrlosung kulturellen Lebens und einer Annullierung politischen Lebens für alle. Die Kluft zwischen der Forderung nach allseitiger Entfaltung aller Möglichkeiten und dem einen Euro, den unsere Regierung dagegen für die Kinder der Hartzempfänger vorsieht, wird schon im Denken kaum überbrückbar. Dies gilt, wie jedermann weiss, in eklatantem Mass für Frauen, die auf allen unteren Ebenen den grössten Anteil haben. Ihre bislang kaum skandalisierte Nutzung als teilzeitarbeitende Lückenfüller haben nicht nur ihre eigenen Ansprüche praktisch im Zaum gehalten - sie haben auch dafür gesorgt, eine allgemeine "Feminisierung der Arbeit" durchzusetzen in der Weise, dass das, was Frauen jahrzehntelang zugemutet wurde, nun auch im Namen von Gleichstellung für Männer gelten kann.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 17/18/2012 - 68. Jahrgang - 27. April 2012, S. 16
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2012