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VORWÄRTS/613: Was einmal die Sowjetunion war - Teil 2


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38/09 vom 2. Oktober 2009

Was einmal die Sowjetunion war - Teil 2 (*)


luk. Im zweiten Teil der Serie über die ehemalige Sowjetunion werden die in westlichen Medien und Wissenschaften dominierende streng antikommunistische, aber realitätsferne Diskurse über den real existieren Sozialismus und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufgegriffen.


Ein hauptsächliches Problem im Umgang mit den realsozialistischen Ländern beziehungsweise ihren Nachfolgestaaten in den westlichen Diskursen ist, dass jede Sachlichkeit fehlt. Getreu der Ideologie des Kalten Krieges wird der Westen als die Inkarnation der Freiheit, des Guten, der Demokratie, der Menschen- und individuellen Rechte angesehen, während der sozialistische Osten für totale Unterdrückung und Kontrolle, für staatliche Willkür, für Massenmorde, blindes Inhaftieren und Foltern missliebiger Menschen und despotisch-diktatorischen Verhältnissen steht. Das geht so weit, dass Historiker in der "Totalitarismustheorie" das nationalsozialistische Deutschland mit der Sowjetunion, sogar mit der DDR gleichsetzen. Faschismus und Kommunismus seien Ausdrücke derselben totalitären Ideologie. Im Westen hingegen gebe es keine Willkür, wenn, dann ist sie nur Ausnahme. Es gebe keine Unterdrückung politischer Gegner, wenn, dann nur berechtigte. Es gibt keine Überwachung und Kontrolle, wenn, dann nur notwendige und so weiter und so fort. Der Kommunismus ist jedoch das Böse selbst.

Dass solche Darstellungen des Ostens ideologisch motiviert sind und weder wissenschaftlichen noch nur ansatzweise sachlichen Charakter haben, ist offensichtlich. Doch genau aus dieser "westlichen" Perspektive wurden auch die Ereignisse, welche nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Länder nach 1990 stattfanden, rezipiert. Ob in Jugoslawien, in den baltischen Staaten, im Kaukasus oder in der Ukraine: Immer gab es die "guten" westlich-orientierten, nationalistischen, demokratischen Kräfte, immer die "bösen", nostalgisch postkommunistischen, demokratie- und reformfeinlichen Kräfte. Ob in Jugoslawien mit den "guten" Kroaten, Kosovaren und Slowenen und den "bösen" Serben, ob in der ehemaligen Sowjetunion mit dem "guten" Lettland, "guten" Estland und "guten" Litauen, ob in der Ukraine mit dem "guten" Juschtschenko, welcher gegen den "bösen" Janukowitsch ankämpfte, oder im Kaukasus, wo der "gute" Saakaschwili den "bösen" Schewardnadse stürzte findet man immer das gleiche Muster: Fernab von jeder sachlichen Analyse, von jeglicher Korrespondenz mit den realen Verhältnissen werden die Kräfte in die beiden Grundschemata hineingezwängt, wobei die einen mit offener Solidarität, die anderen mit tiefster Abscheu behandelt werden.


Böser Osten, guter Westen?

Natürlich ist die Sowjetunion, sind die realsozialistischen Staaten, auch von Grund auf zu kritisieren, sind ihre Missstände anzuprangern, was falsch war, aufzuzeigen. Aber natürlich muss man dabei sachlich vorgehen! Die Sowjetunion war bei aller Kritik kein totalitärer Menschenfresserstaat, die DDR war kein despotischer Unrechtsstaat und Jugoslawien kein tyrannisches Grossserbisches Reich. Es waren sozialistische Länder, in welchen der Mensch im Mittelpunkt stehen sollte und in vielen Bereichen auch stand. Es waren aber auch Länder, in welchen infolge von Revisionismus vieles falsch war, die Menschen nicht einen richtigen, sondern revidierten Sozialismus lebten, in dem sie auch gezwungen wurden, einen revidierten und keinen richtigen Sozialismus zu leben. Aber aus Fehlern kann man lernen, man kann aufzeigen, was gut, was schlecht war, was man besser machen kann und muss. Doch genau dies wird mit einer pauschalisierenden Aburteilung von allem, was kommunistisch anmutet, verhindert. Der Kommunismus selbst ist das Grundübel, wird gesagt, und nicht die konkreten Fehler, welche in sozialistischen Staaten gemacht wurden. Dabei wird auch das westliche Modell ungerechtfertigt in die Höhe gehoben: Man beruft sich auf eine Demokratie, die für den Normalsterblichen keine gesellschaftliche Partizipation mit sich bringt, dafür vierteljährlich einen Zettel, bei dem man über sehr nicht grundlegende Sachen abstimmen kann, man beruft sich auf Freiheiten, mit welchen hauptsächlich wirtschaftliche gemeint sind, man beruft sich auf ein Rechtssystem, welches es erlaubt, Repression unter rechtsstaatlichen Grundsätzen auszuüben, man beruft sich auf Meinungsfreiheit, wobei nur die herrschende zählt, man beruft sich auf Wohlstand, wobei dieser nicht überall vorkommt. Das System des Kapitalismus - der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Herrschaft der einen Klasse über die andere - wird als "Ende der Geschichte", als bestes mögliches System gepriesen, seine Folgen wie Rassismus, Nationalismus und Kriege als Begleiterscheinungen abgespielt, die wahrscheinlich einer wahnsinnig komplexen, nicht begreifbaren geopolitischen und ethnosozialen Lage erwachsen, aber nichts mit dem Gesellschaftssystem selbst zu tun haben.


Weder beschönigen noch verteufeln

Nun, warum erzähle ich das alles? Ich sollte ja meinen Reisebericht über die Ukraine fortsetzen. Vielleicht, weil es mir ein Anliegen ist, dass die Länder des Ostens nicht unter einer voreingenommenen antikommunistischen Brille wahrgenommen werden. Vielleicht, weil ich so grundlegend schockiert über die Entwicklungen in den ehemals sozialistischen Ländern bin, so grundlegend schockiert, was der Kapitalismus in diese Länder gebracht hat. Wahrscheinlich aber, weil es notwendig ist zu wissen, dass so, wie in den westlichen Medien über den Osten berichtet wird, nicht die die realen Verhältnisse, sondern eine bürgerliche Ideologie abgebildet wird; dass der Kapitalismus nicht ansatzweise Frieden und Freiheit gebracht hat, sondern Rassismus und irrationalen Nationalismus, mitunter Elend und Krieg. Aber es ist eben genau entscheidend, die realen Verhältnisse zu sehen, und hinsichtlich der Realität - sei es die vergangene, sei es die heutige - weder etwas zu beschönigen noch zu verteufeln. Nur so kann man lernen, analysieren und anwenden, handeln.


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Teil 1 dieses Artikels siehe unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Medien -> Alternativ-Presse
VORWÄRTS/611: Was einmal die Sowjetunion war - Teil 1



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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38/2009 - 65. Jahrgang - 2. Oktober 2009, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2009