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VORWÄRTS/594: Krisenübung auf Kosten der Arbeitslosen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 25/26/09 vom 26. Juni 2009

Krisenübung auf Kosten der Arbeitslosen


mgb. Neues aus der Rubrik "Wer bezahlt die Krise": Am 8. Juni - nicht einmal eine Woche nach den Abbaumassnahmen bei der AHV - beschloss der Ständerat auch eine Sanierung der Arbeitslosenversicherung (ALV). Mit 30 zu 8 Stimmen hiess er eine reine Abbauvorlage auf dem Buckel der Wenigverdienenden gut. Die Lohnbeiträge sollen erhöht und die Leistungen gekürzt werden.


Dass die ALV saniert werden muss, ist praktisch unbestritten. Bereits in den vergangenen Jahren guter Konjunktur wies die Versicherung alljährlich ein Defizit von beinahe einer Milliarde Franken aus. Mittlerweile hat sich deshalb ein Defizit von beinahe fünf Milliarden Franken angehäuft. - Und das alles bereits schon vor der Krise. Ursache der Verschuldung war eine zu optimistische Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung bei der letzten Revision der ALV 2003. Aufgrund der damaligen Zahlen senkte man den Beitragssatz von drei auf zwei Prozent des versicherten Lohnes - zu vorschnell, wie wir heute wissen.

Gerade in der momentanen Wirtschaftslage täte eine funktionierende und solide abgestützte Absicherung von Arbeitslosen dringend Not. Die Revision an sich wäre deshalb auch aus linker Sicht zu begrüssen. Überhaupt nicht begrüssenswert ist hingegen, was uns nun die bürgerliche Mehrheit im Parlament vorzusetzen gedenkt: Zum einen möchte sie die Leistungen für die Arbeitslosen weiter beschneiden und so eine halbe Milliarde Franken einsparen. Dies, nachdem bereits bei der letzten Revision massiv gekürzt wurde. Die andere Hälfte der fehlenden Milliarde soll mittels höherer Beiträge durch die Arbeitenden und die Unternehmen zusammenkommen. Tragen müssten den Löwenanteil dieser Kosten in letzter Konsequenz Menschen mit tiefen und mittleren Einkommen.


Arbeit als "Privileg"

Der grösste Brocken bei den Leistungskürzungen ist mit Abstand die vorgesehene Kürzung der Bezugsdauer. Wer 12 Monate einbezahlt hat, soll neu nur noch 260 Taggelder beziehen können. Nur wer 18 Monate hintereinander in die ALV einbezahlt, soll wie bis anhin 400 Taggelder erhalten. Über 55-Jährige sollen künftig mindestens während 22 Monaten einbezahlt haben, um noch 520 Taggelder beziehen zu können. Sonst erhalten sie nur 400 Taggelder. Bisher lag hier die Schwelle bei 18 Monaten. Rund 180 Millionen Franken könnten so jährlich eingespart werden - auf Kosten der Arbeitslosen, die nun früher an die Sozialhilfe abgeschoben werden. In der Folge steigen in einigen Jahren auch hier die Ausgaben stark an, was weitere Sparmassnahmen, diesmal auf dem Rücken der Sozialhilfebeziehenden, zur Folge hat.

Die politische Agenda, die hinter dieser Prekarisierung der Arbeitslosen steckt, ist klar: Es geht darum, die arbeitende Bevölkerung zu disziplinieren: "Die Existenz einer beträchtlichen Reservearmee, die man aufgrund der Überproduktion an Diplomen längst nicht mehr nur auf den unteren Qualifikationsebenen findet, flösst jedem Arbeitnehmer das Gefühl ein, dass er keineswegs unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewissermassen ein Privileg darstellt, freilich ein zerbrechliches und bedrohliches Privileg", wie der französische Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu einst treffend feststellte. Der drohende Verlust dieses "Privilegs" führt dann bei den Arbeitenden dazu, schlechtere Arbeitsbedingungen, flexiblere Arbeitszeiten und einen tieferen Lohn zu akzeptieren.

Ebenfalls dazu beitragen, dass Menschen mit tiefen und mittlerem Einkommen real immer weniger im Portemonnaie haben, dürfte auch die Erhöhung der Beiträge an die ALV. Nach dem Willen von Bundesrat und Ständerat sollen neu 2,3 statt 2 Prozent des versicherten Einkommens an die Arbeitslosenkasse gehen. Aufgrund des Finanzierungssystems der ALV bezahlen Menschen mit einem Einkommen von unter 10.500 Franken monatlich einen - gemessen am Einkommen - überproportionalen Anteil dieser Zusatzfinanzierung. Denn in der Schweiz sind die Löhne nur bis zu dieser Höhe versichert. Wer mehr verdient, zahlt pauschal 210 Franken (2 Prozent von 10.500 Franken) - kriegt dafür aber im Falle einer Arbeitslosigkeit auch nur diesen Lohn vergütet.


Temporäre "Solidarität"

Anstelle der schmerzhaften Leistungskürzungen forderten die Gewerkschaften deshalb die dauerhafte Einführung eines so genannten Solidaritätsprozentes. Gut Verdienende hätten so künftig (je nach Modell) zwischen 1 und 2,3 Prozent ihres Lohnanteils über 10.500 Franken an die ALV abgeben müssen. "Die dauerhafte Einführung des Solidaritätsprozentes ist berechtigt, da die tieferen Einkommen in den letzten Jahren die Verlierer des Wirtschaftsaufschwungs waren und nur die höheren Einkommen von diesem stark profitieren konnten", wie der Gewerkschaftsdachverband "Travail.Suisse" in seiner Vernehmlassungsantwort festhielt.

Doch auch hierfür hatte der Ständerat kein Musikgehör. Immerhin liess er sich erweichen und stimmte der - vom Bundesrat vorgeschlagenen - temporären Einführung eines Solidaritätsprozents für Einkommen zwischen 10.500 und 26.000 Franken zu. Mit diesen zeitlich befristeten Zusatzeinnahmen sollen die Schulden der ALV abgebaut werden. Die Gesetzesrevision kommt nun in der Herbstsession in den Nationalrat. Das Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen (KABBA) rief bereits zum Referendum "dieses Gesetz gegen die Erwerbslosen" auf.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 25/26/2009 - 65. Jahrgang - 26. Juni 2009, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2009