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VORWÄRTS/694: Gespaltenes Land


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 45/46/2010 vom 3. Dezember 2010

Gespaltenes Land


mgb. Die Ausschaffungsinitiative mit beängstigenden 53 Prozent angenommen; die Steuergerechtigkeitsinitiative mit nur 42 Prozent Ja-Stimmen abgeschmettert: Die Resultate des Urnengangs vom 28. November verdeutlichen die tiefen Risse, welche sich durch unser Land ziehen. "Alle gegen Alle", heisst die Devise.


Wie die öffentliche Diskussion rund um Steuergerechtigkeit und "Ausländerkriminalität" im Vorfeld der Abstimmung verlief, ist symptomatisch dafür, was derzeit schief läuft in unserem Land. Die grosse Masse der Leute nimmt zwar wahr, dass es ihnen immer mieser geht, weil die Reichen immer reicher werden. Sie sehen sich aber ausserstande, der Selbstherrlichkeit und dem Egoismus dieser Reichen etwas entgegenzusetzen. Sie fühlen sich abhängig von der Wohltätigkeit einer vermögenden Oberschicht. Einer Oberschicht, die sich darob zusehends feudalistisch gebärdet.

In ihrer Ohnmacht suchen sie sich Sündenböcke, um ihren Frust abzulassen. Hier kommt die SVP mit ihrer Politik gegen AusländerInnen, gegen Sozialhilfemissbrauchende, gegen Scheininvalide und andere Schwache der Gesellschaft ins Spiel. Das Resultat: Statt die realen Probleme der arbeitenden Bevölkerung zu lösen - die Abzocker zur Kasse zu bitten und den erwirtschafteten Reichtum gerecht zu verteilen - treten alle gegen unten: Reiche gegen Mittelstand und Arme, SchweizerInnen gegen AusländerInnen, Arbeitende gegen "Sozialhilfemissbrauchende", Gesunde gegen "Scheininvalide". Alle treten gegen jene, denen es noch schlechter geht. Die Schweiz wird zusehends zu einem gespaltenen Land.


Fatale Schlappe für die Linke

Statt den Grundstein zu einer solidarischeren Politik zu legen, hat die Wirtschaftskrise die Gegensätze in der Schweiz weiter verschärft und vertieft. Die Vermögenden kassieren ab, wie zuvor. Die Zeche für die Misswirtschaft der vergangenen Jahre zahlen alle anderen - vom Mittelstand bis hin zu den Armutsbetroffenen. Zwar hat die Empörung über die "Abzocker", "Bonzen" und generell die Superreichen in der Bevölkerung spürbar zugenommen. Gleichzeitig fühlen die Menschen sich aber auch abhängiger von eben jenen Superreichen. Sie trauen sich nicht mehr, dem Klassenkampf von oben etwas entgegenzusetzen. Sie sagen Ja dazu, die Kosten der Krise zu übernehmen - und Nein zu mehr Verteilgerechtigkeit.

Drohen gut Betuchte mit dem Wegzug, kuscht eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung. Sie fürchten um Arbeitsplätze und Steuersubstrat. Sie lassen sich von der millionenschweren Kampagnenmaschinerie der economiesuisse mit ihren Lügenargumenten in die Irre führen. Dies führte nun dazu, dass eine Mehrheit der Stimmberechtigten eine Initiative bachab schickte, von der sie nur hätten profitieren können.

Die Initiative verlangte eine massvolle Erhöhung der Steuern für Superreiche in Steueroasen-Kantonen. Nur eine Minderheit von einem Prozent wäre letztendlich von der Initiative betroffen gewesen. An der Urne stimmten jedoch 58 Prozent für die Interessen dieser kleinen Gruppe. Sie taten dies aus Angst. Angst vor Abwanderung der Multimilliardäre, Angst vor Arbeitsplatzverlust - und vor allem Angst, dass diese Veränderung des Steuersystems schlussendlich doch noch auf irgendeine Art und Weise den Mittelstand treffen könnte.

Das Nein zur Steuergerechtigkeitsinitiative ist eine schwere Schlappe für die SP, die nun nicht schön geredet werden sollte. Wenn die Linke es nicht einmal mehr mit dieser sehr bescheidenen - fast schon lauwarmen - Forderung nach ein bisschen mehr Verteilgerechtigkeit schafft, zu den Menschen in diesem Land durchzudringen, ist das fatal. Fatal, weil wir zeigen, dass wir der Macht der Vermögenden und der Chefs keine Gegenmacht entgegensetzen können. Wir können nicht verhindern, dass einige Superreiche alle anderen Menschen herumschubsen, wie es ihnen passt. Logische Folge davon: weit verbreitete Existenzängste und Frustrationen in der Bevölkerung. Angst und Frust sorgen wiederum dafür, dass die Ellbogen ausgepackt werden - siehe Ausschaffungsinitiative...


Angst und Frust kanalisieren

Die SVP versteht es vortrefflich, die Ängste und Frustrationen in der arbeitenden Bevölkerung zu kanalisieren; sie weg zu leiten von den wirklichen Verursachenden - den Machthabenden - und sie gegen die noch Ohnmächtigeren zu lenken: Schuld an meiner Misere ist nicht mehr der Chef, der von mir immer mehr Leistung zu immer weniger Lohn verlangt. Schuld ist nun "der Ausländer", der hierher kommt und auf meine Kosten ein gutes Leben hat. Wen wundert es da, dass die SVP über zig Millionen Franken verfügt für ihre rassistischen Schmutzkampagnen? Derlei Dienstleistungen sind für die Kapitalbesitzenden unbezahlbar - und werden entsprechend honoriert. Wen wundert es da, dass die anderen bürgerlichen Parteien die Ausschaffungsinitiative nicht für ungültig erklären, sondern mit einem Gegenvorschlag in die Kakophonie der SVP einsteigen? Man möchte schliesslich im Wahljahr ebenfalls ein bisschen vom Frustrierten-Kuchen abkriegen - und ganz ungelegen kommt der Anti-Ausländer-Diskurs der eigenen Klientel auch nicht. Wen wundert es da, dass die economiesuisse nicht einen Rappen aufwirft, um der Ausschaffungsinitiative die Stirn zu bieten? Wieso etwas ändern, das in der Vergangenheit so toll die eigenen Schweinereien zu überdecken vermochte?

Und so stehen wir nun nach dieser Abstimmung da und reiben uns die Augen. Wir stehen vor einem zutiefst gespaltenen Land und fragen uns, wie es so weit kommen konnte. Diese Entwicklung macht Angst, furchtbare Angst. Und sie frustriert mich. Was werde ich aus meiner Angst und meinem Frust machen? Ich weiss es nicht.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 45/46/2010 - 66. Jahrgang - 3. Dezember 2010, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2010