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VORWÄRTS/748: Griechenland - "Empört euch"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 27/28 2011 vom 22. Juli 2011

International
"Empört euch"

Von Heike Schrader


"Wir gehen nicht, wenn sie nicht gehen. Und auch wenn sie gehen, gehen wir nicht nach Hause, denn wir werden weiterhin kräftig und entschlossen am Aufbau des neuen Gesellschaftsmodells arbeiten, das wir anstreben, heisst es im Beschluss der Vollversammlung der "Empörten" Griechenlands in Athen am 10. Juli.


Auf dem Syntagmaplatz vor dem griechischen Parlament haben am Wochenende TeilnehmerInnen von Versammlungen der "Empörten" aus vielen Teilen des Landes und in vielen Stadtteilen Athens sich darüber beraten, wie die Bewegung mit der einsetzenden Sommerpause umgehen sollte. Denn traditionell läuft in Griechenland in den heissen Ferienmonaten Juli und August nichts.

Angefangen hatte alles am 25. Mai. Da versammelten sich zum ersten Mal Tausende und Abertausende auf den zentralen Plätzen vieler Städte, um, ähnlich wie in Spanien, gegen das drastischste Kürzungsprogramm zu demonstrieren. Mit dem sollen die Erwerbstätigen und RentnerInnen des Landes gezwungen werden, für eine Krise zu bezahlen, die sie nicht verursacht haben. Gleichzeitig richteten sich die Proteste gegen die "korrupten Politiker", die das Land erst in die Krise geritten hätten.

Allein in Athen versammelten sich mehrere Zehntausend Menschen auf dem Syntagma-Platz direkt vor dem griechischen Parlament. Bis tief in die Nacht hinein - die letzten TeilnehmerInnen verliessen den Platz erst am Donnerstagmorgen - protestierten sie gegen die brutalen Sparmassnahmen und deren VerursacherInnen. "Diebe, Diebe", wurde, wie schon bei anderen Gelegenheiten den "Volksvertretern" im Parlament zugerufen. "Wir sind wach, für euch ist es Zeit zu gehen", stand auf einem der wenigen Transparente. "Alles für alle", lautete die griechische Botschaft auf einem zweiten. An diesem Abend wurde auch die erste Resolution der neuen Bewegung "Direkte Demokratie Jetzt" verabschiedet und auf dem kurz danach gegründeten Portal real-democracy.gr veröffentlicht.

"Seit langem werden Entscheidungen über uns ohne uns getroffen", erklären darin die versammelten "Erwerbstätigen, Arbeitslosen, Rentner, Jugendlichen, die wir zum Syntagma-Platz gekommen sind, um für unsere Leben und unsere Zukunft zu kämpfen". Und sie waren entschieden, zu bleiben. "Wir werden nicht eher von den Plätzen verschwinden, bis all die verschwunden sind, die uns hierher gebracht haben: Regierungen, die Troika (gemeint ist das Dreigespann der Kreditgeber aus EU Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank, Anm. d. Aut.), Banken, Sparmemoranden und alle, die uns ausbeuten. Wir verkünden ihnen, dass die Schulden nicht unsere sind." Seitdem treffen sich Tausende der nach der griechischen Übersetzung des spanischen "Indignados" "Empörte" genannten auf den zentralen Plätzen der grössten Städte des Landes.


Herzkammern der Bewegung

Das Herz der Bewegung schlägt in der Hauptstadt und hat zwei Kammern. Oben, auf dem Boulevard direkt vor dem Parlament, bietet sich Abend für Abend das gleiche Bild. Tausende fluchen sich mit teils grandiosen, grösstenteils allerdings nicht zitierfähigen Parolen den Frust von der Seele und verfluchen ihre VolksvertreterInnen mit der typischen ausgestreckten Hand. Darunter viele enttäuschte PASOK-WählerInnen, auch "wenn das jetzt keiner mehr zugibt", wie eine Demonstrantin lachend anmerkt. Sie selbst gehört zu den Vielen, die ihre Stimme eher der konservativen Opposition geben würden. Hier "oben" steht der patriotische Widerstand gegen korrupte PolitikerInnen und den geplanten Ausverkauf des nationalen Reichtums im Vordergrund, werden griechische Fahnen geschwenkt, bezieht man sich ausgiebig und gerne auf die glorreiche antike Vergangenheit. An der Entwicklung von Strategien und daran, die Hauptforderung "nehmt euer Memorandum und verschwindet" auch umzusetzen, wird nicht gearbeitet. Man kommt über die Artikulation der Forderungen nach dem "Verschwinden" von Memorandum und Abgeordneten sowie der Bestrafung der für die Krise verantwortlich gemachten korrupten PolitikerInnen nicht hinaus. Trotzdem aber sind die allabendlichen Proteste wichtig. Zum einen, weil sie Tausenden eine Möglichkeit der kollektiven Artikulation ihrer Wut bieten. Zum anderen, weil sie den Herrschenden deutlich machen, wie dünn das Eis der angeblichen "Zustimmung innerhalb der Bevölkerung ist", die von Papandreou immer wieder herbei fabuliert wird. Einer Umfrage Mitte Juni zufolge befürworten 86 Prozent der Befragten die Proteste, an denen 35 Prozent schon selbst teilgenommen haben. Rechnet man die 31 Prozent der Befragten, die (auch) in Zukunft auf den Plätzen protestieren wollen auf den volljährigen Anteil der Bevölkerung hoch, dann sind mittlerweile fast drei Millionen (2.790.000) Menschen im 11 Millionen EinwohnerInnen zählenden Griechenland entschlossen, ihren Unmut auf die Strasse zu tragen.

Steigt man die Stufen zum eigentlichen Platz herab, ändert sich die Atmosphäre. "Unten" dominiert die Linke Griechenlands, ob organisiert oder individuell. Hier wird bereits seit den ersten Tagen in einem Zeltlager direkt auf dem Platz mit ersten Strukturen einer Gegenwelt experimentiert. Verschiedene Arbeitsgruppen tagen regelmässig zu Fragen der Organisation des Zusammenlebens auf dem Platz oder zu thematischen Schwerpunkten wie Migration und Krise und entwickeln Vorschläge für Theorie und Praxis des weiteren Vorgehens. In einer allabendlichen Vollversammlung wird entschieden, welche Aktionen in den nächsten Tagen organisiert werden sollen, werden Aufrufe und Resolutionen verfasst. Alles höchst basisdemokratisch, mit anderthalb Minuten Rederecht, wobei die Reihenfolge der Beiträge durch das Los entschieden wird.


Revolutionäres Subjekt?

Auch wenn unter den regelmässig an den Versammlungen Teilnehmenden viele "Unorganisierte" sind, wird der harte Kern doch von AktivistInnen des breiten Spektrums der griechischen Linken gestellt. Besonders in den Arbeitsgruppen mit Schlüsselfunktionen, wie der Moderation der Vollversammlungen oder den Kontakten zu den Medien, trifft man auf die altbekannten Gesichter von FunktionärInnen, die hier allerdings nur als Personen und nicht als VertreterInnen ihrer Partei auftreten dürfen. Denn den BasisdemokratInnen vom Platz ist der demokratische Zentralismus der ausserparlamentarischen Linken ebenso suspekt wie die Einbindung der beiden grossen linken Parteien in das Treiben im Parlament. Eine Arbeitsgruppendiskussion über die Gründung einer eigenen Partei wurde nach kurzer Zeit wieder aufgegeben. Man sei "nicht hierhergekommen, um die eigenen Angelegenheiten wieder an andere zu delegieren, sondern um dafür zu sorgen, dass sie einem nicht wieder aus der Hand genommen werden", lautet das meistgehörte Argument gegen die Organisierung in Parteistrukturen. Ein Grossteil der ausserparlamentarischen Linken sieht in den Plätzen trotzdem eine Chance für weitreichende Veränderungen. Für die im Parlament vertretene Linksallianz "SYRIZA" wächst hier sogar das neue revolutionäre Subjekt heran. Einige, darunter die "Kommunistische Partei Griechenlands" (KKE), jedoch stehen der neuen Protestbewegung sehr kritisch gegenüber und verweisen auf eine in Partei und Gewerkschaften organisierte Arbeiterklasse als einzige Möglichkeit für eine radikale Umwälzung der Verhältnisse.


Grosse Mobilisierungen

In den vergangenen Monaten hat man auf dem Platz so einiges veranstaltet und auch erreicht. Man hat mit FinanzwissenschaftlerInnen über die Frage diskutiert, wie die Schulden entstanden und in welchen Masse sie überhaupt legitim sind. KünstlerInnen aus dem In- und Ausland haben hier Vorstellungen gegeben. Es wurden Konzerte veranstaltet und Fussballspiele ausgetragen. Und natürlich wurde Abend für Abend demonstriert, wobei besonders an den Sonntagen, den "gesamteuropäischen Aktionstagen", regelmässig Zehntausende, wenn nicht gar Hunderttausende zum Syntagma-Platz strömten. Höhepunkte der Bewegung waren sicherlich auch die Aktionen an den beiden Generalstreiks im Juni. Hier wurde im Zusammenspiel mit den griechischen Gewerkschaften versucht, das Parlament symbolisch zu umzingeln, um die ParlamentarierInnen an der Verabschiedung des jüngsten Kürzungspaktes zu hindern. Obwohl die Mobilisierung sehr gross gewesen sei, habe man dies aber nicht geschafft, heisst es selbstkritisch in einem Diskussionspapier für die gesamtgriechische Versammlung vom 9. und 10. Juli. Dies habe an der von der Regierung aufgebauten angeblichen Wahl zwischen "Kürzungspaket oder Konkurs" aber auch an der extremen Polizeigewalt gegen die DemonstrantInnen gelegen. Denn besonders an den Tagen des 48-stündigen Generalstreiks vom 28. und 29. Juni war die Polizei mit extremer Brutalität gegen die Menge vorgegangen, nachdem zuvor vermummte, nicht den "Empörten" zuzurechnende, DemonstrantInnen PolizistInnen mit Steinen und Brandsätzen angegriffen hatten.


Die Frage der Militanz

Über die Rolle der vermummten Militanten ist man man auf dem Platz geteilter Meinung. Für viele der sich bewusst zur Gewaltfreiheit, ebenso bewusst aber auch zur Regelübertretung bekennenden "Empörten" sind dies von der Gegenseite provozierte Aktionen, um den eigenen Kampf zu diskreditieren und die Leute vom Platz zu verjagen. Andere sind der Ansicht, dass man den jeweils anderen Kräften nicht die Kampfformen vorschreiben kann. Überdies ist den meisten bewusst, dass die Gegenseite auch einem gewaltlosen Widerstand früher oder später mit Gewalt begegnet. Polizeigewalt gegen die Masse der DemonstrantInnen wird - egal von was sie ausgelöst wurde - einhellig verurteilt. Vertreiben liess man sich dadurch nicht. Ziviler Ungehorsam gehört denn auch schon länger ins Repertoire der sozialen Auseinandersetzungen in Griechenland. Wie zum Beispiel die Zehntausende AnhängerInnen zählende Bewegung "Ich bezahle nicht", die sich die Verweigerung der Zahlung von Strassengebühren, aber auch der erst jüngst deftig erhöhten Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr, auf die Fahnen geschrieben hat und selbstredend am Syntagma-Platz präsent ist. In den nächsten Monaten wird der Platz sicherlich leerer werden, schon jetzt, Mitte Juli, finden sich allabendlich wesentlich weniger Menschen vor dem Parlament ein, als in den vergangenen mehr als 45 Tagen. Trotzdem aber soll der Platz den ganzen Sommer über "gehalten werden", bis am 3. September mit einer neuen gesamtgriechischen Vollversammlung die Herbstaktionen eröffnet werden sollen.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 2011 - 67. Jahrgang - 22. Juli 2011, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2011