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VORWÄRTS/649: Schließung einer Fabrik - Verhandeln oder Kämpfen?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 20/21/2010 vom 28. Mai 10

Verhandeln oder Kämpfen?


mgb. Mitte Mai gab die Mayr.Melnhof AG die definitive Schliessung der Kartonfabrik Deisswil bekannt. Die Gewerkschaft Unia und die Betriebskommission verhandeln derzeit mit der Konzernleitung über einen Sozialplan. Währenddessen plädieren Teile der Belegschaft und gewerkschaftliche Basisaktivisten für einen härteren Kurs. Wie es in Deisswil definitiv weitergeht, ist zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses noch unklar.


So schnell wurde noch selten eine vorwärts-Schlagzeile von der Realität eingeholt: Am 14. Mai erschien unsere neueste Ausgabe mit einem Frontartikel unter dem Titel "Eins, zwei, drei, Deisswil lebt!" Bereits am 12. Mai gab die Mayr-Melnhof AG die definitive Schliessung der Kartonfabrik Deisswil bekannt. Eigentlich wäre der Entscheid erst später erwartet worden. Doch ganz offensichtlich wollte man sich in der Konzernleitung nicht unnötig das Auffahrts-Wochenende durch unliebsame Presseanfragen verderben...

Der Schliessungsentscheid ist ein Schlag ins Gesicht der betroffenen ArbeiterInnen. Ende April versprach die Konzernleitung noch, Alternativen zur Schliessung sorgfältig prüfen zu wollen. Sie startete ein so genanntes Konsultationsverfahren. In diesem Zusammenhang reichten Belegschaft und Unia am 3. Mai mehrere Vorschläge ein. Sie skizzierten gar einen Businessplan in groben Zügen und rechneten vor, dass der Betrieb bei Mehrinvestitionen von 50 bis 100 Millionen Franken für die nächsten 40 Jahre profitabel weiter produzieren könnte. Etwa 210 der 250 Beschäftigten in Deisswil hätten so ihren Job behalten können (siehe vorwärts vom 14. Mai). Doch diese Idee fand nun ebensowenig die Gnade von Mayr-Melnhof, wie der Verkauf an andere Investoren. Der Konzern erachtet es als profitabler, zuerst die Maschinen, dann das Land zu veräussern. Skrupellos schielt er einzig auf den Shareholder-Value. Was mit der Belegschaft passiert, ist ihm offensichtlich völlig egal.


Sozialplanverhandlungen?

Dies zeigt sich nur schon darin, dass die Konzernleitung überhaupt auf die Idee gekommen ist, die Kartonfabrik zu schliessen. Bisher produzierten die DeisswilerInnen stets profitabel. Sogar 2009, auf dem vorläufigen Höhepunkt der Wirtschaftskrise, schrieb der Betrieb einen kleinen Gewinn. Für die Konzernleitung aber leider zu wenig. Mayr-Melnhof möchte seine Produktionsstandorte konzentrieren. Nur die fünf rentabelsten Betriebe bleiben bestehen. Der Rest wird ausrangiert. Mit irgendwelchen betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten lässt sich dies nicht begründen. Es geht einzig und allein darum, mehr Geld an die Aktionärinnen und Aktionäre auszuschütten.

Die Unia konzentriert sich nun hauptsächlich auf Sozialplanverhandlungen. "Für entlassene Deisswil-Beschäftigte ist ein vorbildlicher Sozialplan absolute Pflicht", so die Gewerkschaft in ihrem Communiqué anlässlich des definitiven Schliessungsentscheides. Doch die entsprechenden Verhandlungen gestalten sich bisher harzig. Am 20. Mai fand eine erste Gesprächsrunde statt, die nach etwa zwei Stunden durch die Konzernleitung abgebrochen wurde. Wie Roland Herzog, der Zuständige bei der Unia, gegenüber dem vorwärts erklärte, wurde dabei gar nicht besonders viel verhandelt: "Wir wollten bloss wissen, in welcher Grössenordnung sich der Sozialplan ihrer Meinung nach bewegen soll. Auf das wollte die Geschäftsleitung keine Antwort geben, sondern brach das Gespräch ab." Nun müsse man erst mal die Ausgangslage klären, bevor die Unia ihr weiteres Vorgehen beschliesst. Hoffnungen, dass Mayr-Melnhof von sich aus Hand zu einem guten Sozialplan bietet, hatte er aber bisher eh keine. "Wir müssen sie einfach zu einem guten Sozialplan zwingen", erklärt Herzog.

Für Teile der Belegschaft geht dies zu wenig weit. Sie hegen wenig Hoffnung auf die Sozialplanverhandlungen. Die Reserven der Fabrik in Deisswil reichen bloss noch aus, um die Löhne während der Kündigungsfrist auszubezahlen. Weiteres müsste aus der Tasche der Mayr-Melnhof AG kommen. Dass diese nun plötzlich das Portemonnaie kehrt, wird von dieser Seite bezweifelt. Ausserdem gab es schon immer Stimmen von innerhalb des Betriebs, welche forderten: "Wir wollen keinen Sozialplan, wir wollen unsere Arbeit wieder!" Deshalb sollen nun verschiedene alternative Strategien geprüft werden.


Oder Kampfmassnahmen?

Rainer Thomann ist Basisgewerkschafter und unterstützt als solcher die Belegschaft bei ihrem Arbeitskampf. Wie er gegenüber dem vorwärts ausführt, sind in der momentanen Situation verschiedene Kampfmassnahmen denkbar: "Eine Möglichkeit wäre, den Abtransport des gelagerten Kartons zu blockieren. Es befindet sich noch Karton im Wert von rund 6 Millionen Franken in der Fabrik. Eine andere wäre die Wiederinbetriebnahme einzelner Anlagen, um den Willen, die Produktion weiterzuführen, zum Ausdruck zu bringen." Dies könne bis hin zu einer regelrechten Betriebsbesetzung gehen. Gemäss seiner persönlichen Einschätzung seien aber allzu radikale Massnahmen, wie zum Beispiel eine Besetzung eher unwahrscheinlich. Diese seien für die Belegschaft zu weit weg. Über mögliche Blockademassnahmen müsse jedoch ernsthaft diskutiert werden.

Eine andere Alternative legt die PdA Bern vor. Für einmal solle der Bundesrat Notrecht im Interesse der kleineren Leute anwenden, statt in jenem der Banken. Sie fordert deshalb den Bundesrat auf, die "Kartonfabrik Deisswil zu enteignen". Der Betrieb würde so in die öffentliche Hand übergehen und könnte von den Mitarbeitenden selbst verwaltet werden. "Für den Bund werden keine Verluste entstehen, da die Fabrik selbst in der momentanen Krise profitabel ist." Dass für diese Aktion eine eigentliche Rechtsgrundlage fehlt, ist sich die PdA Bern vollauf bewusst. Sie verweist jedoch auf den Präzedenzfall UBS: Bundesrat und Nationalbank hätten der Grossbank auch ohne Rechtsgrundlage Milliarden zur Verfügung gestellt - primär im Interesse der AktionärInnen. "Da dank Notrecht Aktionäre ihr Geld nicht verloren haben, fordern wir, dass mit Notrecht nun auch verhindert wird, dass Menschen ihre Arbeit verlieren", so die PdA Bern.


Die schiere Existenz

Es werden nun von verschiedenster Seite Aufforderungen an die Belegschaft herangetragen, dieses oder jenes zu tun oder zu lassen. Die Unia setzt ganz auf die Sozialplanverhandlungen und versucht, Diskussionen über alternative Strategien im Keim zu ersticken. (Ein Hinweis darauf ist, dass angesichts des Arbeitskampfes erstaunlich wenige Betriebsversammlungen der Kartonarbeitenden stattfinden.) Sie fühlt sich unmittelbar für den Ausgang der Verhandlungen verantwortlich - und dürfte von der medialen Öffentlichkeit auch dafür verantwortlich gemacht werden. Das ist ein immenser Druck, der auf ihren Schultern lastet. Andererseits tragen die unterstützenden Basisgewerkschafter von ausserhalb des Betriebs verschiedene Ansprüche an die Arbeitenden von Deisswil heran. Sie hoffen, neben der Officine von Bellinzona, ein zweites Symbol für einen erfolgreichen radikalen Arbeitskampf in der Schweiz zu erschaffen.

Schlussendlich gibt es nur eine richtige Entscheidung: Jene, welche die ArbeiterInnen der Kartonfabrik frei und ungebunden angesichts ihrer Situation demokratisch fällen wollen - unabhängig von gelenkter Demokratie à la Unia und unabhängig von anderen externen Einflussnahmen. Wollen sie einen intensiven Arbeitskampf wagen, der gewisse Risiken, aber auch Chancen bietet? Oder wollen sie lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach - sprich: einen einigermassen fairen Sozialplan statt ihrer Arbeit zurück? Einzig die ArbeiterInnen von Deisswil können dies entscheiden. Denn einzig für sie geht es um ihre schiere Existenz.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 20/21/2010 - 66. Jahrgang - 28. Mai 2010, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2010