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STREIFZÜGE/045: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 72, Frühling 2018


Streifzüge Nummer 72, Frühling 2018
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde


INHALTSVERZEICHNIS

Petra Ziegler: Einlauf

Peter Oberdammer: Die Inquisition ist tot, es lebe das AMS.
Ideologische Operationen zur symbolischen Rettung der Arbeitsgesellschaft (Teil II: Glaubenslehre)

Peter Oberdammer: Willkommen im arbeitsreligiösen Gulag!

Ilse Bindseil: Welches Ich verschwindet in der Therapie?
Bericht über die Beseitigung eines Doppelgängers

Hermann Engster: Ich - eine Zwiebel.
Überlegungen zu einer Allegorie in Henrik Ibsens Drama Peer Gynt

Emily Philippi: Sprünge im Spiegel.
Das "Ich" bei Unica Zürn und Dietmar Dath

Franz Schandl: Ist das Ich ein Ich oder tut es nur so?

Götz Eisenberg: Wozu Identität?

Franz Schandl: Vermessenes Vermessen oder: Das metrische Ich.
Moderne Subjekte agieren ständig im Schatten ihrer Daten

Peter Klein: Das doppelte Ich

Franz Schandl: Ich will nicht!
Bloßstellungen eines vogelfreien Undichters

Kolumnen
Dead Men Working: Maria Wölflingseder
Immaterial World: Stefan Meretz

Rubrik 2000 abwärts
Maria Wölflingseder (M.Wö)
Severin Heilmann (S.H.)
Franz Schandl (F.S.)

*

Einlauf

von Petra Ziegler

Die aktuelle Ausgabe dreht sich ums "Ich". Wer oder was spielt da Ich, fragen wir uns, bevor es gleich im ersten Anlauf verloren geht und uns drei Seiten weiter als Zwiebel erscheint. Was macht unser Wesen aus? Ist da was, oder bilden wir uns was ein? Als "Ansammlungen von Partikeln der Natur" (Stephen Hawking) haben wir das fragwürdige Kunststück zuwege gebracht, unsere - sagen wir - doch recht bemerkenswerten Potentiale und Fähigkeiten vermittels unserer selbstgeschaffenen zweiten Natur recht armselig zuzustutzen. Im bürgerlichen Gewand treiben wir es nur augenscheinlich bunt. Was uns so im Alltag begegnet sind mehr oder weniger mustergültige Subjekte: flexibel, anpassungsfähig, suchend, strebend, geschäftig von einer Rolle in die nächste wechselnd. Darüber, was es kosten kann, sein Ich zusammenzuhalten und von Menschen in Identitätskäfigen wird in diesem Heft zu lesen sein. Wer bin ich schon?, fragt sich Franz Schandl. Wer bin ich nicht? Wer wir freilich sein könnten, muss am Ende offen bleiben.

Auch wenn wir wertlos sein wollen, können wir nicht preislos sein. Erhöhen mussten wir leider die Aborichtpreis. Sollten die Abos rapid ansteigen, senken wir sie wieder.

Ein Hinweis noch, zugleich eine Einladung: Lorenz Glatz hat aus seinen Reisen zu verlorenen Nachbarn. Die Juden von Wiesmath ein Buch gemacht. Am 14. Mai, 19:00 Uhr, liest er daraus im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Wien 1, Altes Rathaus).

*

Die Inquisition ist tot, es lebe das AMS
Ideologische Operationen zur symbolischen Rettung der Arbeitsgesellschaft

von Peter Oberdammer


Teil II: Glaubenslehre

Im ersten Teil dieses Artikels wurde ein Wandel der staatlichen Arbeitslosenversicherung in Österreich im Zuge der Krise der Arbeitsgesellschaft hin zu einer quasireligiösen, Ideologie (re-)produzierenden Einrichtung postuliert, die ihrer ursprünglichen Aufgabe zur Regulation der Arbeitskraftverwertung großteils verlustig gegangen war. In diesem Teil soll die Funktion des neuen AMS (Arbeitsmarktservice) in ihrer Einbettung in die ideologische Krisenverarbeitung betrachtet werden. Ein Vergleich mit Phänomenen wie Inquisition und Hexenverfolgung aus Zeiten des Spätfeudalismus bietet sich zur Illustration an. So wie Inquisition und Hexenwahn in der frühen Neuzeit von regressiven geistesgeschichtlichen Tendenzen wie dem Rückfall in magisches Denken begleitet waren, ist auch am AMS die fortschreitende Degradierung der arbeitsgesellschaftlichen Ideologie - sozusagen von der "Hochreligion" - zu einem primitiven Opferkult zu beobachten.

Ideologischer Notstand

In beiden Gesellschaften, der spätfeudalen wie der gegenwärtigen spätkapitalistischen kann folgende Konstellation konstatiert werden: Die gesellschaftlichen Umbrüche hatten grundlegende ideologische Standards zur systemkonformen Einordnung der Verhältnisse ins Wanken gebracht, ohne dass sich neue hegemoniale Interpretationsmuster durchgesetzt hätten. Gleichzeitig hatte der rapide gesellschaftliche Wandel ein verstärktes Bedürfnis nach stabilen Erklärungsschemata hervorgebracht. Die Gültigkeit traditioneller Deutungsmuster war nur - zumindest als vereinfachtes Glaubensbekenntnis - aufrechtzuerhalten, wenn die störenden Krisenrealitäten mit dem schuldhaften Handeln von Sündenböcken erklärt bzw. systematisch verdrängt werden konnten. Ein dermaßen verkürzter Sündenbockkult bedient dieses Bedürfnis der gesellschaftlichen Eliten und weiter Teile der Bevölkerung, und erlaubt es gleichzeitig, aufgestaute Angst und Unsicherheit in Aggression zu entladen. Insoweit sind der Hexenwahn und heutige Sozialschmarotzerdebatten strukturell miteinander verwandt.

Sündenbockgenerierung als Elitendiskurs

Sündenbockdiskurse sind für Eliten in Krisensituationen auf zweierlei Weise funktional, als Instrument des angestrebten System- oder des reinen Selbsterhalts als Gruppe.

- Im ersten Fall erlauben Sündenböcke den Eliten, Verantwortung für die Systemprobleme zu delegieren, die Legitimation ihrer Stellung zu bewahren, und somit die Initiative zu behalten. Gestützt auf die Mobilisierung gegen die Schuldigen können die Eliten ihre systemstabilisierenden Ziele effizienter verfolgen und mangelnde politökonomische Ressourcen kompensieren. Der ideologische Kampf der hochmittelalterlichen Kirche gegen die Ketzer hatte - freilich in einem wenig krisenhaften Umfeld - die Machtmittel mobilisiert, um das kirchliche Monopol für Jahrhunderte zu sichern. Die Verelendung der überflüssigen Arbeitslosen durch Hartz IV hat zwar den Niedergang der Arbeitsgesellschaft nicht bremsen können, aber der deutschen Exportökonomie einen Niedriglohnsektor als Konkurrenzvorteil und damit eine Atempause beschert, auch wenn solche "Stabilisierungserfolge" wohl nicht Jahrhunderte anhalten werden.

- Wo solche ideologische Kompensation der realen Probleme nicht mehr greift, und je mehr die Stellung der spezifischen Elitenfraktionen auf ideologischen Arrangements beruht, besteht ein genuines Interesse, diese weiterzupflegen, wenn ihre gesamtgesellschaftliche Funktionalität schwindet; dies umso mehr, je stärker die institutionelle Identifikation mit den gefährdeten Gewissheiten und je absoluter der Wahrheitsanspruch ist.

Wie die römische Kirche bei Aufgabe ihres ideologischen Monopols aufgehört hätte, zu sein, was sie eben in der Feudalgesellschaft war, gilt Ähnliches für die wichtigsten Apologeten der gegenwärtigen Gesellschaft, wie Wirtschaftsforscher, insbesondere von Regierungen und Unternehmen besoldete, Interessensvertreter oder Wirtschaftsjournalisten, würden sie die Tiefe der Krisenrealität anerkennen.

In puncto Absolutheitsanspruch kann die arbeitsgesellschaftliche Ideologie der Moderne mit der feudalen Papstkirche durchaus mithalten, wenn auch nicht im offiziellen Kleid einer Religion. Wer die Arbeit durch Anthropologisierung enthistorisiert, zeigt sich gegenüber rationalen Argumenten und empirischen Tatsachen genauso resistent wie ein religiöser Dogmatiker.

In der Herrschaftspraxis treten natürlich beide Motive parallel auf, und liegen die Unterschiede oft nur in Nuancen: Die neue bürgerliche österreichische Regierung dürfte sich aus den geplanten Kürzungen der Arbeitslosenbezüge auch Einsparungen im Budget erhoffen und legitimiert ihre Pläne recht unverhohlen mit einem Sozialschmarotzerdiskurs, während die bisherige individuelle Drangsalierung der Arbeitslosen unter SPÖ-Führung ideologisch mehr selbstzweckhafte Züge trug. Letzteres gilt insgesamt eher für die Vertreter der Arbeiterbewegung, verdankt sie ihre Daseinsberechtigung doch dem Kampf um die Beteiligung der Arbeiterschaft an den Erträgen des Geschäfts mit deren Arbeitskraft, und würde diese Legitimation glatt verlieren, würde sie anerkennen, dass sich ihr soziologisches Subjekt immer weniger als variables Kapital im kapitalistischen Produktionsprozess verwerten lassen kann. Das Leugnen der Historizität und damit der Vergänglichkeit der abstrakten Arbeit durch deren Anthropologisierung à la Marienthal-Studie wird hier zur Existenzfrage für die eigene Identität.

Ein Anspruch auf Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum ohne dessen Begründung in einem Beitrag zur kapitalistischen Verwertung ist für Funktionäre der traditionellen Arbeiterbewegung so wenig vorstellbar, wie systemimmanent die Finanzierung der Sozialleistungen ohne einen erfolgreichen Verwertungsprozess möglich ist. Die aktuelle Diskussion um die Abschaffung der Notstandshilfe in Österreich illustriert dieses Problem recht deutlich. Während die Forderung nach sozialer Sicherheit für alle, also auch die Prekarisierten, die nie richtig im System drinnen waren, kaum über sozialdemokratische Lippen kommt, es sei denn im Sinne von Vollbeschäftigung, werden die roten Funktionäre nicht müde, das Lied der braven Pflichterfüller zu singen, die über Jahre in das System eingezahlt hätten, und deren Lebensstandard inklusive Zweitwohnsitz (etwa Sozialsprecher Muchitsch unlängst im ORF) man doch jetzt nicht in Frage stellen dürfe. Dementsprechend ist die SPÖ gegen die Abschaffung der Notstandshilfe auf Bundesebene, verschärfte aber in Wien gerade die Bedingungen für Mindestsicherungsbezieher, also für jene "Ausgesteuerten" ohne ein aus früherer Arbeitskraftverwertung legitimiertes Existenzrecht.

So ist es nicht verwunderlich, dass gerade bei den Arbeitnehmerfunktionären in Einrichtungen wie dem AMS der quasireligiöse selbstzweckhafte Arbeitskult ("Die Arbeit hoch") besonders ausgeprägt ist, während Arbeitgeber dasselbe Lied nicht selten als Mittel zum Zweck singen, etwa zur Senkung oder Umgehung von Arbeitsstandards mithilfe von AMS-Schikanen.

Wie die mittelalterliche Kirche bei Verlust ihrer dominanten ideologischen Rolle auch um ihre materielle Grundlage fürchten musste (z.B. durch Einziehung des Kirchenbesitzes), sind es natürlich die Sozialpartnerfunktionäre im Allgemeinen und die von der Arbeitnehmerseite im Besonderen, denen mit ihrer gesellschaftlichen Funktion die Pfründen abhandenzukommen drohen. Die meist roten Funktionäre in Sozialbürokratien wie dem AMS haben daher auch ein höchst persönliches Interesse, den Arbeitsfetisch weiter zu pflegen wie das Phantomempfinden eines amputierten Körperteils.

Die Auflösung der ideologischen Sinnstifter

Das Bedürfnis nach zumindest symbolischer Aufrechterhaltung der alten Ordnung geht über die Eliten weit hinaus und hat eine ganz alltägliche Seite.

- Hartmut Rosa definiert Gegenwart als jenen Zeitraum, für den Handlungsorientierungen stabil bleiben, und konstatiert eine "Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierenden Erfahrungen und Erwartungen ..." in den raschen gesellschaftlichen Umbrüchen der Zeit, die demnach zu einer "Gegenwartsschrumpfung" in "Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Beschäftigungsverhältnissen, Familienarrangements, moralischen wie alltagspraktischen Orientierungen" führten (Rosa 131f). Fix ist nur mehr, dass nichts fix ist. Nun mögen die Zeitspannen, in denen alltägliche Orientierungssysteme stabil blieben, in der Feudalgesellschaft viel länger als in der schnelllebigen kapitalistischen Konsumgesellschaft gewesen sein; was beiden in ihren Spätphasen gemeinsam sein dürfte, ist eine krisenbedingte Beschleunigung.

- Die Auslöser solcher alltagsweltlicher Orientierungslosigkeit können heute im Wesentlichen als direkte oder indirekte Folgen der Krisenentwicklung dechiffriert werden: Der technologische Wandel in Arbeit und Freizeit und die soziale Unsicherheit infolge von Arbeitslosigkeit und Sozialabbau gehören ebenso dazu wie die Folgen des erreichten Niveaus der Unterwerfung von immer mehr Lebensbereichen unter die Warenform. Die fortschreitende Selbstverdinglichung, Individualisierungswahn, die Jagd nach der Selbstverwirklichung als Selbstverwertung und -optimierung in Arbeits- und Privatleben erodierten systematisch die wenigen Knautschzonen sozialer Verhältnisse wie Familie, Beziehungen, Betriebsbelegschaft, usw., die dem Einzelnen alltagsweltliche Stabilität und etwas Deckung vor der nackten Gewalt der Warenwelt boten. Ökonomische Krise und soziale Erosion gehen also Hand in Hand mit der ideologischen Regression zu einem quasireligiösen Opferkult.

- Orientierungslosigkeit erzeugt Ohnmachtsgefühle, die entwürdigen; denn der Mensch bedarf als denkendes Wesen der Herstellung von Sinnzusammenhängen, um zielgerichtet handeln zu können. Aber selbst wo diese praktisch wenig hilfreich sind, stärken Deutungsmöglichkeiten für ihr Schicksal Menschen persönlich bei der Bewältigung und Verarbeitung ihrer Lebensumstände in psychischer wie physischer Hinsicht. "Das Verstehen der Welt ist aber einer der Faktoren, der den Menschen in seiner Gesundheit bestärken würde, ohne dieses Verstehen ist man gesundheitlich geschwächt", meint etwa der Arzt Manfred Nelting, der mit Burn-Out-Geschädigten arbeitet (Nelting 145). Man weiß aus Berichten, dass politische KZ-Insassen, die ihr Leiden in einen antifaschistischen Kampf einordnen konnten, in dieser Extremsituation häufig persönlich stabiler blieben, als etwa Opfer rassistischer Verfolgung, die sich überhaupt keinen Reim auf ihr (zufälliges) Schicksal machen hatten können. Kognitive Dissonanzen sind für den homo cogitans schwer zu ertragen, und so haben alle fetischistischen Gesellschaften immer ideologische Angebote von Sinnzusammenhängen bereitgestellt, um die Herrschaft des sinnlosen Fetischs für den Einzelnen erträglicher zu machen. Deren nachlassende Wirksamkeit steigert die gefühlte Unerträglichkeit.

- Ist die Gesellschaft des Warenfetisches schon an sich geradezu die Apotheose der Sinnlosigkeit, so verschwinden zunehmend subjektive und objektive Möglichkeiten der Befriedigung des Bedürfnisses, den eigenen Alltag zu "begreifen". Während nicht nur die Gegenwartsschrumpfung sondern auch die fortschreitende audio-visuelle Debilisierung in der Konsumgesellschaft dem Einzelnen das Herstellen von Überblick und Sinnzusammenhang erschweren, werden die traditionellen ideologischen Tröster in der Arbeitsgesellschaft immer dysfunktionaler.

Die Rabiatisierung aus der Mitte

Den ideologischen Notstand der spätkapitalistischen Gesellschaft führen die Arbeitslosen sinnfällig vor Augen, wie auch immer das einzelne Warensubjekt sich seine ökonomische Verwertung "erklärt" haben mag:

- Wer ganz prosaisch die Arbeit als notwendige Voraussetzung für den Lebensunterhalt zu verstehen gewohnt war, den muss die massenhafte arbeitslose Existenz in seiner Realitätskonstruktion irritieren, und - bei knappem eigenen Budget trotz arbeitsgesellschaftlicher Plackerei - an dem systemimmanenten Gerechtigkeitsschema zweifeln lassen. Die Gut-Verdienenden, die sich der "Leistungsideologie" entsprechend für den Schmied des erreichten Wohlstandes halten, folgern notgedrungen, dass die nicht mehr Verwertbaren individuell etwas falsch gemacht haben müssen - andernfalls sie selbst die Urheberschaft für das eigene "Glück" in Frage stellen und dieses als ganz ungeschmiedetes anerkennen müssten. Dies erklärt, warum die moderne Leistungsideologie immer Einfallstor für timokratische Tendenzen war, und gesellschaftspolitisch durchaus liberale Menschen bei Arbeitslosen allerhand Abstriche von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten usw. zu akzeptieren bereit sind.

- In dieselbe Richtung wirkt, dass die Individuen in der Moderne sich als Warensubjekte imaginieren und daher gewohnt sind, "... (b) ihr Gegenüber nur noch als Objekt einer erfolgreichen Transaktion anzusehen und schließlich (c) ihr eigenes Vermögen nur noch als 'Ressource' bei der Kalkulation von Verwertungschancen zu betrachten" (Honneth 20), was zur zunehmenden "Selbstverdinglichung des Menschen" (vgl. Anders) führt. Wer also seine Verwertbarkeit als Quelle der gesellschaftlichen Anerkennung betrachtet, wird letztere Unverwertbaren schnell abzusprechen bereit sein.

- Selbst für Individuen, die ihre Arbeit als sozialen Beitrag zur Gesellschaft betrachten und daraus Anerkennung und Selbstwertgefühl beziehen, sind Arbeitslose etwas durchaus Irritierendes. Menschen in Sozialberufen müssen die Vermehrung des Elends als eigenes Scheitern erleben, was manche wohl auch zu Schuldzuweisungen an die eigene Klientel veranlasst. Arbeitet man selbst in bescheiden dotierter Position und/oder notorisch unterbesetzten Sozialeinrichtungen, mag das "arbeitslose" Einkommen doppelt aufreizen, weil es doch so viele sinnvolle Tätigkeiten gäbe, für die Hände und Hirne fehlen. Da liegt der Gedanke nahe, Arbeitslose zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit wie diverser Notstände im Sozialwesen, Kommunen. usw. zu staatlich verwalteter Zwangsarbeit zu vergattern, und gebiert naive Apologien des so genannten zweiten Arbeitsmarkts, der natürlich kein Markt, sondern öffentlich finanzierte Arbeitssimulation ist.

- "Die Arbeits- und Leistungsgesellschaft ist keine freie Gesellschaft. Die Dialektik von Herr und Knecht führt am Ende nicht zu der Gesellschaft, in der ein jeder ein Freier ist, der auch zur Muße fähig wäre. Sie führt vielmehr zu einer Arbeitergesellschaft, in der der Herr selbst ein Arbeitsknecht geworden ist" (Han, 35). Die Idee, seine gesellschaftliche Position ständig als Arbeitsknecht in einer entfesselten Konkurrenz neu behaupten zu müssen, ist nicht einmal für erklärte "Meritokraten" jemals eine behagliche Perspektive gewesen (vgl. Wallerstein), und tendierten auch sie dazu, einmal erreichte Positionen intergenerationell verfestigen zu wollen, in der Regel über das Bildungssystem und Patronage, gegebenenfalls aber auch über ganz illiberalen Ausschluss unerwünschter sozialer Konkurrenz oder als gesellschaftlicher "Ballast" empfundener Gruppen. Wenn die "Leistung" anderer als geringer als die eigene imaginiert wird, sind diese weniger gut als man selbst. Gilt die Leistung als nicht existent, sind sie nur faul. Von der liberalen Leistungsideologie war es, insbesondere in Krisenzeiten, immer nur ein Schritt zu Phantasmen von der "genetischen Minderwertigkeit Asozialer" wie denen eines Sarrazin.

Es ist nur logisch, dass die Irritation traditionell sinnstiftender Erklärungen der eigenen Arbeitskraftverwertung - als quasi natürliche Basis von materieller Existenz und Verteilungsgerechtigkeit, aber auch von Selbstwertgefühl, Anerkennung und individuellen Konstruktionen von Lebenssinn - durch Massenarbeitslosigkeit in der Mitte der Gesellschaft besonders groß sein wird. Jene Warensubjekte, die systemimmanent alles "richtig" machen, verschärfte Zumutungen in der Arbeitswelt ertragen, sich dabei Burn-Out holen und trotzdem weitermachen, in der Konkurrenz andere erfolgreich niedergetrampelt haben, jedem aktuellen Konsumtrend hinterherhoppeln, notfalls durch Überschuldung und permanente Schnäppchenjagd, und privat für alle Eventualitäten vorsorgen, um niemandem "zur Last zu fallen", mit Unsicherheit und drohendem Statusverlust zu belohnen, ist, wie Gläubigen, die die zehn Gebote eingehalten haben, die Hölle zu versprechen.

Da schlägt der nackte Fetisch hart ins Gesicht, und die aus heiterem Himmel Getroffenen schlagen zurück; gegen wen auch immer, den sie verantwortlich machen können. Die Radikalisierung, besser die Rabiatisierung der Mitte mündet in "angepasste Rebellionen" (vgl. Räthzel), seien es Revolten gegen die da oben, die nur das Personal gegen die besseren Populisten austauschen, oder verschärfte Drangsalierungen von Sündenböcken in den beliebten Ausgaben des "Asylanten" und des "Sozialschmarotzers". Wie sehr dies das gesellschaftliche Klima auch verschärfen mag, am Status quo ändert es wenig, tragen doch alle politischen Lager den "stillen Gesellschaftsvertrag" (Blühdorn 2013) mit, dass sich nichts ändern darf, obwohl es so nicht weiter geht. Statt einem Zurück in die alten Bahnen ohne Krise, erhalten die Rabiatisierten ein Weitermachen in der Krise, angereichert um quasireligiöse Opferrituale, deren es nie genug geben kann, weil sie letztlich Ersatzbefriedigung bleiben.

Ketzerkonstruktion und Ketzerverdammung

Da starre Kategorisierungen bei der Zuweisung von sozialen Rollen wie im Ancien Regime in der aufgeklärten Gesellschaft der Moderne abgelehnt werden, muss Ungleichheit entweder als flexibel, individuell und sachlich gerechtfertigt gelten oder naturalisiert, also biologisch bzw. quasi-biologisch mythologisiert werden. Ersteres gilt als legitime, meritokratische Allokation von Ressourcen und Lebenschancen, letzteres als illegitime Diskriminierung, etwa in Ideologien wie Rassismus, Sexismus, usw., die nicht unzutreffend als die "schwarze Serie" der Moderne bezeichnet worden sind (vgl. Nairn). Auch wenn empirisch die beiden Kriteriensets konvergieren, weil "meritokratische" Selektionsmechanismen in biologistische Stigmatisierung und Verfestigung von Gruppenkonstruktionen übergehen können, etwa bei älteren Arbeitslosen, und umgekehrt, ist die Unterscheidung ideologisch wirkmächtig und daher analytisch zu berücksichtigen.

Obwohl es genügend Rassismus, Sexismus, usw. im AMS geben mag, sind die Ideologien der schwarzen Serie nicht dessen Geschäftsgrundlage. Da gibt es im Service durchaus Abteilungsleiter, in deren Zimmern Plakate zu Diversity-Management prangen, ja die sich rühmen, ihren Mitarbeitern Rassismus oder Sexismus gegenüber den "Kunden" keinesfalls durchgehen zu lassen, und in der letztjährigen Neuausschreibung der AMS-Vorstandsposten wurde explizit "Gender-Kompetenz durch klare Haltung zu Antidiskriminierung und Gleichstellung" verlangt. Der sarrazin'sche genetische Sozialdarwinismus (und Rassismus) für den dummen Kerl wäre den quasireligiösen Intentionen des AMS auch hinderlich, denn wer genetisch nicht anders kann, kann individuell schwer der Sünde bezichtigt werden. Das Feststellen von Sünden ist die negative Affirmation der Gültigkeit des Gebots; und genau darum ging es der Inquisition - und geht es dem AMS. Das ideologische Rohmaterial des letzteren sind die "sachlich" begründeten "Defizite der Arbeitslosen", womit sich die zum Kult verkommene Ideologie der Moderne als "Erlöserreligion" outet, die niemanden prinzipiell von ihrer "heilbringenden Botschaft" ausschließt, vielmehr die universelle Geltung arbeitsreligiöser Dogmen zu erhalten trachtet. Die Verwandlung der Unverwertbaren in Sünder erfolgt in zwei Stufen, die in sich nicht ganz widerspruchsfrei sind, und die man - in Anlehnung an manche Rassismustheorien - Ketzerkonstruktion und Ketzerverdammung nennen könnte.

Das Defizitwesen

Die Ketzerkonstruktion setzt bei den "sachlichen" Umständen des einzelnen Arbeitslosen an, die nicht notwendigerweise als schuldhaft interpretiert werden können. Der Versuch, die realen Verhältnisse individuell - mit im Einzelfall manches Mal plausibeln, aber systematisch verkürzten Ursachen - zu erklären, konstituiert durch die Verallgemeinerung des Defizitcharakters der Arbeitslosen und die Ausblendung struktureller Ursachen bereits eine erste ideologische Metamorphose: Arbeitslosigkeit ist von einem Problem für den Betroffenen zu einem von diesem verursachten geworden. Der Anspruch der "aktiven Arbeitsmarktpolitik", die Individuen durch Um- und Nachqualifizierung für den Arbeitsmarkt besser verwertbar zu machen, ist ihr Anknüpfungspunkt.

- Die augenscheinlichsten Beispiele sind die von AMS und Medien gerne zitierten Grundschulabsolventen. Nun mag es stimmen, dass in deren Arbeitsmarktsegment Arbeitsplätze am schnellsten wegrationalisiert werden, auch wenn in der Krise keineswegs nur qualifizierte Arbeitskräfte nachgefragt werden, aber ändert dies an der generellen Schrumpfung des Arbeitsmarktes nichts. Deshalb verschweigt das AMS auch gerne dieser individualisierten Erklärung entgegenstehende Tatsachen, wie z.B. dass über die Hälfte der gemeldeten Arbeitslosen über eine Berufsausbildung oder einen höheren als einen Grundschulabschluss verfügt, oder dass die Akademikerarbeitslosigkeit zwar in Summe relativ niedrig ist, aber inzwischen am schnellsten wächst (2015: 15 %, 2016: 14 %, 2017 immer noch 5 %), auch schneller als das akademische Arbeitskräfteangebot. Die mediale Darstellung von Arbeitslosen schlägt in dieselbe Kerbe, und lehnen Journalisten auf der Suche nach einer "Arbeitslosen-Story" arbeitslose Akademiker oft grundsätzlich als Gesprächpartner ab, weil diese nicht "ins Bild passten".

- Dieses Bild wird häufig mit anderen individuellen "Defiziten" aufgefettet, wie mangelnder physischer oder psychischer Gesundheit oder - der Arbeitskraftverwertung hinderlichen - sozialen Umständen, etwa familiären Betreuungspflichten. Das AMS schickt Arbeitslose gerne zu Gesundheitsuntersuchungen und von da weiter zum Psychiater. Auch wenn dies meist den Zweck hat, Einschränkungen der Vermittelbarkeit bei befreundeten Institutionen "wegdiagnostizieren" zu lassen, bleiben solche amtlichen Defizitfeststellungen jedenfalls stigmatisierend.

Diese Ketzerkonstruktion erlaubte denen, die noch Jobs haben, die Massenarbeitslosigkeit zumindest für bestimmte Zeit zu verdrängen. Wer nicht unqualifiziert, krank oder Alleinerzieherin mit drei Kindern, eines davon behindert, ist, kann sich so beruhigt zurücklehnen und in der falschen Sicherheit wiegen, er/sie werde seinen Arbeitsplatz schon behalten. Mit Fortschreiten der Krise erschöpft dieses Denkmuster seine Glaubwürdigkeit, und bedarf die verunsicherte Masse "echter" Sündenböcke, weshalb das AMS in einer zweiten ideologischen Metamorphose aus Defizitwesen individuell Schuldige machen muss. Denn Qualifikation hin oder her, für arbeitswilliger als die Arbeitslosen kann sich jeder halten.

Verhetzung jenseits des Verhetzungsparagraphen

Verhetzung "gegen eine Kirche oder Religionsgesellschaft oder eine andere nach den vorhandenen oder fehlenden Kriterien der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion oder Weltanschauung, der Staatsangehörigkeit, der Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft, des Geschlechts, einer körperlichen oder geistigen Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung definierte Gruppe" ist in Österreich verboten (§283 StGB), nicht jedoch gegen soziale Gruppen wie Arbeitslose. Der soziale Status ist und bleibt meritokratisch imaginiert, weshalb jeder für diesen - und die negativen gesellschaftlichen Folgen in Form der Überbeanspruchung der sozialen Systeme, etc. - auch verantwortlich gemacht werden darf, so die arbeitsgesellschaftliche Ideologie.

Wie definiert also die AMS-Bußkirche die dem Defizitwesen Arbeitsloser zugeschriebenen individuellen "Mängel" in Folgen eines willentlichen Handelns um?

- Besonders einfach ist dies bei der Qualifizierung: Denn wer bei eintretender Arbeitslosigkeit immer noch nicht unter Anleitung der "heiligen Mutter AMS" auf dem rechten Pfad des LLL zu wandeln bereit ist, also sich "schulen" zu lassen, der ist eben an seiner mangelnden Verwertungsfähigkeit selbst schuld, zumindest wenn man die praktische Sinnhaftigkeit des arbeitsreligiösen Firmunterrichts nicht genauer besieht.

- Auch die Diskriminierung älterer Arbeitssuchender am Arbeitsmarkt wird beim AMS unter dieser Überschrift abgehandelt. Dass wegen ihres Alters Diskriminierte qualifiziert, nicht verjüngt werden, ist auch so ein kleines Paradoxon des Service, und ignoriert die Tatsache, dass diese über hohe Qualifikation und umfangreiche Berufserfahrung verfügen können. Wie auch immer Qualifikation altersbedingter Diskriminierung abhelfen soll, in der Glaubenswelt des AMS ist solcher Unfug durchaus funktional; denn verweigert der 55-jährige Akademiker mit langjähriger Berufserfahrung ein aufoktroyiertes Bewerbungstraining, ist er nicht mehr ein Diskriminierungsopfer, sondern arbeitsunwillig. Und die Verwandlung von objektiven Umständen in subjektives Fehlverhalten ist gelungen.

- Bei längerer Arbeitslosigkeit wird der Schulungsreigen des AMS ein perpetuum mobile; denn die Lehre lautet: Wer länger arbeitslos ist, verliert seine Befähigung zur Arbeitskraftverwertung mehr oder weniger automatisch über den Zeitenlauf. Damit sind nicht spezifische Kenntnisse, die veralten können, gemeint, sondern die prinzipielle Fähigkeit, sich regelmäßig dem Arbeitstrott zu unterwerfen. Es geht also um keinerlei besondere Eigenschaften des variablen Kapitals, sondern um die generelle Eigenschaft als variables Kapital, und die vom AMS verordneten Maßnahmen zu deren Einübung haben keine spezifischeren Namen als Arbeitstraining, Arbeitserprobung, Praktikum etc. Die Verweigerung einer solchen Zurichtung ist - erraten - ebenfalls Arbeitsunwilligkeit.

- Das erwähnte "Wegdefinieren" von gesundheitlichen Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit erlaubt es auch hier, einen individuellen sachlichen Umstand in Schuld arbeitsunwilliger Simulanten zu verwandeln. Der verordneten Fitness to work sind in der Arbeitsrealität aber doch gewisse Grenzen gesetzt, etwa wenn die angeblichen Simulanten unter zugewiesener Arbeit zusammenbrechen. Die Metamorphose mangelnder Gesundheit in Arbeitsunwilligkeit erfolgt daher gerne im Vorfeld einer echten Arbeitsaufnahme; denn schon die Verweigerung einer ärztlichen Untersuchung ist sanktionierbar, und natürlich auch die Verweigerung von AMS-Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung seiner Gesundheit, mit so sprechenden Namen wie "Fit-to-work".

Die Metamorphose von objektiven "Defiziten" in subjektives Verschulden konstruiert ein Arbeitswesen, dessen Lebenszweck nichts anderes zu sein hat, als sich für eine - überwiegend nicht mögliche - Arbeitsaufnahme vorzubereiten.

Die konzentrischen Kreise der Schuld

Wenn mangelnde Qualifikation, Alter, Krankheit, ja eine längere Arbeitslosigkeitsdauer in den eucharistischen Wandlungen des AMS die Metamorphose in Arbeitsunwilligkeit durchmachen können, so steht bei stereotyper Ausblendung des gravierenden Mangels an Arbeitskräftenachfrage außer Zweifel, dass die Annahme einer Beschäftigung eine Willensentscheidung ist. Dennoch setzt die unerbittliche Arithmetik des Verhältnisses von offenen Stellen und Arbeitssuchenden der Möglichkeit zur Beschäftigungsverweigerung enge Grenzen.

Um den Kern des verschwindenden Anteils von Fällen, in denen Arbeitslose überhaupt die Chance hatten, eine ihnen konkret angebotene Beschäftigung zu verweigern, hat das Service im Laufe der Jahre in konzentrischen Kreisen von der Arbeitsmarktrealität immer weiter entfernte Handlungen identifiziert, die als Arbeitsunwilligkeit definiert werden, auf dass der AMS-Beicht- und Bußindustrie ein ausreichendes Maß an Sünden zugeführt werden kann. Diese reichen von der Vorschreibung von Eigenbewerbungen unter Ausklammerung der Arbeitskräftenachfrage, über die Verweigerung all jener Maßnahmen, die Defizite des Arbeitslosen meist nur - symbolisch - beheben sollen, bis zu einem bunten Potpourri von unter dem Begriff Vereitelung zusammengefassten Verhaltensweisen des Arbeitslosen im Umgang mit dem AMS, Stellenangeboten und potentiellen Arbeitgebern. (Details dazu im nächsten Teil dieses Artikels.)

Soweit die AMS-Sanktionsstatistik die im Jahre 2017 sanktionierten 111.451 Sünden der Arbeitslosen aufschlüsselt, bestätigt sie das Gesagte.

- Ziemlich exakt 50 % der Sanktionen wurden wegen Kontrollterminversäumnis verhängt, worunter manches Mal nur eine Verspätung verstanden wird (§49 AlVG).

- Weitere 27 % bestraften Sünden während der vorangegangen Phase der Arbeitskraftverwertung, nämlich arbeitnehmerseitig verursachte Auflösungen des Dienstverhältnisses, seien diese schuldhaft oder nicht, durch Sperrfristen am Beginn des AMS-Leistungsbezuges (§11 AlVG). Die arbeitsreligiöse Ausgabe der christlichen Todsünde des Hochmuts (laut Erzdiözese Wien ein Mangel an Demut und Einsicht in die eigenen "Schattenseiten") besteht wohl darin, eine Arbeitsstelle freiwillig zu verlassen und freie Arbeitsplatzwahl zu beanspruchen.

- Nur 0,21 % der Sanktionen betrifft die Beendigung des Leistungsbezugs wegen genereller Arbeitsunwilligkeit (§9 AlVG), was auch zeigt, dass der völlige Ausschluss, sozusagen die Exkommunikation aus der Arbeitskirche, (noch) nicht das Hauptaugenmerk des AMS ist.

- Die Mehrzahl der "Arbeitsunwilligen" kommen also nicht in die Hölle der Mindestsicherung, sondern in das Fegefeuer vorübergehender Sanktionen wegen Arbeitsunwilligkeit (§10 AlVG), die die restlichen 22 % ausmachen. Aus diesen wurden 2017 erstmals ca. 5,5 % tageweiser Sanktionen wegen unentschuldigten Fehlens in AMS-Schulungen herausgerechnet, so dass die restlichen 17 % alle oben genannten Fälle von Arbeitsunwilligkeit enthalten.

Echte Verweigerungen einer echten Stelle dürften also äußerst selten sein, und das Gros der von der arbeitsgesellschaftlichen Inquisition bestraften Sünden sind nichts anderes als Verstöße gegen vom AMS vorgeschriebene Rituale mit wenig bis gar keinem Bezug zu Annahme einer Beschäftigung. Damit wird die letzte Stufe der Metamorphosen erreicht, die aus dem an seiner Arbeitslosigkeit Schuldigen einen Sünder wider den reinen Glauben macht.

Sünden wider den Glauben

Dass das AMS mangels ausreichender Gelegenheit der Arbeitslosen zum Sündigen, sprich zur Verweigerung der Arbeitsaufnahme, die Sünden vor allem in seinen selbst verordneten Ritualen suchen muss, ist einerseits eine praktische Notwendigkeit, andererseits eine Folge seiner spezifischen Stellung bei der Aufrechterhaltung der arbeitsreligiösen Hegemonie. Das AMS ist nicht abstrakte Lehre, Theologie oder Mission sondern arbeitsreligiöse Reproduktionseinrichtung. Jede Religion bedarf der Rituale, die ihre Lehre in der Praxis in Erinnerung rufen, einüben und zum Bestandteil der alltäglichen Lebensvollzüge machen. Mit jedem Ketzer, der verbrannt wurde, wurde vor Augen geführt, wohin der Unglaube führt, und mit jedem, der noch rechtzeitig widerrief, dass es nur einen rechten Weg geben kann. Rituale sind auch das Zugeständnis an sinnliche Bedürfnisse und die abstrakte Enthaltsamkeit der Gläubigen und vermitteln zwischen der Lehre und dem Alltag. Glaube wird in diesen Praxen ein Teil der Wirklichkeit, auch wenn in den meisten Religionen nach wie vor der Unterschied zwischen dem Inhalt von Ritualen und der sinnlich und rational wahrnehmbaren Welt erkennbar bleibt.

Von der Realpräsenz Christi und der fehlenden Arbeitsplätze

So kann die Wandlung in der christlichen Eucharistie je nach Konfession als Zeichen, Vergegenwärtigung, Symbol, "geistige Gegenwart" oder Realpräsenz Christi verstanden werden, und selbst die Anhänger der letzteren Interpretation, räumen ein, dass sich an der sinnlich wahrnehmbaren Gestalt von Brot und Wein nichts ändere, sondern nur an deren - unsichtbarer - Substanz (Transsubstantionslehre).

Nicht so in der Arbeitsreligion des AMS. Dieses besteht im wörtlichen und materiellen Sinn auf der "Realpräsenz" der Arbeitsplätze, die durch die sanktionierte Arbeitsunwilligkeit verweigert, oder deren Annahme vereitelt worden sei, auch wenn es nicht erklären kann, wie das Wahrnehmen eines Kontrolltermins, eine bestimmte Schulung oder Bewerbung zu einer Arbeitsaufnahme für den Arbeitslosen hätte führen können. Das AMS-Regime ist in dem Sinne wahnhaft, als es die Realität nicht nur quasireligiös interpretiert, sondern diese weitgehend durch Rituale zu ersetzen trachtet, in denen die Glaubensinhalte ihren Ausdruck finden. Diese Rituale wurden und werden - krisenbedingt - immer mehr zur Simulation der erheischten Wirklichkeit, in deren Rahmen vermittelt, geschult, gearbeitet, usw. wird. (Für Details zum simulativen Charakter dieser Rituale siehe den nächsten Teil des Artikels.) Verglichen mit einem christlichen Hochamt im Mittelalter wäre das so, als ob in dessen Rahmen das Bestellen der Felder oder handwerkliche Tätigkeiten nachgestellt worden wären.

Der Glaube als Wirklichkeit

Dass das AMS seine Rituale als Wirklichkeitsersatz konstruiert und nicht als, sagen wir, sonntägliche Gottesdienste, das Aufsagen von Glaubensbekenntnissen, Gebete an die arbeitsplatzschaffende Gottheit, usw. hat natürlich einen spezifischen Grund. In den Gesellschaften des religiösen Fetisches wirkt der Glaube in erster Linie über die Gottheit auf die Realität ein, oder wird das Heil des Menschen überhaupt ins Jenseits verlegt. Der Warenfetisch der Moderne kann nicht offen im religiösen Kleid auftreten, sondern muss zumindest vorgeben, instrumentell rational die Wirklichkeit im Diesseits zu beeinflussen, zu verändern bzw. zu verbessern. Die Rituale des AMS nehmen daher die Form der Fortführung seiner ursprünglichen sozioökonomischen Funktion an, auch wenn sie nur mehr - zur wahnhaft übersteigerten - Affirmation der Glaubensinhalte taugen.

Religionen kleiden sowohl ganz praktische Regeln des Zusammenlebens in religiöse Formen als auch auf die Aufrechterhaltung und Anerkennung des religiösen Fetischs selbst gerichtete Gebote, also einerseits "Du sollst nicht töten", andererseits "Du sollst den Tag des Herrn heiligen". Dem Anspruch nach fällt dies bei den Geboten des AMS zusammen. Sei arbeitswillig, auf dass Du Deine Arbeitskraft verwertest und damit dem Fetisch der abstrakten Wertvermehrung dient. Wenn aber die praktische Konsequenz des Arbeitswillens mangels freier Arbeitsplätze wegfällt, gilt der Appell nur mehr der Aufrechterhaltung des Glaubens als Selbstzweck. "Arbeitsunwilligkeit" wird im AMS-Kanon daher zunehmend zu einer Sünde gegen den reinen Glauben, und die erzwungene Demonstration von Arbeitswilligkeit zu einer - in der sozioökonomischen Praxis dysfunktionalen - Inszenierung von Rechtgläubigkeit.

Es wird berichtet, dass sich in der aztekischen Gesellschaft am Vorabend der spanischen Eroberung Verunsicherung und Desorientierung breit gemacht und die Priester immer nur eine Antwort auf diese Herausforderung gegeben hätten: mehr Opfer, mehr Opfer und noch mehr Menschenopfer, um die Götter zu besänftigen. Der vom AMS verwaltete eskapistische Opferkult wird Thema des letzten Teiles dieses Artikels sein.



Willkommen im arbeitsreligiösen Gulag!

Ein Wiener Arbeitsloser wird mit einer "vorsorglichen" (heißt vor Abhaltung eines ordentlichen Ermittlungsverfahrens verhängten) Bezugseinstellung belegt, weil er eine - wie sich später auch bestätigen sollte - unzumutbare Stelle in einem nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbaren Tiroler Berggasthof abgelehnt hatte, und wird vom AMS zur ärztlichen Untersuchung in eine "befreundete" Einrichtung geschickt. Dort lässt er sich widerstandslos weiter zum Psychiater schicken, obwohl das AMS laut Gerichtsurteil eine solche Zuweisung neuerlich begründen und ein ordnungsgemäßes Verwaltungsverfahren abzuführen hätte. Im abschließenden Gutachten heißt es: "Der hierorts begutachtende Psychiater hat eine akute Belastungsreaktion diagnostiziert und Hinweise für das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung festgestellt und vermutet einen Zusammenhang mit Schwierigkeiten im beruflichen Werdegang." Marienthal lässt grüßen, wenn die Erfolglosigkeit bei der Arbeitskraftverwertung, nicht der Non-Stop-Psychoterror des AMS-Regimes "psychisch belastet".

Psychopathologisierung
Sucht man in dem Gutachten nach den angeblichen "Hinweisen", wird man nur an einer Stelle fündig: "wirkt massiv psychisch belastet, weint kurz, berichtet von drohender Obdachlosigkeit, die Miete im Februar könne [er] gerade noch bezahlen". Soweit nicht unverständlich, aber wo ist hier bitte eine Störung? Ist das nicht eine ziemlich nachvollziehbare Reaktion? Wäre ein entspannter, gelöster und fröhlicher Mensch in einer solchen Situation nicht eher irritierend? Motto: Kein Problem Herr Doktor, ich habe mir schon eine Parkbank zum Schlafen für die Nacht ausgesucht. Medizyner dieser Sorte sehen es offensichtlich als individuelles Defizit der Persönlichkeit an, wenn die Delinquenten die Existenzvernichtungen durch das AMS nicht locker wegstecken. Kann man Schreibtischtätern, die solchen inhumanen Zynismus von sich geben, nicht ein obligates Praktikum, "Mein Winter auf der Parkbank. Ein diagnostischer Selbstversuch" vorschreiben?

Einer flog ins Kuckucksnest
Jedenfalls ist die Stigmatisierung einer Person, die wegen eines Rückenleidens bestimmte berufliche Tätigkeiten nicht mehr ausführen kann, zu einem psychopathologischen Fall erfolgreich geglückt, wenn im Gutachten "eine Diagnostik der Persönlichkeitsstruktur" und - dieser vorgreifend - "regelmäßig psychotherapeutische Behandlung" empfohlen wird. Das AMS wird sich die Chance nicht entgehen lassen, den Betroffenen unter Androhung der Existenzvernichtung dazu anzuhalten, seine Psyche derart behandeln zu lassen, dass er wegen ein bisschen Existenzvernichtung nicht gleich heult. Und wer nicht versteht, dass die strafenden Schläge des AMS nur seinem Seelenheil dienen, der muss doch verrückt sein - und braucht mehr Hiebe, oder?

P.O.



Literatur

Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1 und 2. (München 1956/1980).

Blühdorn, Ingolfur: Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, (Berlin 2013).

Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft (Berlin 2011).

Honneth, Axel: Verdinglichung (Frankfurt am Main 2005).

Nairn, Tom: Der moderne Janus, in: Nairn, Tom/Hobsbawn, Eric/Debray, Regis/Löwy, Michael (Hg.), Nationalismus und Marxismus (Berlin1978), 7-45.

Nelting, Manfred: Burn out. Wenn die Maske zerbricht. Wie man Überbelastung erkennt und neue Wege geht (München 2011).

Räthzel, Nora: Formen von Rassismus in der Bundesrepublik, in: Jäger, Margret/Jäger, Siegfried (Hg.): Aus der Mitte der Gesellschaft. Zu den Ursachen von Rechtsextremismus und Rassismus in Europa (Duisburg 1992), 39-41.

Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne (Frankfurt am Main 2005).

Wallerstein, Immanuel: Bourgeois(ie): Begriff und Realität, in: Balibar, Etienne/Wallerstein, Immanuel, Rasse - Klasse - Nation: Ambivalente Identitäten (Hamburg-Berlin 1992), 167-189.

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Dead Men Working

Totschweigen

von Maria Wölflingseder

"Ich könnte euch Verschiedenes erzählen / Was nicht in euren Lesebüchern steht. / Geschichten, welche im Geschichtsbuch fehlen, / Sind immer die, um die sich alles dreht. / ... / Wir litten Not und sah'n, wie sie entstand. / Die großen Lügen wurden offenbar." So heißt es im Gedicht "Ein alter Mann geht vorüber" von Erich Kästner.

Wenn diese Streifzüge-Ausgabe erscheint, werde ich das Pensionsalter schon fast erreicht haben. Dann möchte ich mich trotz Einkommens unter der Armutsgrenze bei gleichzeitig hohen Ausgaben fürs Wohnen endlich Projekten widmen, die in den letzten Jahren aufgrund verschiedener anderer Dringlichkeiten nicht möglich waren. So wird auch meine Kolumne nicht mehr regelmäßig erscheinen. Nun möchte ich noch einmal den Scheinwerfer auf Grotesken richten, die zeigen, wie sehr Wirklichkeiten oft ausgeklammert werden. Als ob sie durch konsequente Ignoranz retuschiert werden könnten.

Kürzlich gab's im Radio Ö1 des Österreichischen Rundfunks ein einstündiges Gespräch der renommierten Redakteurin Renata Schmidtkunz mit Ute Frevert, der Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Frevert wird als "eine der bedeutendsten deutschen Historikerinnen mit Weltruf" tituliert. Die 1954 Geborene - sie war unter anderem Professorin in Yale - hat ein neues Buch vorgelegt, das im deutschen Feuilleton über den grünen Klee gelobt wird: "Die Politik der Demütigung - Schauplätze von Macht und Ohnmacht". Darin wird ein historischer Abriss über 250 Jahre geboten und gezeigt, dass Beschämung und Demütigung heute noch immer passieren, wenn auch auf andere Weise. Weniger vom Staat gehen sie heute aus als vielmehr von der Gesellschaft selbst, und sie erfolgen größtenteils über die Medien. Dieses Buch behandelt vor allem die verschiedenen historischen und aktuellen Ehrbegriffe und die verschiedenen Arten des Prangers: jenen am Marktplatz über den in der Zeitung bis hin zum Pranger im Internet.

Dass indes auch Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit und Armut kollektiv sowohl von Staats wegen als auch von den Mitmenschen gemeinhin wie "aussätzig" behandelt werden, darüber schweigt die berühmte Historikerin in ihrem 330 Seiten starken Werk eisern. Weder historisch noch aktuell wird dieser Grund der Demütigung großer Teile der Bevölkerung gestreift. Und dass weder die Moderatorin von Ö1 noch einer der zahlreichen Buchrezensenten eine diesbezügliche Frage aufgeworfen hat, verdeutlicht dieses unverhohlene Tabu. - Wissenschaftler und Journalisten schaffen also Realitäten, die mit der Wirklichkeit wenig gemein haben.

Ein weiteres Beispiel hartnäckiger Realitätsverweigerung rief bei den Ö1-Radio Hörenden selten heftige Reaktionen hervor. Dr. Wolfgang Amann, Immobilienforscher und Geschäftsführer des Instituts für Immobilien, Bauen und Wohnen dementierte die gestellte Frage "Läuft der Immobilienmarkt aus dem Ruder?" kategorisch. "Die tatsächlichen Preissteigerungen sind deutlich geringer als die gefühlten", meinte der Wohnexperte. "Die meisten Österreicher wohnen relativ günstig und sind mit den Kosten durchaus zufrieden." Die Tatsache, dass Wohnungen fast nur mehr befristet vergeben werden, wobei jedes Mal drei Monatsmieten Provision und drei Monatsmieten Kaution zu berappen sind, wäre nur für eine kleine Minderheit ein Problem. Der bedrohliche Umstand, dass Wohnen für viele nicht mehr erschwinglich ist, wurde also vehement bestritten. Die harschen Erwiderungen des Radiopublikums zeigen wenigstens, dass sich die Betroffenen noch nicht dafür schämen, sich keine Wohnung mehr leisten zu können.

Aber generell ist die Artikulation von Arbeitslosen und Armutsbetroffenen so gut wie nicht vorhanden. Die Demütigung und die Scham sind zu groß. Die Erkenntnis, dass die Schere zwischen Arm und Reich auch in unseren Breiten immer weiter aufgeht, kommt zwar als Statistik in den Medien vor, aber die von Armut betroffenen Menschen aus Fleisch und Blut mit den sich daraus ergebenden Lebenserschwernissen und -verunmöglichungen sind sowohl in den Medien als auch im Alltag unsichtbar.

Einer der wenigen etablierten Wissenschaftler, der sich über die Gründe dieses Tabus Gedanken macht, ist der österreichische Philosoph Robert Pfaller. Er kritisiert das postmoderne Starren auf das Konzept von Ungleichheiten, Identitäten und Diversität. Immer kleiner werdende Grüppchen werden vor Diskriminierung geschützt, aber die vielfach prekären wirtschaftlichen Verhältnisse sind weder ein Thema noch gibt es dafür eine Beschwerdestelle. Die Political Correctness stelle nicht etwa ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an emanzipatorischen Bestrebungen dar. Wozu Diversität, wenn Gleichheit und Wohlstand verwirklicht wären, fragt Pfaller.

Eine große Organisation, die sich Armutsbekämpfung zur Aufgabe gemacht hat, ist die vor 23 Jahren gegründete "Österreichische Armutskonferenz". Dieses Netzwerk von über 40 sozialen Hilfsorganisationen sowie Bildungs- und Forschungseinrichtungen thematisiert laut Eigendefinition Hintergründe und Ursachen, Daten und Fakten, Strategien und Maßnahmen gegen Armut und soziale Ausgrenzung in Österreich. Sie ist Mitglied des European Anti Poverty Network mit dem "zentralen Ziel, NGOs in einem Netzwerk zusammenzubringen, die sich mit Armutsbekämpfung beschäftigen, und bei politischen Entscheidungsträger*innen der Europäischen Union die Themen Armut und soziale Ausgrenzung auf die Tagesordnung zu bringen".

Mit ihren Hauptforderungen setzt die Armutskonferenz jedoch in klassischer sozialdemokratischer Manier auf keynesianischen Staatsinterventionismus: "1. Es braucht eine Mindestsicherung, die wirklich zum Leben reicht. 2. Es braucht eine qualitätsvolle, gut ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur. 3. Es braucht eine neue und innovative Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitpolitik." - Hingegen spielt nicht einmal das "Bedingungslose Grundeinkommen" eine Rolle. Es wird zwar von der Mitgliedsorganisation "Katholische Sozialakademie" gefordert, aber die meisten anderen Organisationen lehnen es ab.

Laut Armutskonferenz braucht es auch "mehr und umfassende politische Partizipationsmöglichkeiten für Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind". Aber an dem engen Horizont der Bemühungen im Rahmen der Initiative "Sichtbar werden" haben sich schon viele den Kopf gestoßen.

Martin Mair von den "Aktiven Arbeitslosen" weiß ein trauriges Lied davon zu singen: "Von den Straßenzeitungen (Augustin und anderen) organisierte und einige vereinzelte arm Gemachte diskutieren da im bis ins kleinste Detail vorbereiteten geschützten Rahmen über Armut. So nebenbei schöpft die Armutskonferenz ein paar Ideen für subventionsträchtige Projekte ab, bekommt die wachsende Zahl an akademisch zertifizierten ArmutsexpertInnen Anregungen frei Haus geliefert und in scheinöffentlichen Aktionen wird Bildmaterial zur Behübschung der Farbbroschüren der Armutskonferenz angefertigt. Als großartige Entschädigung für die treu in der Armut Verbleibenden (komisch, bislang hat trotz Zugang zum Netzwerk noch fast niemand den Sprung aus der Armut geschafft) gibt es die Gratis-Armenjause ('aber bitte nur ein Getränk bestellen') während die Professionals, die von Staat und EU gespendeten Projektgelder kassieren. Auserwählte dürfen sogar nach Brüssel zur jährlichen Europäischen Armenjause mit kurz anwesenden EU-Politikern fliegen oder sich in ministeriellen Plauderrunden hinter verschlossenen Türen über vermeintliche Aufmerksamkeit der Politik und Verwaltung freuen."

Wer kann sich da des Eindrucks erwehren, Sinn und Zweck dieser paternalistischen Betreuung und Befürsorgung der Armen sei vor allem "eine gelindere und besser getarnte Form der Überwachung und Repression, die den Aufstand der arm Gemachten und als Überflüssige ausgeschiedenen Menschen vermeiden soll". (Weitere Kritik:
www.aktive- arbeitslose.at/briefverkehr/adressatinnen/die_armutskonferenz.html)

Zur langen Geschichte der Armutskonferenz noch eine kleine skurrile, aber aussagekräftige Fußnote. Im Jahr 2005, nachdem die 2. Auflage unseres Sammelbandes "Dead Men Working" erschienen ist, wurde ich als Referentin zur 6. Armutskonferenz mit dem Thema "Mut zum Möglichen!" nach Salzburg eingeladen. Wie alle Vortragenden sollte ich mein Manuskript danach für den Tagungsbericht zur Verfügung stellen. Mein Referat über Arbeitsethos und Arbeitsfetisch wurde jedoch - ohne mich darüber zu informieren - nicht gedruckt. Auf die Antwort meiner schriftlichen Anfrage beim Vorstand warte ich noch heute. Wahrscheinlich waren die Verantwortlichen obendrein verärgert, dass ich mit meiner ach so unerwünschten Kritik als einzige der 80 ReferentInnen zu einem ausführlichen Interview mit den Salzburger Nachrichten gebeten wurde.

Martin Schenk, einer der führenden Köpfe der Armutskonferenz und fleißiger Buchautor, war kürzlich zu Gast auf Radio Ö1, um über sein neues Buch zu sprechen: "Genug gejammert! - Warum wir gerade jetzt ein starkes soziales Netz brauchen" (2017, gem. mit Martin Schriebl-Rümmele). Sehr viel mehr als der Klappentext verrät, erfuhr das Radiopublikum nicht. "Hören wir auf, das soziale Netz krank zu jammern und verbessern wir es dort, wo bereits Lücken entstanden sind. Die positiven Wirkungen des Sozialstaats gehören gestärkt, die Fehlentwicklungen korrigiert." Und die Ausführungen über die verschiedenen europäischen wissenschaftlichen und politischen Armutsvermeidungskonzepte hörten sich recht akademisch an.

Über die konkrete aktuelle Lage von Armutsbetroffenen wurde in dieser einstündigen Sendung mit Martin Schenk kein Wörtchen verloren. Nichts darüber, warum nun bereits viele gut Ausgebildete und AkademikerInnen von Armut betroffen sind. Nichts darüber, wie die Menschen mit der rasanten Verteuerung von Wohnen und Lebensmittel zurechtkommen sollen. Nichts darüber, dass mit dem neuen Pensionsgesetz für alle ab dem Geburtsjahrgang 1955 völlig andere Berechnungsgrundlagen gelten, die die Pension all jener, die nicht durchgehend gut verdient haben, drastisch kürzen. - Dazu auch nur eine klitzekleine Frage zu stellen, ist den ModeratorInnen des öffentlich rechtlichen Rundfunks offenbar nicht gestattet.

Warum schwieg der Sozialexperte Martin Schenk über das Thema der diesjährigen 11. Armutskonferenz: "Die Bedeutung von Anerkennung im Kampf gegen Ungleichheit, Ohnmacht und Spaltung"? Warum hat es sich nach 23 Jahren aufwändiger Bemühungen des europäischen Antiarmutsnetzwerks noch nicht bis Ute Frevert herumgesprochen, dass auch für kollektiv als minderwertig behandelte Arbeitslose und Arme gilt: "Achtung! Demütigung macht krank - Beschämung kränkt die Seele und den Körper."
(www.armutskonferenz.at/news/news-2018/achtung-demuetigung-macht-krank- beschaemung-geht-unter-die-haut.html)

Schließlich noch die Erklärung, warum ich hier Beispiele des Radios Ö1 anführe. Ö1 ist eine Institution. Ja, die Institution für das vereinigte minimallinksliberale Bildungsbürgertum. Zum 50. Geburtstag des Senders verfasste Wolfgang Paterno im Profil (27.6.2017) eine lange "Liebeserklärung", in der es unter anderem heißt: "Ö1 ist noch immer einer der besten Radiosender der Welt, und im Qualitätssektor ist er einer der quotenstärksten Europas." Sicher nicht nur für Paterno verbreitet er auch das höchste an kritischen Gefühlen: "Ö1 ist einige Lust an Renitenz und Differenz eigen. Es ist im weitläufigen ORF-Reich mit seinen obersten Geboten von Ausgewogenheit und Objektivität keineswegs an der Tagesordnung, Politiker und Künstler, Bücher und Theaterpremieren offen zu kritisieren. Ö1 traut sich da mit Charme und Chuzpe erfrischend weit vor ..."
(www.profil.at/kultur/kultursender-oe1-liebeserklaerung-8206486)

Aber ja! Auf Ö1 gibt es durchaus informative Reportagen, unterhaltsame Quizsendungen, kulturelle Schmankerln und anregende "Menschenbilder"! Aber Gesellschaftskritik mit Tiefenschärfe ...?

Einen seltenen öffentlichen Einblick in seine Gedanken bot der langjährige Redakteur Rainer Rosenberg am 19.12.2017 in seiner Dankesrede anlässlich des ihm vom Österreichischen Journalistenclub für sein Lebenswerk verliehenen Dr.-Karl-Renner-Publizistikpreises. Er erinnert dabei an seine Anfänge beim ORF:

"... den Renner-Förderungspreis erhielt ich mit meinen Kolleg/innen für eine Jugendsendereihe, die sich speziell um Berichterstattung aus der Arbeitswelt gekümmert hat, der Bereich, in dem so viele acht und mehr Stunden verbringen, ist nach 40 Jahren nach wie vor ein blinder Fleck journalistischer Berichterstattung geblieben, und vom 'Durchfluten aller Lebensbereiche mit Demokratie' ist gerade hier wenig zu bemerken. Das gilt gerade in einer Zeit, in der jeder Bericht Aktienkurse beeinflussen kann, und in der sich die PR-Abteilungen der Firmen um möglichst intensive Kontrolle dessen bemühen, was nach außen dringt. Das geht vom Industriekonzern zum Fußballverein, von der Schule bis zum Medienunternehmen. In Zeiten der freiwilligen Veröffentlichung fast jeder Intimsphäre bleibt die Arbeitswelt tabu ­..." (oe1.orf.at/artikel/640451)

Dass die Arbeitslosenwelt ein noch größeres Tabu bedeutet, weiß Rainer Rosenberg hoffentlich auch.

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Welches Ich verschwindet in der Therapie?
Bericht über die Beseitigung eines Doppelgängers

von Ilse Bindseil

Sehr geehrte Therapeutin,
es sind einige Jahre vergangen, seitdem ich die Therapie bei Ihnen beendet habe, und es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen von einem Ergebnis Mitteilung zu machen, mit dem ich nicht gerechnet hatte und das sich auch erst allmählich eingestellt beziehungsweise in einer Form herauskristallisiert hat, die mich dann doch überrascht. Vielleicht ist es ja auch für Sie interessant, davon Kenntnis zu nehmen.

Erinnern Sie sich, wie Sie mich, nicht ganz zu Anfang, um mich nicht zu verschrecken, aber nach einigen Stunden gefragt haben, was ich mir persönlich von der Behandlung erhoffe? Das war sicherlich eine Standard-Eröffnung, aber für mich eine komische Frage. Denn natürlich war ich aus persönlichen Gründen gekommen, und ich konnte es mir gar nicht anders denken, als dass die Erwartung mit den Gründen identisch war. Da ich aber wegen eines körperlichen Leidens zu Ihnen geschickt worden war, das zwar Anlass genug bot, alles nur Menschenmögliche zu probieren, aber keine Anhaltspunkte für eine Erwartung, die sich an die Psychologin richten konnte, wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Außerdem war ich es ganz und gar nicht gewohnt, nach meinen Wünschen gefragt zu werden. Auch wenn es merkwürdig klingt: der direkte Appell an meine Person ist mir fremd. Ich muss mich zusammenreißen, dachte ich, ich muss etwas Konkretes formulieren. Etwas Konkretes und zugleich etwas Psychologisches. Ich konnte doch nicht die Praxis einer Psychologin betreten und fragen: Wo sind die Salben, wo ist das Skalpell?

Ich sagte dann - und es war mir bei meinem fortgeschrittenen Alter doch ein wenig peinlich -, dass ich mir wünschen würde, dass mich mein Doppelgänger nicht länger belästigte. Es handelte sich dabei um eine Art zweites Ich, das sich in meinem Umgang mit anderen bemerkbar machte und mit dem paradoxen Anspruch, meine wahre Person zu vertreten und ihre Rechte geltend zu machen, eine vernünftige Kommunikation zu hintertreiben pflegte. Nicht geradezu eine "Stimme", aber doch ein unleugbar sich artikulierendes Interesse, das ich nur als infantil bezeichnen konnte, behinderte dieser Doppelgänger mich nicht nur in der freien Darstellung meiner selbst, sondern widerlegte auch den Eindruck, wann immer er sich einstellen wollte, ich hätte es, ohne es recht zu merken, doch geschafft und wäre so wie andere erwachsen geworden.

Da Sie an den entscheidenden Übergängen stets geschwiegen, mich lediglich aufmerksam angeblickt haben, hatte ich mich auch hier genötigt gefühlt, die Sache genauer zu erklären. Ich hatte Ihnen mitgeteilt, dass es sich in der Tat um mein Ich handelte, das sich aber in einer so drangvollen Form zum Ausdruck brachte, dass jede Verleugnung zwar schnöder Verrat, jedes Bekenntnis zu ihm aber peinlich war. Ein unsichtbarer, aber nimmermüder Wächter über meine inveterate interests, bezog es neben meiner sichtbaren Person Posten und passte auf, dass es nicht geopfert wurde. Einspruch, murmelte es, wenn es merkte, dass ich drauf und dran war, auf eine Floskel - "Wie geht's, wie steht's?" - mit einer Floskel zu antworten: "Alles paletti." In dem Bemühen, beiden Instanzen gerecht zu werden, meinem inneren Ich und dem äußeren meines Gesprächspartners, zugleich individuell und allgemein, nicht nur beides, sondern auch beide, ich und die andern zu sein, verhedderte ich mich bereits im Ansatz meiner Antwort, ja fing sogar wie in kindlicher Vorzeit an zu stottern, wobei ich das Gefühl einer gewissen Fremdheit nicht los wurde. Es wäre zu viel gesagt, wenn ich behaupten würde, das war nicht ich, die da stotterte, aber ich, die das Stottern benutzte. Nur, zu welchem Zweck? Um einer oberflächlichen Frage den Weg in die Tiefe zu weisen? Leicht gesagt. Bei dem Versuch, dem unschuldigen Menschen, dem ich über den Weg gelaufen war, nicht nur die Aporien meiner Existenz zu erläutern, sondern mich ihm mit einer aufrichtigen und vollständigen Erklärung meiner selbst gewissermaßen zu Füßen zu legen, wandelte sich in kürzester Zeit die nette Gelegenheit, ein Wort zu wechseln, in die existentielle Sorge, wie ich aus der Situation wieder herauskommen konnte. Ich glaubte aber, das müsste so sein oder ich mich nur besser erklären. Denn es gab ja nicht zwei Wahrheiten auf einmal, eine für wichtige, andere für unwichtige Adressaten, und ich konnte die Situation doch nicht über die Person siegen lassen. Ich konnte auch nicht zusehen, wie meine höchst individuelle Befindlichkeit in einer nichtssagenden Formel unterging: "So là là" oder "Na ja". In geläufiger Beschönigung: "Wie immer bestens" oder "Bei dem Wetter? Da kann's einem doch nur gutgehen!" Gar in gebildeter Ironie: "Das ist ein weites Feld, Luise." Altmodisch: "Da schweigt des Sängers Höflichkeit." Oder abgeklärt: "Damit fangen wir gar nicht erst an." Wo blieb denn ich dabei?

So umfassend habe ich Ihnen das damals nicht erklärt. Ich griff vielmehr zu einem lustigen Beispiel. Ich wollte, so äußerte ich, wenn mich der Markthändler beim Einpacken der Kartoffeln nach meinem Befinden fragte, nicht mehr diesen unbeschreiblichen Drang spüren, "die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen". Es war mir, sagte ich Ihnen, unmöglich, mich auf die Seite der Konvention zu schlagen. Meine ganze Existenz wäre dadurch infrage gestellt worden. Ich konnte mir daher auch nicht vorstellen, wie sich die Aporie auflösen sollte. Aber ich wollte doch so gern, sagte ich, dass das übereifrige Gestotter aufhörte, an das ich mich nur mit dem Gefühl der Beschämung erinnerte.

Kurz und gut, ich drückte die Hoffnung aus, ich könnte eins sein und der Doppelgänger verschwinden. Von dem physischen Leiden, das mich zu Ihnen gebracht hatte, konnte man schlechterdings nicht hoffen, dass es verschwand. Es vom Doppelgänger, wiewohl ein Etwas ohne jede physische Realität, zu erwarten kam mir, ehrlich gesagt, nicht weniger abenteuerlich vor. Aber Sie hatten mich nun mal gefragt, und es handelte sich ja eindeutig um etwas "Psychisches". Außerdem konnte ich mit dieser Antwort meinen guten Willen, womöglich auch eine günstige Prognose unter Beweis stellen. Wer hofft, ist nicht tot, schloss ich bei mir, und wer auf eine Frage antworten konnte, war nicht unbelehrbar. Indem ich auf Ihre Eingangsfrage - "Was erwarten Sie sich von der Therapie?" - mit einer Antwort reagierte, die mich selbst überraschte, bot ich mich Ihnen, so kam es mir damals vor, als eine geeignete Patientin dar und wiederholte zugleich den Mechanismus, von dem ich befreit werden wollte. Denn so wie immer, hatte ich auch in dieser Lage "die Wahrheit gesagt".

Was weder Sie noch ich beim Abschluss der Therapie wissen konnten und sich als Ergebnis erst Monate später herausstellte: Die Hoffnung hat sich erfüllt, der Doppelgänger ist weg. Auch die Behinderungen, die durch seine lautlosen Interventionen hervorgerufen wurden, haben sich verflüchtigt. In der beiläufigen Unterhaltung verheddere ich mich nicht mehr, von Stottern keine Spur. Ich verirre mich auch nicht mehr in den Weitläufigkeiten meiner Person. Mühelos schaffe ich das Unmögliche: ohne oberflächlich zu werden, bleibe ich auf der Oberfläche des Gesprächs. Wie Sie es vielleicht auf den Punkt bringen würden: ich bringe nicht mehr das Richtige am falschen Ort zur Sprache. Unmittelbarer Vorteil bei der neuen Sache: ich brauche mir nicht vorzunehmen, was ich sagen möchte. Ich kann einen Satz sorglos beginnen und sicher sein, dass ich ihn ebenso sorglos beende. Es ist ja mein Satz. Ich kann auch mal nichts sagen, nur winken, nicken, lächeln, mit den Augen lächeln und so fort. Was soll ich Ihnen sagen: vor kurzem habe ich jemandem zugezwinkert! Und dies alles, ohne dass nach meiner Erinnerung die Therapie, die wir bis in den Bruchteil jeder Sekunde genutzt haben, auf die eingangs geäußerte Hoffnung fokussiert gewesen wäre. Wir hatten ja so viel Konkreteres, auch so viel Prinzipielles zu bereden.

Nicht lange, sagte ich nach dem ersten Erstaunen zu mir, und du wirst können, was du immer am meisten bewundert hast: die Gedanken verfertigen beim Reden. Denn natürlich hatte ich wie alle Schülerinnen des Mädchengymnasiums für Kleist geschwärmt.

Ich will nun noch von einer unerwarteten Nebenwirkung meines Therapieerfolgs berichten.

Ich hatte zwar den Wunsch geäußert, dass der Doppelgänger aus meinen Unterhaltungen verschwindet, hätte aber nie damit gerechnet, dass mit ihm auch mein Ich verschwinden könnte. Ich muss mir, wenn überhaupt etwas, dann eine Art Regierungswechsel vorgestellt haben. Mein infantiles Ich würde meinem erwachsenen Ich weichen. Es würde in schönster hegelscher Dialektik durch mein erwachsenes Ich aufgehoben werden, und sei es nur in der Weise, dass ich die Partei wechselte und mein erwachsenes Ich als meinen wahren Repräsentanten akzeptierte und mit ihm eins wurde, so dass für mein infantiles Ich faktisch und logisch kein Platz blieb. Prompt würde es sich in den biographischen Untergrund, dahin wo es herkam und wo es hingehörte, zurückziehen. Wieviel Integration, wieviel Verdrängung jeweils im Spiel sein mochte: am Ende wäre ich in einem uneingeschränkten Sinn ich. So ungefähr muss ich mir das gedacht haben.

Es kam aber anders. Auch mein erwachsenes Ich verschwand, als wenn es bloß der Doppelgänger meines infantilen Ichs gewesen wäre, ohne eigene Existenz. Das Störende, das Unfreiwillige, das jede Unterhaltung beschwert hatte, war damit beseitigt, ich freilich nicht mehr beteiligt. Allenfalls noch in der äußerlichen, von Frust und Bedauern unbeeinträchtigten Weise eines zufällig Anwesenden: Da unterhalten sich zwei Vernünftige, stellt er fest. Oder schlicht und einfach: Da unterhalten sich zwei. Oder: Da stehen zwei im öffentlichen Leben und reden.

Letzteres traf am ehesten meinen Eindruck. Ich war ein Teil des öffentlichen Lebens geworden, aber mein Ich war nicht mit von der Partie, wenn auch keineswegs ausgeschlossen, und schon gar nicht enttäuscht. Bloß nicht dabei. So wie ich auf der Straße stand und mit der Nachbarin redete, hätte ich nie von mir als von "ich" geredet. Aber ehrlich gesagt: ich vermisste mich nicht.

Kann man sagen, so ist es heute noch, das ist der Stand der Dinge, mein falsches Ich ist verschwunden, aber mein richtiges mit?

Ach, ich weiß nicht, solange es Etappen gibt, wird es nicht die letzte gewesen sein. Soviel kann ich zugeben: Offenbar habe ich keine rechte Vorstellung davon gehabt, was ein Ich ist, sonst hätte ich ja auch besser darauf aufpassen können, oder ich würde es wenigstens vermissen. Erst hinterher ist mir klar, wie fest ich mit einer höchst unzuverlässigen Größe gerechnet habe. Ich rekonstruiere daher: Erstens, durch die Beseitigung eines die Ichentwicklung hindernden infantilen Rests in meiner Persönlichkeit ist mir auch mein Ich abhanden gekommen, und der Verdacht steht im Raum, dass es von Anfang an mehr mit meinem infantilen Ich als mit meiner Vernunft zu tun hatte, oder sagen wir halbe halbe, eine Projektion nicht nur der Vernunft, sondern auch jenes höchst unvernünftigen Ich war, das wir als infantil zu bezeichnen pflegen. Zweitens, ich vermisse es nicht, und auch das deutet auf die enge Beziehung zwischen infantilem und erwachsenem Ich, denn solange jenes existierte, vermisste ich das andere, wo jenes aber weg ist, vermisse ich nichts und niemanden mehr.

Drittens bin ich mit der grammatischen Ich-Funktion, die mir geblieben ist, mehr als nur zufrieden. Nach der jahrzehntelangen Belastung durch ein drängendes inneres Ich ist sie alles andere als unangenehm. Ja, ich hänge an ihr, ich liebe und verehre sie. Sie ist meine kühle Schöne.

Ich will mich in die Erfahrungen anderer Leute nicht einmischen, verehrte Therapeutin, womöglich haben sie ein haltbareres Ich als ich, ein ursprünglich erwachsenes oder ein weniger aufdringliches infantiles Ich. Ich wollte Ihnen nur von meinen berichten.

Ich grüße Sie,
Ihre dankbare Patientin

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Ich - eine Zwiebel
Überlegungen zu einer Allegorie in Henrik Ibsens Drama Peer Gynt

von Hermann Engster

"Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse."
(Karl Marx, VI. These über Feuerbach)


Henrik Ibsens Drama Peer Gynt, ursprünglich ein dramatisches Gedicht nach der Vorlage norwegischer Märchen, dann umgearbeitet zu einem Bühnenstück und uraufgeführt 1876 in Kristiania (heute Oslo) - dieser Peer Gynt wird gern als der "nordische Faust" bezeichnet, und in der Tat sind die Parallelen unabweisbar. Wie der Goethe'sche Faust durchläuft auch Ibsens Peer Gynt ein Leben voller Irrungen und Wirrungen, wird zeitweilig begleitet von einem dubiosen Knopfmacher, der dämonische Züge trägt, und ein richtiger Teufel tritt auch auf; Peer, am Ende seines Lebens, steht vor den Trümmern seiner Existenz und findet schließlich, zwar nicht Erlösung wie Faust durch Margarethe, aber doch Zuflucht bei Solveig, einer Frau, die ihn liebt und ihm trotz seiner Unstetheit ihr Leben lang die Treue gehalten hat. Edvard Grieg hat zu dem Bühnenstück eine Schauspielmusik komponiert, die beiden Peer Gynt-Suiten, eine Musik freilich, die nach einhelliger Meinung wegen ihrer nationalromantischen Schwelgerei überhaupt nicht zu dem modernen Charakter dieses Anti-Helden-Dramas passt, zumal Ibsen selbst dem norwegischen Nationalismus kritisch gegenüberstand.

"Peer, du lügst!"

Mit dieser Schelte von Peers Mutter beginnt das Drama. Und mit dem Wort "Lüge" klingt auch das Leitmotiv des Stücks an. Der Goethe'sche Faust, als alter Wissenschaftler tief enttäuscht über die Vergeblichkeit seiner Suche nach Erkenntnis der Welt, flüchtet sich in das Blendwerk der Magie und überschreibt seine Seele dem Teufel, dem Herrn der Lügen, der ihn in die "wahre" Welt entführen soll. Lüge und Selbsttäuschung begleiten auch den Bauernsohn Peer Gynt, und dies schon von Jugend auf, indem er sich vor der bedrängenden Realität in Lügengeschichten flüchtet. Sein Vater Jon hat durch Misswirtschaft und Alkoholismus den Hof verwahrlosen lassen, doch in Peers Phantasie verwandelt sich der Hof in einen herrlichen Palast. Seine eigene Nichtsnutzigkeit verklärt er zur Heldenhaftigkeit, indem er seiner Mutter Aase, die ihn überbehütet und vergöttert, allerlei gefährliche Abenteuertaten vorgaukelt, z.B. dass er auf einem Ziegenbock halsbrecherisch über einen Gebirgskamm geritten sei. (Angeblich über den Besseggen, einen markanten Grat im Gebirge Jotunheimen - zu deutsch "Riesenwelt" - über den der Schreiber dieser Zeilen einmal selbst gewandert ist.) Begierig nach Liebe und Abenteuern gerät er in die Welt der Trolle und Dämonen und steigt dort in den Rang eines Prinzen auf. Dann entführt er die Verlobte eines anderen, verliebt sich gleichzeitig in die aus einem pietistischen Elternhaus stammende Solveig, die er aber bald wieder verlässt. Er geht, gleich Faust, in die Welt hinaus, ist wie dieser größenwahnsinnig und narzisstisch, ein Egomane und Hochstapler, und getrieben von der Gier nach Macht, Reichtum und Frauen, streift er ziellos herum, kommt schließlich durch Waffenschiebereien und Sklavenhandel zu Reichtum, stürzt dann aber durch Fehlschläge in Armut ab. Der IV. Akt zeigt ihn in Marokko, wo er durch einen Affenangriff in die Wüste vertrieben wird, er sich in eine Oase rettet, dort ihm aber eine Frau seine letzte Habe stiehlt. Auf dem Tiefpunkt seiner Existenz landet er schließlich in einem Irrenhaus in Kairo, wo ihn ein deutscher Arzt mit dem trefflichen Namen Begriffenfeldt behandelt. Doch anders als der Goethe'sche Faust, der an seinem Lebensende, als skrupelloser Unternehmer geistig verblendet und physisch blind geworden, mit seinen letzten Worten prahlt: Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn. (Faust II, V. 11583 f.), zieht Ibsens Peer Gynt ein bitteres, resignatives Fazit seines Lebens.

Cepa allegorica Ibsensis

Der fünfte und letzte Akt zeigt, wie der alte Peer, heruntergekommen an Leib und Seele, wieder heimkehrt. Im Wald sucht er nach Essbarem und gräbt eine Zwiebel aus. Es ist Pfingsten, das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes. Er beginnt die Zwiebel zu schälen, und die Zwiebel wird ihm zu einem Gleichnis für die Stationen seines Lebens:

Du bist eine Zwiebel, nicht mehr.
So, und jetzt wollen wir dich einmal schälen, mein Peer!

(Nimmt eine Zwiebel, pflückt Schicht um Schicht herunter.)
Da außen die rissige Haut der Knolle - das ist der Gescheiterte auf der Jolle.
Die Passagiers-Pelle hier; hm - recht dünn, wie ein Lack -
hat doch eine Spur von Peer Gynt im Geschmack.
Dann das Goldgräber-Ich, das nimmersatte;
der Saft ist weg - wenn es je welchen hatte.
Und dieses Dickfell, so hart und zäh?
Der Pelzjäger ist's von der Hudson-Bay. (...)
Hier der Altertumsforscher, wahr und wahrhaftig.
Und hier der Prophete, ganz frisch und saftig;
er stinkt zum Himmel vor lauter Lügen,
dass man Wasser davon in die Augen kann kriegen.
Diese Haut, die sich weichlich zusammenrollt,
ist der Herr, der in Freuden verprasste sein Gold.
Die nächste scheint krank, hat schwarze Streifen -
lässt sich als Pfaffe oder auch als Neger begreifen.

(Schält mehrere Schichten auf einmal herunter.)
Das nimmt ja kein Ende! Lage um Lage!
Tritt denn der Kern nicht endlich zutage?
Nein, soll man es glauben - da ist ja keiner!
Nichts als Schalen - nur immer kleiner und kleiner!
Die Natur ist witzig!
(Wirft die Reste fort.)

Zit. nach: Henrik Ibsen: Schauspiele. Stuttgart 1968
(Übersetzung von Christian Morgenstern)

Die Zwiebel ist die Allegorie für sein Leben. Sie ist kein Symbol; denn das Symbol zeichnet sich dadurch aus, dass der Sinngehalt des Bezeichneten den Rahmen des Zeichens übersteigt und vielfältige Interpretationen zulässt. Die Allegorie hingegen hat einen festumrissenen Rahmen, innerhalb dessen sich Zeichen und Bedeutung decken. So auch hier, und so ist die Interpretation einfach, drängt sich förmlich auf: Peer Gynts Inneres ist ein verfehltes Ich, ein Nichts. Diese späte Einsicht wird ihm zudem am Schluss, als er bei der auf ihn wartenden Solveig Zuflucht findet, vom Autor geradezu in den Mund gelegt:

Peer Gynt
So sag, wo Peer Gynt die Zeit über war -

Solveig
Wo er war?

Peer Gynt
- in der Brust der Bestimmung Keim:
wo er war, wie der Herr ihn gewollt und verstanden. (...)
Wo war ich, ich selbst, wahrhaftig im Geist;
wo bin ich, wie Gott mich einst schuf, geblieben?

Solveig
In meinem Glauben, meinem Hoffen und meinem Lieben.

Ob dies als "Erlösung" zu verstehen sei? Wohl kaum. Denn das ist noch nicht das Ende. Abermals kommt der düstere Knopfgießer ins Spiel. Dieser hat Peer bei seiner letzten Begegnung mit ihm prophezeit, dass er ihn umgießen werde wie eine missratene Bleifigur:

Nachdem du doch niemals du selbst gewesen -
was hast du dagegen, dich aufzulösen?

Solveig, obwohl inzwischen erblindet, erkennt Peer und singt, sein Haupt in ihren Schoß gebettet, im vollen Sonnenlicht, wie die Bühnenanweisung lautet:

Ich will dich wiegen, ich will wachen.
Schlaf und träum, liebster Knabe mein!

Überschattet wird dies Scheinbild einer Erlösung durch die zuvor ertönende drohende Stimme des Knopfgießers:

Wir treffen uns am letzten Kreuzweg, Peer,
und dann wird sich zeigen - ich sage nicht mehr.

Es wird dann geschehen, was Ibsen selbst als innersten Grund seines Dichtens formuliert hat:

At leve - er krig med trolde
I hjertets og hjernens hvælv.
At digte, - det er at holde
Dommedag over sig selv.

Leben heißt - Krieg mit Trollen
Im eigenen Herzen und Hirn.
Dichten heißt - Gerichtstag halten
Über sich selbst.

Gerichtstag wird gehalten werden über Peer Gynt, der die ihm von Gott eingegebene Bestimmung seines Ich verfehlt hat.

Kernspaltung

So fromm, so streng, so bürgerlich - diese Vorstellung des Ich. Ihr zufolge ist dem Menschen von Gott ein Wesenskern verliehen, den er im Lauf seines Lebens treu zu bewahren hat, ein Kern, dem eine Bestimmung eingeprägt ist, der er zu folgen hat.

In der Dichtung des Barock ist für diesen Wesenskern metaphorisch das Herz ausersehen, das seinerseits wiederum metaphorisch als Diamant, der härteste aller Edelsteine, betrachtet wird. Sinnfällig dargestellt ist dies in dem Sonett Vergänglichkeit der Schönheit des schlesischen Dichters Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679): Der Sprecher mahnt hier eine junge Frau, ihr Leben nicht auf ihre Schönheit zu bauen, da diese im Lauf der Zeit vergehen werde; stattdessen solle sie ihr Augenmerk auf ihr inneres Wesen richten. Und er schließt mit den Versen: Dein hertze kann allein zu aller zeit bestehen / Dieweil es die Natur aus diamant gemacht.

Diamant - Herz - Kern: Diesen Bildern liegt eine statische Vorstellung vom Ich zugrunde, ein "Abstraktum", wie Marx in der eingangs zitierten VI. Feuerbach-These (MEW, Bd. 3, S. 534) feststellt, eine fetischistische Verklärung, für die heute sich das Modewort "authentisch" spreizt: Das in der universellen Konkurrenz gesellschaftlich atomisierte Individuum soll sich behaupten und seinen Marktwert dadurch steigern, dass es die Parole "Sei du selbst, sei authentisch!" sich zu eigen mache, was nichts anderes heißt, als dass es seine Rolle in der Marktkonkurrenz besonders rücksichtslos zu spielen habe.

Dieses Konzept vom Ich ist deswegen ein Abstraktum, weil es "das menschliche Wesen" (Marx) aus allen sozialen Bindungen und historischen Prozessen herauslöst und zu einem überzeitlichen Phänomen verdinglicht.

Dieses Konzept scheint auch dem Zwiebel-Gleichnis in Peer Gynts Monolog zugrunde zu liegen und lenkt auf diese Weise zielsicher dessen Interpretation. Man geht überdies nicht fehl, wenn man in dem Verdikt, das im Monolog enthalten ist, die Stimme des impliziten Autors vernimmt.

Auf der Höhe der europäischen Moderne

Die Norweger Henrik Ibsen und Knut Hamsun, der Schwede August Strindberg, die Dänen Jens Peter Jacobsen und Herman Bang - vor allem diese Schriftsteller - haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ihrer literarischen Produktion die skandinavische Literatur auf die Höhe der europäischen Moderne gehoben. In der skandinavistischen Literaturwissenschaft wird dies als "det moderne gjennombrudd" (der moderne Durchbruch) markiert. Diese Modernisierung der Literatur hatte auch ihre gesellschaftlichen Ursachen.

Obwohl sich die skandinavischen Länder wegen ihrer vorwiegend agrarisch geprägten Wirtschaft noch auf einer eher frühindustriellen Entwicklungsstufe befanden, nahmen diese Schriftsteller doch mit wachsamem Blick die politisch-ökonomischen Verhältnisse in Europa wahr, zumal sie selber auch zeitweilig längere Zeit im Ausland lebten. Ibsen, um den es hier geht, hatte Kontakt mit der norwegischen Arbeiterbewegung, kannte die Ideen der utopischen Sozialisten und gehörte einem Zirkel junger Intellektueller in Kristiania an.

Neuer Wein in altem Schlauch

Sollten wir uns mit dieser - dem Anschein nach eindeutigen - Interpretation des Zwiebel-Monologs begnügen? Einer Deutung, nach welcher Peer Gynt den Kern seines Wesens zerstört und seine Bestimmung verfehlt hat, indem er erkennt, dass er nur aus Schalen besteht und sein Ich ein Nichts ist? Oder verbirgt sich in der Zwiebel-Allegorie eine tiefer liegende Bedeutung, mit der die intuitive Mimesis des Dichters an die gesellschaftliche Wirklichkeit ihn eine Einsicht formulieren lässt, die seinen psychologischen und ethisch-diskursiven Horizont übersteigt? So wie der Sinn eines Kunstwerks nicht deckungsgleich ist mit dem diskursiv formatierten Bewusstsein seines Autors?

Der Schreiber dieser Zeilen ist nicht so vermessen, sich auf das Feld der Hirnphysiologie oder Kognitionspsychologie zu begeben, meint aber doch, dass es dort mittlerweile gesicherte Erkenntnis ist, dass solch ein Wesenskern des Menschen nicht existiert. Übereinstimmende Meinung in den betreffenden Wissenschaften ist, dass das Gehirn des neugeborenen Kindes über eine neuronale Grundstruktur verfügt, die sich im Lauf der Entwicklung infolge der Interaktion des Kindes mit der Außenwelt nach und nach zu einem immer komplexeren System organisiert. Das Gehirn besitzt eine solch immense Plastizität, dass das Lernen bis ins hohe Alter möglich bleibt und dieses Lernen in dem Maße erfolgreich ist, wie sich der Mensch mit der ihn umgebenden Welt auseinandersetzt.

Sehen wir uns Peer Gynts Lebensgang an! Seine Auseinandersetzung mit der Welt geschieht weitgehend in dieser Weise, dass er sich ihr teils durch Flucht in Phantasiewelten zu entziehen sucht, teils aber auch dadurch, dass er sich ihr anpasst und sie zu seinem Vorteil nutzt: als Troll-Prinz, Goldgräber, Reeder, Plantagenfarmer, geschäftstüchtiger Unternehmer in der Heidenmission, Finanzspekulant, Waffenschieber, Sklavenhändler, Guru, Altertumsforscher. So sagt er über sich selbst im IV. Akt:

Das Gynt'sche Ich - das ist ein Heer
von Wünschen, ist ein ganzes Meer
von Launen, Lüsten und Beschlüssen,
von Haben-Wollen, Haben-Müssen,
ein Meer, das diese Brust bewegt
und als mein Herzschlag in mir schlägt.

Alle Chancen, die der Markt ihm zum Geldanhäufen bietet, nutzt er ebenso geschickt wie rücksichtslos aus. Diese Ichs sind die Schalen, die sein Zwiebel-Ich ausmachen. So wie aber das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, so ist auch die Zwiebel mehr als die Summe ihrer Schalen, und das gilt auch für das Ich.

Ensemble: ein zusammengehörendes Ganzes (Duden-Definition)

Damit ist nun der Punkt erreicht, Marx' geniale Erkenntnis aus der eingangs zitierten VI. Feuerbach-These aufzugreifen: "Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse."

Marx' Bestimmung des menschlichen Wesens ist eine andere, wesentlich komplexere als des Aristoteles Definition des Menschen als eines zoon politikón, eines auf Gemeinschaft bezogenen, politischen Wesens. Das Wesen des Ich ist in Marx' Sicht nichts Statisches, Dingliches, sein Wesen entwickelt sich im Prozess. Identität ist nichts Festes, etwas, das "man hat", sondern etwas, das man in einem unabgeschlossenen Prozess wird. Was auf der Mikro-Ebene des Individuums gilt, gilt ebenso auf der Makro-Ebene des Volkes. Derlei vermöchte die sogenannten Identitären wohl zu schmerzen, wären sie denn in der Lage, solche Gedanken zu begreifen. Ohnehin wäre es besser, statt von "Volk" von "Bevölkerung" zu sprechen.

Gesellschaftliche Veränderungen verändern auch das Wesen des Ich. Was folgt daraus für das Ich und seine Haltung zur Welt? "Es kömmt drauf an, sie zu verändern." (Marx, XI. Feuerbach-These; Hervorhebung von Marx)

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2000 Zeichen abwärts

Wortlos glücklich

von Maria Wölflingseder

So sehr das kollektive Schweigen über leidvolle soziale Verhältnisse abzulehnen ist, so sehr wäre Funkstille in anderer Hinsicht dringend vonnöten.

Der im Broadway-Musical "Annie Get Your Gun" beschworenen Verlockung scheint heute die ganze Welt zu erliegen: "There's no business like showbusiness". Nach über 70 Jahren hat sich der Wunsch nach öffentlicher Bewunderung für jedermann und jedefrau digital und global realisiert. Ob das die Erfüllung bringt?

Alles und jedes zerrt das Ich heute in die mediale Öffentlichkeit. Ich poste, also bin ich. Je präsenter desto Ich. Ohne likes and followers bist du niemand. Lieber dislikes und mopping als gar keine Nachrede. Mit Fotos, Videos, GPS-Koordinaten werden in Permanenz Standort, Aktivitäten und Erlebnisse dokumentiert und vom globalen Publikum kommentiert. The show must go on - everywhere.

Ich unverbesserlich Deviante halte mich lieber an Jean Greniers Empfehlung: "Eine Leidenschaft will wohl verborgen, behütet sein, und in diesem Augenblick lernte ich das Geheimnis zu lieben, das jedes Ding schön erscheinen lässt -, ohne dieses Geheimnis ist kein Glück möglich ... Man muss der indiskreten und riskanten Neugier zuvorkommen, indem man ihnen [der Concierge und dem Hotelangestellten] sogar vertrauliche Mitteilungen macht; je mehr man ein geheimnisvolles Leben führen will, desto ehrlicher und tiefer werden die Vertraulichkeiten sein müssen. Selbstverständlich sollen diese Mitteilungen aber auch völlig belanglos sein."

Und ganz bang frage ich mich, werden die Menschen je wieder unvermittelt genießen können? Oder bleibt Robert Walsers Erkenntnis von nun an ein Anachronismus? "Am farbigsten wirken Prosastücke gerade dann, wenn nichts von Farben darin gesagt wird. Auch im Leben, zum Beispiel in der Liebe, ist es ähnlich. Einer, der immer von leben oder von lieben spricht, stört sich sein Lieben oder Leben. Das, was man nicht erwähnt, lebt am lebhaftesten, weil jedes Erwähnen, Andeuten irgendetwas von dem Betreffenden wegnimmt, ihn's angreift, mithin vermindert."

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Sprünge im Spiegel
Das "Ich" bei Unica Zürn und Dietmar Dath

von Emily Philippi

Wenn das so ist, dann möchte ich auch verrückt sein?

Wie komme ich auf die Idee, von Unica Zürn und Dietmar Dath zu erzählen? Vom Mann im Jasmin und der Abschaffung der Arten?

Mein liebes "Ich" befindet sich momentan in dem Alter, in welchem die Schonfrist vor dem sogenannten "Ernst des Lebens" rapide abläuft. Im Hörsaal mahnt, wie einst die Lehrerin, der nette Professor zwar noch, Schals und Mützen nicht zu vergessen, doch am Himmel der "solang's noch geht"-hedonistischen, in letzter Sekunde nochmal faulenzenden Studentenwelt stehen längst die Drohungen, die da heißen "Brotberuf", "Wohnsituation", "Lebensplanung". Da hört der Spaß dann auch auf. Ich kenne bereits die Angst, die ihren Grund nicht mehr sieht, die vorgestellte Sicherheit und die nachgestellte Unsicherheit. Ich erinnere mich noch, denn so lange ist es nicht her, wie ich das Verdrängen von Wissen gelernt habe, das Fressehalten und das Aussprechen von Dingen, die nicht gesagt sein sollten, sowie natürlich das Vereinbaren auf Biegen und Brechen. In mir richten sich die Widersprüche der Gesellschaft, in der ich lebe, ein, und aus dem von außen-innen nach innen-außen gerichteten Misstrauen entsteht die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Eine Form, das ganz Andere zu vermitteln, ist die Sprache, der Stoff ist die Erzählung. Besonders nahe ans liebe "Ich" bzw. auf seine flatterhafte Pelle gerückt sind mir dabei Unica Zürns Erzählungen und Dietmar Daths als Roman getarntes Werk "Die Abschaffung der Arten". Oberflächlich betrachtet, handelt Unica Zürns Schreiben von einer Person, nämlich ihr selbst, während Dietmar Daths Romane ganze Welten erzählen, von "allen" handeln. Ich will den Linien von der Verzweiflung der Einzelnen hin zu den Menschen, wie sie sein könnten, nachgehen, und die Spuren, die hoffend oder fürchtend ins Offene weisen, zu sortieren versuchen.

Auch hier geht es um die Forderung, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

Andere Verhältnisse schaffen andere Menschen. Andere Menschen schaffen andere Verhältnisse.

1977, sieben Jahre nach ihrem tödlichen Sprung aus einem Pariser Fenster, erscheint Unica Zürns Roman "Der Mann im Jasmin". Der erste Satz ist ein erster Satz im wahrsten Sinne des Wortes: "In ihrem sechsten Lebensjahr führt sie ein Traum in der Nacht hinter den hohen Spiegel, der in einem Rahmen aus Mahagoniholz an der Wand ihres Zimmers hängt. Dieser Spiegel wird zu einer offenen Türe, die sie durchschreitet" (1992: 9).

Als wäre die Herausbildung des Ästhetischen aus dem Alltagsleben für sie kein mühseliger Prozess. Stattdessen tut sie, oder sollte man sagen, "geschieht ihr" aus dem bürgerlichen Kinderzimmer heraus ein Sprung. "Die stille Gegenwart erteilt ihr zwei Belehrungen, die sie nicht mehr vergisst: Distance. Passivität." (Ebd.) Sie wird nicht dahin zurückgelangen, woher sie gekommen ist.

Während Unica Zürns Sprung im Kopf geschieht und man ihr diesen bald als Sprung in der Schüssel attestiert, springt Dietmar Dath in eine Zukunft, die sein könnte. Auch "Die Abschaffung der Arten" beginnt damit, dass zwei, die keine Menschen mehr sind, erklären, wie sich die Voraussetzungen verändert haben: "Iz: Also, wer sind wir, wer sind die Gente? [...] Was ist die eindeutigste Veränderung, seit der Befreiung, das Handgreiflichste, Deutlichste?

Cy: Die Sache mit den Gerüchen, denke ich. Der Duft. Daß das überall ist, daß wir damit auf der ganzen Welt jederzeit wissen, was andernorts geschieht." (2010: 11)

In der Welt der Gente gibt es nämlich keine Informationsbeschränkungen mehr. Möglich ist dies durch die Nichtlokalität der Leitfelder eines Systems, das Elektronenverschränkung zur Übertragung von Informationen nutzt. Eine Folge davon ist, dass die Menschen nicht mehr aus ein paar anderen Menschen zusammengesetzt sind, sondern jede aus jedem.

Unica Zürn schreibt ihre Krankheit. Diese Krankheit nennen nicht nur die Ärzte, auch sie selbst Schizophrenie. Der Begriff leitet sich von σχίζειν s'chizein = "zerspalten, zersplittern" und Φρήν phrēn = "Geist, Seele, Zwerchfell" ab. Der Begriff passt ihr gut.

(An dieser Stelle ist es mir wichtig anzumerken, dass ich keinerlei Psychologenhoheit oder Deutschlehrerinnenniedertracht annehmen möchte, Unica Zürns Krankheit zu deuten. Ich weiß von ihr nicht mehr als das, was sie selbst geschrieben hat. Alles, was ich betrachte, lese ich im Text, nirgendwo sonst. Und wenn ich von Unica Zürn "persönlich" spreche, dann meine ich die Person, die ihre Bücher darstellen.)

Gang durch die Trennung

Unica Zürn geht also ins Haus der Krankheiten, in der Erzählung und in die Psychiatrie. Da kann sie arbeiten. Sie bemächtigt sich nicht der Krankheit, aber die kann sich auch ihrer nicht bemächtigen. Es ist eher eine Vereinbarung: "Ich weiß, warum ich dieses Buch anfertige: Um länger als gebührlich krank zu sein. Ich kann jeden Tag neue leere Seiten hineinlegen, die gefüllt werden müssen, so lange werde ich krank bleiben."

Wenn sie erzählt, dann ist es, als würde sie verschwinden. Die Teilung ermöglicht es ihr, das, wovon sie erzählt, ganz zu zeigen. Es berührt sie ja nicht. Die große Angst macht, dass sie nicht berührt wird. Und doch erzählt sie. Die Wechselbeziehung ist, dass je weniger die Schreibende vom Geschriebenen berührt wird, umso mehr das Geschriebene sich selbst berührt. Wahrheit löst Wirklichkeit kategorisch ab. Es wird keine Innenperspektive eingenommen. Meistens schreibt Unica Zürn in der dritten Person Singular. Sie versucht gar nicht erst, sich von innen zu begreifen. Distanz und Passivität. Sie ist stets die Beobachterin. Zum Beispiel des Nachbarsjungen, der ebenfalls als verrückt gilt. Entzückt bemerkt sie, wie er im Garten "die Schlüsselmusik an sein Ohr hält", und schon löst sich die Szene wieder.

Ihre Innerlichkeit erzählt weniger von Empfindungen als von Zuständen. Als sie nach Berlin zurückkehrt, fühlt sie sich "zu allem fähig" (1992: 19). Die Betonung liegt auf "allem". Und die schwarze Depression charakterisiert sie als: "Ihr Geist arbeitet nicht mehr" (1992: 57).

Die Logik der Verrückten ist streng. Unica Zürn schildert ein Gespräch zwischen zwei Selbstmörderinnen:

"In meiner Nähmaschine wohnen zwei oder drei kleine Menschen, kleiner noch als mein Daumen, und wenn ich nähe, dann beginnen sie furchtbar zu schreien und zu weinen, denn die Nähnadel sticht durch ihre Körper hindurch [...] und selbst in der Nacht werde ich wach von ihrem Weinen in der Nähmaschine. [...] Ich weiß nicht, was aus mir werden soll, denn mit dem Nähen von Kleidern verdiene ich mein Brot."

"Welch ein Problem. [...] Du hörst Stimmen, das ist alles."

"Ich weiß sehr gut, was das ist. [...] Aber Stimmen hört man nur in seinem eigenen Kopf. Ich höre die Stimmen in der Nähmaschine."

"Dann musst du dir eine neue Nähmaschine kaufen."

"Dazu habe ich aber kein Geld."

"Dann musst du die Nähmaschine aufschrauben und die kleinen Wesen herausholen."

"O nein. Stell dir einmal vor, wie entsetzlich sie aussehen werden, wenn man sie herausholt - so zerstochen und blutig, wie sie sind - das zu sehen, kann man nicht ertragen."

"Dann musst du dich eben wieder aus dem Fenster stürzen." (1992: 50)

Es ist das Schöne und das Tragische, dass diese Frauen, im Gegensatz zu allen nicht Verrückten, mit dem Widerspruch nicht leben können.

Es entsteht eine eigene Sprache, eine eigene Logik, ein Spiel, dessen Regeln, wenn sie einmal gekommen sind, unerbittlich sind.

Unica Zürn liebt Anagramme. So wie ihr Lebensgefährte Hans Bellmer den weiblichen Körper anagrammatisch bearbeitet - und Unica Zürn ist die Verkörperung von Bellmers Körpern -, treibt sie es mit der Sprache. Auffällig ist die Ähnlichkeit zwischen den sprachlichen und den körperlichen Vorgängen. Glieder wie Buchstaben werden zerlegt, vertauscht und neu kombiniert. Unica Zürn hofft dabei, dass eine Umordnung das Verborgene zum Vorschein bringt. Alles ist schon da, nur die Anordnung stimmt noch nicht. Oft sucht sie tagelang nach Sätzen.

In ihren Sätzen werden Körperteile geworfen, verlegt oder gehen wandern. Verhältnisse und Situationen werden umgeordnet. So oft in der Literatur ist die Stadt eine Frau, aber Unica Zürn will eine Stadt gebären. Sie schließt nicht nur von der Stadt auf die Frau, sondern kann auch mal von sich auf Berlin schließen.

In Unica Zürns Wortwelt ist der Körper mehr als ein Körper. Die Augen betreiben Gaunerei. Weibliche Augen, so schreibt sie, haben sie dazu gebracht, sich in zwei Hälften zu teilen. "Die eine Hälfte, wegen ihrer Unerfahrenheit, ihrer Neigung zum Stolpern verachtet, [...] bekam es gründlich auf den Kopf. Die andere Hälfte hingegen beobachtete." (1997: 131) Die Distanz ist ihr Instinkt und sie erkennt in ihr eine Technik, die sich für die Zerlegungen eignet. Allerdings kann man wohl kaum sagen, dass ihre Spiele frei sind. Der Grund, auf dem sie sich befinden, ist ja, dass etwas nicht stimmt. Trotzdem versucht sie mit ihren Techniken genauer herauszufinden, was es ist.

Im Haus der Krankheiten sagt der Arzt zu ihr: "Das ist ein Meisterschuss: Er hat Ihnen nicht das Herz im Auge durch die Brust geschossen, nein. Er hat mit seinen Schüssen die Herzen aus ihren Augen einfach herausgeblasen. [...] Ich habe nicht einmal einen Knall gehört. Und Sie?" (1997: 153)

Was ihr angetan wird, wird dem Körper getan. Vielleicht, weil es sie physisch am wenigsten berührt? Sie bewegt sich in einem Haus der Krankheiten. Und das Haus besteht aus Räumen, die körpergeteilt sind. Da gibt es das Kopfgewölbe, den Saal der Bäuche, die Busenstube und das Kabinett der Sonnengeflechte. In diesem Haus bewegt sie sich, erforscht die Räume. Was passiert im Kabinett der Sonnengeflechte, der "goldenen Mitte des Leibes, wo alles ruht, außer im Zustand der Liebe und des Bösen?" (1997: 154)

Sie will ihr Geschlecht loswerden, um "wieder zu mir oder zu dir zu kommen". "Wäre es gerecht zugegangen ..." So beginnen ihre Mutmaßungen über das Seinsollen. "Wäre es gerecht zugegangen", sagt sie über eine Wittenauer Patientin, die man heute transgender nennen würde, "wäre sie als Junge auf die Welt gekommen." (1997: 67)

Es geht nicht. "In Wirklichkeit, in meiner Wirklichkeit habe ich mich schweigend davongemacht", erklärt sie. "Der Körper hat es dann auszubaden." (1997: 137) Ihr Körper ist wie die Wirklichkeit, die sie einholt. Sie beschreibt einen eisernen Ring, der sich um ihr Gehirn legt.

Auch der Wahnsinn, der sie einholt, kommt oft instant aus der Wirklichkeit: In Wittenau schreit eine Frau in der Nacht und Unica Zürn schreibt: "Das Thema hat etwas Empörendes, etwas Grauenerregendes. [...] Die Vergangenheit, die sich hinter den Mauern der Irrenanstalt Wittenau abgespielt hat." Die Frau erzählt, dass "die Ärzte und Wächter Verbrecher gewesen waren und sich in unerhörter Weise an den Verrückten vergangen haben". Der ganze Krankensaal hört voller Entsetzen zu, dann wird der Frau eine Beruhigungsspritze verpasst. (Vgl. 1997: 50) Offensichtlich spricht die Frau von der Aktion T4, den 2000 aus den Wittenauer Heilanstalten deportierten und ermordeten Patienten, den Zwangssterilisierungen und dem Luminal. Zwischen 1939 und 1945 verzeichnet Wittenau 4607 Patienten mit ungeklärter Todesursache.

Nazis als Wärter in Gefängnissen und Psychiatrien, Bilder und Abbildungen von Gewalt suchen Unica Zürn immer wieder heim. Ihre schlimmsten Halluzinationen sind gar keine.

Die Teilung, das Davonmachen, ist das Wunderbare und die Teilung funktioniert nicht. Ein Knacks trennt das "schon da". Eine Wand trennt das "noch nicht". Sie tut etwas, das "noch gar nicht geht". Das, was ein Roman kann, kann Unica Zürn nicht.

Ordnung der Bedeutung

Leben wie Unica Zürn, ohne verrückt zu sein. Das sollte einmal möglich sein. Und davon erzählt Dietmar Dath. Wie gut könnte ich mir Unica Zürn in der Welt der Gente denken.

Da sehen die Augen anders: "Cy: Schau direkt in die Sonne, Deine Augen können das. Die Augen der Menschen früher konnten das nicht. [...] Es wird einen besseren Ort geben [...]. Ein schöneres, wahreres Zwielicht." (2010: 449)

Und Cordula Späth erklärt: "Monismus, Epiphänomenalismus ... Emergenz - das waren tastende Versuche gewesen, dem Problem der Verkörperung von sogenannter Intelligenz gerecht zu werden, aber immer von der fetischisierten Intelligenz her gedacht statt von der raumzeitlichen Körperlichkeit. Vom Kopf auf die Füße gestellt haben das dann die Gente ... aus der richtigen Epistemologie lässt sich per Inferenz tatsächlich die richtige Ontologie schälen." (2010: 461)

Die Gente basieren auf der Theorie des Inferentialismus, der Auffassung, dass die Bedeutung von Ausdrücken nicht auf einer empirischen Wirklichkeit basiert, sondern im Zusammenhang eines begrifflichen Beziehungsgefüges. Somit sagt jeder Satz, wo er herkommt und wo er hinwill.

Im Falle der Gente kann auch das Bewusstsein einer Person, eine handlungsfähige Summe von Bedeutungen, das Substrat wechseln. So wie Zeichen nur eine Rolle in einer Folge von Ketten und Schlüssen spielen, gilt das auch für Information, im Besonderen für die genetische. Die Gente können ihr Erbgut modifizieren, ihre Gattung und ihr Geschlecht wechseln, Kopien ihrer selbst erstellen, die sich in unterschiedlichen künstlichen Körpern manifestieren. Es gibt keine Vorgaben, aber Begriffe bringen Begriffsgeschichte und Zukunft mit sich.

Das erinnert sehr an Unica Zürns Zerlegungen. Auch in ihrer Welt gibt es Wahrheit im Denken, wirkliche Strukturen und Vermittlungen. Doch während Unica Zürn ein Haus der Krankheiten ist, das sie, je nach Geschick, betreten und verlassen kann, ist das "Ich" der Gente ein mnemotechnischer Gedächtnispalast.

Gemeinsam ist ihnen das nichtlokale Schauplatzsein. Und auf den persönlichen Gemeinplätzen werden Geschichten erzählt. "Jede wirklich gute Geschichte muss sehr persönlich sein und gleichzeitig subjektübergreifend", sagt die wirklich schlaue Cordula Späth. (Ebd.)

Und wirklich denkt man, hier würden gute Geschichten zu Persönlichkeiten und Persönlichkeiten Geschichten werden. So eine Persönlichkeit kann dann auch ein purer Datenstrom oder ein Gründerschwarm gescheiter Insekten sein.

Und auch Unica Zürn ist gar nicht und ganz eine gute Geschichte. Sie unterhält sich im Spiel mit den Ärzten, die sie heilen werden, die einmal Kranke waren. Sie plaudert mit dem Implex. She waits for herself to arrive but first she has to embark, würde die Gedichtmaschine Frederick Seidel sagen.

Natürlich ist da ein Spalt zwischen Wahrheit und Wirklichkeit.

Die Widersprüche, die ihn erzeugen, können nur konkret, historisch und sozial zur Lösung gebracht werden. Einen Hinweis, wie das werden kann, gibt die exakte Schönheit der Sprache von Dietmar Dath und Unica Zürn. Begriffe, die ich längst verwende, Begriffe, die ich nicht verwende, die sich in den Geschichten neu begreifen, die können mich heute schon die Sprache, wie sie sein kann, schmecken lassen.

Wenn das so ist, dann möchte ich ein Wolf sein.

Und ich ein Rabe.


Literatur

Unica Zürn: Der Mann im Jasmin, Frankfurt/M., Ullstein, 1992.

Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2010.

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2000 Zeichen abwärts

ich ichtet

von Severin Heilmann

Man sagt mir also, ich bin ein Strich in der Landschaft. Existieren bedeutet herausstehen, insofern habe ich, der Strich, eine Existenz. Ich stehe heraus aus einem Ozean der Unverfügbarkeit: I - ganz wie das englische Ich, das groß tut und alleine dasteht. Im deutschen ist das i des ichs regelmäßig klein, höflichkeitshalber; das ich gibt sich bescheiden und dämpft mit seinem abschnürenden Kehllaut den ohnedies dünnen Vokal; und überzogene Erwartungen in seine Bonität gleich dazu. Der abgeschnürte Vokal erscheint also mit vom Rumpf abgetrennten Kopf - das ich denkt gerade! Hierin vollzieht es seine Ichtung: teilt Körper und Geist, ich und die andern, das Weltganze in tausend Splitter und sonst nach Möglichkeit - nichts. Aus der Mitte dieses Nichts ist es entsprungen, doch sein aufgeschwatztes Dasein ist uns traulich bekannt und wir staunen höchstens über diese Verwirklichung.

In englischer Schreibe ist der I-Strich identisch mit dem der Zahl eins, denn das Ich ist Einzelkämpfer. Immerhin lässt sich ein I beliebig zu Massen aufaddieren und (so es sein muss) auch dezimieren. Trotzdem: aus noch so vielen I's erwächst doch keine Emergenz der Geselligkeit - sie taumeln in Ich-Einsamkeiten, stoßen aneinander wie Atome der Edelgase - unfähig zu Bindungen. Anders das Dasein des Säuglings, der noch in seinem Freud'schen Bewusstseinsozean badet und nicht ahnt, dass auch er noch ein kleines ich haben oder werden soll und der keine Grenze weiß, zwischen sich und allem. Ein therapiewürdiger Zustand - später gefällt sich das ausgearbeitete Ich als sorgfältig gegen seine Welt abgegrenzt. Es liebt Zaunpfähle als Striche in der Landschaft und fürchtet sich zu Tode bei geringster Anlösung seiner scharf konturierten Demarkationslinie zum vermeintlichen Außerhalb.

Bisher galt: Die Freiheit des ichs endet dort, wo die Freiheit eines andern (ichs) beginnt. Schade! Von nun an gelte: Unsere Freiheit beginnt dort, wo die Freiheit des ichs endigt!

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Ist das Ich ein Ich oder tut es nur so?

von Franz Schandl

Auch wenn es sich noch so viel einbildet:
Das allmächtige Ich ist ein Trugbild

Das Ich ist nicht einfach gegeben. Das von uns beobachtete Exponat ist kein mündiges Exempel oder dergleichen, auch wenn viele es zum Egoisten oder zum Eigenbrötler bringen und sich einbilden, gerade hier ihr Ich gefunden zu haben. Gefunden wurden allerdings nur Rolle und Maske. Nicht mit Individuen haben wir es zu tun, sondern mit Subjekten, d.h. systemisch zugerichteten Domestiken.

Die Frage, die das bürgerliche Subjekt sich zu stellen hat, ist nicht die Frage nach dem Ich, sondern die nach seiner Positionierung im gesellschaftlichen Getriebe. Also nicht: Wer bin ich?, sondern: Was bin ich?, bzw. umgekehrt: Was machst du? Wir fragen uns wechselseitig nach den Masken und wir erhalten dementsprechende Auskünfte. Die essenzielle Frage Wer bist du? erscheint im alltäglichen Zusammenhang als geradezu unverschämt, als Eingriff in die Intimität. Sie wirkt impertinent. Da wird einem tatsächlich zu nahe getreten.

Die Genügsamkeit, an das verdinglichte Was zu appellieren und das individuelle Wer einfach auszublenden, ist Konvention. Auftreten meint nicht bloß Präsenz, sondern Präsentation. Begegnungen sind keine profanen Erlebnisse, sondern Szenen mit verteilten Rollen. Dass es um Rollen zu gehen hat, steht dabei außer Zweifel. Es gilt, sich aufgrund von Positionen zu bestimmen und für deren Interessen einzutreten. Sämtliche Leben geraten in den Malstrom der Performance.

Das bedeutet nun gar nicht, dass eins auch immer mit seiner Rolle zufrieden wäre. Im Gegenteil, man strebt nach Rollen, die eine höhere Wertigkeit als die aktuelle aufweisen. Das nennt sich Karriere. Gemeinhin soll der Beruf als Berufung angesehen werden. Er ist der Ruf, dem man zu folgen hat. Verlangt wird Identifizierung. Man hat nicht nur eine Aufgabe zu erfüllen und deren Standpunkt einzunehmen, man hat sich subjektiv dazu zu bekennen.

Man ist, was man ist. Wenn es dann heißt, jemand sei in seinem Beruf aufgegangen, ist aus der Identifizierung eine Überidentifizierung geworden. Das abgedankte Ich wird hier sogar noch glorifiziert, keinesfalls bedauert oder beklagt. Es ist das vom Posten verschluckte Leben, das gepriesen wird. Auch in unseren Kontakten treten wir uns als Vertreter gegenüber, wir treffen uns nicht.

"Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen." (Adorno) Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die egomanische Ichversessenheit als krude Ichvergessenheit. Wird das Ich axiomatisch, hat es sich bereits aufgegeben. Prototypisch geschieht dies durch die blindwütige Ausrufung und frenetische Anrufung des freien Willens.

Je schwächer das Ich, desto stärker die Idealisierung von Objekten. Wer nicht an sich glaubt, muss an etwas anderes glauben. Das machtlose Ich schreit nicht nach Erhebung, es lechzt nach Führung. Es will gar nicht raus, es will rangenommen werden: Pflicht und Tugend, Ehre und Vaterland, Leistung und Karriere, Arbeit und Werte. Das ist doch was! Der elende Sermon der Unterwerfung wird da angeleiert und abgefeiert. Ein spezifisches Potpourri diverser Kotzbrocken zeichnet die Singularität des jeweiligen Exemplars aus. Und es will auch aufschauen können, zu den Helden, Promis und Stars, zu den Persönlichkeiten schlechthin. Diese unermüdliche Anbetung hat gerade die spürbare Nichtigkeit des Selbst zur Prämisse. Was es in sich nicht spürt, aber spüren möchte, projiziert es in Leitfiguren, zu denen es aufblicken will. Fix ist die Fixierung, die eine fetischistische ist.

Jede potenzielle Stärke des Ich negiert sich in der Personalisierung durch Außersichsetzung in Anderem. Die misslingende Selbstliebe des Ich wird systematisch ausgelagert. Das Subjekt ist zu beschreiben als das atomisierte und uniformierte Wesen. Es ist sich allein, aber es sind ihrer viele. Der Wahn hat den Traum substituiert. Und der ist kein Spiel, sondern Ernst.

Es ist immer wieder dasselbe: Befreiung wird nicht als ständige Aufgabe, sondern Freiheit als solide Grundlage angenommen. Das Ich ist jedoch ein Trugbild, dessen wir bedürfen, eine Selbsttäuschung, die wir nötig haben, eine Bürg(er)schaft, der wir uns versichern. So die Gesetze der Matrix. Im vorausgesetzten Ich ersetzt das Projektive das Reflexive. Als Zumutung empfindet das Subjekt, wenn ihm das Ich abgesprochen wird, denn in seinem Ichwahn wird dieses als konstitutiv und konsolidiert angesehen. Derlei Kritik muss scharf und schroff zurückgewiesen werden. Einwürfe dieser Art werden als persönliche Angriffe gewertet, nicht als sensible Einwände betrachtet.

Das Passiv des bürgerlichen Subjekts hat als Aktiv eines menschlichen Individuums zu erscheinen. Das Wesen des Reaktiven wird aktuell übersetzt als Initiative und Autonomie. Indes, die meisten Entscheidungen, die wir fällen, die fallen uns schon vorab zu oder noch schlimmer: über uns her. Der freie Wille ratifiziert und erhöht sodann diese Willigkeit. Der Raum, den man vielleicht haben könnte, wird gelegentlich verwechselt mit einem Posten, den man hat. An unsere Freiheit nicht zu glauben, fällt uns allerdings schwer. Doch diese Illusion sollten wir uns partout nicht gönnen, sie ist Kennzeichen von Selbstaufgabe und Affirmation. Der Ichwahn ist allgegenwärtig. Größenwahn und Kleinheitswahn sind seine Ausgeburten. Doch bloß wenn das Ich seine chronische Nichtung begreift, wird es wirklich eminent. Es sollte daher nicht a priori deklarieren, was erst zu kreieren wäre.

Nicht die normative Behauptung eines Ich ist zu negieren, wohl aber, dass es sich schon behauptet hätte. "Die Menschen, keiner ausgenommen, sind überhaupt noch nicht sie selbst", schreibt Adorno. Fürwahr. Das Ich ist eine Fiktion. Zumindest weitgehend. Über das kleine Ich-bin-Ich kommt dieses Ich kaum hinaus. Wie denn auch? Woher sollte die Instandsetzung rühren? Ich-Schwäche ist strukturell. Ein Ich kommt also lediglich in jenen Momenten zum Vorschein, wenn Menschen sich gegen ihre Rolle sträuben, ja sich gegen sie auflehnen.

Tatsächlich gelte es das "Ich seines Ichs" erst zu werden, wie Henry Miller einmal feststellte. Das Ich hat zwar keine apriorische Qualität, aber der vitale Keim einer Potenz ist allemal evozierbar. Das Ich ist nicht einfach vorhanden, aber es kann sich entwickeln. Es zu stacheln, ist Aufgabe der Kritik. Das Ich entsteht nicht aus dem Nichts, sondern aus dem Nein. Das Ich ist immer vakant, es ist keine Position, sondern steht stets zur Disposition. Solch Ich vermag sich nur zu setzen, wenn es die Aggregatsformen der Masse, Herde und Horde, überwindet. Gerade weil das kategorisch unmöglich erscheint, sollte man es sich wirksam erlauben. Täglich.

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Wozu Identität?

von Götz Eisenberg

"Jeder Charakter ist ein Irrtum."
(Friedrich Hebbel)

"Ich kenne durchaus keine 'Identitätsprobleme'. Dass ich 'Ungar' bin, ist um nichts absurder, als dass ich 'Jude' bin, ist nicht ein Stück absurder, als dass ich überhaupt bin."
(Imre Kertész)

Alle Welt ist auf der Suche nach Identität. Das Bedürfnis nach ihr hat sich in den letzten Jahren zu einer wahren Besessenheit entwickelt. Ständig "erfinden sich die Leute neu", "leben ihre Träume" und kommen dabei nie zur Ruhe. Die Ränder der Wege, welche die Leute auf ihrer rastlosen Suchbewegung beschritten haben, sind von Identitätsfragmenten übersät, die sie abwerfen wie Schlangen ihre Häute. Die Frage "Wer bin ich doch gleich?" treibt Linke und Rechte, Homo- und Heterosexuelle, Alte und Junge gleichermaßen um und wird auf unterschiedlichste Weisen beantwortet. Firmen bieten ihren Mitarbeitern eine "corporate identity" an, um sie mit dem Betriebsganzen zu verzahnen und das Letzte aus ihnen herauszuholen. Die politische Rechte legt die Leimrute einer "nationalen Identität" aus. Diese vermittelt das vage Gefühl der Zugehörigkeit zu einem imaginären Ganzen, das man seit rund zweihundert Jahren "Nation" nennt. "Ich bin wenigstens ein Deutscher", können sich jene sagen, die sonst nichts mehr haben. Alle diese Antworten sind partikular und vorläufig und werden bald von neuen Zweifeln angenagt. Aus der Verbannung dieses Zweifels rührt der Fanatismus, der den prekären Identitäten innewohnt.

Reparaturkategorien

Alles ist in der Schwebe und in Auflösung begriffen. Mit der Identität ist es wie mit den "Werten": Wenn über sie stark geredet wird, ist es eigentlich bereits zu spät. Begriffe wie Sinn, Werte und Identität sind Reparaturkategorien, die auf einen Mangel antworten. Eine intakte, stark integrierte Gesellschaft muss nicht über das diskutieren, was sie zusammenhält. Der Zusammenhalt ist einfach da - wie die Luft, die man atmet. Ein mit sich identischer Mensch wird nicht von permanenten Sinnfragen heimgesucht und muss sich nicht von den Wühltischen der Identitätshändler bedienen. Er lebt sein Leben, das ist alles. Ich stimme Michel Houellebecq zu, wenn er in einem Interview sagt: "Wenn es eine Idee gibt, die all meine Romane durchzieht, dann ist es die Idee von der absoluten Unumkehrbarkeit von Zerfallsprozessen, wenn sie einmal begonnen haben." Die Moral wird von der wertzynischen Motorik des Geldes zerrieben und kann nicht synthetisch nachproduziert werden wie Kautschuk. "Erst jetzt tritt ein Problem ins Bewusstsein", schrieb der inzwischen verstorbene Soziologe Helmut Dubiel, "welches der kapitalistischen Modernisierung zwar seit ihren Ursprüngen immanent ist, das aber im Restschatten einer traditionalistischen Kultur für Jahrhunderte verborgen blieb. Eine auf die Zwecksetzungen des Marktes und der politischen Administration bezogene Modernisierung der Gesellschaft nährt sich - quasi parasitär - von den Beständen einer gesellschaftlichen Moral, die sie innerhalb ihrer Funktionsgesetzlichkeiten nicht mit produziert. Die Organisation ihrer Rationalität stützt sich zwar auf die Fundamente einer Moral, die den Respekt vertraglicher Abmachungen gebietet, die zu Wahrhaftigkeit, Schutz der Schwächeren und Friedfertigkeit auffordert, trägt aber zur Stabilisierung dieser Fundamente selbst nichts bei. Zu diesen Moralbeständen verhalten sich Markt und Administration wie die große Industrie zu den fossilen Brennstoffen: sie werden im Zuge ihrer Expansion verbrannt."

Mangels fester, kristalliner Bezugspunkte verflüssigt sich alles, die Menschen büßen ihre Gewissheiten und ordnenden Gefüge ein. Es gibt keinen gemeinsamen Nenner mehr, auf den man etwas bringen könnte. Was bleibt, ist der Konsum, der aber seinem Wesen nach nihilistisch ist, keinen Zusammenhalt herstellt und keine stabile moralische Ordnung stiftet. Die einzigen Lösungen für das Individuum ohne Bezugspunkte sind das Auffallen um jeden Preis, die Jagd nach "Distinktionsgewinnen", wie Pierre Bourdieu die Suche nach immer neuen Selbstinszenierungen genannt hat. Dabei werden sich die Individuen in dem Bemühen, sich unterscheiden zu wollen, immer ähnlicher. Das zeitgenössische Konsumverhalten zielt nicht auf den Besitz von Objekten der Begierde, um sich daran zu erfreuen, sondern macht die Objekte sofort nach dem Kauf obsolet. Der Reiz liegt im Akt des Kaufes, nicht im Besitz und der Pflege des Erworbenen. Der eilige Konsument taumelt, wie Umberto Eco in einer seiner Kolumnen schrieb, "in einer ziellosen Bulimie von einem Kaufrausch zum anderen". Was eben gekauft und einverleibt wurde, wird gleich darauf erbrochen und weggeworfen. Das ist der Kitt, der die zerbröselnde Gesellschaft notdürftig zusammenhält.

Dabei "kommt's am Rande des Abgrunds auf Haltung an", wie man früher an Häuserwänden lesen konnte. Nun könnte man als Linker den Zerfall des libidinösen Kitts der Klassengesellschaft ja begrüßen. Aber das Lachen darüber bleibt uns im Halse stecken, wenn wir gewahr werden, dass die Flüchtigkeit von allem und jedem auch die Widerstandskräfte erfasst und schwächt. Die sozialen Bewegungen der jüngsten Zeit lodern auf wie ein trockenes Reisigbündel, wenn man ein Streichholz dranhält und hineinbläst, und sinken dann ganz schnell wieder in sich zusammen. Die Leute gehen nach Hause und machen weiter wie zuvor. Die Flüchtigkeit weist sie als heutige Bewegungen von heutigen Menschen aus, die von klein auf an die Flüchtigkeit gewöhnt sind. Sie haben nicht die richtige Innenausstattung und das psychische Fundament für die Verfolgung langfristiger Ziele. Seltsamerweise scheint es so zu sein, dass mit dem Zerfall der bürgerlichen Subjektstrukturen sich auch die Tugenden des Widerstands auflösen. Ohne ein Mindestmaß an Ich-Stärke, Symbolisierungs- und Sublimierungsfähigkeit, Geduld und Disziplin - also an Identität - ist eine Veränderung der Gesellschaft nicht zu bewerkstelligen. Vor allem die gute, alte Anstrengung des Begriffs scheint jene zu überfordern, die ihre Hausarbeiten aus Wikipedia-Passagen zusammenmontieren und sich per Twitter und Whatsapp austauschen.

Peter Brückner hat in seinem autobiographischen Buch Das Abseits als sicherer Ort die Dialektik des Begriffs Disziplin mit folgenden, sich scheinbar widersprechenden Sätzen beschrieben: "Nur wer zu nichts Bürgerlichem taugt, taugt auch nicht zum Faschisten" und: "Wer nicht wenigstens etwas zum Faschisten taugt, taugt auch nicht zum Widerstand gegen den Faschismus." Selbstdisziplin ist eine Fähigkeit, die uns von unseren leibseelischen Zuständen unabhängig macht - von Ermüdung, von Schmerz, von Angst, von der Lust und Zerstreuung des Augenblicks. Sie gestattet es uns, an Plänen, Entwürfen, Hoffnungen auch dann festzuhalten, wenn wir zu Umwegen genötigt sind oder hart auf Hindernisse stoßen. "Ein jugendlicher Dissident und Anarchist, der begeistert auf den Pfiff seines Turnherrn reagiert, ist ein überaus peinlicher Anblick; aber wartet nur ab, er wird dabei 'Herr über sich selbst' und über gewisse herrschende Verhältnisse - anders würde er später kein leidlicher Antifaschist." Aufgaben erledigen zu können ist auch eine Qualität des Revolutionärs, und zwar unabhängig von der eigenen Motivation, unabhängig davon, wie man sich gerade fühlt, unabhängig von der biographischen Situation und davon, ob es mir gerade Spaß macht.

Die "gut integrierte Persönlichkeit"

Der Begriff Identität ist von Erik H. Erikson der Philosophie entrissen und in die psychoanalytische Theorie eingeführt worden und dann von dort aus peu à peu in die Alltagssprache eingedrungen, wo er zum verschwommenen Allerweltsbegriff wurde. Er ist einer der Kernbegriffe der sogenannten Ich-Psychologie und weist insofern von Anfang an etwas Affirmatives, auf Anpassung und Integration Abzielendes auf. Der Mensch durchläuft Erikson zufolge in seinem Lebenszyklus verschiedene Etappen, deren Übergänge durchaus mit Krisen verbunden sein können, bis er schließlich den Zustand der Ich-Identität erreicht und den reifen Erwachsenhabitus angenommen hat. Die von Erikson als Endstadium gepriesene "gesunde Persönlichkeit" weist eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem durchschnittlichen Mittelschichtsamerikaner auf. Eine Identität zu besitzen heißt, sich nach einer Phase des Umherschweifens festzulegen und dann trotz Wandel von Zeit und Gelegenheit grundsätzlich derselbe zu bleiben: einheitlich, handlungsfähig und in die vorgefundene Gesellschaft "gut integriert". Das Ideal der gut integrierten Persönlichkeit ist illusorisch und ideologisch zugleich, weil die Risse, die durch die äußere Welt verlaufen, auch durch die Individuen gehen.

Eriksons Buch Identität und Lebenszyklus erschien 1959. Wenig später beschäftigte sich der amerikanische Soziologe Daniel Bell mit dem Auftauchen des Massenkonsums, der Zerstörung einer homogenen Wertsphäre und der damit einhergehenden Fragmentierung des Alltags. Wie hängt das zusammen? Warum beginnt man in der Wissenschaft zu diesem Zeitpunkt verstärkt, über Identität und die Probleme des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu diskutieren? Nachgedacht wurde über individuelle und gesellschaftliche Identität erst, als sie in die Krise geraten und von der Furie des Verschwindens erfasst war. Rückblickend erweisen sich die Studien von Daniel Bell als ausgesprochen hellsichtig. Er konstatiert, dass die Einheitlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft zerfällt, die für Bell in ihren Anfängen gegeben war: "In den Anfängen der Moderne verschmolzen bürgerliche Kultur und bürgerliche Sozialstruktur mit einer besonderen, von den Themen Ordnung und Arbeit geprägten Charakterstruktur zu einer klaren Einheit." Die Gegenwartsgesellschaft besteht zunehmend aus "disjunktiven" Bereichen, die jeweils von entgegengesetzten "axialen Prinzipien" gesteuert werden. Diese Bereiche sind im Wesentlichen: die techno-ökonomische Struktur, die politische Ordnung und die Sphäre der Kultur. Zwischen diesen Bereichen existieren Unstimmigkeiten, die für Widersprüche und Konflikte verantwortlich sind, die Gesellschaft und Individuen zerreißen. Der Bereich der Arbeit und der Produktion basiert auf Effizienz und Nützlichkeit, der Bereich der Politik auf der Idee der Gleichheit und der Teilhabe, der Bereich der Kultur auf Selbstverwirklichung. Politik und Ökonomie, die für den Puritaner und nach seinem Verständnis von Beruf verbunden waren, treten auseinander. Das Sparen war der wichtigste Zug des frühen Kapitalismus. Mit dem Aufkommen des Kreditwesens und der Teilzahlung im Alltag wandelt sich die puritanische Moral des Anfangs und weicht einem kämpferischen Hedonismus: "Erst kaufen, später zahlen!", propagierten die Kaufhäuser, und die ersten Geldautomaten lockten mit der Parole "Wo ihr wollt, wann ihr wollt". Das Gefühl des carpe diem griff um sich. Der Kredit hat alles, was Warten, Aufschub von Befriedigung, Reifung und Zurückhaltung erfordert, außer Kraft gesetzt und die Generationen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungeduldig gemacht. Welche Sinngebung soll nun den Fortbestand der Gesellschaft sichern? Die traditionale Charakterstruktur mit ihrem Akzent auf Selbstdisziplin, Aufschub von Befriedigung und Enthaltsamkeit gerät mit den Imperativen des kulturellen und ökonomischen Systems in Konflikt. Gefordert ist nicht länger der "asketisch produzierende Knecht" (Marx), sondern der süchtige Konsument. Man hat, mit den Worten Daniel Bells, "am Tag 'korrekt' und am Abend ein 'Herumtreiber' zu sein." Obwohl Bell ein eher konservativer Mann war, kommt er nicht umhin zu konstatieren, dass es die Dynamik des Kapitalismus selbst ist, die diese Erosionsprozesse hervorruft. Die ständig alles umwälzende Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise verschont nichts und macht vor nichts halt. Das ist es, was man Moderne nennt: Übergang als Dauerzustand. Wie sollen Lebensläufe unter solchen Bedingungen eine Identität haben, wenn die Menschen in einer Gesellschaft leben, die aus lauter Trennungen zusammengesetzt ist? Ich komme am Schluss auf diese Frage zurück.

Identität als Kontrollinstanz

Gegen das Konzept des Stillstellens und Einfrierens des Lebensprozesses zu einer Identität regte sich früh Widerstand. Die Bourgeoisie hatte ein starkes Interesse an Normen für das Volk, die das Eigentum der Wenigen sichern, und an Werten, von denen es virtuell eingezäunt wird. Identität erweist sich als hegemoniales Konzept des Bürgertums, das Brückenköpfe im Inneren der Beherrschten errichten möchte. Die neue Klasse der Lohnarbeiter sollte berechenbar und zuverlässig sein, regelmäßig arbeiten gehen und sich das Produkt ihrer Arbeit widerstandslos wegnehmen lassen. Der industrielle Kapitalismus benötigt das Konzept der Identität, das sich uns als Teil eines nach innen gewendeten Kolonialismus erschließt. Oder mit den Worten von Michel Foucault: "Denn das Leben und die Zeit des Menschen sind nicht von Natur aus Arbeit, sie sind Lust, Unstetigkeit, Fest, Ruhe, Bedürfnisse, Zufälle, Begierden, Gewalttätigkeiten, Räubereien etc. Und diese ganze explosive, augenblickhafte und diskontinuierliche Energie muss das Kapital in kontinuierliche und fortlaufend auf dem Markt angebotene Arbeitskraft transformieren."

Identität ist zunächst einmal ein Polizeibegriff gewesen. Die Herrschenden möchten wissen, wer die Leute sind und wo sie wohnen, damit man sie im Falle ihrer Auflehnung sistieren kann. Sie erhalten eine carte d'identité, wie der Ausweis in Frankreich bis heute heißt. Längerfristig ging es um die Integration der plebejischen Unterschichten in die sich konstituierende bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und die Sicherung der Hegemonie der bürgerlichen Klasse. Im Interesse eines beschleunigten und möglichst reibungslosen Waren- und Geldverkehrs wurden Münzen, Maße und Gewichte, Raum und Zeit, Sprachen und Identitäten vereinheitlicht, regionale oder lokale Unterschiede eingeebnet. Bürgerliche Herrschaft bedarf darüber hinaus eines Mindestmaßes an Homogenität in der neuen Massenbevölkerung. Die Fähigkeit, unter Bedingungen der Entfremdung und Verdinglichung zu leben, wird nicht erst im Erwachsenenalter und dem Eintritt ins Erwerbsleben erworben. Die Voraussetzungen dazu werden in der frühen Kindheit durch die Implantation eines heteronomen Über-Ichs geschaffen, das wie ein Zahnrad die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft bewerkstelligt und die Unmöglichkeit des Lebens unter kapitalistischen Bedingungen für die Menschen möglich macht. In Peter Brückners Buch Psychologie und Geschichte heißt es: "Eine zureichende Ordnung und Stabilität des Systems der Gesellschaft und des Staats kann nur gewährleistet sein, wenn die Funktionen und Gefüge der Person, wenn Psyche, Bewusstsein, Gefühl, Affekt, Triebgewohnheit, Körperlichkeit, Denkneigungen und -formen der Individuen in die Funktionen und Gefüge des Systems partiell einbezogen sind. Was geschieht, wenn diese Verzahnung, wenn der Transfer von Kultur nicht mehr gewährleistet ist?" Eine Gesellschaft geht in Auflösung über und alles muss mehr oder weniger künstlich und gestützt und gewaltsam aufrechterhalten werden.

Es gab und gibt Menschen - und sie bilden in unseren Gesellschaften die Mehrheit -, denen ihre Identität kostbar ist. Sie möchten für sich selbst und andere berechenbar sein. Ihr Ehrgeiz besteht darin, ihr Leben erwartungssicher und enttäuschungsfest zu machen und gegen alle Unwägbarkeiten perfekt abzuschirmen. Sie leben in einem mürrischen Realismus vor sich hin und bemühen sich, wie Sloterdijk bissig anmerkte, "bei lebendigem Leib so tot wie möglich" zu sein. Andere Menschen - eher wenige - fühlen sich durch den Identitätszwang ihrer Lebendigkeit beraubt und aufgespießt wie Schmetterlinge. Aus ihrer Sicht werden Menschen in Identitätskäfige gesperrt, aus denen heraus sie alles anknurren und verbellen, was nicht sichtlich ihresgleichen ist und denselben Stall- und Gefängnisgeruch aufweist. Die Aufforderung, erwachsen und mit sich identisch zu werden, bedeutet in den Augen von Künstlern, Schriftstellern, Anarchisten das Ende des Umherschweifens, eine Restriktion des Provozierenden und die Umformung der vagen, begierigen, vielfältigen Emotionen zur Zwangsneurose. "Ich - das ist ein anderer", heißt es zum Beispiel bei Arthur Rimbaud. Der Dichter fühlt sich bei lebendigem Leib eingesargt, will dem Zwangszusammenhang des bürgerlichen Ich entrinnen, seine "Sinne entregeln" und sich sehend und sensibel machen. Die Verregelung aller Sinne ist mit der Reduzierung ihrer schöpferischen Vielfalt auf den einen "Sinn des Habens" verflochten, als die der junge Marx die sinnliche Deformation in der warenerzeugenden Gesellschaft beschrieb. Zu viele Bestandteile des Ich erweisen sich als Nicht-Ich, als verinnerlichtes Äußeres, als Stützpunkte der Herrschaft. Von Rimbaud bis Nizan und Sartre gibt es in der künstlerischen Linken einen Konsens: Eine Identität anzunehmen, gilt als Akt der Anpassung und Unterwerfung. Wem ist es denn außerhalb gewisser privilegierter bürgerlicher Kreise beschieden, seinen Reifungsprozess als glückliche Kontinuität des "ich, ich selbst ..." zu erleben? Die Aufforderung zur Reife enthält etwas Zweideutiges, solange Repression noch zum Herzstück der Kultur gehört. Alles, was ins Prokrustesbett der bürgerlichen Ordnung nicht hineinpasst, wird auf dem Weg ins dunkle Zeitalter des Erwachsenseins abgeschnitten. "Wir ersticken; von Kindheit an werden wir verstümmelt: es gibt nur Monstren!", formuliert Paul Nizan seinen Protest gegen die bürgerlichen Verkehrsformen und fährt fort: "Polizei, Regierung, Moral, Sünde und Sanktion bewegen ihr [der Menschen, G. E.] Denken. Seele ist, was nicht der Mensch selbst ist, sondern von außen kommt und in ihm lebt. Die Seele ist ein Besitz. Es ist Zeit, von diesen Dämonen befreit zu werden." Sein Jugendfreund Sartre stellt lakonisch fest: "Eine Identität haben heißt, sich ein Gefängnis ohne Gitter zu geben." Von den zahlreichen Teilpersonen, aus denen wir eingangs des Lebens bestehen, überlebt auf dem Weg zur erwachsenen Identität oft nur eine: das verwertbare Arbeitswesen. Peter Brückner hat diese Erfahrung in seinem autobiographischen Buch Das Abseits als sicherer Ort so ausgedrückt: "Eines Tages schwindet unser Vertrauen in das 'Verschieden', das wir sind; das offene Gelände, unser Atlantis, versinkt."

Wir leben in einer Kultur, in der, wer als Mensch ernst genommen werden will, sich als Kind zum Verschwinden bringen muss. Wir werden als Viele geboren und sterben als Einer. Das vor allem bedeutet in dieser Gesellschaft Identität.

Anlässlich seines sechsunddreißigsten Geburtstages notierte Eugène Ionesco in sein Tagebuch: "Ich kann mir nicht erklären, wie ich es zulassen konnte, dreißig, fünfunddreißig, sechsunddreißig Jahre alt zu werden. Ich begreife nicht, wie ich an mich halten konnte, um nicht den Versuch zu unternehmen, diese Katastrophe zu verhindern. Ist das im Schlaf über mich gekommen, war ich bewusstlos? Hat man mich betrunken gemacht? Umgekehrte Metamorphose: Ich werde zur Raupe. Wohin ist wohl derjenige verschwunden, der ich war, der ich noch sein muss, das zarte Kind, das neue Wesen, ja der Heranwachsende, der noch etwas von seiner Kindheit bewahrte? Wohin bin ich verschwunden? ... Wie hat der liebe Gott zulassen können, dass so etwas aus mir wird! Ich stecke in der Haut eines andern, in den Häuten und den Hautfalten eines andern. Ich habe diese Erfahrung gemacht: Man kann ein anderer werden. Das mag absurd scheinen. Mir bleibt nur das Bedauern, ein anderer zu sein. Und dieses Bedauern macht, dass ich noch immer ich selbst bin oder das Kind, das ich war, das ich bin, oh, meine Farben, die Farben der Welt, mein anderer Himmel, meine andere Welt, meine anderen Meere, mein Kontinent von ehemals!

Alles hat sich verflüchtigt. Ich bin auf einem anderen Planeten, ich gleiche einem Wesen von einem anderen Planeten, ich war ein Mann, ein Kind - und eine böse Fee oder ein übler Zauberer hat mich in einen Bären, in ein Wildschwein, in ein Krokodil verwandelt. Weshalb hat er mich so bestraft? Vielleicht, weil ich an den Nägeln kaute oder in der Nase bohrte. Die Strafe ist unverhältnismäßig hart. Es ist ein Irrtum, ein Alptraum, ich will wieder ich selbst werden, ich bin das Kind ... Was tun? Ich ringe die Hände, ich weine, ich heule, vergeblich. Sie sind wirklich bösartig ...!

Fern von uns die Gestirne, das unendliche Himmelsblau, die grenzenlose Freude, das Fest."

Wie viele Vertreter der künstlerischen Avantgarde erlebt Ionesco das Erwachsenwerden nicht nur als Reifung, sondern als Wunschvernichtung, Icheinschränkung und Verinnerlichung von Repression. Unnachahmlich prägnant hat Martin Walser das Resultat der Selbstentfremdung in den Satz gefasst: "Von allen Stimmen, die aus mir sprechen, ist meine die schwächste."

Dialektik der Identität

"Was bloß identisch ist mit sich, ist ohne Glück", lautet ein Satz Adornos, der gewissermaßen in Pillenform alles enthält, was es zum Thema Identität zu sagen gibt. Das unscheinbare Wörtchen "bloß" in ihm verweist darauf, dass es einen dialektischen Gegen-Satz gibt, der lauten könnte: Was bloß nicht-identisch ist mit sich, ist ohne Glück. Auf der bisher von mir betonten Seite dieses widersprüchlichen Zusammenhangs erscheinen die Verluste an Lebendigkeit und Glück, die der mit sich identische Mensch erleidet. Die andere Seite ist die: Wir benötigen als Menschen eine psychische Struktur. Als Menschen? Ich muss einschränkend sagen: Als Menschen, wie sie die Vorgeschichte, die eine Abfolge von klassengespaltenen Herrschaftskulturen gewesen ist, hervorgebracht hat. Wie wahrhaft freie Menschen beschaffen sein werden und was sie benötigen, können wir nicht wissen. Noch eine Einschränkung: Unser Bild vom Menschen und das, was wir unter Identität verstehen, ist weitgehend männlich geprägt. Aus weiblicher Perspektive wird sich die Geschichte der Identität als Kolonialgeschichte darstellen: Das von Freud als "dunkler Kontinent" gefasste Weibliche wurde mit männlichen Ich-Kolonien überzogen. Die Frau galt als auf den Mann bezogenes, relatives Wesen und hatte ihm den Rücken freizuhalten. In schockierender Offenheit bekennt Jean-Paul Sartre im Gespräch mit Simone de Beauvoir: "Was mich im Grunde an Frauen interessierte, war, meine Intelligenz wieder mit Sensibilität zu durchtränken." Der Mann, der auf der Jagd nach Erfolg einen Teil seiner Sensibilität eingebüßt hat, beansprucht die Sensibilität und Sinnlichkeit der Frau.

Horkheimer und Adorno haben in der Dialektik der Aufklärung das Gewaltsame männlicher Identitätsbildungsprozesse hervorgehoben: "Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Verlockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart."

Die Kosten des Identitätsprinzips bestehen in Ausgrenzungen. Das Gros der Gewalt ist bis heute männlich und dient der Aufrechterhaltung und Absicherung dieser Ausgrenzungen.

Für den bis heute vorherrschenden Menschentypus, der ein Noch-nicht-Mensch ist, gilt: Ganz ins Offene gestellt, droht er sich zu verlieren und "verrückt" zu werden. Sogar Eichendorffs Taugenichts kennt diese Angst: "Da kam mir die Welt auf einmal so entsetzlich weit und groß vor und ich so ganz allein darin, dass ich aus Herzensgrunde hätte weinen mögen." Gleich darauf fängt er sich wieder und der Leichtsinn kehrt zurück. Die Auflösung der Ich-Grenzen, die Identitätsdiffusion, gehört zu den schlimmsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Manch einem scheint es leichter, sein Leben aufzugeben als seine Identität. Wir brauchen Begrenzungen im Raum und Markierungen in der Zeit. Wir brauchen so etwas wie Identität, etwas, das unseren Trieben Dauer und Form gibt. Aus uns muss eines Tages einer werden, wir können nicht im anfänglichen Stadium der Nicht-Integration verharren. Wir müssen die Phase der fließenden und neugierigen Unentschiedenheit und der prinzipienlosen Suche nach Lust hinter uns lassen und uns auf den Weg der Reifung und des Erwachsenwerdens begeben. Wenn wir nur genauer wüssten, wie man die Einheit der Person produzieren kann, ohne die oben beschriebenen Folgen des Verlustes der Erfahrungs- und Glücksfähigkeit.

Nietzsche hat die Dialektik dessen, was später als Identität gefasst wird, früh erkannt und in der Fröhlichen Wissenschaft so beschrieben: "Dagegen hasse ich die dauernden Gewohnheiten und meine, dass ein Tyrann in meine Nähe kommt und dass meine Lebensluft sich verdickt, wo die Ereignisse sich so gestalten, dass dauernde Gewohnheiten daraus mit Notwendigkeit zu wachsen scheinen: zum Beispiel durch ein Amt, durch ein beständiges Zusammensein mit denselben Menschen, durch einen festen Wohnsitz, durch eine einmalige Art Gesundheit. Ja, ich bin allem meinem Elend und Kranksein, und was nur immer unvollkommen an mir ist - im untersten Grunde meiner Seele erkenntlich gesinnt, weil dergleichen mir hundert Hintertüren lässt, durch die ich den dauernden Gewohnheiten entrinnen kann. - Das Unerträglichste freilich, das eigentlich Fürchterliche, wäre mir ein Leben ganz ohne Gewohnheiten, ein Leben, das fortwährend die Improvisation verlangt - dies wäre meine Verbannung und mein Sibirien."

Identität ist einerseits ein Gefängnis, andererseits brauchen wir ein Gerüst, an dem wir uns entlanghangeln und orientieren können. Beides stimmt, und aus diesem sich verfilzenden Zusammenhang findet man nur heraus, wenn man die Kraft für eine lebenslange Balancearbeit aufbringt und der Versuchung widersteht, Ordnung durch Weglassen zu schaffen. Die Kunst bestünde darin, eine Balance zu finden "zwischen dem erstarrten und dem rasenden Affekt", wie es der Psychoanalytiker Bernd Nitzschke ausgedrückt hat. Dazu würde die Fähigkeit gehören, den gesellschaftlich geforderten Zwang, eine einheitlich und geschlossene Persönlichkeit und eine darauf beruhende Vernunft hervorzubringen, vorübergehend außer Kraft zu setzen und sich, wie es bei Nietzsche heißt, "auf Zeiten verlieren" zu können. Auf dieser Basis könnte sich die Identität eines nicht-faschistischen Bürgers herausbilden, der nicht genötigt wäre, seine verdrängten Triebregungen auf andere zu projizieren und an ihnen zu verfolgen. Jeder starren Identität wohnt eine Tendenz inne, sich gegen andere Identitäten gereizt und streitbar abzugrenzen und im Sinne des "Narzissmus der kleinsten Differenz" (Sigmund Freud) an der Grenze zur Nachbaridentität die Unterschiede stark zu betonen. Dieser nicht-faschistische Bürger besäße eine dialektische Identitätsstruktur, die man hegelianisch als "Identität von Identität und Nichtidentität" fassen könnte. In einem emphatischen Sinne reife, dialektische Ich-Funktionen würden ihn instand setzen, Ambivalenzen und Differenzen zu ertragen und nicht lösbare Widersprüche in ihrer Widersprüchlichkeit prüfend bestehen zu lassen. Seine Identität wäre die widersprüchliche Einheit des Vielen, eine lebendige Instanz, durch deren Balancearbeit das psychische mit dem gesellschaftlichen und das gesellschaftliche mit dem psychischen Leben vermittelt wird. Identität wäre also eher die Kontinuität der Brüche als etwas, das ein für allemal bleibt, was und wie es ist. Franz Fühmann hat den "gestockten Widerspruch" dieser Form von Identität in seinem Trakl-Buch Vor Feuerschlünden so beschrieben: "... doch Kontinuität liegt ja schon in der Person: der sich da wandelt, bleibt auch er selbst; eben: nur auch; aber: doch auch."

Die Verfechter eines starren Identitätszwangs erinnerte Lothar Baier in seinem Essay Unlust an der Identität zu Recht daran, dass "die wahre Identität früh genug und ganz von allein kommt, und zwar mit dem Tod. Dann ist der Prozess Mensch zu Ende, dann ist er glücklich mit sich selbst identisch. Nur hat er nichts mehr davon." Alle, die an die Möglichkeit eines Lebens vor dem Tod glauben, seien an folgende Sätze Robert Walsers erinnert: "Was gibt es für Gründe, sich auf die Reifheit viel einzubilden? ... Vielmehr ist uns, die wir leben, recht viel nette, fröhliche Unreife zu wünschen. Reife ist doch der Zustand vor der Fäulnis."

Der Schauspieler Daniel Minetti schickte mir nach der Lektüre dieses Textes - als Berliner Beitrag zum Thema "Identität" - ein Gedicht zu, das aus den 1920er-Jahren stammt und das sein Großvater Bernhard Minetti immer wieder mit Genuss vorgetragen hat. Es ist mit Jean de Bourgeois unterzeichnet und heißt "Icke":

Ick sitze da
und esse Klops,
uff eenmal klopp's.
Ick kieke, staune, wundre mir,
uff eenmal jeht se uff, de Tür.
Nanu denk' ick, ick denk' nanu,
Jetzt is se uff, erst war se zu.
Ick jehe raus und kieke,
und wer steht draußen? - Icke!

Schlechte Aufhebung

Statt der Geburt eines nicht-faschistischen Bürgers erleben wir gegenwärtig die schlechte Aufhebung des Identitätszwangs und die Herausbildung eines Menschentyps, der den Anforderungen des "flexiblen Kapitalismus" entspricht. Identität und charakterliche Prägungen werden als dysfunktional abgeschafft, weil sie die grenzenlose Fungibilität und Anpassungsfähigkeit der Menschen einschränken. Der "innengeleitete Mensch" (David Riesman), auf den die bürgerliche Gesellschaft über weite Strecken ihrer Geschichte gesetzt hatte, war im günstigen Fall durch Urteilskraft, Bildung, Widerstandsfähigkeit und einen gewissen Eigensinn gekennzeichnet. Heute wird dieser innengeleitete Mensch aus dem Verkehr gezogen und durch den flexiblen, außengeleiteten Menschen ersetzt, dessen Lebensgestaltung darauf reduziert werden soll, sich wie Taumelkraut wechselnden Marktwinden zu überlassen und sich den Imperativen des Marktes willenlos und fatalistisch zu beugen. Es herrscht eine durch und durch ökonomistische Denkweise: Die Menschen sollen "wie Trabanten die Sonne des Kapitals umkreisen", wie der Soziologe Oskar Negt es ausgedrückt hat. Sie sollen nirgends mehr Wurzeln schlagen, ihr Herz an nichts hängen. Stabile Bindungen an Orte und Menschen gelten als eine Art von Behinderung. Rimbauds einst skandalöse Behauptung "Ich ist ein anderer" gehört heute zur psychischen Grundausstattung des zeitgenössischen Subjekts und könnte von jeder Internetfirma als Werbeslogan verwendet werden. Der "flüssigen Moderne" (Zygmunt Bauman) entspricht eine fluide psychische Struktur der Individuen, Ich-Schwäche ist zeitgemäß und funktional. Der neue Sozialcharakter erinnert an den Axolotl, eine Art Lurch, der in Mexiko beheimatet ist und dessen Besonderheit darin besteht, dass er nie richtig erwachsen wird, sondern sein ganzes Leben in einem Zwischen- und Schwebezustand verbringt. Der späte Kapitalismus bringt ein gefräßiges, ungeduldiges, auf seinen Spaß bedachtes Erwachsenen-Kind hervor, das sich genüsslich die Flasche geben lässt und für ständige Veränderungen offen ist. Widerstand ist von ihm schwerlich zu erwarten, denn Menschen, die über keine innere Vorratshaltung und Erinnerung verfügen, können keine Vorstellungen von dem entwickeln, wie es sein sollte und wie es anders sein könnte. Der Konjunktiv verschwindet aus ihrem reduzierten Sprachschatz, sie drohen vollkommen "in die Funktionale" zu rutschen, wie es bei Brecht heißt.

Linke als Modernisierungsgehilfen

Die 68er-Bewegung ist, ohne es zu wollen, zum Vorreiter der flüssigen Phase der kapitalistischen Moderne geworden. Sie hat - ihre eigenen hochfliegenden sozialistischen Ziele verfehlend - Entwicklungen angeschoben, die historisch ohnehin auf der Tagesordnung standen, und so zur Modernisierung archaisch verfasster gesellschaftlicher Teilbereiche beigetragen. Hans Peter Duerr hat dazu angemerkt: "Paradoxerweise hat eben jene Linke, die in den sechziger Jahren für eine Gesellschaft gekämpft hat, in der Sehnsüchte und Lüste ungezügelt ausgelebt werden dürfen, eigentlich ahnungslos für den Klassenfeind gearbeitet. Hegel hätte gesagt, der kapitalistische Profitgedanke hat sich dieser Alternativbewegung bedient, um zu sich selber zu kommen."

Wie so oft in der Geschichte des Sozialismus vertrat die neue Linke gegen das Bürgertum dessen eigene fortgeschrittenere Phase und verhalf diesem so zu einer fälligen Modernisierung seiner Herrschafts- und Ausbeutungsmethoden. Sie machte sich, wie Adorno früh bemerkte, "zum Sprachrohr der schlechteren Welt gegen die schlechte". Dass Linke für die Aufhebung des Tanzverbots am Karfreitag eintreten und sogenannte Nachttanzdemos veranstalten, trägt dazu bei, die letzten Barrieren abzuräumen, die dem "hündischen Kommerz" (Friedrich Engels) noch gesetzt sind, und liefert ein Beispiel für das Einrennen offener Türen. Ein anderes ist die Teilnahme großer Firmen an der Berliner Christopher-Street-Day-Parade. Die Linke hat dem Kapital beigebracht, dass das Festhalten an tradierten Geschlechterrollen dumm und geschäftsschädigend ist. Diesen Typus der Kritik hat Adorno "realitätsgerechte Empörung" genannt: "Realitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat."

Gegen die Gesellschaft des konsumistischen Hedonismus hat Adorno letztlich recht behalten, als er darauf hinwies, dass "asketische Ideale heute ein größeres Maß an Widerstand einschließen" als das "sich Ausleben" gegen die Repression. Die gegenwärtige Gesellschaft leidet nicht an einem Übermaß an Hemmungen, sondern daran, dass sie gar keine mehr kennt. Angesichts der beschriebenen Tendenzen zur Selbstzerstörung bürgerlichen Verkehrs und kapitalkonformen Abschaffung von Identität nimmt das Festhalten an ihr beinahe rebellische Züge an. Dialektische Identität und Ich-Stärke könnten zu Kampfbegriffen gegen eine Gesellschaft werden, die auf den allseits anschlussfähigen und kompatiblen Menschen setzt.

Dennoch sollten wir, solange rechte Populisten den verstörten und verunsicherten Menschen eine "nationale Identität" als Lösung anpreisen, an unserer Kritik am Identitätsprinzip festhalten und nicht müde werden darauf hinzuweisen, dass die Idee nationaler Identität in der Regel mit dem Phantasma der ethnischen Reinheit verknüpft ist, in deren Namen die schlimmsten Barbareien begangen wurden und werden.

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Vermessenes Vermessen oder: Das metrische Ich*
Moderne Subjekte agieren ständig im Schatten ihrer Daten

von Franz Schandl

"Die Inventarisierung der Ausgaben ist die einzige Möglichkeit zu beweisen, dass ein Leben existiert hat." (Dragan Velikic)


Vorweg ein ausgesprochenes Kompliment: Steffen Mau erklärt viel und er erklärt es schlüssig in einer sehr zugänglichen Sprache. Die Information ist kompakt, die Analyse profund, die Interpretation plausibel. Die Unterkapitel sind komprimiert gehalten, auch einzeln und ohne größere Vorkenntnisse lesbar. Es ist ein sozialwissenschaftliches Stück, das Niveau hält, sich zudem nicht verriegelt. Weder schwerfällig noch leichtgewichtig. Ein feines Handbuch, jenseits des ironischen Diktums: "Wissenschaftler lesen Wissenschaftler, die Wissenschaftler lesen."

Wir leben in Zeiten eines "Bewertungskults" (S. 140), einer "umfassenden Quantifizierung des Sozialen" (S. 10). Kennzeichen ist die "Universalisierung von Wettbewerb" (S. 17), Modus die "Dauerinventur" (S. 12). Daten befeuern diese Konkurrenz, und wer mehr davon besitzt resp. anzubieten oder zu suggerieren hat, hat einen Vorteil. Alles hat gemessen zu werden. Kaum jemand hält die ritualisierte Vermessung für vermessen. Im Prinzip ist sie anerkannt, auch wenn aktuelle Erweiterungen stets Protest hervorrufen. Dieser verebbt schnell, schon steht die nächste Okkupation auf der Tagesordnung. Zonen unvermessenen Lebens schwinden. Alle Sphären des Daseins sollen zu Maß und Zahl finden. Alles wird messbar. Mittlerweile gibt es sogar einen "United Nations Human Development Index", kurz HDI genannt oder einen HPI gerufenen "Happy Planet Index". Das Maß wird zum Maß der Dinge.

Das Toteste

"Die Zahl", schrieb Hegel, "ist die toteste, begrifflose, gleichgültige, unentgegengesetzte Kontinuität." (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke 18, S. 237) Diskontinuitäten werden in ein Kontinuum gezwungen. Zahlen machen alles gleich, begreifen nichts, sind leblos. Dass Daten rohe Resultate mathematischer Verfahren sind und nicht einfach gültige Urteile, diese Erkenntnis ist in unserem Alltagsverständnis alles andere als präsent. Ganz frei von Dialektik wollen sie sich behaupten und hinterlassen. Daten erscheinen als gesichert, nicht als diffus. Ihre Relevanz ist unstrittig, sehen wir von plumpen Fälschungen ab.

"Die Zahlen sprechen für sich", heißt eine viel zitierte Alltagsweisheit. Sie sind da und verfügen, alleine aufgrund ihrer Existenz. Kompetenz braucht Zahl. Mit Zahlen untermauern wir unsere Argumente, ohne Zahlen schauen wir ziemlich nackt aus. Unsere Meinungen haben verpackt zu sein in Fakten, alles andere fällt schnell unter das Verdikt der Unsachlichkeit. Schon allein dass Daten als "hard facts" firmieren, somit als die Tatsachen erscheinen, die anzuerkennen sind, ist reine Zumutung, aber akzeptiert. "Soft kommen dagegen nicht an. Sinnliche Fülle und geistige Potenz werden durch Daten korrumpiert und amputiert.

Daten gelten als scharf und präzis. Sie werden geliefert und gespeichert, von ihrer Konstruktion und Produktion erfahren wir wenig. Es hat uns auch nicht wirklich zu interessieren. Montur und Montage sollen nicht gesehen werden. Zahlen und Zählen drängen uns ein additives Verhältnis zur Welt auf. Man hat dazuzuzählen. Jene bestimmen unser Verhalten, bevor wir überhaupt über so etwas wie Selbstbestimmung nachdenken können. Im ehernen Gehäuse von Wert und Werten sind sie vorgegeben.

Daten kodifizieren eine Weltsicht. Dass "Zahlen" "zählen" und "zahlen" eng verwandt sind, ist offensichtlich. Sie können jedem Anliegen dienen, jedem Herrn eine Dirne sein. Grundform all dessen ist das Geschäft, also der Tauschakt in Form von Kaufen und Verkaufen. Das Geschäft, sofern es gelingt, ist immer ein Vergleich, wo sich "Tauschgegner" (Max Weber) via Gleichsetzung bei einer Zahl treffen, wenn es ans Zahlen geht. Wenn wir einen Preis festlegen oder aushandeln, werden die Parameter auf einen einzigen reduziert: den Wert. Wert und Wertung machen gleich und ungleich. Gleich machen sie, weil sie alles auf eine Substanz beziehen und ungleich machen sie, weil sie Quanta auf deren Skala messen. Gleichheit ist die Bedingung von Ungleichheit. Gleichheit und Ungleichheit sind Ausdruck einer Egalisierung und Uniformierung.

Die Zahl kann immer nur sagen wie viel. Es ist schon so, dass Relationen zwischen Personen und Dingen, Zuständen und Ansichten bestehen, zweifellos, aber es ist nicht so, dass diese vorrangig als mathematische Quanta beschrieben werden müssen. Qualität ist kein bloßer Ausdruck von Maß und Zahl, Wert und Preis. Wir tun aber geradewegs so. Aus "Jedes steht in Relation zu ..." wird ein "Jedes ist eine Relation von ...". A wird zu einer Größe von B. Oder wie Marx sagte: "x Ware A = y Ware B oder: x Ware A ist y Ware B wert." (MEW 23, S. 63) Relation muss fortan als Relativität wahrgenommen werden. Wir sprechen hier einmal mehr von der Matrix.

Die Durchsetzung der Buchführung, das wissen wir spätestens seit Weber und Sombart, war kennzeichnend für den Kapitalismus und seine Rationalität. So meint Buchführung auch nicht aufschreiben, was wir denken und fühlen, tun und unterlassen, sondern festhalten, was wir einnehmen und ausgeben. Das Ich wird zur Recheninstanz seiner selbst. Überlegt wird nicht was ist, sondern was kostet. Dieses Leben, das fälschlicherweise "unser" genannt wird, ist stets kontaminiert durch Kalkulationen von Zeit und Aufwand, vor allem aber von Geld. Ökonomie meint Berechnung und Berechenbarkeit. Aus allen Poren tropft die Kostenrechnung. Darauf sind wir trainiert und konditioniert. Von Kindesbeinen an. Wir sind die Buchhalter unserer monetären Existenz. So werden wir "zu Gläubigen in der Kirche der Zahlen" (S. 47). Zahlen werden als korrekt anerkannt, sie besitzen über diesen Vertrauensvorschuss ein "kaltes Charisma" (S. 28). Zahlen zählen, insbesondere wenn es ans Zahlen geht.

Reputation und Index

In Wirtschaft und Politik, Kultur und Wissenschaft dreht sich vieles um die "Bewirtschaftung von Reputation" (S. 87). Nach dem H-Index geht es in der Wissenschaft um "die Anzahl von Publikationen, die mit einer bestimmten Häufigkeit in anderen Publikationen zitiert werden" (S. 127). Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit tritt "an die Stelle des Ringens um Erkenntnisse" (S. 127). "Zitierdatenbanken" (S. 129) werden angelegt, Seilschaften und Zitierkartelle sind die logische Folge. Jedes Zitat ein Inserat. Der und das Gehalt sind Konsequenzen von Verkaufswert und Index. Rating-Agenturen überwachen dieses Treiben, wo Anmerkungsapparate, Literaturverzeichnisse und Personenregister mehr bestimmen als die Inhalte. Unten und hinten, da wird gewogen.

Aus "Was spreche ich?" wird unweigerlich ein "Wie entspreche ich?". Renommee und Reputation, Erfolg und Karriere folgen den Kriterien des Marketings. Substanz wird subordiniert, oftmals substituiert. Wissenschaft gerät so zu einem seltsamen Zitierwettbewerb. Anstatt sich zu fragen, wie wir da rauskommen, fragen sich angehende Forscher wie sie da reinkommen und arrivierte wie sie da drinnen, d.h. letztlich im Geschäft bleiben. Das Performative schlägt das Argumentative um Längen. Es beeindruckt unmittelbar. Ist eingängiger. Erfordert weniger geistige Kapazität. Ein Blick in Tabelle oder Statistik genügt.

Gegen Reflexion wirken Daten resistent. Schon in den ersten Gehversuchen diagnostischer Sozialforschung wurde diese Richtung eingeschlagen. Für die Verfasser der Marienthal-Studie (1933) etwa war klar, dass sie "alle Impressionen wieder verwarfen für die wir keine zahlenmäßigen Belege finden konnten" (Marie Jahoda et. al., Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch, Frankfurt am Main 1975, S. 25). Erkenntnissen, die nicht bezifferbar sind, droht in solchen Verfahren die Ausscheidung. Das Benennbare wird auf das Zählbare reduziert. Kein Beleg ohne Rechnung. Fakten, die für sich sprechen, sprechen statt unser. Dass Daten höchstens Indizien sind, aber keine Urteile setzen, will diesem beschränkenden und daher auch beschränkten Denken nicht kommen. Der Schatten der Daten schwebt über uns: "Wir können ihnen nicht entkommen." (S. 107)

Das Unmessbare wird abgeschnitten, als nicht relevant befunden und somit für inexistent erklärt. Gerade die moderne Wissenschaft hat dieser Entsorgung sowohl des Sinnlichen als auch des Geistigen durch das Empirische massiv Vorschub geleistet. Wissenschaft und Verwertung sind synchronisiert. "Die Leugnung jeder der je einzelnen Sache innewohnenden Qualität zeichnete von Anfang an die Wissenschaft wie die Verwertung aus, also die Reduktion der qualitativen Vielfalt auf bloße Quantitäten einer gleichförmigen Substanz, im einen Fall der Arbeitswert, im andern Fall die mathematisierte Raum-Zeit." Vor allem die Gentechnologie habe, so Anselm Jappe weiter, "der Vorstellung von einem manipulierbaren Kontinuum Platz gemacht, wo die Gene einer Art auf eine andere Art und sogar zwischen verschiedenen Reichen (Pflanzen,Tieren, Bakterien, Viren) übertragen werden können." (krisis 24, S. 95)

Uns interessieren die diversen Werte, die eins auszuweisen und vorzuweisen hat, keineswegs das einzelne Exemplar in seiner Komplexität. Ein billiges Ich (S. 167f.) erscheint als kombinierbarer Datensatz (Kaufgewohnheiten, Bankkonten, Einkommen, Karriere, Versicherungspolizzen, Leberwerte, Gewicht, Blutdruck, u.v.m.) "Du bist Deine Daten" (S. 169), sagt ein im Buch zitierter Vermessungsenthusiast. So sind wir auch angehalten, uns selbst zu vermessen, zu berechnen, zu bewerten und gegebenenfalls die Daten herauszurücken, sollten sie nicht abrufbar oder verfügbar sein. Kennen wir uns, wenn wir unsere Werte nicht kennen? Wohl kaum. Das Du kommt nicht sprechend zu uns, sondern entsprechend. Das Ich detto.

"Nur wer sich zählen lässt, zählt auch dazu" (S. 234), sagt der Autor. Indes wäre das noch fundamentaler zu fassen: Nur wer gezählt wird, zählt. Aus den Dateien rauszufallen, ist oft schlimmer als von ihnen behelligt zu werden. Daraus folgt die Bereitschaft, ja der Wille, gezählt zu werden. Daraus folgt keine Flucht aus der Zählung, die ist wirklich ein Minderheitenprogramm. Wir wissen: Wer nicht erfasst ist, kommt nicht vor. Man steht dann außerhalb der Community, wird ideell und oft auch reell ausgebürgert. Wer kann sich das schon leisten? Die Membran der Daten schützt auch vor Übergriffen und befähigt zu ebensolchen. Sie ist gar nicht so dünn, besteht sie doch aus mit Haut verwobener Gallerte. Als Ameisen der Verwertung haben wir diese dicke Schutzschicht auch bitter nötig.

Totale Optimierung

Gewechselt haben aber Kategorisierung und Positionierung der Einzelnen. Leute werden nicht mehr als Klassensubjekte wahrgenommen sondern als "sozial statistische Solitäre" (S. 271). An dieser "Hyperindividualisierung" (S. 272) ist freilich nichts individuell. Sie kommt "nicht als Befreiung und Emanzipation daher sondern als Separierung des Einzelnen durch statistische Erkennung" (S. 272). Nach wie vor wird man identifiziert, aber lediglich als lediges Subjekt. Früher wurden Leute in Kollektive (z.B. die Arbeiterklasse) gedrängt, heute werden sie aus ihnen rausgepresst, vereinzelt, atomisiert. Gemeinschaften, gar Solidargemeinschaften gehört man nicht mehr an, man müsste sie selbst setzen. Das funktioniert allerdings kaum, da ist die Flucht ins Autoritäre, die ein gewichtiger, aber irrer Schritt zur Ermächtigung Ohnmächtiger ist, näher. Da kann man sich noch anhalten, so fiktiv die Haltegriffe auch sein mögen.

Tatsächlich ist es so, dass "die Individuen eine gemeinsame Klassenlage in der Vereinzelung gar nicht mehr zu erkennen vermögen. Das metrische Wir ist eine Masse aus Individuen, die im Wettstreit miteinander stehen, kein solidarisches oder kooperatives Wir." (S. 274f.) Das Gefühl, das vermittelt werden soll und auch um sich greift, lautet: Wir sind nichts, aber ich kann es schaffen. So wird einmal mehr jeder zu seines Glückes Schmied und betätigt sich mit Eifer als Schmiedemeister. Dem metrischen Wir "entkommt" das metrische Ich durch praktizierte Affirmation. Wichtiger als das Bekenntnis ist der Vollzug allemal.

Fortan heißt es fleißig "Statusarbeit" (S. 283) zu leisten. Dazu müssen wir uns stets upgraden und updaten, um auf dem erforderlichen Level mitspielen zu dürfen. Gefordert ist permanentes Partizipieren. Modus ist das Partizip I - updatend, Ziel ist das Partizip II - upgedatet. Da zweiteres nicht zu erreichen, tagt ersteres in Permanenz. Selbstoptimierung wird zur Pflicht. Sie ist eine Zumutung, der mit einer adäquaten Zurichtung entsprochen wird. Dem durchgestrichenen Ich geht es nicht um sich selbst, sondern um seine Rolle, um die stets fällige Behauptung auf Märkten oder Quasi-Märkten. Es gilt konkurrenzfähig zu werden oder zu bleiben. Optimierung meint jedoch Minderung, nicht Entfaltung. Du musst alles aus Dir rausholen! Was soll dann noch drinnen sein?

Schutzgesetze für Subalterne sollen der Vergangenheit angehören, gleich allen anderen bürgerlichen Bürgern treten sie nun ganz frei in diesen zusehends globalen "Wettbewerb der Individuen" (S. 274) ein. Was alle können, vermögen die wenigsten. Liberale Nachtwächter träumen bereits das bürgerliche Märchen vom Ende des Kollektivvertrags. Freie Rechtssubjekte vereinbaren mit freien Rechtssubjekten freie Verträge. So viel Freiheit war noch nie. Die Welt ist so frei wie abgefeimt. Immer loser wirkt die befreite Masse, immer mehr gleicht sie einer verlorenen Herde. Noch haben sie zwar die Staatsbürgerschaft, die Bürgschaft ihres Staates, aber auch die könnte prekär werden. Den Zugelaufenen will man sie erst gar nicht erst gönnen.

Vergleich als Bewertung

Natürlich stimmt es, dass Menschen sich vergleichen, um sich zu unterscheiden. Doch diese Sichtung oder Begutachtung ist a priori noch keine Bewertung, sie schuldet sich vielmehr sinnlicher Synthetisierung wie geistiger Reflexion. So einfach sie erscheint, so komplex ist sie in ihrer Komposition. Sie ist Aussage. Gegenüberstellungen laufen (vorerst) nicht auf einer messbaren Skala ab, sie behaupten keine Objektivität, sie sind Schätzung, nicht Wertung. Skalen vermögen überhaupt nicht mehr wiederzugeben als empirische und nummerische Relative.

Dass etwas höherwertig oder minderwertig ist, ist nicht vorgegeben. Das "Anders" ist nicht unmittelbar an ein "Besser" oder "Schlechter" gekoppelt. Damit "größer", "schneller", "fester" und vor allem "mehr" als besser erscheinen, dazu bedarf es schon einer speziellen Aufladung. Die monetären und mathematischen Maßstäbe, von denen wir sprechen, sind allesamt soziales Diktat. Sie folgen bestimmten benennbaren Mustern der Kapitalherrschaft. Da aber Usus, fallen sie gar nicht erst als besondere auf. Bewertung beschreibt einen Filter, wo alles, was abweicht, je nach Methode, Aufgabenstellung und Zielvorgabe ausgesiebt und entsorgt wird. Keine noch so differenzierte Berechnung kann taxieren, was kompetente Affekte erfassen.

Identifizieren und Differenzieren sind noch keine Bewertung, sondern eine Einschätzung. Die "sozialen Grammatiken von Höher- und Minderbewertungen" (S. 52), sind nicht impliziert, sondern werden oktroyiert. Der Unterschied macht noch keine Wertigkeit. Diese verlangt ausdrücklich eine dezidierte Benotung und Platzierung auf einer Skala. Status und Statusgefühl, werden notwendig, wenn Eingebundenheit und Aufgehobenheit keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern erst durch hierarchische Rangordnungen vermittelt werden. Ansehen und Anerkennung sind demnach nicht gegeben, sondern müssen erworben werden. Status und Modus gehören zusammen.

Ranking und Rating sind logische Konsequenzen. Sie sind natürlich nicht freiwillig, wir sind schließlich bei keinem Sportwettbewerb. Man nimmt teil, ob man will oder nicht. Man spielt nicht bloß mit, es wird einem geradezu mitgespielt. Verbunden sind Ranking und Rating mit Blaming und Shaming. (Vgl. S. 78) Fordern geht vor Fördern. "Ergebnisse von Rankings werden desto ernster genommen, je mehr man davon überzeugt ist, dass sie auch von anderen ernst genommen werden; und je ernster man sie nimmt, desto ernster nehmen sie auch die anderen. Interne und externe Beobachtungen und Relevanzvermutungen schaukeln sich gegenseitig auf." (S. 86)

Blinder Fleck

Sie sind keine Synonyme. Im Gegensatz zur Wertschätzung ist Anerkennung keine Kategorie der Konkurrenz. Wertschätzung ist kapitalistisch kanalisierte Anerkennung, sie konstituiert diese stets als Analogon des Marktes. Dass "jeder nach Wertschätzung strebt" (S. 68), wie Mau behauptet, ist so nur bedingt richtig, nicht allgemein gültig. Der empirische Befund gerät zu einer ontologischen Größe. Deskription und Norm kommen durcheinander. Aus dem unentwegten Müssen wird ein ehernes Sollen und aus dem Sollen ein Wollen, das einfach Dasein behauptet und keine Renitenz dulden möchte. Da ist ein blinder Fleck. Sozialwissenschaften verfahren mit den Begriffen Wert und Werte so salopp, als hätte der gemeine Menschenverstand dazu bereits alles Nötige gesagt. Der Charakter dieser Immanenzkategorien wird nicht erkannt. Erst die kapitalistische Globalisierung betreibt eine, d.h. ihre Universalisierung auf der Linie des Werts und seiner Werte.

Am schwächsten sind (wie so oft) auch bei Mau die beiläufigen Passagen zu Wert oder Wertigkeit ausgefallen. Und zwar weil der Autor sich aus naheliegenden, aber folgenreichen Umständen weigert, die Terminologie der Werte zu prüfen. Seine Kritik beginnt erst danach. Er verschont das Zentrum, obwohl er alle Resultate einer nüchternen, scharfen und treffenden Beurteilung zuführt. Weshalb sollen unterschiedliche Logiken unbedingt "Wertigkeitslogiken" (S. 67) sein? Warum pickt der Begriff so automatisch vorne an? Wohl nicht weil es so ist, sondern weil wir bloß in der Sprache dieses Vokabulars und seiner Vorgaben denken können. Weil Anerkennung und Aufgehobenheit heute lediglich als Wert und Werte transkribiert werden. Unsere Kategorien schwimmen und verschwimmen allesamt in der bitteren Sauce der Verwertung.

"Benennung zeigt sich, wo es gelingt, bestimmte Kategorien und Klassifikationen zu etablieren, die dann wiederum als 'strukturierende Struktur' die Gesellschaft prägen." (S. 186) Doch diese Kritik der Benennungsmacht wirkt hilflos. Der Kampf um Begriffe ist keiner der Diskurse. Ihre schlichte Attraktion ist eine praktische, keine des theoretischen Streits. Grundbegriffe sind stets Realabstraktionen, nicht Gedankenabstraktionen, sie stellen sich synthetisch und nicht analytisch her. Sie herrschen sich uns auf, entspringen der Vehemenz wie der Penetranz des bürgerlichen Alltags, seinen ständigen Repetitionen.

Im Mittelpunkt des bürgerlichen Wortschatzes stehen die grassierenden Wertworte. Die Etagen dieses Vokabulars (Wert, Preis, Gehalt, Lohn, von den unzähligen Verba und Adjektiva ganz abgesehen) sind schier zahllos. Sprache vollzieht Sozietät reflexiv, nicht reflektiert. Man kann und soll dieser Terminologie die Stirn bieten, aber überwinden und zersetzen lässt sich dieser Jargon nur, wenn die gesellschaftliche Entwicklung ihm den Boden entzieht und das Zentrum der sprachlichen Schlüsselkategorien selbst angreift.

* Zu: Steffen Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, edition suhrkamp, Berlin 2017, 308 Seiten, Paperback ca. EUR 18,50

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Das doppelte Ich

von Peter Klein

Die beiden Komponenten des Ich

"Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Ein Kampfbegriff. Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpassungsfähigkeit verwandelt. Was Leute wie Kathrin für Individualismus hielten, entsprach in Wahrheit einem Zustand von Unterwürfigkeit. Auf ihren Arbeitsstellen saßen die Leute unter Überwachungskameras, ließen sich die Zigarettenpause verbieten und machten Überstunden in der Hoffnung, von der nächsten Kündigungswelle verschont zu bleiben." (Juli Zeh, Unterleuten, S. 107)

Diese Textpassage aus Juli Zehs Erfolgsroman von 2016 scheint mir der realen Situation, in der sich viele unserer freien Marktteilnehmer heutzutage befinden, durchaus nahezukommen. Vor allem fällt mir der Ausdruck "persönlicher Erfolg" in die Augen. Er ist (wie so vieles in unserer Alltagssprache) theoretisch unscharf, trifft aber eben darin die Ambivalenz und Doppeldeutigkeit, mit der die modernen, um "Erfolg" bemühten Individuen tagtäglich zurechtkommen müssen. Es sind nämlich zwei letztlich unvereinbare Sphären oder Seinsbereiche, die hier, als würden sie seit jeher unter einer Decke stecken, in harmlos klingender Kumpanei zusammen auftreten.

Der "Erfolg" setzt, um als solcher gelten zu können, Kriterien von allgemeiner Gültigkeit voraus. Er ist sozusagen messbar. Wer bei der Vier-Schanzen-Tournee ein paar Meter weiter gesprungen ist als der Rest des Feldes, wer eine definierte Wegstrecke zu Fuß oder im Rennwagen schneller bewältigt hat, steht als Sieger zweifelsfrei fest. Und mit dem Erfolg bei einem Tennisturnier oder sonst im Berufsleben verhält es sich genauso. Wer den meisten Umsatz generiert, erbringt eine Leistung, von der er erwarten darf, dass sie honoriert wird. Was "oben" oder "vorne" ist, zählt zu den "objektiven Tatsachen" des modernen Lebens, und das Universalmedium Geld, in dem noch jeglicher Erfolg gemessen wird, ist an objektiver Geltung nicht zu übertreffen. Die Geldsummen, über die ich verfüge, zeigen mir und meinen Mitmenschen zuverlässig, dass ich zu den "Erfolgreichen" gehöre. Woran mag es nur liegen, dass ich nicht glücklich bin?

Diese Frage führt uns zu der Person, die sich ihren Erfolg einiges an Mühe und Anstrengung hat kosten lassen. Die jeden Tag bis zum Umfallen trainiert, geübt, gelernt und studiert hat. Die während ihrer Tournee durch 50 Städte keine zwei Nächte am gleichen Ort schlafen konnte. Die für ihre Firma von Kanada bis China ständig unterwegs ist, um die Kunden und Niederlassungen zu betreuen. Und die das ganze Jahr über ihre sogenannten Lieben kaum je oder nur flüchtig zu Gesicht bekommt - wenn sie auf ihrem Weg nach oben überhaupt die Zeit erübrigen und die Fähigkeit entwickeln konnte, andere Menschen persönlich kennen- und lieben zu lernen. Beim "persönlichen Erfolg", das will ich damit andeuten, bleibt die Person, soweit sie das Bedürfnis nach vertrauter Nähe, Glück und Zufriedenheit empfindet, oft genug auf der Strecke. Das Traumziel ist erreicht, aber wo sind die Gefühle geblieben? Ich habe gelernt, zu kämpfen und zu rackern, aber verlernt, mich zu freuen. Und andersherum, im Falle der Katastrophe, macht sich "die Unfähigkeit zu trauern" bemerkbar.

Als prominente Beispiele für einen Erfolg, der dem emotionalen Verhungern gleichkommt, fallen mir auf Anhieb der Skispringer Sven Hannawald ("Ich war erfolgskrank", heißt es in dem am 28.12.2017 auf ZEIT-Online veröffentlichten Interview) und die Tennisspielerin Jennifer Capriati ein. Auch Janis Joplin, die mit 27 Jahren, an der Schwelle zum Welterfolg, einsam in einem Hotelzimmer starb, nachdem sie sich eine Überdosis Heroin genehmigt hatte, ist ein schönes Beispiel für die mit dem "persönlichen Erfolg" verbundene Problematik. Innig befreundet mit mancherlei Drogen einschließlich des Alkohols waren auch die früh verstorbenen Erfolgsmenschen Amy Winehouse, Michael Jackson und Elvis Presley. Und wenn wir die vielen missmutig blickenden Alltagsmenschen befragen würden, die uns "im Dickicht der Städte" begegnen, könnten wir diese Shortlist zum Thema "Erfolg" sicherlich um einige Millionen weiterer Beispiele verlängern. Freilich mit umgekehrtem Vorzeichen: Wir würden feststellen, dass der Mangel an Erfolg nicht automatisch glücklich, sondern die Minderwertigkeitskomplexe offenbar macht, die den Bewohnern der Konkurrenzgesellschaft von Kindesbeinen an beigebracht werden.

Die Person, die den Erfolgskriterien zugewandt ist, die von klein auf gelernt hat, strebsam zu sein, hungrig nach Erfolg und Anerkennung, bin ohne Zweifel ich. Aber das Objekt dieser Bemühungen, das "Material", von dem es heißt, dass aus ihm "etwas gemacht werden" muss - "Leben ist, was du daraus machst" (Hugh Jackman in einem Interview zu seinem neuesten Film The Greatest Showman, SZ vom 23.12.2017) -, und das von meinem Ich im Namen der Erfolgskriterien des Öfteren drangsaliert wird, rücksichtslos bis zur Gefährdung meiner physischen Existenz, bin doch ebenfalls ich! Zwei Ichs, die in ein und demselben Körper wohnen und die es schwer miteinander haben.

Viele Redewendungen, die alle etwas mit "innerer Zerrissenheit" und "innerer Unruhe" zu tun haben, zeigen, dass das Bewusstsein der beiden Komponenten des Ich durchaus verbreitet ist. Das moderne Individuum möchte gerne einmal "abschalten", mit sich "ins Reine kommen" und sein "inneres Gleichgewicht" finden. Die "in sich ruhende", "ausgeglichene Persönlichkeit" ist für viele Menschen zum Ideal geworden. "Innere Ruhe", "Einklang", "goldene Mitte" - so werden heute Duschgels, Badezusätze und Kräutertees benannt. Bedauerlich nur, dass die Menschen sich so wenig wundern über die schizophrene Struktur, die dem erhofften und erwünschten Zustand zugrunde liegt.

Der Manager ist eine Abstraktion

Einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung dieser Struktur, die sich als Fleisch-Geist-Dualismus seit Plato durch die Philosophiegeschichte zieht, hat zweifellos Immanuel Kant mit dem geleistet, was man seine "Zwei-Welten-Theorie" nennen könnte. Das der Objektivität zugewandte Ich ist bei Kant ein vom vernünftigen Denken eingenommener Standpunkt, der sich zur Wirklichkeit als zu seinem Gegenüber verhält. Es liegt aber nicht an diesem Gegenüber, sondern an diesem Ich und an der Beschaffenheit seines Denkens, dass sich ihm die Wirklichkeit so präsentiert: dinglich, in der Gestalt klar identifizierbarer Gegen-stände. Diese Gegenstände sind, anders als die Erscheinungen und Gesichte des Wunderglaubens, kommunizierbar, miteinander vergleichbar und nachprüfbar: weil und sofern das Denken bei der Verarbeitung der Sinneseindrücke in der immergleichen Weise verfährt, sie mit den immergleichen Kategorien ordnet. Was der Empirismus für die Wirklichkeit selbst hielt, die Gegenstände der Erfahrung, bedarf also, um zustande zu kommen, bereits einer Leistung des Denkens. Und erst recht ist es eine Leistung, die Gegenstände der Erfahrung nach Gesetzen der Kausalität miteinander verknüpft zu denken: als Ursache und Wirkung. Ohne die von jeder Anschauung freien Ideen der Allgemeinheit und der Notwendigkeit, die dabei die entscheidende Rolle spielen, wäre die Formulierung der Naturgesetze nicht möglich gewesen. Wegen dieses seines Sprunges ins "Jenseits der Sinne" nennt Kant das Subjekt der Erkenntnis, ebenso die Kategorien, die es anwendet: transzendental.

Was Kant damit aufdeckt, ist eine Eigenart des neuzeitlichen Denkens überhaupt. Um im Rahmen der Subjekt-Objekt-Konstellation zu verlässlichen und allgemeingültigen Resultaten zu gelangen, muss es über das, was nicht allgemeingütig ist, über das, was wir - als "bloße Sinnenwesen" - unmittelbar spüren und empfinden, hinweggehen oder - sehen. Mit den "Stangen und Spießen" (Hegel) eines verselbstständigten Kategorienapparates ist die Wirklichkeit nicht wirklich zu erfassen, nicht in der Einzigartigkeit ihrer Existenz, die ja mich immer schon einschließt. Kant selbst räumt dies mit dem Hinweis auf das unerkennbare "Ding an sich" ausdrücklich ein.

Die gleiche "Jenseitigkeit" besitzt die Vernunft laut Kant auch in praktischer Hinsicht, auf dem "Felde der Sitten" (Moral- und Rechtsphilosophie). Das Bewusstsein von einem eigenen Willen, das vernünftige Wesen kennzeichnet, bedeutet, dass sie ihr Ich als ursächlich verknüpft mit dem darauffolgenden Handeln denken. Wer sich aber selbst als Ursache denkt, zeigt, dass ihm die Kategorie der Allgemeinheit zugänglich ist, dass er aufgrund der Einsicht in allgemeine, gesetzliche Regelungen handeln kann. Er tritt damit heraus aus dem Ursache-Wirkungs-Geflecht, in dem er sich realiter immer schon befindet. Er gehört also nicht nur zur empirisch-kreatürlichen Welt der Bedürfnisse, sondern auch zu einer anderen, intelligiblen Welt, in der andere als die Naturgesetze gelten, Gesetze, "die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 88). Als eine dauerhafte Instanz, die frei ist, nämlich vom Naturzwang, ist das Vernunft-Ich dazu fähig, nicht bloß aus Furcht oder Gier, sondern um des willen, was allgemein gilt oder gelten sollte, zu handeln (Kategorischer Imperativ). "Für die Freiheit sterben", so lautet der Titel eines bekannten Buches über den amerikanischen Bürgerkrieg von James M. McPherson. Warum nicht auch sterben für den Markterfolg?

Heute, wo wir die gesellschaftliche Entwicklung überblicken, die seit Kant und der Französischen Revolution abgelaufen ist, fällt es nicht schwer, in dem vom Naturzwang freien "Ich will" den Standpunkt des Warenbesitzers zu erkennen, den Marx schon zu seiner Zeit darin gesehen hat. Was Marx sich allerdings nicht vorstellen konnte, war eine Entwicklung des Kapitalismus, die schließlich alle Lebensbereiche der Gesellschaft der Ware-Geld-Logik unterwarf, sodass wir heute eine klassenlose Gesellschaft freier und gleicher Marktteilnehmer sind, in der buchstäblich jeder Mensch, Männer und Frauen gleichermaßen, als der private Eigentümer seiner selbst erscheint: "Letztlich ist der Körper das einzige, was uns wirklich gehört" (Alicia Giménez Bartlett, FÜR SIE 3/2009). Das Paradox ist entstanden, dass ausgerechnet das abstrakte Vernunft-Ich Kants bestens dafür geeignet ist, die psychische Situation zu beschreiben, in der wir uns als Ware-Geld-Individuen befinden - der Kritik zum Trotz, die die Anwälte des "konkreten Lebens" und des "lebendigen Geistes" schon sehr bald an seiner "Jenseitigkeit" geübt haben.

Je mehr wir uns vom "transzendentalen Subjekt" zu eigen gemacht haben, so müssen wir uns sagen, je "vernünftiger" wir also im kantschen Sinne geworden sind, desto eher wird es uns gelingen, zu dem, was uns unmittelbar bewegt oder bewegen könnte, auf Distanz zu gehen. Die abstrakte Vernunft wirkt wie eine Schutz- oder Isolierschicht, sodass unsere Gefühlsregungen nur abgeschwächt und gedämpft in unser Bewusstsein dringen. Wenn denn die auf Objektivität getrimmte "Vernunft" sich überhaupt dazu herbeilässt, das, was von "unten" kommt, vom Kellergeschoss unserer kreatürlichen Bedürfnisse und Triebe, zur Kenntnis zu nehmen. Eine im kantschen Sinne aufgeklärte Gesellschaft wird daher im Ganzen gesehen einen eher "coolen" Eindruck machen, sie wird ruhiger, gleichmäßiger, sachlicher funktionieren als eine, in der die Menschen noch wenig "Verblüffungsresistenz" besitzen und auf ihre Umwelt in stärkerem Maße emotional reagieren. Was übrigens nicht bedeutet, dass die vernünftigen Individuen von den Gefühlen nichts wissen wollen. Wo es an der Sache fehlt, kommt sie umso lauter zur Sprache. Gerade die modernsten der modernen Individuen, reichlich ausgestattet mit den "Gegenständen möglicher Erfahrung", die ihnen von den Medien ins Wohnzimmer geliefert werden, pflegen einander wortreich zu versichern, wie wichtig ihnen die Gefühle sind. Sensibilität, Empathie, Betroffenheit und Achtsamkeit sind die in der Ratgeberliteratur um und um gewendeten Stichworte.

Das starke Ich ...

Unterstellen wir, dass sich in den großen politischen Bewegungen der letzten, sagen wir, 300 Jahre die etappenweise Durchsetzung und Entwicklung jenes gesetzlichen Zustandes spiegelt, den Kant im Namen der Vernunft propagierte, dann können wir das Abflauen der politischen Leidenschaften, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl in allen Ländern des globalen Westens zu beobachten war, als Zeichen dafür nehmen, dass hier ein gewisser Endzustand in Sachen abstrakter Vernunft erreicht war. In der modernen Massendemokratie ist das bürgerliche Bewusstsein, das nach rechtlicher Gleichheit strebt, gewissermaßen zur Ruhe gekommen. Der Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit bringt zwar Affären und Skandale hervor, aber er erschüttert die Gesellschaft nicht mehr als ganze. Man ereifert sich vornehmlich im privaten Kreis oder wendet sich, wenn die Empörung besonders hoch kocht - an die Gerichte. Das Rechtssystem ist hier weitgehend mit sich selbst beschäftigt und funktioniert durch eine Vielzahl von Einzelfällen hindurch. Der demokratische Rechtsstaat unserer Zeit, der von seinen Bürgern keine ideologischen Bekenntnisse mehr erwartet, dürfte weitgehend jener eigenschaftslosen "Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt" entsprechen, von der Kant meinte, sie sei schon als solche dazu imstande, bei "vernünftigen Wesen" Respekt und Achtung zu erzeugen. Die Politik ist jedenfalls zu einem nüchternen Geschäft geworden, zu trockenem "Verwaltungskram", bei dem Leute, die mit Pathos auftreten und irgendwelche Visionen verkünden, teils belächelt, teils als gefährliche Populisten angeprangert werden.

Dieser gemeinhin als "Stillstand" wahrgenommene Zustand bedeutet aber nicht, dass die Gesellschaft als ganze zum Stillstand gekommen wäre. Es handelt sich nur darum, dass an die Stelle der moralischen und politischen Bewegtheit unmittelbar die kapitalistische Geldbewegung selbst getreten ist. Und damit kommt eben das kantsche Vernunft-Ich ins Spiel, dem es heute freisteht, seinen Erfolg an jeder beliebigen Stelle des kapitalistischen Funktionszusammenhangs zu suchen. Da es von seinen historischen Konstitutionsbedingungen nichts weiß (ebenso wenig übrigens wie Kant, der von diesem Nicht-Wissen allerdings ein klares Bewusstsein hatte), behandelt es das, was bei Kant Metaphysik heißt, den Standpunkt des vereinzelten "Ich will", wie eine empirische Gegebenheit. Einen Unterschied zwischen dem Willen, mit dem Privateigentümer sich an den Vertrag binden, den sie miteinander abschließen, und jenem Willen, der im Sinne von Brauchen, Mögen, Lieben auf der Ebene konkreter Bedürfnisse angesiedelt ist, pflegt der Alltagsverstand nicht zu machen. Was bei Kant als logischer Ausgangspunkt des vernunftgemäßen Handelns konzipiert ist: Das in allem Denken gleiche "Ich will", das die "Einheit des Begehrungsvermögens" darstellt, ist für den modernen Menschen selbst zum Gegenstand des Begehrens geworden. Und zwar dadurch, dass er die Attribute der Starrheit, Unveränderlichkeit und Dauerhaftigkeit, die der Abstraktion als Abstraktion zukommen, empirisch wendet. Vor Kant wurde das Bewusstsein von einem kontinuierlichen Ich transzendent interpretiert, als Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. Heute wird die Abstraktion andersherum missverstanden: als integraler Bestandteil der empirischen Welt. Und das Missverständnis äußert sich in dem Wunsch nach einem starken, zuverlässigen Ich.

Umso dringlicher wird dieser Wunsch empfunden, als es der "äußeren Welt", mit der wir zurechtkommen müssen, an Zuverlässigkeit gerade mangelt. Bei der "fortwährenden Umwälzung der Produktion" (Marx im Kommunistischen Manifest), die für den Kapitalismus kennzeichnend ist, ergeben sich auch fortwährend veränderte Lebenssituationen. Wechsel des Wohnortes, Wechsel des Arbeitsplatzes, Wechsel des persönlichen Umfelds, immer neue Produktionstechniken, immer neue Konsumangebote und Moden, immer neue Überraschungen: Bei der "ewigen Unsicherheit und Bewegung" der "Bourgeoisepoche" (ebd.) dürfen wir von der empirischen Situation, in der wir uns gerade befinden, nicht erwarten, dass sie so etwas wie Kontinuität, Halt oder Sicherheit zu bieten hätte. Wer sich auf irgendetwas "ausruhen" oder in der Routine, im Alltagstrott "einrichten" möchte, gilt bekanntlich als Spießer. Offen und beweglich sollen wir sein und lebenslang lernen. Und dazu ist es eben notwendig, dass wir die Stabilität, die Ruhe, das Gleichgewicht "in uns selbst" finden und jene "Ich-Stärke" entwickeln, auf die die bürgerliche Gesellschaft seit den Tagen Sigmund Freuds ausgiebig reflektiert.

... und seine Krise

Anstatt uns vor dem Quälgeist des abstrakten Ich zu hüten, anstatt es als den Statthalter zu enttarnen, den der Kapitalismus in uns errichtet hat, auf dass seine Erfolgskriterien wie "unsere eignen" aussehen, suchen wir Zuflucht bei ihm. Und in der Art, wie wir es tun, macht sich sogleich wieder die von der Abstraktion vorgegebene Konstellation bemerkbar. Da das Ich für sich genommen inhaltslos ist und keine andere Bestimmung enthält als die des Ausgangspunktes, stellt sich der Impuls des Machens und Tuns ein. Für die Pflege des Ich muss etwas unternommen werden. Auf dem heute erreichten Stand der Egozentrik befindet sich jeglicher Inhalt im Modus des "Außen", selbst wenn wir beteuern und bezwecken, "in uns" zu gehen. Die betuchteren unter den Ware-Geld-Individuen begnügen sich nicht mit Badezusätzen und Kräutertees. Sie buchen Schweigewochen im Kloster, ein Wellness-Wochenende mit Yoga-Kurs oder stärken ihr "Ich" beim meditativen Wandern. So kommt es, dass ein Bedürfnis, das als Reaktion auf das abstrakte Leistungs-Ich entstanden und seinem stofflichen Gehalt nach oppositionell ist, doch wieder zurückmündet in den Ware-Geld-Kreislauf. Das System bewältigt die Probleme, die es hervorruft, dadurch, dass es weiter um sich greift und, mit Niklas Luhmann gesprochen, ein weiteres "Subsystem" aus sich heraussetzt: die Psycho-Industrie.

Auf die Dauer aber lässt sich die aus Fleisch und Blut bestehende Wirklichkeit von der Abstraktion nicht foppen. Die Wohltaten, die uns in der Warenform angeboten werden, muss man sich leisten können. Und sie führen nicht weg vom Erfolgs- und Leistungs-Ich, sondern dienen ihm. Der "gesunde Körper", den das abstrakte Ich immer noch weiter zu optimieren trachtet, spürt, dass er missbraucht wird. Er verweigert zunehmend den Dienst. Und wenn er, von Multitasking und Sofortness gepeinigt, die "Libido" genannte Lebensenergie, die sich laut Freud in "Kulturleistungen" sublimieren sollte, auf null stellt, wenn er psychisch auffällig wird, wenn er SOS funkt mit Zeichen der Depression und der Erschöpfung à la Burnout-Syndrom, dann kommt es sehr auf den Standpunkt an, ob man hier eine Krankheit oder vielleicht eher einen gesunden Fluchtreflex wahrnimmt.

Am anderen Ende der Skala, aber mit dem gleichen Effekt, führt die Objektivität, die mir permanent sagt, was ich besser hätte tun oder auch unterlassen sollen, um meine Chancen zu wahren, zu einer in die Enge getriebenen Empirie, die beeindruckende Ausbrüche von Gewalt zustande bringt. Die komplette Beliebigkeit, mit der die an Zahl zunehmenden Amokläufer und Selbstmordattentäter ihre Opfer treffen, zeigt uns eine Explosivkraft, die geradezu demonstrativ auf jeden allgemeinverständlichen oder -verbindlichen Sinn verzichtet. Neben der Krise des Finanzsystems, der Flüchtlingskrise, der Umwelt- und der Klimakrise haben wir es ganz offensichtlich auch mit einer Krise des Ich zu tun. Und der Tag ist vielleicht nicht mehr fern, an dem auch im öffentlichen Bewusstsein alle diese Krisen auf den gemeinsamen Nenner der kapitalistischen Krise werden gebracht worden sein.

Die Mainstream-Literatur hat jedenfalls ihr Augenmerk längst schon auf das Ich und dessen Anfälligkeit gerichtet. Abschließend sei noch einmal Juli Zeh zitiert:

"Endlich war auch in Kron das 20. Jahrhundert zu Ende gegangen, diese Epoche des kollektiven Wahnsinns. Mit einem kleinen Schritt war er in der Gegenwart angekommen, im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter bedingungsloser Egozentrik. Wenn der Glaube an das Gute versagte, musste er durch den Glauben an das Eigene ersetzt werden." (Unterleuten, S. 614, Hervorh. P. K.)

*

Ich will nicht!
Bloßstellungen eines vogelfreien Undichters

von Franz Schandl



I.

Ich. Wer bin ich? Oder doch, was? Ich schreibe. Bin ich Schriftsteller? Aber woher denn! Und vor allem auch, wozu? Was ist mit einem, der nicht behaupten will, Schriftsteller zu sein, kann der sich behaupten, wenn er schon die Behauptung verweigert? Soll ich nicht doch noch Schriftsteller werden? Zumindest werden wollen? Versuchen, mich zu behaupten am Markt der Essays und Bücher. Meinen Platz einzunehmen in der Welt, wie es halt die Verpflichtung der Bürger ist. Aber warum soll ich diese Pflicht erfüllen, wo sie doch meiner Neigung so gar nicht entspricht. Warum soll ich mich fügen?

Indes, ich will nicht! Ich will nicht etwas sein, weil man etwas zu sein hat. Ich will nur sein. Wenn ich dichte, bin ich kein Dichter, wenn ich denke, bin ich kein Denker, wenn ich backe, bin ich kein Bäcker, und wenn ich laufe, bin ich kein Läufer. Warum soll ich mich durch meine Prädikate definieren lassen? Ich dichte gerne, ich denke gerne, ich backe gerne, ich laufe gerne. Aber das tue ich, sein tue ich etwas anderes, aber eben nichts Dezidiertes. Es ist dieser bescheidene Wunsch, ich zu sein, der mich motiviert.

Nie bedrängte mich der Wunsch, Schriftsteller zu werden, aber seit ich ungefähr fünfundzwanzig war, spüre ich, dass ich etwas zu sagen habe und dass das zu Sagende schriftlich gemacht werden muss, will es Halt und Inhalt gewinnen. Aber nie wollte ich mich bezichtigen lassen durch eine Zuordnung, nie wollte ich in eine Schublade gesteckt werden, immer wollte ich in meiner Tragweite gesehen und angenommen werden. Meine Akzeptanz sollte nicht Folge eines Jobs sein und schon gar nicht die einer Vermarktung. Entschieden lehne ich es ab, bewertet, anstatt geschätzt zu werden.

Indes, ich will nicht! Mich zu spezialisieren, das war mir stets fremd. Nicht mangelnde Kompetenz verordnete mir diesen schrägen Zustand, sondern einfach die Lust, auf die Fülle zuzugreifen, mich nicht zu verengen oder gar einzugraben in einem Gebiet, wo ich dann als Fachmann oder Experte glänzen könnte. Das Partielle hat nie so gereizt wie das Ganze. Jeder Ausschnitt ist mir zu wenig. Nicht einen Teil des Lebens will ich, das Leben schlechthin möchte ich. Was sonst soll man wollen? Freilich kann ich nur dafür leben, aber nicht davon.

II.

Ich fühle mich nicht berufen, und wenn doch, dann nicht zu einem Beruf. Etwas, von dem man sagen könnte, dass ich einer sei. Ich bin keiner von denen, auch kein freier Schriftsteller. Bereits der Terminus ist absolut idiotisch. Er kommt so gesättigt, so überzeugt und selbstverständlich daher, als handle es sich um einen Adelstitel der Kulturindustrie. So Freiherr von Schanden. Andere mögen abhängig sein, aber ich, ich doch nicht! - Die Setzung des Adjektivs "frei" zeugt von einer verbohrten Lüge, seien die Träger nun Ahnungslose oder Überzeugungstäter. Die Bezeichnung ist nichts anderes als eine bürgerliche Aufwertung durch Auszeichnung. Schlimmer als die staatlichen Bevormundungen und Gängeleien, denen man den Zwang immerhin ansieht, erscheinen die Pressionen des Marktes als Betätigung und Bestätigung der Freiheit schlechthin.

Indes, ich will nicht! Die, die mich anerkennen, müssen mich anerkennen, ohne dass man ihnen sagt, dass ich anzuerkennen sei. Ob diese Position durchhaltbar ist? - Wahrscheinlich nicht! Auch wenn ich mich manchmal wundere, wie lange ich schon in diesem Abseits sitze und nicht verzagt habe. Verzweiflung ist zu verdrängen.

Frei am Markt zu sein, heißt, vogelfrei zu sein. Dem Abschuss zu entgehen, indem man andere abschießt. Dem Ausschluss zu entgehen, indem man andere ausschließt. Das Leben der Konkurrenten ist eine gemeine Abfolge von Vergeltungen. Meistens sind die anderen nicht gleich tot, sie werden wie wir langsam zur Strecke gebracht. So und nicht anders funktionieren Konkurrenz und Geschäft. Man muss dazugehören und mitmachen, um anerkannt zu werden. Wir sind Monaden, fensterlose Wesen, die sich und die ihren von den anderen abschotten, ihnen (da wir sie wie uns kennen) misstrauen. Ihnen (nicht zu Unrecht) das Schlechte unterstellen und mit dem Üblen das Üble verhindern möchten. Wie verhindern wir, dass uns die Anderen etwas antun? Ganz einfach: Wir tun ihnen selbst etwas an, auf dass sie uns nichts antun können. Nicht Gunst erweisen wir einander, sondern Missgunst.

Die Erkenntnis der Unfreiheit ist befreiender als die Anwendung uns aufgezwungener Freiheit. Die Freiheit, die wir kennen, die ist eine Bedrohung. Sie verwüstet unser Leben, degradiert es zu einem Kampf ums Überleben, zwingt zu Arbeit und Tausch, zu Geld und Geschäft, zu Verwertung und Verrohung. Diese Freiheit ist unwirtlich und widerlich. Sie erschafft keine Individuen, sie produziert Subjekte, sie liebt die Menschen nicht, sondern rüstet und stachelt sie auf. Unsere Geschichte ist gerade aufgrund dieser mentalen Disposition eine Geschichte selbstgemachter Katastrophen.

III.

Was werden, was ist das schon? Nur wer meint, nichts zu sein, muss etwas werden. Wie kommen wir überhaupt dazu, a priori für nichtig oder minderwertig gehalten zu werden? Mich anzubieten, das will ich von mir nicht und nicht verlangen. Es ist schlimm genug, dass ich es gelegentlich tun muss. Es ist nicht Scheu, es ist Abscheu. Mich zu bewerben, ja zu feilschen, mich zu verkaufen, davor graust mir. Die Frage nach meinem Marktwert müsste mich stracks in den Suizid führen.

Bestenfalls bin ich ein unfreier Dichter. Vielleicht, es sei gestanden, hätte ich auch gerne einen Verlag, der mich verlegt, nicht bloß ein Buch publiziert. Jemanden, der mich vor dem Markt schützt, aber doch dort irgendwie unterbringt. Mir sagt, was zu fördern und was zu unterlassen ist, meine lyrische und dramatische Ader ernst nimmt und mich in jeder Hinsicht ermutigt. Denn eigentlich wollte ich mich nie selbst verlegen und auch den Redaktionen wollte ich nie nachlaufen. Mitteilen ja, anbieten nein! Wie grauslich ist dieses Sich-zum-Markte tragen. Ich hasse es aus tiefster Überzeugung. Vermarktung ist praktizierte Kapitulation.

Indes, ich will nicht! Das Schmieden oder das Bauen an einer Karriere war und ist mir zutiefst zuwider. Sich zu managen, strategisch zu netzwerken, wohin soll das führen? Welch getriebenes Wesen muss man sein, eine Laufbahn anzustreben und diese zu beschreiten? Vielleicht führt derlei ja in den Erfolg oder auch an die Spitze, doch was ist man dort und was macht man dort und wie lange? Ich wollte nie ein Erniedrigter und Gehetzter sein, sondern ein Lebender, ja ein Lebendiger. Kein Kalkulator meiner Finanzbuchhaltung. Nicht erfolgreich gilt es zu sein, sondern folgenreich.

Nicht dass ich nicht einmal bekannt bin, ist bekannt. Bisher bin ich jedenfalls allen Relevanzvermutungen entkommen und Preisausschreiben entgangen. In keiner Hitparade werde ich gespielt, in keinem Ranking gelistet. Ich hatte nie einen Preis und daher bis jetzt auch noch keinen bekommen. Er bekommt mir auch nicht. Schon alleine dadurch, dass ich einen Preis wert wäre, mäße man mich mit den Maßen der Konvention. Ich bin keinen Preis wert. Bisher keinen gewesen und in meinem Wesen dem auch in keiner Weise entsprechend. Was will man mit dem Preis? Dass ich auffalle? Nicht, dass ich nicht auffallen will, aber nicht auf dem Markt will ich auffallen, sondern wider den Markt. Aufmerksamkeit hat kontradiktorisch zu sein und vor allem zu bleiben.

Geehrt wurde ich nie. Keine Kommission hat sich meiner erbarmt und mich bedroht. Unehre, wem Unehre gebührt. Doch was ist Ehre? Eine Erweisung? Ähnlich einer Überweisung? Auf jeden Fall eine herbe Einweisung in die Zugehörigkeit. Auch meinen unüberschaubaren Vorlass anzukaufen, hat mir noch niemand angeboten. An der Qualität kann es ja nicht liegen. Die vergessen nicht, mich nicht zu vergessen.

Karriere ist mir ein übles Ding. Nichts ist aus mir geworden, und wie es aussieht, wird aus mir auch nichts mehr werden. Der Zuspruch verblieb im Minimundus, er hat nichts von Status oder gar Renommee. Wer bin ich schon? Das vom Markt propagierte Ich ist ein Serienprodukt. Dieses Ich hat sich als Marke zu etablieren, sein Charakter ist Maske, persona. Aufgaben werden gestellt und Ziele gesteckt, Kompetenzbasis und Netzwerk inbegriffen. Nicht zu sich kommen sollen die Leute, sondern etwas werden, eine Laufbahn einschlagen. Dafür burnen sie - in and out! Die Gewordenen und die Ungewordenen treffen sich im Bekenntnis allgegenwärtigen Werdens der Ungewesenen.

Karriere ist etwas für Barbaren und Banausen. Je gestörter jemand ist, desto nötiger nicht nur das Verlangen, sondern desto größer auch die Chance die Karriereleiter raufzuklettern. Wenn man sonst nichts hat vom Leben, zu einer Karriere wird's reichen. Ellbogen raus! Karriere ist eine Schuld, die man hat und deren Opfer man als Täter wird. Es ist da ein ständiges Defizit, das uns antreiben soll, man ist sich etwas schuldig. Und den anderen noch mehr. Ich hingegen schürfe tief und gebe viel. Nicht und nichts bin ich schuldig!

Karriere macht krank, weil sie krank ist. Die scheitern, scheitern, und die nicht scheitern, scheitern ebenso. Wer da gescheiterter ist, ist schwer zu sagen. Tatsächlich muss nur etwas werden, wer nichts ist. Nichtig das Subjekt, das solche Bestimmungen nötig hat. Wer meint, ein Karriereprofil haben zu müssen, ist entweder ein gefährlicher Irrer oder eine bedrängte Kreatur. Beide Typen tun nicht gut, weder sich noch anderen. Die Alternative, ob jemand ein scharfer Hund ist oder ein armer Hund, ist keine. Kein Hund zu sein, das wäre eine. Aber ich red mir's da leicht, denn aus mir ist ja auch akkurat nichts geworden. Mit 50plus ist es sowieso schon zu spät. Was darf ich noch wollen?

Indes, ich will nicht! Wär ich was geworden, würde mir was abgehen. Umgekehrt freilich auch, denn als Kind dieser Tage ist man natürlich nicht frei vom Sog der Reputation und des Prestiges. Anders als die Ideologie es verheißt, ist niemand autonom. Praktisch auf der Höhe seiner Gedanken zu sein, das kann bei solchen Gedanken sich eins weder leisten noch ist eins dazu imstande. Wider die Zeit der zu sein, der man möchte, das würde einen glatt zerreißen.

IV.

Trotzdem war das Ich meist stärker als das Was. Dieses Ich will nicht gezwungen werden, zu etwas zu finden, was einem Job gleicht. Aber mitunter wünsche ich mir doch, abgesichert zu sein und eine Pension zu erhalten, die mehr zulässt als die drohende Armut. Das Nichts-werden-Wollen hat auch seine Tücken. Und stimmt es überhaupt, was ich da erzähle? Ist das nicht die Ausrede eines notorischen Versagers? Eine billige Notlüge? Ich kann das alles nicht so dezidiert ausschließen, wie ich es ausschließen möchte. Daher gilt es auch aufzupassen, dass die Bloßstellung nicht zur Schaustellung wird, also die Performance die Biederkeit überspielt.

Ich bin nicht so sicher, wie ich tue. So halte ich zwar einiges aus, aber diese Ignoranz mir gegenüber, die halte ich immer weniger aus. Arroganz hilft weiter, aber auch sie ist bloß Surrogat. Dem sozialisierten Kleinheitswahn meiner dörflichen Umgebung bin ich nur entkommen, sintemal ich mir eine Überdosis an Narzissmus verordnet habe. Das half mir, mich aus den beengenden Verhältnissen zu katapultieren. Die Freuden dabei waren größer als die Leiden davor. Nötig ist es allemal gewesen, aber die Wirkung lässt nach ...

Und doch muss man sich spätestens mit fünfzig eingestehen: Das Leben läuft aus. War man ihm in jungen Jahren hinterhergelaufen, so läuft es einem nun auf einmal davon. Man könnte meinen, das eine sei wie das andere. Das stimmt auch, aber die Blickrichtung hat sich umgekehrt. Wenn der Neunzigjährige und die Elfjährige beide einundneunzig werden, dann qualifiziert sich diese formale Gleichheit in der konkreten Frist als fundamentale Diskrepanz. Leben wird im Alter vom Tod her gedacht, ja gesteuert. Noch nie war man ihm so nah wie jetzt. Und jeden Tag, jede Stunde kommt man ihm näher, gerät in seinen Sog. War einst der Tod eine ferne Bestimmung, so wird er nun zu einem absehbaren Ereignis, das von Minute zu Minute an Wahrscheinlichkeit gewinnt und uns fortreißen wird. Wir sitzen auf verlorenem Posten. Aber noch sitzen wir.

Immer waren da zu viele Aufgaben, zu viele Perspektiven, zu viele Ziele. Es gelang nicht, mich zu fixieren, was bedeutet hätte, mich zu beschränken. Ich jedoch wollte unbeschränkt und zerstreut sein, nie fleißig und borniert. Multiple Ladungen blieben liegen. Schubladen und Ordner sind voll. Fokussiert, wie das so schön heißt, war ich selten. Und wenn, dann folgte dies äußeren Umständen. Die Herausgabe der Streifzüge wäre hier zu nennen.

Ordnung war rar, Verzettelung stets. Ich werde diese nie loswerden, ich bin sie. Ich bin nie fertig geworden und ich werde nicht fertig werden. Fertig sein wollte ich nie. Unfertig ist alles, was ich da veranstalte. Der Provisorien sind viele. Die Latte liegt so hoch, dass Anforderungen als Überforderungen enden. Ich kann nur scheitern. Das tue ich. Aber es ist nicht kläglich oder gar schmählich und vor allem nie erbärmlich. Meist, ich gestehe es gerne, bin ich positiv überrascht. Mir geht es dabei, sofern es einem gut gehen kann, gut. Das Verlangen nach richtigem Leben im falschen ist unbändig.

Aber geht es mir wirklich gut? Es mag mir nicht besonders schlecht gehen, aber wie soll es einem im Kapitalismus gut gehen? Jede pauschale Bejahung dieser Frage ist mit Blindheit geschlagen. Reine Selbstbeteuerung, die die eigene Lage weder zur Kenntnis nehmen noch zur Kenntnis bringen will. Verdrängung pur. Die geflügelte Frage an sich ist wie die abgenötigte Antwort barbarischer Natur, geeignet bloß für den Small Talk. Den Leuten geht es nur gut, weil sie davon ausgehen, dass es ihnen gut zu gehen hat. So beantworten sie auch die notorische Kontrollfrage "Wie geht es dir?" auf obligate Weise. Beiläufig wie ihre Antwort ist auch ihr Leben. Meine Liebste pflegt auf diese Frage meist folgende Gegenfrage zu stellen: "Wie viel Zeit hast du?"

Ich habe es mir manchmal gut gehen lassen, aber hätte es diese ständigen Vorgaben nicht gegeben, wären meine Möglichkeiten um vieles größer gewesen. Oft träume ich von meinen Varianzen. Ich wäre glücklicher gewesen und ich bin doch so gerne glücklich. So war auch mein Leben verstellt und ich musste mir die unverdorbenen Stücke mühsam rausreißen. Und dabei ist es mir noch besser gegangen als den meisten anderen Insassen des Systems. Es ist zum Kotzen. Das gute Leben ist jenseits davon. Manches ist gut gegangen, aber das meiste hat nur schlecht oder gerade mal so recht gehen können. Die bürgerliche Herrschaft hat mir so viel an Lebensentfaltung gestohlen, dass ich keine Sekunde einen versöhnlichen Gedanken verlieren will.

V.

Begabung hatte ich nie. Nichts war da vorhanden, vorgezeichnet oder vorgegeben. Dass meine Mittelschulaufsätze inzwischen vernichtet wurden, ist gut. Keinen Konjunktiv beherrschte ich mit zehn, ja nicht einmal mit zwanzig. Der stilistische Durchfall war allgegenwärtig. Mein Talent sucht man vergebens. Ich lag in einer leeren Wiege. Keine bildungsbürgerliche Beflissenheit beflügelte und befleckte mich. Nichts, aber gar nichts war dem Nachfahren von Analphabeten und Dienstmägden, Kleinhäuslern und Lohnsklaven da vorbestimmt. Die Jugend am Land war jenseits jeder literarischen Begleitung oder gar Anleitung. Fleiß ist es ebenfalls nicht gewesen und Training schon gar nicht. Ich trainiere nicht und Handwerker gibt es bessere. Aber es musste einfach sein, weil ich es wusste und wollte. Alles, was sich durch mich ausdrückt (bin ich das wirklich?), habe ich mir genommen und zugemutet. Mir blieb gar nicht anderes übrig. In die Fabrik wollte ich nicht.

Woher kommt es, dass ich mich so aufführe? Lust ist es allemal. Neben analytischer Schärfe und sprachlicher Präzision geht es mir stets auch um Trauer und Freude, um Wärme und Sehnsucht. Mein Schriftgut beherbergt eine melancholische Note. Glatt sollte das nie wirken, und das Kalkül ist mir anders als die Pointe sowieso fremd. Die Sprache sollte immer sinnlich gehalten werden, affektiv wie effektiv. Es gilt die Stereotype und Floskeln, die Phrasen und Vokabeln zum Gegenstand der Kritik zu machen. Sprache ist nur zu gebrauchen, wenn man ihr Brauchtum bricht, in concreto: das Vokabular des Werts entwertet. Das sehe ich als meine Aufgabe.

Es gibt Vorgaben, die bedeuten mir nichts. Leistung ist einer dieser normierten kommerziellen Leitbegriffe, an deren Lefzen wir zu hängen haben. Diese sind allerdings Zapfsäulen des Unsinns. Ich werde mich diesen Maßstäben nicht unterwerfen. Die Kriterien der Leistung sind Konkurrenz und Verwertung. Ich will nichts leisten. Und arbeiten schon gar nicht. Natürlich sollte einiges gelingen: Liebschaften und Freundschaften und Werke, die vielleicht Bestand haben, Schriften, die nicht reizlos sind, sondern ansprechend und anregend. Aber fällt das unter Leistung? Meine Schöpfungen sind in ihrer Substanz Kinder der produktiven Muße und der langen Weile.

Da war immer viel Alltag und regelmäßig musste ich auch was verdienen, ob ich, der Journalist wider Willen, wollte oder nicht. So erstickte Essenz in Konvention, verunglückte das Exquisite im Trott. Was zu kurz kommt, ja regelrecht untergeht, ist die Pflege von Freundschaften, der sozialen, primär zweckfreien, aber nicht zwecklosen Kontakte, die das Leben bereichern, gerade weil sie nicht gewerbsmäßig sind.

Monographien waren bisher nicht kreierbar. Derlei musste bereits an den äußeren Bedingungen scheitern. Zwischendurch geht so etwas nicht. Zwischendurch geht wenig. Zwischendurch herrscht der Zwischenfall, der mein Fall nun gar nicht ist. Nicht, dass es nicht möglich gewesen wäre, was runterzuschreiben, aber das bin ich nicht, das will ich nicht, und vielleicht bin ich auch psychisch dazu nicht imstande. Lohnschreiberei, Haushalt, Familie ließen nicht zu, längere Texte in der Qualität etwa meiner Veröffentlichungen in den Streifzügen zu verfassen. Der unbedrängten Zeit ist nicht genügend. Und geschludert wird nicht.

Meine besseren Beiträge haben in aller Ruhe zu gedeihen. Sie sollen abliegen, wachsen und reifen, bevor sie publiziert werden. Die Langsamkeit soll man ihnen anmerken. Das ist nicht immer möglich, vor allem der journalistische Rhythmus desavouiert dieses Anliegen. Selbstverständlich vermag ich Abgabetermine zu halten, zeichengenau. Aber viel besser stilisiere ich ohne Terminisierung. Die Frist in ihrer Notwendigkeit ist keine Potenz der Qualität. Groß ist daher die Sehnsucht nach Langeweile. Fad soll mir sein, einfach nur fad. Die lange Weile wäre geradezu prädestiniert für mich. Nur kein Kurzweiler sein! Mein Leben ist so auch die Suche nach den längeren Weilen. Das Kontinuum als Dauern und nicht als Fristen zu erleben, das ist es.

Denke ich. Schreiben, das ist für mich die Entdeckung und Entwicklung einer möglichen Sprachsamkeit. Sprachsamkeit ist Achtsamkeit. Es geht um Güte und Lust der Formulation. Das hat irgendwann begonnen und wird nicht aufhören, solange ich bei Sinnen bin. Gedanken und Gefühle artikulierbar zu gestalten, sie in Sätze und Absätze zu gießen, in Aufsätze und Kapitel zu pressen, in Fragmente und Bücher zu stecken. Aber niemand sage, ich sei "sprachgewaltig". Das bin ich nicht und das will ich auch nicht sein. Güte lässt sich nicht in Gewaltigkeit messen. Meine Sorge gilt der Sensibilisierung, nicht der Überwältigung. Aus meinen Zeilen rinne ich. Und es wird noch tropfen, wenn ich schon nicht mehr bin.

VI.

Schreiben, kann ich das überhaupt? Ich denke nein. Und doch ist das furchtbar kokett, schaue ich mir die Ergebnisse an. Da ist Vitalität, zweifellos. Aber ich schreibe nicht leicht, es geht nicht flüssig von der Hand, sondern es entwickelt sich ganz anders, eruptiv und abrupt, zufällig und plötzlich. Ich arbeite nicht, ich schöpfe. Und erschöpfe. Ich liege meinen Schriften zu Füßen. Sie schaffen mich, nicht ich sie. Ich bin Medium, nicht Meister. Meister bin ich schier keiner, vielleicht ein Kenner und vielleicht auch noch ein Könner. Aber Meister, nein!

Ansonsten hält mich mein Niveau. Meine Schriften sind klüger als ich. Ich wundere mich oft beim Lesen, weiß zwar, dass nur ich das gewesen sein kann, will aber nicht behaupten, dass ich das bin. Die jeweilige Erkenntnis manifestiert sich nur spontan, sie tupft mich zwar an, aber sie saugt sich nicht merkbar fest. Was in mich drängt, kann nicht immer aus mir dringen. Ein Ringen ist es und ein Wringen, Konzentrat äußerster Anstrengung, und es gilt jeden Moment zu nutzen, auf dass der Augenblick der Erleuchtung nicht verfliegt. Furchtbar, wenn mir etwas einfällt und kein Notizbuch in meiner Nähe ist.

Was geschrieben wurde, drängt sich zwar auf, es liegt (für mich) in der Luft, offenbart sich - aber so, wie es gesagt wird, kann es bloß von mir gesagt werden. Es ist ein enthemmtes, aber doch kein hemmungsloses Staunen und Wähnen, das da prosperiert. Ein unermüdlicher Versuch ständiger Befreiung des Lebens durch Sprache und Denken. Wenn ich schreibe, komme ich nicht nur zu mir, sondern ich gerate aus mir, weit über mich hinaus. Wenn ich denke, denkt sich das Gedachte über mich hinweg. Es benutzt mich, und ich bin bereit es zu fassen, wenn ich es fassen kann. Denn nicht alles, was mich ergreift, begreife ich auch, zumindest nicht sofort und nicht auf Dauer. Es ist ein tangentiales Berühren, das auf ein Bemühen meinerseits trifft, wenn sie sich denn treffen.

Der Gedanke kann einen jederzeit und allerorts überfallen, und jederzeit und allerorts hat man parat zu sein, ihn zu fassen. Meistens bleibt er nur Momente hängen, und da muss man Stift und Papier haben, um ihn festzuhalten, damit er ja nicht enteilt. Auch im Schlaf kann ein Satz einen wecken und zu seiner Niederkunft zwingen. I'm ready. Denken, wie ich es verstehe, ist Denken wider die eigene Synthetisierung.

Oft beschleicht mich das Gefühl, dass ich nicht immer Kenntnis von meinen Erkenntnissen habe. Ich fürchte, dass ich ihnen hinterherhinke. Ich schöpfe, aber ob aus mir oder aus der Welt, wer kann das wissen und wer vermag das zu scheiden. Ich kreiere, aber ich verfüge nicht und ich besitze nicht. Ich bin nicht auf meiner Höhe. Mit mir auf Augenhöhe zu sein scheint mir unmöglich. Und während ich noch diesen Gedanken niederschreibe, erfüllt mich diese Arroganz doch mit Antipathie. Aber nur andererseits. Denn keine Sekunde kann ich jene wirklich verneinen. Ich bin das schon. Ich mag nicht bloß meine Texte, ich liebe mich, und ich liebe es, mich zu lieben. Usw., usf.

VII.

So weiß ich auch nie, was wird. Häufig bin ich entzückt. Gelegentlich freue ich mich über neue Sprachsequenzen, um später draufzukommen, dass ich nichts anderes tat, als alte zu plagiieren. Egal was ich schrieb, es blieb Plagiat. Mein Plagiat! Konzepte im eigentlichen Sinne hatte ich nie. Aufbau und Gliederung, Form und Inhalt, alles entscheidet sich im Schreibprozess. Erst am Ende kann ich sagen, was ich vorgehabt habe.

Es denkt mich, es schreibt mich, und ich sitze nicht selten überrascht vor den Niederkünften. Nicht, dass ich mich darin nicht wiederfinde, aber eigentlich sind sie mir zu groß. Ich will mir diese Stiefel nicht anziehen, ich passe da nicht hinein. So flüchte ich allzu oft von einem verlegenen Ich in den Pluralis Majestatis. Der ist mehr Unsicherheit als Angeberei. Denn das kann doch nicht ich sein, das sind sicher wir, ich bin da nicht alleine, so einsam ich auch sein mag. Im imaginären Kollektiv fühle ich mich gut aufgehoben (und nichts macht mich unbescheidener, als wenn ich eine wirksame Gruppe um mich herum spüre). Jenes deckt mich und ich kann sie ausspielen: die Eminenz, die in den Ergebnissen liegt, die liegt nicht in mir, sie liegt in uns. Da fühle ich mich gerettet. Ich liebe das und stehle mich gerne fort.

Nicht ich schreibe, es schreibt sich. Gleich Hegel empfinde ich mich dann als Knecht des Weltgeists, bin lediglich des Werkes Werkzeug, ein Instrument, das das Material sichtet und ordnet, findet und erfindet, streicht und streichelt, kombiniert und komponiert. Es wäre verwegen, mich mit dem Resultat zu vergleichen, aber ich nehme diese Anmaßung auch gleich wieder in mein Geheimnis zurück.

Sorge macht der öffentliche Auftritt. So gelingt es mir einerseits nicht, mich auf meinem Niveau zu entfalten, andererseits aber auch nicht - was in der freien Rede stets wichtig ist -, mich blöder zu stellen, als ich bin. Manche, die sich nicht dümmer stellen müssen, haben es da leichter. Für mich macht das die Sache doppelt schwierig, aber es bestärkt eine Unlust, die ich weder haben noch kultivieren will. Ich bin schreibhaft, aber sprachlos geworden. So kommt es des Öfteren vor, dass ich beim Sprechen über das nachdenke, was ich gerade sage. Das ist furchtbar, denn in solchen Momenten beginne ich zu stolpern, zu stottern, zu stammeln. Ich verhasple mich. Drohe dann einzugehen, zu verstummen. Manchmal rede ich wirres Zeug, werde gar zum syntaktischen Armutschkerl.

Was beim Schreiben kein Problem darstellt - im Gegenteil, es beflügelt mich immens, ganz langsam zu kommen, um dabei aus mir zu geraten, führt beim Sprechen unregelmäßig ins Fiasko. Während im Schreiben so Sicherheit gewonnen wird, muss sie beim Sprechen a priori da sein. Wie aber kann eins heute noch sicher sein? Würde ich so reden, wie ich schreibe, es gliche dem Gestammel eines Irren.

Beim Reden sinke ich bisweilen in mich ein, anstatt dass es aus mir herauskommt. Es ist eine Form, wo das unmittelbar Gesagte gilt, nicht die sorgfältige Korrektur erst das Ergebnis zeitigt, sondern bereits der sprachliche Augenblick. Das verunsichert, schließlich veröffentliche ich ja auch nicht meine ersten Würfe. Während mich das Schreiben größer macht, als ich bin, verkleinert mich das Reden. Die Unsicherheit des Formulierens ist dem Schriftstück, wenn es denn gelungen ist, kaum mehr entnehmbar. Das Werden verschwindet vollends im Resultat, während dem Sprechen die Unsicherheit direkt anzuhören ist. Das Schreiben und das Geschriebene sind nicht eins, das Sprechen und das Gesprochene schon.

VIII.

Man hat mich geschnitten und gemieden, ausgestoßen, verachtet und verboten, bei diversen Forschungsvorhaben nicht berücksichtigt, vertröstet oder einfach den Geldhahn zugedreht. Diskret oder derb, auf jeden Fall effektiv. Der Friedhof solcher Projekte ist zwar überschaubar, aber er wäre größer, hätte ich mich aus diesem Förderdschungel nicht längst verabschiedet. Heimisch war ich dort sowieso nie, höchstens heimlich. Der Demütigung öffentlicher Vergaben und ihren zur Immanenz verpflichtenden Implikationen will ich mich nicht unbedingt aussetzen. Ansuchen haben was Ekelhaftes, man wird zur Nutte einer Kultur- oder Wissenschaftsbürokratie und verliert gerade durch diese Art der Attraktivierung jede Attraktivität.

Allein mich von bekannten oder unbekannten Exponenten evaluieren zu lassen, ist absolut störend. Da mögen zwar einige von mir halten, was ich von ihnen halte, indes sie haben anders als ich keinen Grund dazu, sondern nur einen Vorwand. Die Struktur mag diese Subjekte begründen und legitimieren, aber das entlässt sie aus keiner Verantwortung. Derzeit läuft zwecks möglicher Reduzierung meiner Sozialversicherungsbeiträge eine Begutachtung, ob ich denn als kreativer Schreiber durchgehen kann. Bin schon gespannt, wie das KreationsbeurteilungsadministratorInnengremium urteilt.

Keine bürgerliche Gemeinheit, deren Opfer ich nicht habe sein sollen. Und es sage niemand, ich sei wehleidig, das ist nur ein Vorwurf von jenen, die sich und anderen jedes Spüren verbieten wollen. Ich klage nicht nur, ich klage an! Insofern sind alle meine Beiträge Klagsschriften, die ich da zur Kenntnis bringe, auf dass sie Erkenntnisse fördern. Auf dass es gesagt ist, schreibe ich es. Ganz einfach. Man hat mich nie aufkommen lassen, aber man hat mich auch nie abdrehen können. Noch spreche ich.

Nachlässigkeit und Flüchtigkeit haben sich in diesem Schreiben in Grenzen zu halten. Das Gesagte soll Aussage sein und nicht bloß Gerede über dieses und jenes. Es gilt Kontexte herzustellen, nicht bloß Texte zu verfassen. Der Anspruch zielt auf These, Begriff und vor allem auch auf sinnliche Übereinkunft. Es ist mehr als Erzählung, mehr als Bericht, mehr als Beobachtung. Es ist multiple Reflexion, deren Resultate inhaltlich wie sprachlich höchsten Ansprüchen genügen wollen. Sequenzen und Konsequenzen sollen begriffen werden.Verständlich hat es auch zu sein, lustvoll und kulinarisch noch dazu. Es soll Freude machen und Freundschaft stiften. Die Dichte soll hoch sein, und doch soll eins in ihr nicht ersticken, sondern sie genießen, auch wenn der Genuss Anspannung erfordert.

Was ich beitragen kann, das will ich beitragen, was ich schöpfen kann, das soll man ruhig abschöpfen. Es ist für euch. Dass ich mich als Verkäufer verdingen und auch euch als Käufer in Kauf (schon wieder diese infektiösen Unwörter der Barbarei, die sich in meine Sprache schleichen und sie zum obligaten Abfall degradieren möchten) nehmen muss, ist beschämend und beängstigend genug. Es ist eine Schande und das sagt der, dessen Name sagt, dass er Schande macht. Ja, ich will! Zu dem bin ich auf der Welt, diesem System Schande zu machen, unentwegt, Schande bis zum letzten Atemzug. So wahr ich Franz Schandl heiße. Mein äußerst banaler Name ist Botschaft. Das werde ich zwar nicht durchhalten und auch nicht aushalten, aber halten möchte ich es so.

Trotz all der kompromittierenden Kompromisse ist mir der Weg des Renegaten erspart geblieben. Dafür danke ich auch allen, die das mental und strukturell ermöglichten. Es ist nämlich auch eine Position des äußersten Luxus, eines Luxus, den ich mir eigentlich nicht leisten kann, ohne den ich aber verloren bin. Ich gehöre also zu jenen, die sich nicht mit der Herrschaft gemeinmachen wollen, sondern Herrschaft und Unterdrückung abschaffen möchten. In diesem kindlichen Eifer manifestiert sich meine Ernsthaftigkeit. Mit Verve. Daran werde ich voraussichtlich scheitern, doch die, die sich gemeinmachen, die sind bereits gescheitert. Oder besser noch: sie schaffen es nicht einmal, scheitern zu dürfen.

Ich verstecke mich nicht. Die Sachen sind auffindbar und bestellbar. Zugänge sind auch ohne Mentoren und Wegweiser gegeben. Wenn eins will, gibt es viel zu entdecken. Natürlich kann man auf den Bahnhofskiosken die aktuellen Bestseller kaufen, man kann ja auch die obligaten Magazine und Sendungen konsumieren. Aber muss man? Der Zwang mag mächtig sein, allmächtig ist er nicht. Und er beginnt zu bröckeln, sobald das Subjekt sich individuiert und Nein sagt. Dieses Nein verlange ich nicht nur von mir.

Mein negatives Denken korrespondiert mit meinem positiven Wollen. Das ist kein Widerspruch, sondern eine Entsprechung. Das größte Vermögen besteht darin, andere zu mögen und von ihnen gemocht zu werden. Mein Vermögen soll jedenfalls Präsent sein. Und auch mir soll es an nichts fehlen. Mehr verlange ich nicht.

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2000 Zeichen abwärts

Kompromittiert
Exkurs über Wein und Liebe

von Franz Schandl

Schmeckt ein Wein vortrefflich, so ist das nicht die Konsequenz seines Rankings durch die Verkostungs- und Bewertungsindustrie, die ihre Zertifikate gleich mitliefert. Das mag, aber das muss nicht korrespondieren. Freude hängt ab von vielen Faktoren: dem Appetit, dem Ambiente, den Gästen, der Räumlichkeit, der Tagesverfassung, dem Vorher und auch dem Nachher, der Einrichtung, dem Personal, der Flasche, den Gläsern, der Weintemperatur, der Außentemperatur, den Erwartungen und Haltungen etc. - Jeder Genuss ist ausgesprochen situationistisch, er ist trotz mancher Kausalitäten weder vorbestimmt noch wiederholbar. 92 Falstaff-Punkte sagen da bedeutend weniger aus als das Erlebnis selbst. Mehr als grobe Linien vermögen sie nicht zu liefern, was sie aber weitgehend bestimmen, das sind die Kaufentscheidungen von Distributoren und Konsumenten. Ist der Geschmack individuell, so das Geschmäcklerische kommerziell.

Die Frage etwa, ob Anatol seine Frau mehr liebt als Berta ihren Mann, wird als abwegig und inferior wahrgenommen, eben weil Liebschaften oder Freundschaften in ihrer jeweiligen Singularität unvergleichlich sind, sie nicht auf einer Wertebene ablaufen, sondern Eigenart begründen und behaupten, wenn auch nicht durchstehen. Die Universalisierung des Vergleichs ist eine durch den Kommerz beschleunigte Anmaßung, nur möglich durch die Reduzierung der Parameter, durch eine ungemeine Verarmung der Sicht. Dabei geht es darum, Sinne zu uniformieren, ihre Varianzen zu beschränken, das Unvergleichliche vergleichbar zu machen. Schablonen und Skalen sind dazu nötig. Sie brechen der Wirklichkeit sämtliche Knochen. Sie wird zusammengehackt, tranchiert und filetiert, spediert und etikettiert. Sobald wir von Waren und insbesondere der Ware Arbeitskraft sprechen, wird alles und jedes durch Wert und Werte komprimiert, kompromittiert, kompostiert.

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Immaterial World

Emergenz und Blockchain

von Stefan Meretz

Den Begriff Emergenz betrachte ich seit jeher mit Skepsis. Ist nicht erklärbar, warum und wie aus einem Prozess etwas hervorgeht, so wird die Erklärungslücke mit dem Hinweis auf "Emergenz" zugedeckt. Dabei gibt es tatsächlich systemische Ganzheiten, bei denen nicht kausal bestimmt werden kann, wie diese aus ihren Elementen entstehen. Die Gesellschaft ist so ein Beispiel. Das Handeln der Einzelnen ist möglichkeitsoffen, und trotzdem ergibt es ein stabiles, kohärentes Ganzes. Irgendwie emergent halt. Alles, was gebraucht wird, wird gemacht - und überfordert langfristig auch die planetaren Grenzen nicht. Letzteres würde zumindest für eine commonistische Gesellschaft gelten, die Geld, Tausch, Markt, Staat und Herrschaft nicht mehr kennt.

Emergenz bedeutet auch im Commonismus, dass sich - vergleichbar der "unsichtbaren Hand" (Adam Smith) bei der Marktvermittlung - gesellschaftliche Kohärenz "hinter dem Rücken" (Karl Marx) der Akteure herstellt, dies allerdings nicht blind und unverstehbar, sondern in bewusstem Handeln und voller Transparenz. Emergenz ist verstehbar. Der gesellschaftliche Prozess der verteilten Selbstplanung kann dirigiert werden, ohne jedoch der Illusion zu unterliegen, eine komplette Gestaltung und Steuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse sei möglich.

Jeder Versuch einer Vollplanung des gesellschaftlichen Ganzen, gar von einer zentralen Position aus, mündete zwangsläufig in totalitären Herrschaftsformen. Jede Zentralinstanz bräuchte Herrschaftsmittel, um den Plan durchzusetzen - unvereinbar mit einer freien Gesellschaft. Wie aber die gesellschaftliche Transparenz herstellen, um adaptive Momente in die verteilte Selbstplanung einbringen zu können? Traditionell ist das Aufgabe der Politik, doch für den Commonismus nehme ich an, dass die politischen Funktionen der systemischen Ausrichtung und Adaption keiner gesonderten Sphäre angehören, sondern in den gesellschaftlichen Vermittlungsprozess eingebettet sind. Da es kein vermittelndes Abstraktum (Geld) außerhalb der Bedürfnisvermittlung gibt, hat eine selbstständige Instanz (Politik) der Umverteilung und Prioritätensetzung keine eigene Funktion. Adaption und Priorisierung sind dagegen über das gesellschaftliche Netzwerk verteilte Aufgaben.

An dieser Stelle kommt eine Technologie ins Spiel, die derzeit einen rasanten Aufstieg erlebt: die Blockchain. Blockchain wurde durch die Kryptowährung Bitcoin bekannt. Es ist im Kern ein lineares Register, das Transaktionen von Akteuren in einem Journal transparent erfasst. Jeweils nachfolgend angefügte Blöcke bestätigen über ein kryptografisches Verfahren die Richtigkeit der vorausgehenden Blöcke. Das Journal kennt keinen singulären Ort und auch keine zentrale Verwaltung, sondern ist über das Internet verteilt gespeichert. Es gehört allen und wird von allen verwaltet.

Durch die kryptografische Verkettung von Blöcken in einem Journal, das die Transaktionen speichert, werden nachträgliche Änderungen verhindert und zeitliche Reihenfolgen von Transaktionen sicher und nachvollziehbar abgebildet. Blockchain ist eine Art globales verteiltes Betriebssystem für Vereinbarungen zwischen Peers. Diese können ihre Verabredungen selbst gestalten und benötigen keine Intermediäre (Banken, Anwälte etc.) mehr. Spezielle Anwendungen, die auf dem verteilten Blockchain-Journal laufen, bieten allen einen transparenten Zugriff auf die Vereinbarungen. Blockchain-Systeme könnten Verträge ablösen, ohne dass Vereinbarungen an Verbindlichkeit einbüßen, die heute noch über Recht und Staat hergestellt werden muss.

Diese Verbindlichkeit kann durch Transparenz, soziale Beeinflussung und durch Abstimmungen mit den Füßen erreicht werden: Wer für alle einsehbar Vereinbarungen häufig nicht einhält oder nur zu Lasten einer Seite umsetzt, wird seltener Kooperationspartner*innen finden, die neue Vereinbarungen eingehen wollen. Auf diese Weise findet die Inklusionslogik des Commonismus ihre operable Basis: Zuverlässiges inkludierend-kooperatives Verhalten verstärkt sich selbst. Wer gut kooperiert, mit dem wollen viele kooperieren und erreicht schneller, dass die eigenen Bedürfnisse befriedigt werden.

Trotz Allgemeinheit des Blockchain-Protokolls ist es nicht erforderlich, alle gesellschaftlichen Bereiche darin zu erfassen, da vor allem die meisten interpersonalen Beziehungen völlig ohne transparente Dokumentation auskommen. Geeignet ist Blockchain vor allem für transpersonale Vermittlungen, bei der sich Unbekannte mittels Transparenz eine Vertrauensbasis auf Augenhöhe - von Peer zu Peer - schaffen können. Das unterscheidet sich komplett vom heutigen Einsatz etwa bei Bitcoin, bei dem jede monetäre Transaktion gespeichert wird.

In interpersonalen Beziehungen ist Vertrauen die entscheidende Basis für Verabredungen. Die Beteiligten kennen einander, haben Vorerfahrungen gemacht oder kennen jemanden, der den Verabredungspartnern vertraut. Interpersonale Vertrauensnetze lassen sich jedoch nicht einfach auf eine gesellschaftliche Größenordnung ausdehnen. Transpersonale Vertrauensnetze brauchen eine sichere und transparente Dokumentation, wer wem vertraut. Sie müssen überprüfbar sein. So funktioniert im Grunde das Vertrauen, das wir alle in die Zertifikate zur Verschlüsselung von Webseiten geben.

Eine solche Rolle könnte Blockchain bei transpersonalen Verabredungen über alle Aspekte der Herstellung unserer Lebensbedingungen spielen, bei denen wir unser Gegenüber, die Peers oder Institutionen, nicht mehr persönlich kennen. Vertrauen und Zuverlässigkeit werden so zu emergenten und verständlichen Phänomenen in einer Gesellschaft, in der es sinnvoll ist, die Bedürfnisse der anderen in das eigene Handeln miteinzubeziehen. Die "anderen" sind auch die uns nachfolgenden Generationen, so dass auch die Einhaltung der planetaren Grenzen zu unserem Bedürfnis wird.

Bitcoin ist zum Spielcasino verkommen, doch wenn die zugrundeliegende Technologie der Blockchain aus ihren monetären Fesseln herausgelöst wird, kann sie zur Basis zuverlässiger transpersonaler Vereinbarungen in einer freien Gesellschaft werden. Geld, Tausch, Markt, Staat und Herrschaft können wir uns dann ersparen.

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Auslauf

Umdrehungen

von Petra Ziegler

Ich ärgere mich. Viel zu oft. Das raubt nur Zeit und Energie und Aufmerksamkeit. Letzteres vor allem. Der alltägliche Ärger nimmt die Sicht auf die Verhältnisse. Und nebenbei gesagt, die Selbstbezüglichkeit, auf die das "ich/mich" verweist, sollte meinereiner Hinweis genug sein. Außerdem, scheint mir, drängt sich da eine kleinliche Seite von mir in den Vordergrund. Ungut. Am besten, eins beteiligt sich da nicht weiter.

Ein wenig von oben herab, aus leichter Distanz, aber doch freundlich, wohlwollend und eher aus den Augenwinkeln, so betrachtet, lässt sich's mit sich auskommen. Meistens. Es macht ja nicht ausschließlich Freude, mein zuweilen leichtfüßiges, öfters auch hasenfüßiges Ich zu beobachten. Menschen, die mit sich selbst hart ins Gericht gehen, ständig sich und alles im Griff haben, versuche ich aus dem Weg zu gehen. Die Umwelt wäre ein noch unfreundlicherer Ort, könnten sie so, wie sie wollten.

Das ewige weiter und immer noch weiter Eindrehen ins eigene Selbst liegt mir nicht oder, besser, es bekommt mir nicht. Denn freilich kenne ich Zweifel, das Nagen und stundenlange Hinterfragen. Und Weltschmerz sowieso. Häuft sich derlei, gehört es zu dem Wenigen, was ich mir dezidiert verbiete. Aber allzu folgsam war ich nie.

Nicht unbedingt offen aufsässig, Kräfte gilt es ja auch zu schonen. Andererseits liegt darin vielleicht ein wirklicher Schwachpunkt. Ich dränge mich ungern auf, bin zu zögerlich, wo es darum geht, offensiv zu stören, geradezu zu verstören. Ich sollte mir da mehr herausnehmen, einfach der Gesellschaftskritikerin den Vortritt lassen.

Manche erscheinen ja ihr Lebtag lang als wandelndes Ausrufezeichen. Vom ersten Schrei an: Da bin ich! Schaut mich an! Platz da! Würde mir auf die Nerven gehen. Es deckt auch zu vieles zu. Hilfe! tönt es ja oft nur leise.

Mein Ärger schlägt zuweilen um. Irgend so ein hingerotztes Posting reicht mir dafür schon. Die Niedertracht etwa, die sich in den Kommentaren österreichischer Zeitungen und Onlineforen äußert, ist absolut unverdaulich. Da scheint das "schlecht entworfne Skizzenbild" (Jura Soyfer) gänzlich zur hassverzerrten Fratze missraten. Inzwischen meide ich diese magenbelastenden Zonen gänzlich. Geschädigt sind wir wohl alle - "armer Vorklang nur" -, aber der Ton, der da angeschlagen wird, macht wenig Hoffnung, dass sich mit dem zeitgenössischen Personal nochmal was zum Guten wenden könnte. Nur noch davonlaufen möchte eins da, mit all denen nichts zu tun haben.

Das Unbehagen an diesen schäbigen Resten öffentlichen Diskurses lässt viele in die eigenen Filterblasen abtauchen. Und so manches eben noch verschreckte Ego findet hier recht gedeihliche Bedingungen vor. Wir betreiben Nonkonformismus in Form belangloser Äußerlichkeiten, beharren auf unseren Eigenheiten und Meinungen, pflegen unsere diversen Empfindlichkeiten. Ich nehme mich da nicht aus, Ablenkung bringt das allemal. Gegen die Zumutungen der kapitalistischen Selbstzweckmaschinerie ist damit allerdings nicht anzukommen. Ungewollt ebnet es deren Zerstörungswerk weiter den Weg. Ekel und Abscheu müssen der warengesellschaftlichen Zurichtung gelten, da nutzt es leider wenig, um die besonders übel Zugerichteten bloß einen großen Bogen zu machen. Obendrein überlässt man ihnen damit das Feld.

Aber wie kann der Widerstand auf Touren gebracht werden? Ein Aufstand gegen die Vorgaben des bürgerlichen Drehbuchs setzt paradoxerweise voraus, dass wir von unserem Selbstverständnis als eigenwillige, autonom handelnde Subjekte Abstand nehmen und die eigene Befangenheit und deren Wurzeln erkennen. Eine Art Selbstentfremdung wäre also gefragt.

Dabei könnte ein Perspektivenwechsel hilfreich sein. Von einem nahenden Kometen aus betrachtet dürfte die rastlose Betriebsamkeit, die auf diesem Planeten herrscht - "erfüllt von Maschinengedröhn" -, mit jeder Umdrehung mehr befremden. Was hat die Erde bloß ...?

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AutorInnen

Ilse Bindseil, 1945. Veröffentlichungen zu Philosophie, Politik, Psychoanalyse. Redakteurin von Ästhetik & Kommunikation.

Götz Eisenberg, Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der "Edition Georg-Büchner-Club" erschien im Juli 2016 unter dem Titel Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst der zweite Band seiner "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus". Der erste Band Zwischen Amok und Alzheimer wurde 2015 im Verlag Brandes & Apsel veröffentlicht.

Hermann Engster, 1942. Lebt in Göttingen, Studium der Nordistik und Germanistik. Zzt. Dozent an der Universität des dritten Lebensalters Göttingen, Seminare zu Literatur und Opern; bei der Krisis und im Trafoclub der Streifzüge.

Peter Klein, 1947. Lebt in Nürnberg; seit 1970 politisch aktiv. Autor von Die Illusion von 1917. Verheiratet, eine Tochter, Arzt in Rente. "Traforat" der Streifzüge.

Stefan Meretz, Streifzüge-Kolumnist.

Peter Oberdammer, Historiker, Geograph, Trainer und Coach, "Langzeitarbeitsloser"

Emily Philippi, 1997 in Hamburg geboren, hat nach der Schule ein Jahr als Freiwillige bei Yad Vashem gearbeitet. Jetzt studiert sie Physik in Berlin.

Sowie: Severin Heilmann, Franz Schandl, Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

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E-Mail-Container

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AUS DEM IMPRESSUM

ISSN 1813-3312

MEDIENINHABER UND HERAUSGEBER
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche
Transformationskunde,
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COPYLEFT
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Grundlegende Richtung:
Kritik-Perspektive-Transformation

Erscheinungsweise: Frühling, Sommer, Herbst

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1 Jahr 25 Euro, 2 Jahre 45 Euro, 3 Jahre 63 Euro.
Probenummer gratis

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Quelle:
Streifzüge Nr. 72, Frühling 2017
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2018

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