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STREIFZÜGE/029: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 56, Herbst 2012


Streifzüge Nummer 56 / Herbst 2012

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALTSVERZEICHNIS

Norbert Trenkle: Kritik der Aufklärung. Acht Thesen

Franz Schandl: Der Todestrieb der Konkurrenz

Mladen Savic: Der Kampfmarkt und sein Konkurrenzprinzip

Emmerich Nyikos: Private Gains and Public Disasters.
Oder: Die Unsichtbare Hand spielt verrückt

Franz Schandl: Grob geschnitzt

Lorenz Glatz: Vermutungen über Kampf

Friederike Habermann: Aneinandergekettet

Holger Schatz: Außer Konkurrenz.
Über den Zusammenhang von Leistungsport und Markt

Tomasz Konicz: Ein krankes System

Meinhard Creydt: Facetten der Ichhaftigkeit

Franz Schandl: Auswälzung der Schulden. Auch David
Graeber will nur halten, was schon versprochen wurde

Erich Ribolits: Die Antiquiertheit der Menschenwürde.
Warum auch ein Recht auf Bildung nichts mit Menschenwürde zu tun hat

Kolumnen
Immaterial World - Stefan Meretz: Konkurrenz und Kooperation
Dead Men Working - Maria Wölflingseder: Geladene Geschoße
Rückkopplungen - Roger Behrens: Casting

Rubrik 2000 abwärts
Franz Schandl (F.S.): Karriere?
Hedwig Seyr (H.S.): Eine Kuh für Janko
Maria Wölflingseder (M.Wö.): Bloß eine Modekrankheit
Maria Wölflingseder (M.Wö.): Bloß enttabuisiert?

Rezensionen
Lorenz Glatz (L.G.) zu Cecosesola: Auf dem Weg
Lorenz Glatz (L.G.) zu Andreas Exner, Brigitte Kratzwald:
Solidarische Ökonomie & Commons
Maria Wölflingseder (M.Wö.) zu Bärbel Danneberg: Eiswege
Julian Bierwirth (J.B.) zu Robert Kurz: Geld ohne Wert
Karl Meyerbeer (K.M.) zu Michael Seidman: Gegen die Arbeit
Maria Wölflingseder (M.Wö.) zu Martin Mair: Erste Hilfe.
Handbuch für Arbeitslose

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Einlauf

von Petra Ziegler

Die Wettbewerbsideologie der modernen "Leistungsgesellschaft" durch- und ertränkt unser Dasein. Ihre Freiheit liegt im Rennen aller gegen alle, im Kampf um Verdrängung. Das ist, erst recht in der Krise, tagtäglich offensichtlich.

Gegen die "Abgeschmacktheit, die freie Konkurrenz als die letzte Entwicklung der menschlichen Freiheit zu betrachten" machte schon Marx deutlich: "Nicht die Individuen sind frei gesetzt in der freien Konkurrenz; sondern das Kapital ist frei gesetzt." Via Konkurrenz setzt das Kapital seine Produktionsweise durch, und entsprechend diesem Bedürfnis hat sich auszurichten, wer nicht auf der Strecke bleiben will.

Ein wahrhaft selbst-/mörderisches Treiben. Konkurrenz wirkt auto-destruktiv, vor allem aber zerstört sie uns und unsere existenziellen Grundlagen.

Die Beiträge in diesem Heft analysieren den fraglichen Konnex von Leistung und ökonomischem Erfolg, erläutern das Verhältnis zur Kooperation, vermuten - nicht ohne Grund - einen Zusammenhang zwischen Kampf und re-formierter Herrschaft, erzählen vom Leben und Leiden unter verschärften Bedingungen und dem alltäglichen Irrsinn im Zeichen der Konkurrenz. - Insgesamt ein Plädoyer für deren Ächtung!


Bevor wir nun zur Lektüre bitten, noch ein Kalendereintrag für 2013: Der zweite Solidarische Ökonomie-Kongress findet vom 22. bis 24. Februar kommenden Jahres in Wien statt.

Die Streifzüge-Redaktion und -AutorInnen beteiligen sich mit etlichen Referaten, Diskussionen und Workshops zum Generalthema "Welt ohne Geld und Warentausch - selbstorganisierte Kooperation". Zum Beispiel mit "Warum Solidarökonomie mit Geld keine bleiben kann" und "Was ersparen wir uns, wenn es kein Geld mehr gibt?"

Bis es aber soweit ist, müssen wir Euch wohl oder übel weiter damit belästigen: Wir ersuchen alle AbonnentInnen, den allfälligen Hinweis am Adressenetikett nicht zu übersehen und das Abo rechtzeitig einzubezahlen. Herzlichen Dank!

Ansonsten gilt: Empfehlt die Streifzüge weiter, verleiht sie, verschenkt sie, abonniert sie!

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Kritik der Aufklärung. Acht Thesen

von Norbert Trenkle

1.

Spätestens seit der "Dialektik der Aufklärung" wissen wir um die irrationale Rückseite der Aufklärungsvernunft. Den Ursprung dieser Janusköpfigkeit verorten Horkheimer und Adorno in der misslungenen Ablösung von der Natur. Die moderne, rationale Vernunft, deren Geburt sie im antiken Griechenland ansiedeln, sei entstanden zur Bewältigung der Angst vor den Mächten der Natur und in Abgrenzung vom Mythos, der seinerseits auch eine erste Form des Umgangs mit jener Angst darstellte. Trägt der Mythos aber noch die Züge einer Anpassung an die Natur und ihre Gewalten (Mimesis), so stellt die Aufklärung eine klare Abgrenzung von dieser dar. Die Entstehung des selbstidentischen, rationalen Individuums beruht auf der Verleugnung der eigenen Naturverhaftetheit und genau diese Verleugnung ist die Quelle der Gewalt und des Irrationalen, konstituiert also die dunkle Seite der Aufklärung, die jederzeit zum Durchbruch kommen kann. Im Kern besteht die Gefahr in der gewaltsamen Wiederkehr des Verdrängten. Daher bleibe die Aufklärung und die auf ihre beruhende Gesellschaft prekär. Erst wenn die Individuen und die Gesellschaft auf das Verdrängte reflektieren und eine Versöhnung mit der inneren und äußeren Natur stattfinde, sei die Aufklärung vollendet.


2.

Das qualitativ Neue an der Dialektik der Aufklärung ist der Blick auf das "Andere der Vernunft" und die Bedrohung, die darin angelegt ist. Zwar ist auch dem vulgären Aufklärungsdenken nicht verborgen geblieben, dass die Vernunft stets vom möglichen Durchbruch des Irrationalen bedroht ist, doch interpretiert es dies auf rein legitimatorische Weise. Von seinem Standpunkt aus stellt es sich so dar, dass hinter dem dünnen Firnis der Kultur stets die primitive "Natur des Menschen" lauere, die immer wieder ihr gruseliges Gesicht zeige und daher permanent bekämpft und unterdrückt werden muss. Mit einer Selbstkritik der Aufklärung hat das erkennbar nichts zu tun. Im Gegenteil: Die Beschwörung des unversöhnlichen Gegensatzes von Natur und Kultur stellt nichts anderes dar als die Affirmation des eigenen Standpunkts. Herrschaft (und individuelle Selbstbeherrschung) sind notwendig, um die unbändigen Naturkräfte zu bannen und ihren Durchbruch zu verhindern. Mühelos lässt sich das mit einem rassistischen und westlich-kulturalistischen Standpunkt vereinbaren, von dem aus alle anderen, nicht-westlichen Kulturen als besonders natur- und sinnenverhaftet erscheinen, die dementsprechend - notfalls mit Gewalt - "zivilisiert" werden müssen.


3.

Die dialektische Wendung bei Horkheimer/Adorno besteht darin, dass sie diese Denkfigur gegen die Aufklärung selbst kehren. Nicht die Natur oder das Barbarische in der Natur sehen sie als Bedrohung für die Kultur, sondern die gewaltsame Verdrängung und Unterdrückung des Natürlichen. Gewaltsamkeit und Herrschaftsförmigkeit sind also in der modernen Vernunft selbst angelegt, die naturverhaftet insofern ist, als die Ablösung von der Natur (vorerst) misslang.

So sehr nun aber Horkheimer/Adorno damit den Blick für eine grundlegende Kritik der Aufklärung öffnen, bleiben sie doch in mancher Hinsicht deren Denkuniversum verhaftet. Das betrifft vor allem den Begriff der Aufklärungsvernunft selbst, der in der Dialektik der Aufklärung transhistorisch gefasst wird. Indem Horkheimer/Adorno den Ursprung der modernen Rationalität in die griechische Antike zurückverlegen, statt ihn im Konstitutionsprozess der kapitalistischen Moderne zu verorten, verwischen sie damit deren spezifisch historische Züge. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass vor der Entstehung der modernen Vernunft die gesamte Menschheit im Dunkel der Naturhaftigkeit gelebt habe oder dem "Mythos" verfallen gewesen sei. Die moderne, rationale Vernunft wird so als die bisher einzige Form von Vernunft gefasst. Darin verbleiben Horkheimer/Adorno dem hypertrophen Universalismusanspruch der Aufklärung verhaftet und werten sie als die einzige bisher bekannte Form von Vernunft bzw. reflexivem und kritischem Denken auf. Allerdings: Indem sie den Blick auf die dunkle Seite der Aufklärung richten, gehen sie auch bereits über die Aufklärung hinaus.


4.

Betrachten wir nun aber die Aufklärungsvernunft als das, was sie ist, als historisch spezifische Reflexionsform der kapitalistischen Moderne, stellt sich nicht nur ihre Konstitutionsgeschichte, sondern auch ihre innere Dialektik anders dar als bei Horkheimer/Adorno. Die gewaltsame Abgrenzung gegenüber der Natur und der Herrschaftsanspruch gegenüber der Natur (oder dem, was als Natur erscheint) sind in der Tat konstitutive Momente. Diese Abgrenzung steht jedoch nicht zu Beginn des vernünftigen Denkens und Reflektierens überhaupt, sondern entsteht erst mit der Geburt der bürgerlichen Gesellschaft. Der Horror vor der Natur ist wesentlich für das Konstrukt einer Vernunft, die das Denken auf pure, körperlose und sinnenfreie Aktivität reduzieren will (Descartes, Kant). Doch diese Reduktion ist nicht Ausdruck einer ursprünglichen Naturabgrenzung, sondern resultiert aus der Zurichtung der gesellschaftlichen Vermittlung auf das abstrakte Prinzip von Wert und abstrakter Arbeit. Die Aufklärung "erfindet" also jene bedrohliche Natur, von der sie sich dann gewaltsam abgrenzen muss, wobei diese "Erfindung" einen unbewussten Akt darstellt. Damit ist keinesfalls nur die "äußere Natur" gemeint, die mittels Technik nutzbar gemacht und zugerichtet wird. Bedeutsamer noch für die Konstitution des modernen (strukturell als "männlich" bestimmten) Subjekts ist der gewaltsame Kampf gegen die "innere Natur", also gegen das vorgebliche Ausgeliefertsein an die eigene Sinnlichkeit. Diese wird abgespalten und auf konstruierte "Andere" projiziert: die "Frauen" und die "Naturvölker", und in diesen "Anderen" zugleich idealisiert und verachtet, begehrt und bekämpft. In diesem Sinne sind Sexismus und Rassismus untrennbar mit der Konstitution des Subjekts der Aufklärung verbunden.


5.

Damit verändert sich der Standpunkt der Aufklärungskritik. Die Aufklärung stellt sich dar als durch und durch der kapitalistischen Form abstrakter Herrschaft zugehörig und nicht als (vorerst) tragisch-missglückter Schritt in der Konstitutionsgeschichte einer transhistorischen Vernunft. Diese historische Verortung erlaubt eine sehr viel präzisere und schärfere Kritik von Aufklärung und Gegenaufklärung, die auf den kapitalistischen Entwicklungsverlauf bezogen werden kann. Das schließt jedoch keinesfalls aus anzuerkennen, dass bestimmte Kategorien der Aufklärung durchaus Momente gesellschaftlicher Befreiung enthalten. So steht etwa das Individuum für die Befreiung aus der Enge festgefügter traditioneller Normen und Lebensverhältnisse; der Universalismus verweist auf eine Weltgesellschaft ohne Grenzen; und der Anspruch der kritischen Vernunft, alle unhinterfragten Wahrheiten und religiösen Gewissheiten über den Haufen zu werfen, ist als solcher selbstverständlich zu bejahen. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass diese Momente stets in Kategorien eingelassen sind, die in ihrer Gestalt die Strukturen der abstrakten Herrschaft des Werts reproduzieren.

Das kapitalistische Individuum ist wesentlich Konkurrenzindividuum, das an sich selbst und den anderen Gesellschaftsmitgliedern den Prozess der Versachlichung exekutiert; der abstrakte Universalismus ist seinem inneren Charakter nach universeller Herrschaftszusammenhang der abstrakten Formbeziehung, nicht nur in Gestalt des Weltmarkts, sondern auch in Gestalt der kapitalistischen Handlungs- und Denkformen; und die kritische Vernunft legitimiert die Unterwerfung unter Prinzipien a priori (Kant, Hegel) und kann sich daher nicht von der Metaphysik befreien, sondern stellt eine Form säkularisierter Religion dar. Hinzu kommt des Weiteren noch, dass diesen Kategorien immer auch ihr abgespaltenes Gegenbild zugehört, von dem sie nicht loskommen, solange sie innerhalb der Matrix abstrakter Herrschaft verbleiben: der Wunsch nach der lustvollen Unterwerfung unters Kollektiv, die Abspaltung des Sinnlichen, das als inferior und bedrohlich zugleich gilt und allenfalls selbst wieder instrumentell integriert wird, die verschiedenen Formen des Religionismus und des Irrationalismus etc.


6.

Emanzipatorisches Denken kann sich daher nicht ungebrochen positiv auf die Kategorien der Aufklärung beziehen, auch nicht in dem Sinne, die Aufklärung bleibe im Kapitalismus unvollendet und es komme darauf an, sie zu vollenden, wie es sich die traditionelle Linke vorstellte und wie es durch all jene (weit verbreiteten) Vorstellungen spukt, wonach die "wahre Demokratie" und die Menschenrechte nur in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft realisiert werden könnten. Wird nämlich die Aufhebung des Kapitalismus als Verwirklichung der Aufklärung gedacht, schleichen sich hinterrücks alle damit verbundenen Denk- und Handlungsformen und darauf beruhenden Formen der gesellschaftlichen Vermittlung wieder in die Vorstellungen einer befreiten Gesellschaft ein (Subjekt, Gleichheit, Recht). Demgegenüber ist darauf zu beharren, dass auch die Aufklärung nicht von der Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft ausgenommen werden darf. Die in der Aufklärung enthaltenen Momente, die auf gesellschaftliche Befreiung verweisen, sind nur durch die Kritik der Aufklärung und ihrer Kategorien hindurch zu haben. Diese sind nicht zu "verwirklichen", sondern müssen zusammen mit der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise aufgehoben werden, aufgehoben im dreifachen Hegelschen Sinne.

Dabei ist des Weiteren auch zu bedenken, dass nicht alles, was an tendenziell bewahrenswerten Momenten in der bürgerlichen Gesellschaft entstanden ist, "der Aufklärung" als Verdienst zugerechnet werden darf. Ein erheblicher Teil davon ist aus der Kritik der kapitalistischen Herrschaftsformen entstanden, auch wenn es nicht selten in den Kategorien von Aufklärung, Demokratie und Menschenrechten eingeklagt und erkämpft wurde. Zur Aufklärung gehört auch eine andere Dialektik, wonach immer Anspruch und Wirklichkeit gegeneinander ausgespielt werden, also etwa staatliche Gewalt im Namen der Menschenrechte kritisiert wird (obwohl doch der Staat die Aufgabe hat, die kapitalistischen Formen notfalls mit rücksichtsloser Gewalt aufrechtzuerhalten) oder die faktische Entmündigung der Gesellschaft durch die blinden Prozesse der Verwertungslogik im Namen der Demokratie. In der traditionellen Linken wurden diese Art von Anklagen im allgemeinen als idealistisch kritisiert und argumentiert, sie spielten das Ideal gegen die Wirklichkeit aus. Als materialistisch galt hingegen der Standpunkt, die Bourgeoisie habe ihre eigenen Ideale verraten, um ihre Klassenherrschaft zu festigen, und es komme nun darauf an, die an sich richtigen Prinzipien der Aufklärung im Sozialismus oder Kommunismus zu verwirklichen (s.o.; auch Adorno argumentiert übrigens so, nur dass er wenig Hoffnung in die kommunistische Bewegung setzt).


7.

Vom Standpunkt einer radikalen Aufklärungskritik stellt sich die Sache etwas anders dar: wo die kapitalistische Wirklichkeit im Namen von Aufklärung und Menschenrechten kritisiert wird, sind nicht selten überschüssige Impulse und Motive gesellschaftlicher Emanzipation im Spiel, die keineswegs in den Kategorien der Aufklärung aufgehen, auch wenn diese angerufen werden. Dieser Überschuss war durchaus ein wichtiger Motor für die kapitalistische Modernisierung; freilich war stets die Enttäuschung vorprogrammiert. Denn was verwirklicht wurde, war im Wesentlichen immer nur jener Teil der Vorstellungen, der sich mit der kapitalistischen Logik vereinbaren ließ und in deren Formen eingepasst werden konnte. Ein Beispiel dafür ist der Individualisierungsschub der letzten vierzig Jahre, der zwar die erdrückende Enge der Nachkriegszeit hinweggefegt hat, doch zugleich eine Verschärfung der atomisierten Konkurrenz und der Selbstzurichtung zur Folge hatte, die unerträglich ist.

Zunächst wurde das noch teilweise durch die relativ günstigen sozialen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen in den kapitalistischen Zentren abgepuffert, was gewisse Spielräume individueller Entfaltung eröffnete, die nicht einfach und in Gänze als kapitalistisch funktional abqualifiziert werden können. Dass diese gesellschaftlichen Bedingungen denen in Diktaturen, repressiven Regimes oder Armutsgebieten vorzuziehen waren, versteht sich von selbst. Doch wäre es falsch, in ihnen den Beweis für die Errungenschaften "der Aufklärung" zu sehen. Sie waren vielmehr Ausdruck von ganz bestimmten historischen Rahmenbedingungen, die nun durch die Krise hinweggefegt werden. Nicht zufällig wird dadurch wieder verstärkt das nie verschwundene Bedürfnis nach Kollektividentitäten freigesetzt, das im Religionismus, Ethnizismus und Nationalismus befriedigt wird. Die Flucht in die Arme solcher Kollektive ist aus Sicht des vereinzelten Einzelnen gar nicht so irrational, wie es erscheinen mag, denn hier findet er jene persönliche (und teilweise auch materielle) Sicherheit, die er ansonsten unter den Bedingungen eines zerbröselnden Sozialstaats und einer verschärften Krisenkonkurrenz nicht mehr finden kann. Dem entspricht auf der anderen Seite, dass der liberale Aufklärungsdiskurs zunehmend ganz offen seinen herrschaftlichen Charakter zeigt, so etwa bei der Implementierung eines autoritären Wertdiskurses, der besonders auf die berüchtigten bürgerlichen Sekundärtugenden abzielt. Insofern lässt die Krise das hässliche Doppelgesicht von Aufklärung und Gegenaufklärung wieder deutlich sichtbar werden, das in den kapitalistischen Kernländern eine Zeit lang partiell verdeckt war.


8.

Der subjektive Impuls zur Befreiung von Herrschaft ist auch in der Krisenepoche des Kapitals keinesfalls versiegt. Im Gegenteil, er artikuliert sich überall. Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen grundlegend verändert, in denen er wirksam wird. Im Zuge der kapitalistischen Aufstiegsepoche konnte er noch an den Prozess der Modernisierung rückgebunden werden, wodurch er zum einen funktional für den Kapitalismus wurde und zugleich immer wieder neutralisiert werden konnte. In der Krisenepoche des Kapitals aber haben sich die Spielräume kapitalistischer Modernisierung erschöpft. Daraus ergeben sich andere Konfliktlinien. Was Rebellion provoziert, sind zum einen die immer unerträglicheren sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen und zum anderen die damit verbundene staatliche Repression, die oft mit der Zersetzung des Staats- und Sicherheitsapparats einhergeht (Korruption etc.).

Demgegenüber können Bewegungen, die im Namen von Demokratie und Menschenrechten auftreten, nur auf ganzer Linie scheitern; denn das Bild, an dem sie sich orientieren - ich denke da an die diversen "orangenen" Revolutionen und natürlich auch an den "arabischen Frühling" - ist ein demokratisch und sozial abgefederter Kapitalismus, der selbst in den kapitalistischen Kernländern immer weiter abgeräumt wird. Das heißt, selbst die relativen Erfolge der "klassischen Modernisierungsbewegungen" sind für sie außerhalb jeder Reichweite. Demgegenüber wäre deutlich zu machen, dass nicht die Forderungen an sich oder die hinter diesen Forderungen stehenden Motive und Impulse verkehrt sind, sondern nur die Form, in der sie artikuliert werden. Wird dieser Unterschied nicht gemacht, besteht die Gefahr, dass mit der Delegitimation von Demokratie und Rechtsstaat auch die Inhalte, die damit verbunden werden und die nicht in diesen Formen aufgehen, liquidiert werden. Das aber würde den Boden bereiten für autoritäre Krisenverwaltung und die Monster der Gegenaufklärung. Deshalb ist gerade jetzt, in der Krisenepoche des Kapitals eine emanzipative Kritik der Aufklärung dringlicher denn je. Verkehrt ist hingegen der Versuch, ausgerechnet jetzt die Aufklärung gegen ihre scheinbar äußeren Feinde zu verteidigen, und sei es nur als vorgebliche Bastion gegen die "Barbarei". Als solche Bastion taugt sie nicht, weil mit dem Kapitalismus auch ihr Geltungsrahmen zerfällt.


Weiterführende Literatur:

Gernot Böhme, Hartmut Böhme: Das Andere der Vernunft - Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (1985).

Ernst Lohoff: Die Verzauberung der Welt. Die Subjektform und ihre Konstitutionsgeschichte, krisis 29 (2005), S. 13-60.

Ernst Lohoff: Ohne festen Punkt. Befreiung jenseits des Subjekts, krisis 30 (2006), S. 32-89.

Ernst Lohoff: Die Exhumierung Gottes. Von der heutigen Nation zum globalen Himmelreich, krisis 32 (2008), S. 30-75.

Karl-Heinz Lewed: Schophenhauer on the Rocks. Über die Perspektiven postmoderner Männlichkeit, krisis 30 (2006), S. 100-142.

Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg (2003), insb. Kapitel 3, S. 141-192.

Norbert Trenkle: Gebrochene Negativität. Anmerkungen zu Adornos und Horkheimers Aufklärungskritik, krisis 25 (2002), S. 39-65.

Norbert Trenkle: Kulturkampf und Aufklärung. Wie die "westlichen Werte" zu einer aggressiven Stammesreligion mutieren, krisis 32 (2008), S. 11-29.

Karl-Heinz Wedel: Die Höllenfahrt des Selbst. Von Kants Todesform des sinnlosen Willens, krisis 26 (2003), S. 43-83.

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2000 Zeichen abwärts

Karriere?

Persönlichkeitsstörungen sind, so sagt der Psychologe Reinhard Haller, "vorzügliche Charaktereigenschaften zum Karrieremachen" (Der Standard, 23. Dezember 2006). Was er nicht sagt, ist, dass Karriere gerade deswegen eine schwere Störung ist. Ja sogar noch mehr: Nicht nur die Persönlichkeitsstörung ist eine Störung, sondern ebenso die Persönlichkeit selbst. Dem ist so. Diese Aussagen sind übrigens Dekrete, sie lassen keinen Widerspruch zu. Wer dagegen ist, hat sich sowieso für die freiwillige Einlieferung ins Arbeitslager entschieden.

Je gestörter jemand ist, desto größer also die Chancen, desto besser wird er oder zunehmend auch sie die Karriereleiter raufklettern. Wenn man schon sonst nichts hat vom Leben, zu einer Karriere wird's doch noch reichen. Es ist da ein ständiges Defizit, das uns antreiben soll, man ist sich etwas schuldig. Und den anderen noch mehr. Das Ich ist sich nicht genug, es hat sich als Rolle zu etablieren. Ziele werden gesteckt und Aufgaben gestellt. Fehlt nur noch die Kompetenzbasis und das Netzwerk. Nicht zu sich kommen sollen die Leute, sondern etwas werden, eine Laufbahn einschlägen. Dafür burnen sie - in and out! Die Gewordenen und die Ungewordenen treffen sich im Bekenntnis dieses Werdens. Aber ich red mir's da leicht, denn aus mir ist ja auch akkurat nichts geworden. Mit 50+ ist es sowieso schon zu spät.

Karriere macht krank, weil sie krank ist. Die scheitern, scheitern und die nicht scheitern, scheitern auch. Wer da gescheiterter dran ist, ist oft schwer zu sagen. Tatsächlich muss nur etwas werden, wer nichts ist. Nichtig das Subjekt, das solche Bestimmungen nötig hat. Wer meint, ein Karriereprofil haben zu müssen, ist entweder ein gefährlicher Irrer oder eine bedrängte Kreatur. Beide Typen tun nicht gut, weder sich noch anderen. Die Alternative, ob jemand ein scharfer Hund ist oder ein armer Hund, ist keine. Kein Hund zu sein, das wäre eine.

F.S.

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Der Todestrieb der Konkurrenz

von Franz Schandl

Gegen die Konkurrenten, da müsse man schon sein, gegen die Konkurrenz zu sein, das hingegen sei völlig aussichtslos. Die folgenden Zeilen verstehen sich als ein kontrafaktisches Plädoyer, es doch andersrum zu probieren.

Dass es sie immer gegeben hat und wir gar nicht anders können, ist wohl eines der weitest verbreiteten Vorurteile. Doch wenn wir im Index der gesammelten Schriften von Kant oder Hegel nach den Schlagworten "Konkurrenz" und "Wettbewerb" suchen, werden wir enttäuscht. Warum? Ganz einfach: Diese Termini spielten zu ihrer Zeit kaum eine Rolle. Die Kategorie der Konkurrenz ist aufgestiegen mit der großen Industrie einerseits und der Arbeiterklasse andererseits. Erst da wurde sie unübersehbar wie aufdringlich zu einem gesellschaftlichen Faktor von Rang. Mit Marx gilt es festzuhalten, dass die Konkurrenz "die Aktion der Kapitalien aufeinander ist, also schon die Entwicklung des Kapitals überhaupt voraussetzt". (MEW 43:307)

Es ist nämlich keineswegs so, dass aus einem Nicht-Ich automatisch ein Gegen-Dich folgt. Dazu bedarf es spezifischer Treibsätze, die das nahelegen und die vor allem auch Anreize suggerieren. Denn wenn das Gegen-Dich Vorteile bietet und das Nicht-Gegen-Dich Nachteile birgt, wird das Ich sich für ein Gegen-Dich entscheiden. Was bleibt dem Subjekt denn sonst übrig, will es sich nicht dysfunktional verhalten und a priori auf der Verliererstraße landen? Indes ist entsprechendes Verhalten keine Garantie für einen etwaigen Erfolg, sondern bloß eine Bedingung.

Konkurrenz ist ein relativ junges Phänomen. Sie sollte auch nicht mit Rivalität, gar mit Feindschaft, Neid oder Gier übersetzt werden. Die Konkurrenz ist ein Kind des Kapitals, nicht umgekehrt, erst im 19. Jahrhundert setzte sie sich als Zentralbegriff in der herrschenden Sprache fest, als signifikante Chiffre taugt sie deshalb auch nur für diese Epoche, ist keine wie immer geartete universelle Kategorie des Daseins. Das mit der Ewigkeit ist also noch gar nicht so lange her. Einmal mehr wird die "natürliche" Eigenschaft des Kapitals zur Natur der Menschen aufgeblasen. Es ist stets das gleiche Spiel. So wie es ist, muss es gewesen sein, denn sonst wäre es nicht so und in alle Ewigkeit sowieso.

"Die freie Konkurrenz ist die Beziehung des Kapitals auf sich selbst als ein andres Kapital, d.h. das reelle Verhalten des Kapitals als Kapital. Die innern Gesetze des Kapitals - die nur als Tendenzen in den historischen Vorstufen seiner Entwicklung erscheinen - werden erst als Gesetze gesetzt; die auf das Kapital gegründete Produktion setzt sich nur in ihren adäquaten Formen, sofern und soweit sich die freie Konkurrenz entwickelt, denn sie ist die freie Entwicklung der auf das Kapital gegründeten Produktionsweise; die freie Entwicklung seiner Bedingungen und seines als diese Bedingungen beständig reproduzierenden Prozesses. Nicht die Individuen sind frei gesetzt in der freien Konkurrenz; sondern das Kapital ist frei gesetzt. Solange die auf dem Kapital ruhnde Produktion die notwendige, daher die angemessenste Form für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft, erscheint das Bewegen der Individuen innerhalb der reinen Bedingungen des Kapitals als ihre Freiheit; die aber dann auch dogmatisch als solche versichert wird durch beständige Reflexion auf die von der freien Konkurrenz niedergerissnen Schranken. Die freie Konkurrenz ist die reelle Entwicklung des Kapitals. Durch sie wird als äußerliche Notwendigkeit für das einzelne Kapital gesetzt, was der Natur des Kapitals entspricht, [der] auf das Kapital gegründeten Produktionsweise, was dem Begriff des Kapitals entspricht. Der wechselseitige Zwang, den in ihr die Kapitalien aufeinander, auf die Arbeit etc. ausüben (die Konkurrenz der Arbeiter unter sich ist nur eine andre Form der Konkurrenz der Kapitalien), ist die freie, zugleich reale Entwicklung des Reichtums als Kapital. So sehr ist dies der Fall, dass die tiefsten ökonomischen Denker, wie Ricardo z.B., die absolute Herrschaft der freien Konkurrenz voraussetzen, um die adäquaten Gesetze des Kapitals - die zugleich als die es beherrschenden vitalen Tendenzen erscheinen - studieren und formulieren zu können. Die freie Konkurrenz ist aber die adäquate Form des produktiven Prozesses des Kapitals. Je weiter sie entwickelt ist, um so reiner treten die Formen seiner Bewegung hervor." (MEW 42:550)


Fleiß und Eifer

Gegen die eherne Konkurrenz, wie sie etwa auch von Proudhon vertreten wurde, argumentierte Karl Marx in "Das Elend der Philosophie" (1847) wie folgt: "Die Konkurrenz ist der Wetteifer im Hinblick auf den Profit. (...) Die Konkurrenz ist nicht der industrielle Wetteifer, sondern der kommerzielle. (...) Wenn man sich einbildet, dass es nur Verordnungen bedarf, um aus der Konkurrenz herauszukommen, wird man niemals von ihr befreit werden. Und wenn man die Dinge so weit treibt, die Abschaffung der Konkurrenz unter Beibehaltung des Lohnes vorzuschlagen, so schlägt man vor, einen Unsinn zu verordnen." (MEW 4:159) "Productively" ist nicht gleich "profitably", wie Marx in seiner Kritik an Ricardo anmerkte. (MEW 26.3:117)

Es macht schon einen Unterschied, ob Konkurrenz ein gesellschaftliches Formprinzip darstellt, oder ob Vergleiche selektive Aspekte des Daseins beurteilen. Auch das mag nicht ganz unproblematisch sein, hier aber ist uns die angeführte Differenzierung doch sehr wichtig. Konkurrenz meint nicht den Vergleich schlechthin, sondern trägt dem Kriterium der Verwertbarkeit Rechnung. Verglichen werden monetäre Ergebnisse, nicht die an sie verausgabten Energien. Leistung ist sowieso ein Fetisch, der nur die aktuelle Allokation von Reichtum und Möglichkeiten legitimieren soll. Es geht nicht darum, den Fleiß zu messen, sondern einen entsprechenden Preis zu erzielen. Der Fleiß ist als eine mögliche Form anzuerkennen, aber als der strikte, d.h. der unbezogene und unbedingte Inhalt abzulehnen. Der Fleiß kann also keine Tugend an sich sein, sondern ist stets an dem zu prüfen, woran er sich äußert. Heute gilt es mehr denn je auch das ganze destruktive Potenzial unbedachten Fleißes zu problematisieren. Nicht die Müßigen ruinieren die Welt.

Der gängige Vergleich ist somit nicht bloß eine profane Bestimmung, sondern folgt explizit einem kommerziellen Code, der sich ebenso in den Subjekten ausdrückt, weil deren Fühler so eingestellt sind. Flink wie wir sind, reden wir über die Chancen am Markt, über das Volumen des Geschäfts, die besten Angebote und die einträglichsten Jobs, so als sei dies alles das Selbstverständlichste auf der Welt. Die Konkurrenz ist inzwischen in alle Felder, ja fast alle Situationen des Lebens eingedrungen. Sie ist tautologischer Selbstzweck geworden, sie ertüchtigt uns nicht als Menschen, sondern sie ertüchtigt uns für die Konkurrenz.


Konkurrenz und Wert

Gemeinhin gilt das konkurrenzistische Spiel des Handels als den Preis erzeugend. "In der Wirklichkeit aber ist diese Sphäre die Sphäre der Konkurrenz, die, jeden einzelnen Fall betrachtet, vom Zufall beherrscht ist; wo also das innere Gesetz, das in diesen Zufällen sich durchsetzt und sie reguliert, nur sichtbar wird, sobald diese Zufälle in großen Massen zusammengefasst werden, wo es also den einzelnen Agenten der Produktion selbst unsichtbar und unverständlich bleibt." (MEW 25:836)

Gerade durch die beständige Fluktuation erscheint aber die Konkurrenz und nicht der Wert als die Substanz des Preises, schaut es tatsächlich so aus, als determinierten Angebot und Nachfrage den Preis und somit auch den Wert. In der jeweiligen Konkurrenzsituation ist es den Konkurrenten ja durchaus möglich, den Wert im Kampf der Preise um eine Abweichung zu hintergehen. Darin unterscheiden sich, zumindest in der ersten Reflexion, Ziel und Resultat. "Was aber die Konkurrenz nicht zeigt, das ist die Wertbestimmung, die die Bewegung der Produktion beherrscht; das sind die Werte, die hinter den Produktionspreisen stehn und sie in letzter Instanz bestimmen." (MEW 25:219)

Die Konkurrenz in Form von Angebot und Nachfrage schafft nicht den Wert, sondern lässt den Preis um den Wert kreisen. Der Preis wird durch den Wert bestimmt, aber durch die Schwankungen der Konkurrenz austariert. Vermittelt durch die Konkurrenz realisiert sich der Wert der Ware am Markt in Form des Preises. Die Substanz des Preises ist der Wert des Produkts, mag seine aktuelle Erscheinung nun davon abweichen oder nicht, letztlich ist sie an ihn gebunden, zumindest so lange wir nicht vom fiktiven Kapital sprechen.


Inklusion-Exklusion-Proportion

Konkurrenz fungiert auf drei Ebenen: Verkäufer gegen Verkäufer, Käufer gegen Käufer und Verkäufer gegen Käufer. (Vgl. MEW 6:402) Diese Kämpfe am Markt redigieren den Wert zum Preis. Geht es in den beiden ersten Auseinandersetzungen um Realisierung oder Nichtrealisierung des Werts, also um Inklusion und Exklusion, so geht es im dritten Kampf um die Proportion, prototypisch dargelegt im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital beim Verkauf der Ware Arbeitskraft. Konkurrenz dreht sich hier um das Verhältnis von variablem Kapital zum Mehrwert (v:m), also um die Mehrwertrate.

Der Ort der Konkurrenz ist der Markt. Konkurrenz entfaltet sich in der Sphäre der Zirkulation, dort, wo Preise verhandelt und vereinbart werden. Während auf materieller Ebene, bei der Herstellung von Gütern, die Kooperation unabdingbar ist, ist auf der Ebene des Geschäfts die Konkurrenz das Alpha und Omega. In Produktion und Distribution kann man nicht gegeneinander arbeiten, sondern bloß miteinander. Gegeneinander auftreten muss man allerdings auf dem Markt, wo es darum geht, andere beim Verkauf oder beim Sich-Verkaufen zu schlagen. Das legt schon der kapitalistische Selbsterhaltungstrieb nahe. Ich kann nur verkaufen, was ein anderer nicht verkaufen kann. Das freie Subjekt kann nicht dagegen sein, denn es ist die Personifikation der Konkurrenz. Wir bewegen uns in ihr, als sei es gar nicht anders möglich. Vorbehalte behindern da nur die geforderte Rücksichtslosigkeit.

Zentral am Markt ist die Entscheidung über Inklusion und Exklusion. Kauft A eine Ware bei B, dann hat der diese ebenfalls anbietende C das Nachsehen. Kann C zu wenig oder gar nicht verkaufen, ist er konkurrenzunfähig und wird bankrottieren. Kauft das Produkt, die Dienstleistung oder die Arbeitskraft von A ebenfalls niemand, dann ergeht es ihm wie C. Konkurrenz bedeutet andere ausschalten zu müssen, um nicht ausgeschaltet zu werden. Sie ist ein Prozess einer konsequenten Auslese. Konkurrenz gleicht einem Eliminierungs- und Entwertungsverfahren, wo bestimmte Anstrengungen kommerziell erfüllt oder obsolet werden.

Konkurrenz heißt Verdrängung. Sie ist stets gegen andere gerichtet. Was man will, also verkaufen und verwerten, das soll den anderen partout nicht glücken. Konkurrenz ist auf Ausschluss bedacht. Konkurrenz ist das bürgerliche Dasein gegen das Andere. Wenn Kooperation das füreinandrige Dasein ist, dann muss Konkurrenz als das gegeneinandrige Dasein gelten. Konkurrenz, nicht Kooperation ist das konstitutionelle Merkmal des bürgerlichen Menschen.

Es ist schon von Interesse, dass in der Wirtschaft eingefordert wird, was in anderen Bereichen als verpönt gilt: die Verdrängung. Die Welt von Markt und Kapital ist ein Verdrängungswettbewerb, wie sie stolz und zurecht von sich behauptet. Diese Verdrängungsleistung, die den Menschen täglich abverlangt wird, kann nicht ohne Spuren auf ihre Psyche bleiben. Kommerziell geprägtes Durchsetzungsvermögen meint Verdrängungsvermögen. Und zwar in allen Bereichen. Unsere Hypothese ist nun die, dass dieser Zusammenhang fundamental wie fatal ist. Konkurrenz ist nur machbar, wenn lästige Gefühle und Erinnerungen, Sinnlichkeiten und Sympathien ausgeschaltet werden, damit wir uns ganz auf den Prozess der Verwertung konzentrieren können. Verdrängung ist nur möglich, wenn wir bereits vorher verdrängt, wir also das Humane zugunsten des Kommerziellen aufgegeben haben. Der Konkurrent ist eine schwer pathologische Figur.


Invisible Hand

Präzisieren wir weiter: Konkurrenz ist das unpersönliche und unsichtbare Dasein gegen das Andere. Wir sind dabei ganz sachlich und niemandes Feind. So auf den ersten Blick ist das auch nicht falsch und die Zeiten der festen Absatzmärkte, der treuen Kunden und der fixen Kollektivverträge legten das auch nahe. Doch diese "heile Welt" ist nicht nur porös geworden, sie ist in Auflösung geraten. Die Globalisierung etwa könnte man durchaus deuten als die Universalisierung der Konkurrenz, wobei die nicht nur als räumliche Ausdehnung begriffen wird, sondern als Einnistung in allen Parzellen und Poren des Lebens. Konkurrenz tritt heute viel ungeschminkter und ungestümer auf als in der Epoche des keynesianischen Sozialstaats, der sich historisch immer mehr als eine Palliativstation entpuppt, d.h. als ein behüteter und umsorgter Vorraum des Todes, der dezidiert nicht als Vorgriff auf das gute Leben missverstanden werden sollte. Konkurrenz ist jedenfalls nicht mehr bloß eine Größe, die mittelbar trifft, sondern eine, die uns unmittelbar in allen Lebenslagen herausfordern will. Der Kampf gegen die geschützten Bereiche bestimmt nicht wenige Frontabschnitte.

Verwertung ist ohne Entwertung, Verwirklichung ohne Nichtung nicht zu haben. Kommerziell kann das gar nicht anders gehen. Die Konkurrenz ist ein Kampf, in dem es um Sieg und Niederlage geht, sie baut auf Entscheidung, nicht auf Ergänzung. Das schließt zeitweilige Bündnisse nicht aus. Die gehören dazu. Konkurrenten haben flexibel zu sein. Dort, wo Gegnerschaft Pflicht ist, liegt die Feindschaft nahe. Auf der psychopathologischen Ebene wird sich daher Feindseligkeit und Missgunst entwickeln. Nicht Empathie tritt auf, sondern Antipathie entfaltet sich. Konkurrenten empfinden sich als gegenseitige Bedrohung. Zu Recht. In diesem Spiel steht viel auf dem Spiel. Es ist kein sportlicher Wettbewerb, es ist blanker Ernst, determinieren doch Erfolg und Misserfolg die Existenzbedingungen und Möglichkeiten der jeweiligen Konkurrenten.

Auf die Konkurrenz fixiert zu sein, aber daran zu scheitern, das zeichnet viele Wohlstandsverlierer aus. Dieser Umstand bildet den Grundstock, andere Exklusionsbedingungen zu definieren und zu wünschen als die Gesetze des Marktes. Die automatischen Subjekte sind keine Maschinen. Das Subjekt betätigt und befürwortet das Spiel von Inklusion und Exklusion, will zwar ausschließen, aber selbst nicht ausgeschlossen werden. Es befürwortet etwas, wogegen es selbst geschützt werden will. Schützt mich, liefert die anderen aus! Verlierer tendieren nicht dazu, das Spiel zu durchbrechen, sondern fordern autoritätsfixiert Substitute: starker Staat, Verfolgung von Sündenböcken, Fremdenfeindlichkeit, antisemitisches Ressentiment. Der moderne Rassismus ist ein Kind der Konkurrenz.

Absurd ist jedoch nicht, dass Menschen emotional auf die Rationalität der Konkurrenz reagieren, absurd ist lediglich, wie sie reagieren. Ihre Gefühle verunglücken nicht aufgrund ihrer persönlichen Unfähigkeit, sondern weil sie als Konkurrenzsubjekte (eben nicht als Gegner der Konkurrenz) auf die Zumutungen der Konkurrenz reagieren. Denn so haben sie zu denken und zu fühlen gelernt. Es äußert sich, was ihnen geläufig ist.

Darin liegt ja auch die Krux aller Gesellschaftskritik, dass sie einerseits zwar zu Recht auf die Notwendigkeit einer elementaren Bewusstseinsverrückung verweist, andererseits aber nicht angeben kann, wie diese Enormität zu bewerkstelligen ist. So wird sie immer wieder enttäuscht. Die Gefangenheit in der Form ist ein großes Problem, ein noch größeres ist freilich die Befangenheit in ebenjener. Da das Gefängnis nicht als solches wahrgenommen wird, sind die Insassen auch unfähig sich vorzustellen, dass es auch ohne gehen könnte. Sie sind schon zufrieden, wenn sie gelegentlich Freigang haben...


Modus als Trieb

"Die Unterwerfung der Menschheit unter die Wirtschaft hat ihr nur die Freiheit zur Feindschaft gelassen", urteilte Karl Kraus zu Beginn des Ersten Weltkriegs. (Die Fackel, 404, Dezember 1914, S. 8) Die freie Konkurrenz "ist eben nur die freie Entwicklung auf einer bornierten Grundlage - der Grundlage der Herrschaft des Kapitals. Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen - von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen - annehmen." (MEW 42:551)

Die Konkurrenz ist der Stachel der Verwertung. Sie ist Trieb, der keiner ist, aber allen intus ist. Existenzielle Motivation gestaltet sich als Todestrieb. Verfolgung von Interessen zielt auf Vernichtung. Alle laufen letztlich um ihr Leben. Konkurrenz ist nicht bloß äußerer Zwang, sondern innerer Modus der Subjekte. Die Konkurrenz überzieht uns als Charaktermasken mit einer zweiten Haut, einem Panzer zum Überleben. Sensibilität gegenüber seinesgleichen ist da nicht gefragt. Der marktwirtschaftliche Typus wird seriell hergestellt. Wir sind Machwerke des Marktes. Wobei die Produkte unterschiedlicher Qualität sind und gar nicht wenige gar nicht solche sein wollen. Helfen tut ihnen das wenig.

Mit der Konkurrenz herrscht der asoziale Imperativ. Die bürgerlichen Subjekte sind Triebtäter, die gar nicht anders können. Da wir so handeln, denken wir so und schließlich ist auch das Fühlen ganz bei der Sache. Wir sind, was wir tun, und wir spüren uns als solche. Selbst wenn es uns gelingt, uns in der Reflexion und Emotion ideell über diese Konstitution hinwegzusetzen - und dazu sind wir zweifellos fähig -, erleiden wir dann doch immer wieder Schiffbruch und knicken ein vor der scheinbaren Allmacht faktischer Verhältnisse.

Das kapitalistische System synthetisiert Exponate, die jenem zu dienen haben. Sie können in keiner Hinsicht frei sein, außer sie begreifen ihre Freiheit als konsequente Erfüllung und Umsetzung der Vorgaben. Als Synthese wird die reaktive Formierung eines unbestimmten Resultats verstanden. Dieses ist Folge, nicht Absicht, es ergibt sich zwangsläufig aus den Handlungen. Synthese benennt aber nichts Zufälliges, sondern etwas Fälliges. Eben weil sich jene quasi organisch in uns vollzieht, wird sie als Trieb missverstanden.


Nichts miteinander zu tun?

Entscheidungen am Markt gestalten sich keineswegs konfliktfrei. Der ausgerufene Frieden trügt. Intuitiv registrieren die Marktteilnehmer ihre Chancen und versuchen sie zu realisieren. Es regiert das Kalkül, nicht das Vertrauen, die Versorgung ist stets der Verwertung untergeordnet. Nicht zufällig setzte Max Weber, der Konkurrenz als friedlichen Kampf definierte, "friedlich" unter Anführungszeichen. (Wirtschaft und Gesellschaft (1920), Neu Isenburg 2005, S. 27)

Der Konkurrenz zu entsprechen setzt eine Kapitulation voraus, die ihre Unterwürfigkeit gar nicht wahrnimmt. Was da scheinbar friedlich daherkommt ist nichts anderes als konzentrierter Zwang des Marktes. Diesen als gewaltfrei zu interpretieren, das bedarf schon einer gewissen Chuzpe. Es wirkt ziemlich schräg, wenn Niklas Luhmann schreibt: "Konkurrenz ist also kein Konflikt, auch kein limitierter und regulierter Konflikt, denn die Beteiligten haben überhaupt nichts miteinander zu tun." (Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, S. 102)

Gewalt ist der Konkurrenz eingeschrieben, nicht überwunden, sondern bloß eingefroren. Konkurrenz, das ist nur scheinbar kalmierter Krieg, der aber im Ernstfall sofort wieder in gewalttätige Konfrontationen kippen kann. Konkurrenz ist nur "friedlich", wenn sie es sich leisten kann. Das Eis ist dünn, auf dem wir uns bewegen, und es scheint dünner zu werden. Außerdem ist Eis nur in einem anderen Aggregatzustand als das, was unter ihm ist.

Luhmanns "überhaupt nichts miteinander zu tun" ist zwar unpersönlich, aber folgenschwer. "Damit ist eine hohe, praktisch unkontrollierbare Eigendynamik freigesetzt", sagt auch er (S. 103). Sie tun sich etwas an, obwohl sie nichts anderes tun, als ihre Interessen zu verfolgen. Den Konkurrenten erscheinen ihre äußeren Effekte vorrangig als Kollateralschäden. Ergebnisse, obwohl Folgen, haben mit den Handlungen der Vielen oder gar der Einzelnen aber auch gar nichts zu tun. Was anderen geschieht, das wollten sie nicht, selbst wenn sie alles dafür getan haben. Man will nichts Böses, und dauernd passiert es doch. "Man rechnet zwar mit dem Konkurrenten, hat aber wenig Anlass, sich ihm zuzuwenden und mit ihm zu kommunizieren." (S. 102) Tatsächlich, in der Konkurrenz kommunizieren Handlungen und nicht Menschen.

Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Nicht selten wird gerade in der Konkurrenz das Unpersönliche persönlich, das Unsichtbare sichtbar. Gerade die Furcht vor der Abstraktheit des Geschehens verführt zu diversen Bezichtigungen. Man glaubt zu wissen, gegen wen es geht. So kann das anonyme Treiben durchaus umschlagen in eine gezielte Strategie der Vernichtung. Diese ergibt sich dann nicht nur, sondern wird gewollt und angestrebt.

Luhmanns Bild ist ein unvollständiges. Es ist mit dem Weichzeichner der unsichtbaren Hand gemalt, von Affekten findet sich da keine Spur. Indes, so funktioniert die Konkurrenz nur partiell, leibhaftig ist sie doch emotionalisierter als zugegeben wird. Rationalität und Interesse sind Aspekte der Konkurrenz, keineswegs ausschließliche Bestimmungsstücke. Ebenso dazu gehören Protektion und Korruption, Raub und Bestechung, Mord und Erpressung. Der Markt ist kein Fair Play, die Geschichte des Kapitals ist voll mit Kapitalverbrechen, und die ursprüngliche Akkumulation, die Aneignung via Gewalt, hat nie aufgehört. Die beschworene Sachlichkeit des Marktes ist so nur ihre Oberfläche, ihr Untergrund besteht heute wie ehedem aus Gewalt.

In der Konkurrenz sind Persönliches und Unpersönliches durch Ambivalenzen verbunden. Aversion gegenüber Konkurrenten ist keine Fehlschaltung der Subjekte, nur eine Umschaltung. Konkurrenz pendelt zwischen Feindschaft und Indifferenz, nur die Freundschaft hat in ihr keinen Platz. Ins Ressentiment kippt diese Schaltung durch die Fixierung auf einen Schuldigen, kurzum auf einen Sündenbock. Rationalität und Irrationalismus laufen synchron, sind alles andere als säuberlich zu trennen.


Geil sein!

In der Konkurrenz geht es darum, mit allen Mitteln zu versuchen, seine Ware feilzubieten. Sich oder sie anzupreisen ist natürlich etwas anderes als eine simple Beschreibung von Eigenschaften. Es dominiert die Herstellung des Scheins. Konkurrenz erweckt alle Geschäftstriebe, es entsteht eine eigene Welt, die Produkte selbst sind nur noch Körper diverser Insignien. Es wird zunehmend sakral. Das Okkulte kreist um Preis und Reklame, Marke und Design, Appeal und Sex. Die Botschaften haben ein gewisses Format zu haben oder man könnte es auch luftiger formulieren: ein bestimmtes Flair.

Waren müssen sich aufmotzen, und da sie das nicht selber können, sind die Warenhüter angehalten jene herzurichten, auf dass sie, jene wie diese, eben keine Ladenhüter werden. Anmache ist unumgänglich. Diesem Gebot folgen die Charaktermasken quasi automatisch, so als sei es natürlich. Defizite sollen durch Training und Kurse wettgemacht werden. Coaching ist groß im Kommen. Jede Bewerbung eine Werbung. Ich reklamiere mich in dieser Situation selbst, ich erwecke Eindrücke und Assoziationen, die zum Kauf reizen sollen. Eins versetzt sich in Erscheinung, um geschäftstüchtig auftreten zu können. Ich bin, wie ihr mich wollen müsst, hier ist meine Ich-Marke. Konkurrieren geht immer mit Reklamieren einher.

Der Zwang soll nicht als Zwang, sondern als Vergnügen erscheinen, nicht als Leiden, sondern als Leidenschaft. Das Konkurrenzsubjekt hat in der Konkurrenz aufzugehen, sie nicht bloß als unmittelbare Notwendigkeit anzuerkennen, sondern als Lust zu begreifen. Leo Szemeliker, einst Wirtschaftsredakteur des Standard, nun Sprecher von Kanzler Werner Faymann, bringt es auf den Punkt: "Konkurrenz ist geil", titelte er seine Glosse. "Innovation entsteht nur durch Konkurrenz." (Der Standard, 17./18. April 2004, S. 44) Kreativität ist also, damit auch wir es wissen, lediglich ein Ausfluss von Kapital und Kommerz.

Konkurrenz wirkt geradezu enthemmend. Wahrlich, sie entsichert, ihre Geilheit ist die des Vergewaltigers. Von solch seltsamer Lust wusste auch schon Karl Marx: "Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird. Der Klage über physische und geistige Verkümmerung, vorzeitigen Tod, Tortur der Überarbeit antwortet es: Sollte diese Qual uns quälen, da sie unsre Lust (den Profit) vermehrt? Im Großen und Ganzen hängt dies aber auch nicht vom guten oder bösen Willen des einzelnen Kapitalisten ab. Die freie Konkurrenz macht die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend." (MEW 23:285f.)

Diese Geilheit befriedigt nicht, aber sie macht süchtig. Sie lebt unentwegt im Komparativ, gleicht einem Trip, der auf Beschleunigung und Ausweitung, kurzum auf Wachstum aus ist. Koste es, was es wolle. Diesem irren Spiel ist auch durch keine Verteilungsgerechtigkeit beizukommen, wie Hartmut Rosa richtig schreibt, sondern es geht schlicht um das Abstellen: "Deshalb wäre es höchste Zeit für die Linke, den Motivationsstecker zu ziehen. Die Sieger sind gar keine Sieger. Es sind armselige, raffgierige, orientierungslose Süchtige, die ein unabschließbares Steigerungsspiel betreiben: Wachstum, Reichtum, Beschleunigung, Innovationsverdichtung. Dieses Spiel braucht gewaltige und immer größere kulturelle Antriebsenergie." (Hartmut Rosa, Idiotenspiel, Le Monde Diplomatique, 13.4.2012, S. 2)


Überleben und Tod

Friedrich Engels sagt: "Jeder Konkurrierende muss wünschen, das Monopol zu haben, mag er Arbeiter, Kapitalist oder Grundbesitzer sein. Jede kleinere Gesamtheit von Konkurrenten muss wünschen, das Monopol für sich gegen alle andern zu haben. Die Konkurrenz beruht auf dem Interesse, und das Interesse erzeugt wieder das Monopol; kurz, die Konkurrenz geht in das Monopol über. Auf der andern Seite kann das Monopol den Strom der Konkurrenz nicht aufhalten, ja es erzeugt die Konkurrenz selbst, wie z.B. ein Einfuhrverbot oder hohe Zölle die Konkurrenz des Schmuggelns geradezu erzeugen. - Der Widerspruch der Konkurrenz ist ganz derselbe wie der des Privateigentums selbst. Es liegt im Interesse jedes einzelnen, alles zu besitzen, aber im Interesse der Gesamtheit, dass jeder gleich viel besitze. So ist also das allgemeine und individuelle Interesse diametral entgegengesetzt. Der Widerspruch der Konkurrenz ist: dass sich jeder das Monopol wünschen muss, während die Gesamtheit als solche durch das Monopol verlieren und es also entfernen muss." (MEW 1:513)

Die Konkurrenz ist ein Prinzip, das stets ihre eigenen Grundlagen zerstört, sie hat ein destruktives Verhältnis auch zu sich selbst, ist somit ihre eigene Negation. Die Nichtung der Kontrahenten ist unumgehbar. Resultat der Konkurrenz ist die Eliminierung der Konkurrenten. Das konkrete Tun negiert das abstrakte Bekenntnis. Die Konkurrenz schützt also die Konkurrenz nicht, sondern betreibt ihre Abschaffung. Sie führt zu Konzentration und Monopol. So muss die Konkurrenz permanent vom ideellen Gesamtinteressenten, dem Staat und seiner Gesetzgebung, dazu angehalten werden, doch Konkurrenz bestehen zu lassen.

"Wir müssen lernen, jemandem einen Todesstoß zu versetzen", sagt Christine Bauer-Jelinek, ihres Zeichen Wirtschaftscoach und Gründerin eines "Instituts für Macht-Kompetenz" im österreichischen Wirtschaftsblatt vom 23. Juli 2005. (Siehe ausführlicher: Franz Schandl, Ökonomie des Tötens, Streifzüge 35 (2005), S. 40) Konkurrenz will Konkurrenz in den Tod treiben. Leben definiert sich als Kampf, in dem es um Überleben und um Töten geht. Darin liegt Quintessenz und Botschaft. Konkurrenz will Vernichtung der Konkurrenz aufgrund der Konkurrenz. Die Konkurrenz beherbergt ihren eigenen Todestrieb. Ihre Lust ist die Mordlust, so beiläufig sie auch oft daherkommt.

Der junge Engels nannte die Konkurrenten eine "Horde reißender Tiere" (MEW 1:505) und Robert Musil schrieb: "Im Kampf ums Leben gibt es keine denkerischen Sentimentalitäten, sondern nur den Wunsch, den Gegner auf dem kürzesten und tatsächlichsten Wege umzubringen, da ist jedermann Positivist; und ebenso wenig wäre es im Geschäft eine Tugend, sich etwas vormachen zu lassen, statt aufs Feste zu gehen, wobei der Gewinn letzten Endes eine psychologische und den Umständen entsprechende Überwältigung des anderen bedeutet." (Der Mann ohne Eigenschaften I, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 303) - Das ist die Welt, in der wir leben. Wie du mir, so ich dir.

Auch der Aspekt der Opferung sei hier noch kurz angesprochen: "Das Konkurrenzprinzip könnte bei näherer Betrachtung zerlegt werden in das Sich-Opfern, um andere opfern zu können. Konkurrenz ist säkularisiertes Opfern. Was man anderen antun muss, muss man gleichzeitig sich antun, um jenes bewerkstelligen zu können. Um übrig zu bleiben, zu überleben im Konkurrenzkampf, ist es notwendig, ausreichend Energie für das Opfern zu verwenden." (Weiterreichende Ausführungen siehe: Franz Schandl, Fan und Führer, krisis 28 (2004), S. 58ff.) In diesem Realszenario geht es darum, sich und andere dem Leid zu überantworten. Andere leiden zu sehen, erzeugt nicht Mitleid, sondern erregt Leidenschaft. Es ist die Leidenschaft jemanden in Mitleidenschaft zu ziehen; Lust an der Destruktion.

In diesem Ausscheidungsprozess bleiben immer mehr auf der Strecke, ganze Länder drohen abgewickelt zu werden. Es gilt zu fragen: Was passiert mit den Nicht-Wettbewerbsfähigen? Man denke etwa an die vielen deklassierten Jugendlichen in Europa. Dass man aus ihrer Haut "wundervolle Damenhandschuhe und Sommerstiefel für elegante Herren" macht, wie das Jonathan Swift (Betrachtungen über einen Besenstiel. Eine Auswahl zum 250. Todestag, Frankfurt am Main und Leipzig 1995, S. 162) entsprechend den Marktgesetzen einmal anregte, hat man zwar noch nicht vernommen, aber insgeheim wohl gedacht. Denn diese Leute sind überflüssig.


Patent statt potent

Geheimhaltung und Patentierung sind Ausgeburt des Privateigentums (an Produktionsmitteln). Ohne Formdiktate der Konkurrenz würde alles zu Kooperation und Offenheit drängen, nicht zum Ausschluss. Konkurrenz zwingt Betriebe gegeneinander anzutreten, von der Forschung bis zur Werbung. Produktionsfortschritte bleiben geheim oder werden patentiert. Wer billiger produziert, kann teurer verkaufen, auch wenn er billiger verkauft. Errungenschaften werden deswegen nicht multipliziert, sondern dividiert. Konkurrenz muss auch als die große Vorenthaltung gelten, da jeder Konkurrent seinen Vorsprung nicht nur behalten, sondern ausbauen will. Wie groß wäre wohl die Kreativität, wären Kopie und Plagiat auf dieser Ebene Usus; dann könnte man aufeinander aufbauen.

Dem darf nie und nimmer so sein: Innovationen sind private Leistungen nicht kollektive Güter, sie wirken aktuell daher nicht erleichternd (wie in einer globalen Kooperation), sondern erschweren sofort die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Konkurrenten. Und zwar aus dem banalen Grund, weil sie ihren Dienst oder ihr Produkt nicht so billig anbieten können. Und tun sie es trotzdem, erleiden sie Verluste, die sie auch erleiden, wenn sie es nicht tun. Konkurrenten müssen vor Konkurrenten dauernd auf der Hut sein. Motivation ist also keine sachbezügliche Größe, sondern folgt kommerziellen Geboten. Der Markt entscheidet dann, ob diverse Arbeiten belohnt werden oder ob sie obsolet gewesen sind. Damit die anderen nachkommen, müssen sie Energie und Ressourcen verbrauchen, um einen Stand zu erreichen, der gesellschaftlich schon erreicht ist, aber ob des Privateigentums nicht zur allgemeinen Verfügung gestellt wird. Alle sind allen immer hinterher, auch wenn sie vorneweg sind. Die Konkurrenz schläft nicht.

Kapitalistische Konkurrenz demonstriert einerseits betriebswirtschaftliche Sparsamkeit, bedeutet andererseits aber eine ungeheure Verschwendung menschlicher und natürlicher Kräfte. Die Reibungsverluste sind groß, betrachtet man sie von der stofflichen, nicht von der monetären Seite her. Sie fördern Intransparenz und Langsamkeit. Vom materiellen und immateriellen Ziel her betrachtet sind die tatsächlichen Aufwendungen als überproportional anzusehen, so rationell sie vom Verwertungsstandpunkt auch sein mögen. Festzuhalten bleibt, dass wir es hier mit extrem überkomplexen Mechanismen zu tun haben, die aufgrund diverser Kostenkalkulationen und Geschäftspraxen immens viel Mühe und Anstrengung verschlingen.


Fazit

Die Frage der Konkurrenz ist nicht: Wie schaffen wir es, dass es uns und den anderen gut geht, sondern: wie bewerkstelligen wir unsere Bedrohungen? Dazu gehört auch die normative Einsicht, dass das Leben ein Kampf ist, dass es gilt, seinen Interessen nachzugehen, also sich in den Dienst der eigenen Charaktermaske zu stellen. Wem schnappen wir was weg? Und unmittelbar ist das auch gar nicht falsch, es entspricht rationalem Verhalten in einer irrationalen Form.

Was wir als einfach empfinden, erscheint nur deswegen einfach, weil wir einfach nichts anderes kennen als das böse Spiel der Märkte. Das ist die Matrix, in der wir laufen, uns verlaufen und auch ablaufen. Es ist das Feld auf dem wir stehen und vergehen. Wenn es nach dem Kapital geht, soll uns nie mehr anderes bestimmt sein. Wir sind das Personal des Marktes, ihm haben wir bei Strafe des Untergangs zu gehorchen und zu dienen. Konkurrenz ist das, was uns diesbezüglich auf Trab hält und wohl zusehends in Galopp versetzt. Nichts anderes ist je möglich. Insofern sagt die Formel des Verlernens Richtiges aus. Es reicht nicht aus dagegen zu sein, wir müssen uns die Konkurrenz sukzessive abgewöhnen.

In der Konkurrenz stellen wir etwas vor, ohne es zu sein; in der Konkurrenz stellen wir etwas an, ohne es zu wollen; in der Konkurrenz möchten wir, dass uns gelingt, was anderen partout nicht glücken soll; in der Konkurrenz gestalten wir das Miteinander als ein Gegeneinander. Sätze wie "Wettbewerb ist das, was Europa braucht" sind gemeingefährlich, denn Standortsicherung heißt Standortvernichtung. Je nach Standort.

Nun sage keins, all das sei nicht verrückt. Wenn die Konkurrenz tatsächlich das hervorbringen soll, was wir verdienen, dann gilt es ganz kategorisch dagegen zu halten: Niemand verdient das, was er oder sie verdient. Auch nicht mehr oder gar weniger. Wir verdienen anderes. Das Konkurrenzprinzip ist ein universalisierter Defekt. Ranking und Mobbing sind da nur die neuesten Schlager. Konkurrenz ist abzulehnen, auch in jeder modifizierten Form, sie ist schlicht und einfach zu ächten.

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2000 Zeichen abwärts

Eine Kuh für Janko

Janko wurde im Realsozialismus erzogen, wuchs auf, studierte Technik und wanderte mit seiner Frau nach Amerika aus. Dort absolvierte er noch ein Wirtschaftsstudium und verdiente viel Geld. Er jongliert als Finanzmanager mit Millionen. Die Ehe ging kaputt, die Jobs sind nicht mehr so ertragreich. Seit einigen Jahren pendelt er zwischen Chicago, wo Exfrau und Kinder leben, und Bratislava, wo seine Mutter und die neue Familie wohnen, hin und her. Er hat nicht viel Zeit zu überlegen, wie es ihm dabei geht. Er hat weiter viel Geld anzulegen und zu vermehren für die Firmen, für die er arbeitet. Sein eigenes verbraucht er jetzt für seinen Lebensstil zwischen den Kontinenten. Er gibt alles aus für seine Ex-Frau und die Kinder, macht seiner Lebensgefährtin und deren Nachwuchs üppige Geschenke, unterstützt eine Schulfreundin, Alleinerzieherin mit fünf Kindern, und zahlt die Wohnungsmiete seiner Mutter, die als Pensionistin mit 400 Euro pro Monat auch in der Slowakei nur schwer zurechtkommt.

Seine Mutter macht sich große Sorgen. Sie beklagt, dass er zu großzügig sei. Er bewahrt nichts für sich auf, kann nichts sparen, legt nichts an. Sie hat Angst um ihn, um seine Zukunft, am Hungertuch wird er nagen, bankrott gehen, als Obdachloser enden. Aber Janko, der Finanzmanager, meint, Geld wird ihm nicht viel nützen. Vertrauen in den Kapitalismus hat er nicht mehr; er sagt, er weiß, wohin er führt. Er hat ein altes, verfallendes Haus samt Garten von der Großmutter in einem Dorf in Mähren geerbt und die Tante ausgezahlt. Vom letzten Geld will er noch eine Kuh kaufen. Davon können sie auf Dauer eher leben, sagt er.

H.S.

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Der Kampfmarkt und sein Konkurrenzprinzip

von Mladen Savic

So wie im Mittelalter Gott alle Lebensbereiche des Menschen durchdrungen hat, bestimmt nun Geld mehrfach das, was man allgemein das Leben nennt, während man das Geldverdienen meint. Mehr noch: ein gelungenes oder gescheitertes Dasein wird mit dem finanziellen Auf- und Abstieg gleichgesetzt. Und fast scheint es, als wäre es nie anders gewesen! Wenigstens in den Köpfen ist die Verbindung von Warenwirtschaft und Lohnsystem längst zur ewigen Natur verbrämt. Die Vorstellung, Geld müsse unbedingt sein, hält sich zäh, ganz im Gegensatz zum Gedanken einer Gütergemeinschaft. Dieser klingt irgendwie fremd und geradezu sündig, als wäre er gegen die Naturgesetze höchstpersönlich. Natürlich stimmt das nicht, weil weder Gott noch die Natur das Geld erfunden haben, sondern der Mensch auf einer bestimmten Entwicklungsstufe, aber davon lässt man sich in der Regel nicht weiter einschüchtern. Eingesickert - abgestanden. Man ist außerstande, sich Güter nicht als Waren vorzustellen oder Grund und Boden nicht als Liegenschaft, geschweige denn die Arbeit ohne einen Chef. Wie einstmals Gott, so hält jetzt das Geld die Welt im Innersten zusammen. Sein Umschlagplatz ist das, was man gemeinhin als Markt bezeichnet, wo man selber arbeitend oder mit fremder Arbeit Handel treibend die meiste Lebenszeit verbringt. Ohne Geld jedenfalls - kein Leben. Der Abdruck des Wirtschaftlichen macht vor keiner Türe halt, denn sein Druck ist gottähnlich allgegenwärtig.

Die Art und Weise, wie einerseits gearbeitet wird, in einem Dienstverhältnis nämlich, und wie andererseits gewirtschaftet wird, nämlich auf der Grundlage sogenannter freier Märkte und privater Produktion, hat aus dem Austauschmittel Geld schließlich das Befehlsmittel Kapital gemacht. Wer es hat, befiehlt; wem es fehlt, fügt sich und buckelt. Die Aufteilung in Besitzende und Besitzlose vorausgesetzt, bedeutet jedes Dienstverhältnis für den Einzelnen: zu arbeiten als Diener von Bedienten. Ebenso haben der freie Markt, wo alles eine Ware und daher käuflich sein kann, und die private Produktion, wo man unabhängig von Bedarf und Notwendigkeit drauflos produziert, ihre inhaltlichen Feinheiten: frei sind sie als Freiheit zur Menschenanmietung und privat nur im Sinne der unmittelbaren egoistischen Interessen. Das Geld, zwingend zahlenverhaftet, fließt in dieser Arbeitsart und Wirtschaftsweise ständig und wechselt ungleichmäßig die Besitzer. Außer der Summe der Zeit, die für die Bereitstellung einer Ware oder Dienstleistung verwendet worden ist, bietet sich jedoch kaum ein vernünftiges Maß an, um diese oder jene Arbeit tatsächlich zu vergleichen, objektiv zu bewerten und auf eine Zahl zu reduzieren. Jede Ware, auch die Arbeitskraft, hat ihren Preis, die für einen den Profit, für den anderen höchstens einen Lohn ausmacht. Kapital als Verhältnis unter Menschen: man kann den Ursprung des darin enthaltenen Vergehens mehr als nur etymologisch aufspüren. ("Capital" bedeutet auf Lateinisch übrigens - todeswürdiges Verbrechen, oder schlicht todbringend, verderblich.)

In dieser Wettbewerbswirtschaft herrschen, wie der Name schon verrät, ganz bestimmte Prinzipien und Verhaltensregeln vor, die Ausdruck von gewissen Eigentumsverhältnissen sind, in erster Linie jene der Gegnerschaft und insofern des gegenseitigen Kampfes. Eigentum beschützt zweifellos, aber Eigentum muss auch geschützt werden, vor denen ohne eines und gleichzeitig vor denen mit mehr davon. Das Kämpferische, im Eigentumsbegriff enthalten, findet im Wettbewerb seine organisierte Form. Das Übertrumpfen, der Verfügungsgewalt des Eigentums entspringend, wird da zielgerecht zu einem Übernehmen, und zwar als Aneignungsmacht des jeweils neuen Besitzers. Kurz, die Identifizierung mit dem Haben führt gewissermaßen zur Personifizierung des Nehmens. Die hierbei passenden Bilder des Markierens, Kämpfens und Entreißens wecken wenig zufällig Assoziationen aus dem Tierreich. Dementsprechend ist das Fortbestehen des Stärkeren auch die sozialdarwinistische Leitlinie einer solchen Marktwirtschaft: Konkurrenz als heute unhinterfragbares Verhaltensprinzip ist nichts anderes als das Buhlen und Streiten um die besten Produktions- und Absatzbedingungen am Markt.


Zwinkern aus dem Überbau

Bloß, Vorsicht mit den Begriffen! Denn es wird unter Produzent nicht der Lohnarbeiter verstanden, der wirklich etwas produziert, sondern sein Verwalter und gleichzeitiger Besitzer der Produktionsmittel. Auch werden diese Produzenten, obwohl sie fremde Arbeit nehmen, Arbeitgeber oder Unternehmer (aktiv), die Arbeiter selbst aber Arbeitnehmer schaft (passiv) geheißen. Dadurch zeichnet die Sprache jenen Kampf um Anerkennung der in den Waren verkörperten privaten Tätigkeit (Faktor Kapital) als Teil der sozial notwendigen Gesamtarbeit (Faktor Arbeit) nach. Diese ideologische Linguistierung übrigens, im Sinne einer offiziellen Sprache samt all ihren terminologischen Realitätseingriffen, begleitet die politische Anpassung eines jeden ökonomischen Systems an den Druck der sozialen Realität selbst, und zwar als Verfallserscheinung, wenn das System bereits gezwungen ist, irgendwen von seiner Naturwüchsigkeit zu überzeugen. Die Tatsachen müssen dann eben zu Hause bleiben, weil sie in einer Ideologie von Anfang an nur Störfaktoren bei Legitimierungen darstellen.

Die allgemeine Konkurrenz der Unternehmer untereinander verwandelt, sofern dieselbe Produktionssphäre von Gütern und Dienstleistungen betroffen ist, die jeweiligen Warenwerte in Marktwerte. Und da am freien Markt privat und insofern blind produziert wird, entzieht sich das große Theater, worin alles nur Mittel zum Zweck namens Kapital ist, einer befriedigenden sozialen Kontrolle. Manchmal muss für ein sinnloses Produkt überhaupt erst das Bedürfnis geschaffen und propagiert werden, um es erfolgreich verkaufen zu können. Hauptsache: die Kapitalisierung findet statt! Doch auch Arbeiter und Angestellte und Bauern konkurrieren untereinander, bloß nicht für ihren Profit, sondern zum Lebensunterhalt. Halten sie dem Sturm nicht stand, sei es von anderen Arbeitsbewerbern, sei es von nächst größeren bäuerlichen Betrieben, steigen sie auf der sozialen Leiter abwärts. Sogar Kleinunternehmer aus den Mittelschichten reiben sich im Risiko der internationalen Konkurrenz schnell auf und landen dadurch, dass keine Unsummen an Kapital hinter ihnen stehen, nicht selten im finanziellen Ruin.

Darüber hinaus meint man immer öfter, dass das wirtschaftliche Konkurrenzprinzip vorbehaltlos auch in völlig andersartige Lebensbereiche getragen werden kann, mit entsprechenden Folgen wie bei jeder schematischen Übertragung. So zum Beispiel in jenen der Kindererziehung, wodurch in der Haltung der heutigen Kinder und Jugendlichen ein weiter Bogen gespannt wird von Bezugslosigkeit und mangelnder Empathie bis hin zu Loyalitätsverlust und geistiger Isolation; ebenso in jenen der Universitätsbildung, wo die akademische Produktivität im Eiltempo den forschenden Intellekt zu verdrängen droht, abgesehen von den bildungsfeindlichen Versuchen, eine Universität wie ein lukratives Unternehmen zu leiten; am schädlichsten ist dieses Konkurrenzprinzip allerdings in der Weltpolitik, denn die betrifft Milliarden Menschen. Nichtsdestotrotz, der Geldgott hat gesprochen, und im Anfang steht bekanntlich sein Wort...

Da, wie gesagt, im Ringen um die günstigsten Verwertungsbedingungen die verschiedenen Unternehmer und Kapitalien nicht in ihrem Dorf bleiben, sind sie gezwungen, einen Großteil ihres Profits zu akkumulieren, ihn in der Produktion wieder zu verwenden. Dies macht das heutige Geldwesen und seinen weltumspannenden Verkehr erst zur Marktwirtschaft bzw. zum Kapitalismus. Es führt zu Wachstum, unkontrolliert, aber effektiv. Was zugleich wächst, ist die Konzentration des privaten Kapitals und der von ihm abhängigen Produktion, besser bekannt als Monopolisierung in den Händen großer Eigentümer wie der Banken und Konzerne. Der heutzutage etwas beliebtere Ausdruck A&M (Übernahme und Verschmelzung) bedeutet ein und dasselbe, er verbirgt bloß die generelle Monopolisierungstendenz durch noch eine ideologische Linguistierung. Am Weltmarkt erhält dieser Konkurrenzkampf eine menschlich kalte, mathematische Erscheinungsform: man kämpft, ungeachtet aller menschlichen und ökologischen Verluste, tagaus tagein um Absatzgebiete, Billigarbeitskräfte, Produktionsvorteile, Rohstoffquellen, Straffreiheit, Möglichkeiten der Kapitalanlage und letztendlich - um die wirtschaftlich territoriale Aufteilung der Welt unter die Monopolverbände und ihre sie schützenden Großmächte. Endprodukt sozusagen der bislang geschilderten Verknüpfung von anarchisch privater Produktion einerseits und der ökonomischen Konkurrenz andererseits ist die vollendete Tatsache ungleichmäßiger Entwicklung, sei es von Staaten, Schichten oder Individuen, sowohl finanziell als auch intellektuell und technisch.


Zwicken aus dem Zwielicht

Das Irrwitzige an dieser Gesamtlage ist, dass die praktische Überwindung und Unterbindung von Kapitalismus bei voller Beibehaltung aller technischen Errungenschaften auch als Möglichkeit geleugnet, als eine Art von Ketzerei betrachtet wird, die dem neuen Geldgott seine Bedeutung abspricht. Etwa weil sie den Menschen stattdessen in den Mittelpunkt stellt?! Es kann doch nicht sein, dass die Menschheit ohne das Kapital grundlos alle Kenntnisse und Fähigkeiten verliert, nicht mehr zu rechnen, zu bauen, zu arbeiten weiß, den Computer zu bedienen und die Chemikalien zu mischen verlernt, dass die Brücken dann alle einstürzen, keine Motoren mehr funktionieren usw. Man sollte panische Bilder wie diese als einen Ausbruch von Panik deuten, keineswegs als mehr! Sie ist es nämlich, die man vorfindet, wenn man die Selbsterklärungen des Geldes beim Wort nimmt: es sagt in seinen propagandistischen Organen überall, es sei das Höchste und Wichtigste, kann aber, wie im Falle einer hohen und unaufhaltbaren Inflation, zum Nichtigsten werden. Gottes Allmacht wackelt schließlich als Konzept. Die finanziellen Institutionen sind mit ihrem Dogma von der Notwendigkeit einer Konkurrenzwirtschaft (als Diktatur des Kapitals) in einen modernen Klerikalismus gerutscht: sie üben doch nur Gottes Willen aus, in Vertretung, versteht sich, wie die Kirche im Mittelalter, als sie noch Macht besessen hat.

Allgemein wird nun der Wettbewerb, insbesondere der wirtschaftliche, als passende Antwort auf die biologischen wie kulturellen Anforderungen des Menschen gehandelt: jeder gegen jeden! Die Natur, verantwortlich für den angeborenen sozialen Instinkt, und die Kultur, verantwortlich für die technisch immer höhere Abhängigkeit der Menschen voneinander, sträuben sich. Die Wirtschaft aber besteht trotz aller ihrer Mängel und offenbar zyklischen Krisen darauf, der Wettbewerb selbst sei absolut und unantastbar. Man sucht - kein Scherz! - und sucht vergeblich nach dem Wall-Street-Gen und einer biologistischen Wunschrechtfertigung für die gegenwärtigen Produktionsverhältnisse und deren Profitmaximen. Dass das Konkurrenzprinzip in letzter Konsequenz sogar unökonomisch ist, nicht nur als Leitfaden zu Ressourcenverschleiß, Parallel- und Überproduktion, sondern in seiner industriellen Form auch als Weltmarkt der Umweltzerstörung und Ort der Gattungsbedrohung, gehört heutzutage schon zum ökologischen Trivialwissen. Das ändert gar nichts. Gegeneinander statt miteinander, der Wirtschaft zuliebe!


Geistige Spurensuche

Doch Wettbewerb, das ist mehr als nur eine Tätigkeit, die einen Ablauf hat, er ist ein Ereignis, das zudem eine Grundbedeutung hat und deshalb eine Einschätzung verdient. Als Verhaltensweise zieht der Wettbewerb eine ihm entsprechende Geisteshaltung nach sich, welche ihn zum Prinzip macht. Dieses hat notwendig regulative Aufgaben: ein bestimmtes Benehmen hervorzubringen - es formt den Menschen, der ihm folgt, in seiner Art und Beschaffenheit. Man sehe sich den Wettbewerbsgedanken genauer an, und man wird alsbald merken, dass seine Vorzüge weder formal noch substanziell die Nachteile wettmachen. Zunächst zeigt der Wettbewerb eine formale Ähnlichkeit mit dem Spiel, doch reicht es nicht zur inhaltlichen Verwandtschaft: spielen kann man auch ohne Regeln, wetteifern wohl kaum. Aber auch sonst erscheinen die Folgen eines Spiels viel harmloser als die eines Wettbewerbs. Die Freiheit und Freude im einen stehen kontrastreich zum Reglement und zur Anstrengung im andern.

Ebenfalls lässt sich auf formaler Ebene schlussfolgern, der Wettbewerb setze einerseits einen Zweiten voraus, wolle ihn andererseits zugunsten eines Ersten eliminieren. Das Verhältnis zur Zweisamkeit oder Gemeinschaft ist dadurch nicht etwa in sich gespalten oder gar widersprüchlich. Der mögliche Erste betrachtet den hoffentlich Zweiten im Vorfeld schon als Mittel zum Zweck, sozusagen als vorübergehendes Eingeständnis seines Werts, der durch den Sieg der Gegenseite wieder abgewertet wird. Das im Wettbewerb enthaltene Projekt, es gehe nun um etwas, erweist sich aus dem Winkel des Unterlegenen als ein geregeltes Ausscheidungs- und Abwertungsverfahren, so sehr er es auch selbst in Kauf nehmen mag. Aber das Projektartige daran, diese zum Wettbewerb gehörende Gewissheit, dass am Ende eines solchen Ereignisses ein Resultat stehe, ist bloß noch Anschein, nichts als Einbildung: niemand bleibt für immer Erster, wodurch der Sieg sich wieder relativiert und die dauerhafte Unabgeschlossenheit des Wettbewerbsprozesses sich erst wirklich manifestiert. Das Resultat, das anfangs in Aussicht stand, zerfließt in seinem Fluss.

Sieg als das oberste Ziel dieses Prinzips bleibt hingegen inhaltlich undefiniert, und der Ansporn, den der Wettbewerb durchaus geben kann, wird von der Eitelkeit im Siegeseifer verzehrt. Aus Sicht des Gewinners nämlich ist die Tatsache, Erster zu sein, eine persönliche Anerkennung und dahingehend eine Aufwertung, welche, wenn oft genug wiederholt, zur Überhöhung des Ichs führt, zu einer besonderen, insofern im Keim schon angelegten Eitelkeit. Wiederkehrend hier, diesmal vom Inhaltlichen her aufgerollt: das tendenziell überhöhte Ich schließt ein geselliges Wir aus, denn die Eitelkeit lässt sich, wie der Individualpsychologe Adler feststellt, mit dem Gemeinschaftsgefühl nicht vereinbaren, da sich eins dem andern nicht unterordnen möchte. Das Zerfallen der Gemeinschaft in Sieger und Verlierer bedeutet - hinsichtlich der darin sich vollziehenden vertikalen Staffelung - jedoch, dass neben der moralischen Fragwürdigkeit dieses Prinzips auch noch sein Maßstab selbst zur Debatte steht.

Im Wettbewerb wird die Andersartigkeit eines jeden Ich, streng genommen, niemals in erster Linie nach seinen Qualitäten gemessen, sondern stets nach äußeren Quantitäten, kurz, nach einem meist auf nur eine einzige Sache reduzierten Maßstab, an den man sich anzupassen hat. Es wundert indes kaum, dass ein solches allgemeines Opfer der Qualität zugunsten der Quantität und der Substanz für die Form wesentlich zum Wettbewerbsprinzip gehört. Nun ist der fremde Maßstab, den man anwendet, in den Regeln bereits fixiert, also nicht debattierbar, sondern gleichsam vorgegeben. Das heißt, nachdem der Mitmensch zu einer Gegenseite geworden ist und dann beide einer ihnen äußerlichen Größe nacheifern, welche noch dazu fremdbestimmt ist, darf der Sinn einer derartigen Reduktion nicht mehr angezweifelt werden. Sonst gäbe es keinen Wettbewerb, bloß Willkür. Wer demnach seinen Sieg verschenkt, hat nicht nur die Regeln gebrochen, er hat auch anschaulich vorgeführt, dass er den hier verwendeten Maßstab grundlegend missachtet: des Nächsten Nachteil als eigenen Vorteil!


Einsam im Hamsterrad

Dies ist und bleibt gewissermaßen die Quintessenz des Konkurrenzprinzips. Ein Belohnungssystem, das auf solchen Denkmustern aufbaut, muss, so maßgeblich es in einer Gesellschaft auch sein mag, über kurz oder lang daran scheitern, dem Menschlichen im Menschen gerecht zu werden. Es verdient, weil es zudem ein soziales Dispositiv ist, die nachhaltige Stigmatisierung. Aber leider nicht in dieser Welt der wirtschaftlichen Allmacht, im Gegenteil! Dabei leuchtet jedermann sofort ein, dass im Innersten des Wettbewerbsprinzips, worin Menschen sich nicht zur Seite stehen, sondern einander entgegensetzen, der Egoismus als beabsichtigte treibende Kraft liegt, als sein eitles Urprinzip, von dem eine fundamental feindselige Haltung ausgeht. Der freie Wettbewerb erscheint in seiner gelebten Form also als ungezügelte Selbstsucht, welche sich schon seinem Wesen nach, den anderen Menschen vorab als Widersacher zu behandeln, gegen den angeborenen sozialen Instinkt wendet - und all das, wohlgemerkt, bei steigender sozialer Abhängigkeit der Menschen von einander in einem immer arbeitsteiligeren Kulturschaffen.

Die Zugrundelegung des Wettbewerbs in egoistischen Antrieben ist aber ebenso fragwürdig als Rechtfertigungsversuch wie auch als Endergebnis einer so ausfallenden sozialen Praxis. Die daran angelehnte Regelung zwischenmenschlicher Verkehrsformen bringt selbige zur Degeneration. Da finden sich einerseits eine philosophische Unausgegorenheit, wie denn Menschenfeindliches die Menschen anleiten könne oder solle, und andererseits ein innerer Widerspruch in der besonderen Organisiertheit der zweifellos nötigen Arbeitsteilung. Wenn die soziale Reproduktion des Lebens im vollen Umfang gewissen asozialen Impulsen unterstellt wird, sind Probleme auf allen Ebenen vorprogrammiert: das Ich, das in ein Wir hineingeboren wird, welches ihm faktisch vorangeht, ihn ja bedingt, um zu werden, was und wer er ist, wird libidinös und antirealistisch in seiner Ablehnung des Wir. Zustande kommt dabei ein gedanklicher Irrgarten, unreif im Lichte seiner geschichtlichen Anforderungen und schädlich für die Psyche eines Individuums, mit dem Anstrich eines verherrlichten Kraftakts, dessen gewaltige Möglichkeit aber nichts erklärt, begründet oder löst.

Bliebe noch die Frage, wie man überhaupt mit so einer Kritik aufwartet? Es gibt freilich keine Generalmethode dafür. Die Sache ist aber ganz einfach: man verkleinere ein Phänomen zuerst bis zum expliziten Hauptgedanken und vergrößere es dann bis zu seinen impliziten Wirkkräften, um dessen essentiellen Wesenszug in aller Blöße vorzuführen. Anschließend muss man die Behauptungen nur noch empirisch auf ihre Richtigkeit prüfen - einstweilen eine bewährte Methode!

*

Private Gains and Public Disasters

Oder: Die unsichtbare Hand spielt verrückt

von Emmerich Nyikos

"Nur wenn man oben steht, kann man die Sachen recht übersehen und jegliches erblicken, nicht wenn man von unten herauf durch eine dürftige Öffnung geschaut hat."
(Hegel)

1.

Konkurrenz ist, einfach gesagt, nichts als das plan- und bewusstlose Zusammentreffen (concurrere) von Privatproduzenten unterhalb der Schwelle der bewussten Gestaltung. Warenproduktion, um hier den terminus technicus zu gebrauchen, impliziert zwar Kooperation, die aber spontan ist, da die völlige Gleichgültigkeit für das übergeordnete Ganze ganz in der Natur des Privateigentums liegt. Die Privateigentümer nehmen daher nie die Perspektive der Gesellschaft ein, von der aus allein man die Zusammenhänge im Blick hat, sondern immer nur die des persönlichen Vorteils, von der aus man nun einmal nicht über den Kirchturmhorizont der "eigenen lieben Person" hinausblicken kann.


2.

Die Philosophen der Formationsperiode des Kapitals hatten genau dies im Blick, als sie die Essenz des Warensystems in seiner embryonalen Gestalt in den Rang einer philosophischen Wahrheit erhoben: Alle verfolgen ihre privaten Belange und herauskommt, was niemand gewollt hat, das allerdings gleichsam durch Zauberhand - sich stets als das Beste für die Gesellschaft erweist. In diesem Zusammenhang sei etwa an die göttliche Vorsehung Vicos erinnert, an die eher profane und nüchterne Ansicht der Bienenfabel Mandevilles (private vices, public benefits), an den klassischen Topos der invisible hand Adam Smith' und schließlich und nicht zuletzt an die Hegelsche List der Vernunft, die sich der Handelnden als eines Werkzeugs für ihre höheren Zwecke bedient. So sagt Hegel, der seinen Smith wohl studiert hat, "dass in der Weltgeschichte durch die Handlungen der Menschen noch etwas anderes überhaupt herauskomme, als sie bezwecken und erreichen, als sie unmittelbar wissen und wollen; sie vollbringen ihr Interesse, aber es wird noch ein Ferneres damit zustande gebracht, das auch innerlich darin liegt, aber das nicht in ihrem Bewusstsein und in ihrer Absicht lag." (G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12, Suhrkamp 1986, S. 42f.)


3.

Nun hatte, bevor das Kapital sich der Produktionssphäre zu bemächtigen wusste, diese Auffassung des Warenverkehrs das bornierte Streben der Subjekte führt zum Wohle der Gesamtheit - durchaus einiges für sich. Zitiert sei hier nur die berühmte Stelle aus dem Opus magnum des Altmeisters Smith:

"So grob und derb beispielsweise der Wollrock des Tagelöhners auch aussehen mag, er ist das Produkt der gemeinsamen Arbeit einer Vielzahl von Handwerkern. Schäfer, Wollsortierer, Wollkämmer oder Krempler, Färber, Hechler, Spinner, Weber, Walker, Zurichter und viele andere müssen alle ihre verschiedenen Fertigkeiten vereinen, um auch nur dieses einfache Produkt fertig zu stellen. Wie viele Händler und Fuhrleute müssen sich ferner damit befassen, um das Material von einigen Handwerkern zu anderen, die häufig in entfernten Landesteilen leben, zu transportieren! Wie viel Handel und Schifffahrt sind insbesondere notwendig - neben den vielen Schiffbauern, Seeleuten, Segelmachern und Seilern, die hierzu beschäftigt werden müssen - um die meist aus allen Ecken und Enden der Welt stammenden Färbermittel zusammenzuholen! Welche vielfältigen Arbeiten sind außerdem zur Produktion der Werkzeuge der geringsten dieser Handwerker notwendig! Von solchen komplizierten Maschinen wie dem Segelschiff der Walkmühle oder gar dem Webstuhl soll überhaupt nicht geredet werden." (A. Smith, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen, Akademie-Verlag 1963, Bd. 1, S. 17f.)

Smith, der an anderer Stelle den Menschen kurzerhand als "tauschendes Wesen" begreift und daher den Austausch voraussetzt, beschreibt hier ein Kooperieren ohne Koordinieren, das allen zum Vorteil gereicht, eben weil, und dies sei nur nebenhin erwähnt, über ein kybernetisches feedback - den Preismechanismus - Bedarf und Output im Gleichgewicht sind oder zumindest zu einer Gleichgewichtslage tendieren, ohne dass hier - aufgrund der Primitivität dieses Vorgangs - weitere Implikationen zu gewärtigen sind. Wir sind in diesem Falle demnach mit einer Kooperation ohne bewusste Koordination konfrontiert, einem anarchischen Zusammenspiel, das jedoch dadurch gekennzeichnet ist, dass sich im Prinzip die Belange der Privateigentümer nicht widersprechen. Und dies, weil diese Art des Warensystems - auf Vorsintflutniveau - sich noch nicht am Tauschwert (G-W-G'), sondern vielmehr, so wie alle präkapitalistischen Gesellschaftssysteme, am Gebrauchswert der Dingwelt orientiert (W-G-W). Oder anders gesagt: Der Gebrauchswert ist Zweck, der Tauschwert ist Mittel. Zwar sind hier aufgrund des spontanen Charakters - Schwankungen vorprogrammiert, die aber sich stets unterhalb des Katastrophenniveaus des Raubtier-Beute-Schemas bewegen.


4.

Mit dem Vordringen des Kapitals in die Produktionssphäre ändert sich indessen die Lage diametral: Auch hier ist es zwar so, dass jeder Privateigentümer seine privaten Belange verfolgt und schließlich herauskommt, was keiner gewollt hat - doch dieses Mal ist es für die Gesamtheit fatal. Warum? Weil im Kapitalsystem zwar die Privatpersonen nach wie vor kooperieren - ohne bewusst zu koordinieren -, ihre Aktionen jedoch dem anthropologischen Grund der Produktion auf lange Sicht widersprechen. Denn aus dem Mittel, dem Tauschwert, wurde der Zweck, und aus dem Zweck, dem Gebrauchswert, wurde das Mittel. Oder anders formuliert: kapitalistische Produktion ist tauschwertorientiert, d.h. es geht hier immer nur um die Maximierung des Tauschwerts, des abstrakten Reichtums, also des Geldes, sei dies der Profit oder der Lohn (Profit- oder Lohnmaximierung). Dieser Drang zur Maximierung des Tauschwerts dynamisiert nun aber das Warensystem, und zwar dergestalt, dass sich, weil der Gebrauchswert als Mittel aufgrund der Maßlosigkeit des übergeordneten Zwecks (also der Tauschwertvermehrung) denaturiert, seiner Bestimmung entfremdet, d.h. in falsche Bahnen gelenkt wird, unvermeidlicherweise Resultate ergeben, die die tiefer liegenden Zwecke (den Gewinn des Lebensunterhalts in seiner physischen Dimension) ironischerweise durchkreuzen, so dass jedes Tun darauf hinauslaufen wird, dass sich auf lange Sicht infolge des modus operandi des kapitalistischen Warensystems (insbesondere der Produktion des relativen Mehrwerts) ein Zustand ergibt, der sich als verhängnisvoll für die Gesellschaft erweist. So müssen alle Kapitalentitäten, um überleben zu können, unentwegt "wachsen", welches Wachsen jedoch mit dem begrenzten Ressourcenbestand kollidiert. Und dies hat auf lange Sicht durchaus katastrophale ökologische Folgen. Die Entwaldung etwa des Amazonasgebiets bringt den daran beteiligten Firmen Profit, den lokalen Arbeitern Jobs, Brasilien Devisen und den Konsumenten in Übersee Edelhölzer, Soja als Futter, Agrokraftstoffe und Fleisch. Allein, vom Standpunkt der volonté générale der globalen Gesellschaft ist dies ein völliger Schwachsinn, weil es die Welt einer ihrer Lungen beraubt.

Oder aber, um nicht von der Kapitalkonkurrenz, die nie schläft, ausgestochen zu werden, wird allenthalben ein Extramehrwert durch die Anwendung der Wissenschaft in der Produktion produziert, eine Tendenz, die schlussendlich in die Automatisierung des Produktionsablaufs mündet und somit in den Kontrast zwischen dem Überfluss auf Seiten der Kapitalentitäten und den Mangel auf Seiten der Lohnarbeitskräfte, die sich durch diesen Prozess für immer freigesetzt sehen.

Der klassische Fall jedoch ist die kapitalistische Krise: Aufgrund der Produktion des relativen Mehrwerts produziert das System zugleich einen Mangel an finalem Konsum, welcher klassischerweise durch ein überproportionales Wachstum der Abteilung I, des Produktionsmittelsektors, wettgemacht wird - bis zu dem Punkt, wo die production pour la production aufgrund des spekulativen Charakters der Nachfrage nach Maschinen und Rohstoff sich in einer Krise entlädt. Oder aber, wenn, wie zur Zeit, aufgrund der vertikalen Verflechtung die Hypertrophierung des Produktionsmittelsektors immer unwahrscheinlicher wird, so kann als Abhilfe nur - sobald der steuerbasierte Konsum infolge der Renaissance des Manchestertums zum großen Teil wegfällt - die Verschuldung des Staates sowie die der privaten Haushalte dienen - freilich nur bis zu dem Punkt, wo die Schulden nicht mehr rückzahlbar sind, und dann folgt die Krise.


5.

Das alles hat vor langer Zeit schon Friedrich Engels auf klassische Art formuliert: "Denn was jeder einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen." (F. Engels, Brief an J. Bloch vom 21./22.9.1890, in: MEW 37, S. 463f.)

Es wäre daher an der Zeit, das Privateigentum mit seiner Planlosigkeit durch das Gemeineigentum und die Planung auf Computerniveau zu ersetzen, um so den letzten Schritt ans dem geistigen Tierreich in die eigentliche Geschichte, die bewusst gemachte Geschichte, zu machen. Allein, auch wenn die objektiven Voraussetzungen dafür schon längst alle da sind, es fehlt das Bewusstsein, dass die bürgerliche Gesellschaft unwirklich ist. Unwirklich nämlich, weil sie vor unseren Augen dabei ist, aller Notwendigkeit verlustig zu gehen.

*

Grob geschnitzt

von Franz Schandl

In seinem neuen Band "Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält" geht Richard Sennett davon aus, dass Kooperation und Konkurrenz austariert werden müssen.


Ehrlich gesagt, man erwartet ein anderes Buch. Es wird nicht geboten, was der Titel verspricht. Wenn überhaupt beschreibt Richard Sennett mehr die technischen Aspekte der Kooperation als deren Struktur und Geschichte. Kaum etwas lesen wir über den Zusammenhang von Koordination und Kooperation, von Vorhaben und Ergebnis, von Plan und Erfüllung, von Hierarchie und Ablauf, von Allokation und Verwertung, Arbeitsteilung und Kommando, Freiwilligkeit und Disziplin. Rein gar nichts finden wir zu Netzwerk oder Synergie.

Sennetts Zugang ist trotz des Umfangs von 400 Seiten ausgesprochen selektiv, ja zufällig. Was ihm auffällt, wird zum Fall, was nicht, nicht. Das Feld wäre weit, doch der Autor macht es eng. Richard Sennett wird den umfassenden Implikationen der Kooperation in keiner Weise gerecht. Sein positiv aufgeladener Handwerks-Begriff idealisiert bloß bestimmte Seiten der Werkstatt. Es entsteht der Eindruck, als sei Kooperation als natürliche Entfaltung des Menschseins zu verstehen, quasi originär. Der Kapitalismus, den Sennett nicht mag, ist höchstens als Gespenst im Hintergrund vorhanden, eigentlich spielt er in der vorliegenden Untersuchung keine Rolle.

Viel Wissen türmt sich auf, es verfestigt sich allerdings nicht zu einer innovativen Analyse. Man hat das Gefühl, fast alles anderswo schon fundierter präsentiert bekommen zu haben. Sennett plaudert viel. Womit nichts gegen eingestreute Geschichten in wissenschaftlichen Texten zu sagen ist, doch wenn Sennett loslegt, hört er nicht mehr auf. Er beginnt zu schwätzen, er illustriert nicht nur, er gleitet ab und verläuft sich nicht selten in irgendwelchen Nebensächlichkeiten. Sprungartig führt der Weg vom alten Konflikt zwischen Lassalleanern und Marxisten über die amerikanische Tea Party zu den Versäumnissen der britischen Labour Party nach den Unterhauswahlen 2010. (S. 69ff.) Da lesen wir unzählige Seiten über die Konflikte zwischen koreanischen Ladenbesitzern und ihren lateinamerikanischen Arbeitskräften in New York (S. 307ff.), über Beratungsgespräche oder Jobvermittlungen u.v.m. Des öfteren schleicht sich die Frage ein: Warum erzählt er dieses und nicht jenes?


Von den Genen...

Was ist eigentlich Zusammenarbeit? "Kooperation ist in unseren Genen angelegt" (S. 9f.), behauptet Sennett. Zwanzig Seiten später heißt es jedoch: "Kooperation ist eine mühsam erworbene und keine gedankenlos erlebte Erfahrung." (S. 28) Also was nun? Die Begriffsbildung ist durchgehend schlampig. "Kooperation lässt sich nüchtern definieren als Austausch, von dem alle Beteiligten profitieren" (S. 17), schreibt er. Und: "Mit 'Austausch' ist hier die Erfahrung des Gebens und Nehmens bei allen Tieren gemeint." (S. 103) Doch der beständige Stoffwechsel ist nicht einfach als Austausch zu fassen. Der Tausch ist eine spezifische historische und nicht überhistorische Form der Transaktion. Jene ist im Tierreich absolut nicht gegeben und auch im Menschenreich nicht stets die Regel, einzig in den kommerziell kodifizierten Geschäften obligat.

Weswegen wird jegliche Zusammenarbeit sogleich in die Muster der Ökonomie gepresst und deren scheinbare Axiome zur Beschreibung herangezogen? Warum lässt sich das Etwas-Haben nur als Profit charakterisieren und das gemeinsame Werken bloß als do ut des? Das ist nicht zwingend. Wenn man von etwas etwas hat, hat man noch keinen Profit, sondern allenfalls einen Nutzen. Kooperation kann den Tausch beinhalten oder bezwecken und sie kann auch Profit hervorbringen, aber sie ist nicht Austausch und Profit. Das sollte man nicht durcheinander bringen. Wir haben es hier nicht mit einer nüchternen Definition zu tun, sondern mit schwer ideologischem Vokabular. Kooperation ist übrigens auch keine "Grundhaltung" (S. 15), wie es gleich eingangs heißt.

Richard Sennett klärt seine Begriffe nicht, sondern setzt sie gleich dem gesunden Menschenverstand als gegeben voraus. Skepsis gegenüber der Sprache ist seine Sache nicht, vieles ist terminologisch grob geschnitzt. Er verwechselt etwa den Egoismus schlichtweg mit dem Individualismus, nur so kann er festhalten, "dass Kooperation heute gegenüber dem Individualismus nicht viel Gewicht auf die Waage zu bringen vermag." (S. 256, vgl. auch S. 374) Detto wird Konkurrenz (über die man in diesem Zusammenhang auch mehr hätte schreiben können) unmittelbar als Gegnerschaft dechiffriert. Indes, nicht jede Aversion mündet in Konkurrenz und nicht jede Konkurrenz rührt aus einer Aversion. Im Gegenteil, viele Konkurrenzverhältnisse müssen die Aversion erst als Form entwickeln, da sie als vorgängiges Motiv gar nicht vorhanden ist. So etwa in der Konkurrenz um ein und denselben Arbeitsplatz. Feindschaft ist ein konstitutionelles wie konventionelles Produkt der Struktur. Wir sind nicht Konkurrenten, weil wir Gegner sind, sondern wir werden zu Gegnern durch die Konkurrenz.

Termini wie "soziale Insekten" (S. 99) oder "natürliche Kooperation" (S. 103) sind äußerst fragwürdig. Sie konstruieren doch sehr einfache Vergleiche und saloppe Unterstellungen. Die ständigen Ausflüge ins Tierreich sind überhaupt jenseitig: "Die Nazis kannten keine persönliche Scham, die das Tier in ihnen hätte im Zaum halten können" (S. 165), schreibt Sennett. Von "Naziwölfen" (S. 133) ist gar die Rede. Warum müssen immer die armen Tiere für die Nazis herhalten? Lässt sich damit was erklären? Ist es nicht äußerst bequem, die menschliche Destruktivität im Tierreich zu verorten? Warum Wölfe beleidigen? Was immer Wölfe so anstellen, sie betreiben keine Ausrottungspolitik und sie bauen keine Vernichtungslager. Hilft die Unterscheidung in unverschämte Nazis und verschämte Nichtnazis irgendwo weiter? Hält uns primär die Scham davon ab, Nazis zu werden? Geht es in ihr wirklich um die Bändigung tierischer Aggressivität? Ist mit Aggression tatsächlich korrekt benannt, was wir bei Tieren als grausam empfinden? Sätze wie "Das genetisch festgelegte soziale Wissen dieser Insekten ist sehr unvollständig" (S. 99) machen einen ziemlich ratlos, ebenso: "Als soziale Tiere sind wir zu einer tieferen Kooperation fähig." (S. 374)


...zu den Bienen

Kooperation ist durchdrungen von der Reflexion und sie denkt sich vom Ergebnis her. Sie behauptet zumindest zu wissen, was sie will und sie will es gemeinsam bewerkstelligen. Konstruktives Verhalten im Tierreich ist hingegen Folge existenzieller Instinkte und nicht Konsequenz überlegter Kooperation. Da Sennett ausgerechnet die Biene bemüht (S. 98), bemühen wir Karl Marx, der das ebenfalls getan hat: "Eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister", schreibt dieser im Kapital: "Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss." (MEW 23:193)

Doch auch Sennett weiß: "Bienen beschließen nicht zu tanzen - der Drang danach liegt vielmehr in ihren Genen." (S. 347) Eben. Tiere verhalten sich zueinander weder sozial noch asozial. Was uns als sozial erscheint, ist lediglich eine Projektion, die menschliche Verhältnisse auf das Tierreich überträgt. Aus einer Betrachtung wird eine Voraussetzung, die dann zur Natur verklärt und somit jenseits der Kritik angesiedelt wird. Gegen die artenübergreifende Definition der Kooperation gilt es entschieden Einspruch einzulegen.

Nur Menschen verfügen über die Organisation der Organe, so gesehen ist der Mensch auch mehr als ein soziales Tier. Kooperation ist jenseits instinktiver Äußerungen, selbst wenn jene bei diesen Vorlagen findet. Jede Operation, das sagt schon das Wort, führt doch einen Plan aus oder hat zumindest ein Vorhaben in sich, von der Chirurgie bis zur Mathematik, von der Logistik bis zum Militär. Kooperation ist von strategischer Anlage gezeichnet. Keine Operation ohne Operationalisierung! Warum sollte das ausgerechnet für die Ko-Operation nicht gelten?

Wenn wir Kooperation historisch betrachten, dann ist sie eine ganz besondere Kombination menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten. Kooperation ist Ausdruck gesellschaftlicher Zwecke und Zwänge, nicht a priori angelegt und als natürliche Entfaltung der Evolution vorgegeben. Kooperation ist zusammenhängende Praxis, die nicht nur objektiven Notwendigkeiten folgt, sondern diese auch umfassend interpretiert und strukturiert. Unter ihr wäre mehr als eine rationelle Arbeitsteilung zu verstehen, denn diese kodifiziert Kooperation ja einseitig nach kommerziellen Kriterien. Aber groß geworden ist sie zweifellos unter den Bedingungen des Kapitalismus. So wäre gerade die immanente Rolle der Kooperation bei der Entwicklung von der Werkstatt über die Manufaktur zur Fabrik, vom Werkzeug zur Maschine, erwähnenswert.

Die Kooperation, wie wir sie heute kennen, ist allerdings die dienstbare Schwester der Konkurrenz. Kooperation ist nicht deren Gegenteil, sondern deren Bestandteil. Keine Konkurrenz könnte ohne Kooperation bestehen. Umgekehrt jedoch gilt das nicht. Kooperatives Handeln jenseits des kommerziellen Profits ist sehr wohl möglich. Die stoffliche und zwischenmenschliche Seite der Kooperation reicht über den schwer lastenden Aspekt der Verwertung, des Sich-verkaufen-Müssens, hinaus. Kooperation ist nicht reine Ökonomie, auch wenn sie in der industriellen und bürokratischen Arbeitsteilung primär als solche auftritt. Das wäre eigentlich der Punkt, wo man ansetzen könnte. Sennett hingegen geht davon aus, dass Kooperation und Konkurrenz lediglich austariert werden müssen. "Das beste Gleichgewicht zwischen Kooperation und Konkurrenz besteht in der Mitte des Spektrums." (S. 121) Ein Satz wie von einem Politiker. Kooperation ist also kein alternatives Modell, sondern bloß ein Modus, der aktuell zu wenig berücksichtigt wird.

Natürlich finden sich auch einige erhellende Stellen. Was Sennett über Sitzungen (S. 313ff.), über die Caritas als tätige Nächstenliebe (S. 352f.) oder den Kibbuz (S. 356f.) referiert, ist durchaus gehaltvoll. Interessant ist auch, dass unser Autor Kooperation gegen Solidarität in Stellung bringt. Das ist ein spannender Gedanke, freilich verwendet Sennett gerade mal die letzten drei Seiten des Buches dafür. Leider haben sich auch einige Faktenfehler und vor allem Wortwiederholungen eingeschlichen. Karl Kautsky wurde nicht in Wien, sondern in Prag geboren; und sieben Mal "heute" im Verlauf einer Seite (S. 182f.) ist doch etwas übertrieben. Lektorate und Übersetzung haben es unter gegebenen ökonomischen Bedingungen nicht leicht, eine ordentliche Zusammenarbeit zu bewerkstelligen.

Überzeugend ist die Lektüre selten, packend wird sie nie. So hat der Band eher den Charakter einer beliebigen essayistischen Rundreise als den einer kritischen Untersuchung. Manches mag anregend sein, aber insgesamt ist die Studie unausgegoren. Man hat das Gefühl, da fahre einer mit dem Schnellzug durch Zeit und Raum, dessen Orientierung sich aus einem Zufallsgenerator speist. Wir sind Zeugen eines labyrinthischen Laufs, der zwar einiges auskundschaftet, aber doch wenig Erkenntnis zu Tage fördert.

Mehr als die präzise These herrscht die abgetragene Phrase. Man spürt wenig Kraft, sowohl theoretisch als auch perspektivisch. Mangelnde Systematik ist das Mindeste, was man dem Band vorwerfen kann. Richard Sennett gehört zu den Autoren, die wissen, dass sich ihre Bücher nicht allzu schlecht verkaufen. Das ist zweifellos ein Nachteil. Es ist, wenn von produktiven Autoren gesprochen wird, nicht unbedingt ein Lob, wenn derlei gesagt werden kann.

Richard Sennett: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff, Hanser Verlag, Berlin 2012, 414 Seiten., gebunden, ca. 25,60 Euro.

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Immaterial World

Konkurrenz und Kooperation

von Stefan Meretz

"Die biologische Evolution wird keineswegs nur durch Konkurrenz und Egoismus vorangetrieben. Als ebenso wichtig im Kampf ums Dasein erweist sich die Kooperation der Individuen" - fasst Biologie-Professor Martin Nowak seine Erkenntnisse zwei Jahrzehnte währender Forschung zusammen (Spektrum der Wissenschaft 11/2012, S. 77). Der "Kampf ums Dasein" wird "keineswegs nur" konkurrenzförmig, sondern "ebenso" kooperativ betrieben - kann man die Verhältnisse in der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft besser illustrieren und gleichzeitig ontologisieren? Unglaublich, dieser "Fortschritt". Geschenkt.

Wie aber kann man das Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation angemessener fassen? Und wie verhält es sich beim heutigen Menschen?

Konkurrenz muss man sich leisten können. Aus der Sicht der gesamten Population verschwendet Konkurrenz Ressourcen. Dennoch gibt es Formen der innerartlichen Konkurrenz, die für die jeweilige Organisation der sozialen Struktur in der Population erforderlich und insofern auch im Sinne des Überlebens der Population funktional sind (etwa Kämpfe um Rangordnungen etc.). War das nun bei der Herausbildung des Homo sapiens genauso?

Bei der Herausbildung des Homo sapiens aus den homininen Vorformen war nicht die zwischenartliche Konkurrenz relevant, sondern das Überleben der Population innerhalb sich verändernder Umweltbedingungen. Soziale Organisationsformen, die auf hierarchischen Rangordnungen, Rudelführungen usw. basieren, sind im Vergleich zu kooperativen Formen nicht geeignet, das Überleben unter ungünstigen Umweltbedingungen zu gewährleisten. Stattdessen bildeten bereits die homininen Arten Frühformen der gegenständlichen und sozialen Herstellung ihrer Lebensbedingungen heraus, die auf der Kooperation der einzelnen Mitglieder des Sozialverbandes basierten. Im Unterschied zur Nutzung bloß vorgefundener Umweltbedingungen bedeutet die Herstellung eigener Lebensbedingungen ein höheres Maß an Absicherung vor sich ändernden Umwelten. Zudem können gegenständliche und dann mit der Sprache auch symbolische Erfahrungen überdauernd kumuliert und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden.

Ohne Kooperation ging gar nichts, Konkurrenz innerhalb der Population war existenzgefährdend. Ein beliebtes Thema liefert die Frage, warum der Neandertaler ausgestorben ist, während der Homo sapiens überlebte. Schließlich hätten doch beide Arten über annähernd die gleichen Fähigkeiten verfügt: ausgefeilte Formen der Kooperation, Herstellung gegenständlicher Mittel zur Überlebenssicherung (Werkzeuge, Waffen, Behausungen etc.), und auch mehr oder minder differenzierte Formen der Kommunikation standen beiden Arten zur Verfügung.

Die Antwort ist für den Begriff des "Menschen" zentral: Das Kooperationsniveau der Neandertaler war auf den jeweiligen lokalen Sozialverband begrenzt, während sich die Kooperation des Homo sapiens auf sehr viele (potenziell alle) Sozialverbände erstreckte. Dies weiß die Forschung heute, weil sie anhand der gefundenen gleichförmigen Artefakte nachweisen konnte, dass der Homo sapiens eine steinzeitliche "Werkzeugindustrie" etabliert hatte. Diese setzt eine sich über große Räume erstreckende Kooperation voraus. Was die Forschung nicht weiß - da ihr der Begriff fehlt - ist, dass diese alle lokalen Sozialverbände übergreifende Kooperation das wesentliche Merkmal der sich herausbildenden gesellschaftlichen Natur des Homo sapiens war und ist.

In einer Analogie könnte man es so sagen: Der Neandertaler verfolgte ein "proprietäres Modell", das allein auf die Ressourcen einer lokalen Gruppe angewiesen ist, während der Homo sapiens das "Open-Source-Modell" der übergreifenden gesamtgesellschaftlichen Kooperation verfolgte und somit auf wesentlich umfangreichere Ressourcen (v.a. Kenntnisse, Erfindungen, Techniken usw.) zurückgreifen konnte. Als das Klima echt mies war (Eiszeit), musste der Neandertaler gehen, während sich der Homo sapiens über die gesamte Erde ausbreitete. Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist also kein Zusatz, sondern konstitutives Merkmal der Natur des Menschen. Natur ist hierbei wörtlich gemeint: Jeder Mensch verfügt über die biotischen Potenzen, sich an der gesellschaftlichen Kooperation zu beteiligen, sich zu vergesellschaften.

Warum konnten sich dennoch "Konkurrenzverhältnisse" etablieren? Weil sich der Homo sapiens das irgendwann "leisten konnte", also mehr produzierte, als für das unmittelbare Überleben erforderlich war. Eine nichtproduzierende herrschende Klasse konnte sich etablieren. Basis von klassenförmig oder wie auch immer strukturierten Konkurrenzverhältnissen ist dabei stets die gesamtgesellschaftliche Kooperation. Konkurrenz und Kooperation bilden folglich keinen Gegensatz, sondern ein Verhältnis. Konkurrenz und Kooperation sind jedoch nicht gleichursprünglich, sondern Konkurrenz setzt Kooperation voraus, was umgekehrt nicht gilt.

Häufig wird "Kooperation statt Konkurrenz" gefordert. Doch Kooperation ist immer, ohne einen "elementaren Kommunismus als Rohstoff des Zusammenlebens" (Graeber, Schulden, S. 105) geht nichts. Konkurrenz steht Kooperation nicht gegenüber, sondern realisiert sie in einer bestimmten Weise. Konkurrenz ist eine Form der Kooperation, in der sich einige auf Kosten anderer durchsetzen. Ob die "Kosten" dabei existenziell sind (Nahrungsmangel etc.) oder nur den zweiten Platz im Wettkampf bedeuten, ist dabei zentral. Solange kapitalistische Konkurrenz auch für die zweiten bis x-ten Plätze im Konkurrenzkampf noch genügend Lebensmöglichkeiten bereitstellt, erscheint Konkurrenz nicht als Problem (wobei viele echte Verlierer_innen unsichtbar und sprachlos gemacht werden).

Die neoliberale Universalisierung der Konkurrenz erhöht die wechselseitig aufgebürdeten Kosten derart, dass viele Menschen dies nicht länger ertragen wollen. Sie entdecken etwa die Commons als eine soziale Form, Lebensmöglichkeiten herzustellen, die nicht auf Kosten anderer gehen - zumindest dem Wollen und der Tendenz nach. Kann das Open-Source-Modell der Commons das proprietäre Neandertaler-Modell des Kapitalismus aus-kooperieren?

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REZENSION

von Lorenz Glatz

Cecosesola: Auf dem Weg. Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela. Die Buchmacherei 2012, 168 Seiten, ca. 10 Euro

Cecosesola ist ein Genossenschaftsverband in der Region der Millionenstadt Barquesimeto in Venezuela. 1967 gegründet umfasst er heute über 50 Kooperativen mit 20.000 Mitgliedern, die vor allem in der Produktion von Nahrung, im Transportwesen und der Gesundheitsversorgung tätig sind und ein Viertel der Stadt in eigenen Wochenmärkten mit Lebensmitteln versorgen.

Die Organisation ist mit der Zeit schlicht jenseitig geworden: Keinerlei Hierarchie, man klärt alles in Versammlungen ohne Leitung und Tagesordnung. Am Ende wissen die Teilnehmer, wie sie im Einverständnis aller die Aufgaben angehen - "kollektives Gehirn" heißt das.

Die drei längsten Beiträge sind einfach "Ergebnis einer kollektiven Diskussion, mit der hunderte ArbeiterInnen ihren Arbeitsalltag analysieren und verändern". Man ist kein Modell; wie konkrete Menschen zu solidarischen Beziehungen finden, ist weder plan- noch kopierbar.

Es geht weniger um den Kampf mit der kapitalistisch-staatlichen Umwelt - dem sucht man wo geht auszuweichen. Es geht um Entwicklung und Ausdehnung autonomer Räume, die man sich schafft: physisch-materielle und geistig-psychische. Menschen haben die herrschende Gesellschaft in sich. Selbst-Änderung und die der äußeren Strukturen sind untrennbar. Mit Staat und Politik muss man rechnen, nicht sich mit ihnen einlassen. Auch wenn es jetzt gerade leichter ist. Man ist auf einem langen Weg. Den Ort, wo sich der mit Occupy und Revolten kreuzt, sucht John Holloway im Nachwort jedoch m.E. an der falschen Stelle.

Nicht bei Amazon. Umso lesenswerter. Und inspirierend.

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Vermutungen über Kampf

von Lorenz Glatz

Um 1980 hatte ich viel Kontakt mit dem langjährigen Arbeiterbetriebsratsobmann einer Firma des damaligen KP-Imperiums. In seiner kämpferischen Entschlossenheit und Uneigennützigkeit war er ein "harter Hund". Einen Genossen hat er mitten im Gespräch aus seinem Auto gejagt, weil der laut von einem guten Posten träumte, wenn die Partei einmal ans Ruder käme. Seine Vorstellung von Revolution hat auch nicht in die KP gepasst. Sie hat ihn dann auch als "Sektierer" rausgeworfen, als Betriebsrat losgeworden ist sie ihn aber nie.

Von allem, was er mit mir gesprochen hat, haben sich zwei Episoden in besonderer Weise in meinem Gedächtnis verhakt - weil sie verstörend quer zu seinen sonstigen Anschauungen gelegen sind:

Einmal hatte ihn ein Direktor dabei ertappt, wie er für einige Kollegen, die schon vor ein, zwei Stunden heimgegangen waren, nachträglich "ausgestochen" hatte. Das "verlängerte" deren bezahlte Arbeitszeit - und war ein aufgelegter Grund für die "Fristlose" (Entlassung) für den ungeliebten Betriebsrat. Der Direktor hat das "übersehen". - Ich hätte ein paar Gründe dafür parat gehabt und auch erwartet, nur den meines Mentors nicht: "Innerlich war der ja für uns".

Das Zweite war ein Gespräch über den Bürgerkrieg in Russland und den Sieg der Roten Garden. "Eigentlich" - sinnierte der Deserteur aus Stalingrad, der in Wien in der Illegalität des schwachen Widerstands als "Fisch ohne Wasser" überdauert hatte - "hätte man die auch erschießen müssen, weil: mit solchen Leuten kannst keine neue Gesellschaft machen".

Ein Klassenfeind bekommt Beißhemmung, ja handelt aus Sympathie gegen sein Klasseninteresse. Und: Die Helden der Revolution disqualifizieren sich durch Kampf und Sieg, also genau durch das, was sie zu Helden macht, dafür, das zu erreichen, was ihr Kampfziel war. Vor allem das Zweitere ging ans Eingemachte.


Vom Ursprung des Wortes

Wörter, die grundlegende Verhältnisse einer gesellschaftlichen Ordnung bezeichnen, werden häufig auf gewissermaßen benachbarte Verhalte übertragen. Zugleich werden diese nach jenen Verhältnissen umgestaltet. Mit Benennung und Umgestaltung ist es dabei wie mit der Henne und dem Ei. Ein Beispiel dafür ist "Arbeit", ein Wort, das nach dem Vorbild der knechtlich-unfreien Tätigkeit eines unversorgten Waisenkinds heute jedes einigermaßen ernsthafte Tun bezeichnen kann.

Ein anderes Beispiel ist "Kampf", ursprünglich die Bezeichnung dessen, was zwei Männer oder Heere sich und einander antun, wenn sie "in campo", zu deutsch: "im Felde" stehen. In dem der Ehre nämlich, wo Mann tötet oder stirbt, versklavt oder selber Sklave wird. Was hier mit Fremden, Feinden getan wurde, man sich mit ihnen antat, musste zu Hause tüchtig geübt werden - z.B. auf dem "campus" Martius, dem Marsfeld vor den Mauern Roms und auf ähnlichen Plätzen allüberall, wo der Umgang mit den Fremden an den Freunden geübt wurde und diese "Leibesübung" vielerorts als die wichtigste und ehrenvollste Beschäftigung heranwachsender freier Männer galt. Sie gab mit "Kampf" denn auch das sprachliche Bild ab für fast jede anstrengende Aktivität, mit der vor allem von anderen Menschen bereitete Schwierigkeiten zu überwinden waren. Meist in der Form von mehr oder minder geregelter Konkurrenz, von den Kinderspielen bis zum täglichen Umgang erwachsener Menschen miteinander.

Ähnlich übrigens verhält es sich mit "debattieren" (beim Fechten schlagen) und "diskutieren" (zerschlagen, zertrümmern; (eine Versammlung) auseinandertreiben), mit Wörtern, die Gewalt und Krieg in Gespräch und Erörterung gewissermaßen "hinein-erkennen" und diese so zu einem Machtkampf mit Sieg und Niederlage formatieren. Dieser Prozess läuft durch alle Gesellschaftsordnungen seit der Etablierung von Herrschaft ab und erreicht in der gegenwärtigen den bisherigen Höhepunkt.


Kampf frisst Menschlichkeit

Menschliche Kooperationsfähigkeit und -willigkeit beruht auf unserer Fähigkeit zu, ja unserem Ausgesetztsein für Empathie und Sympathie, für das Einfühlen in den und das Zuneigen zum andern, auf unserer Potenz und Aufgeschlossenheit, im andern unsresgleichen zu erleben und zu mögen. Es hat Jahrtausende von Zurichtung durch Herrschaft gebraucht, bis eine Formulierung wie "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf" für eine anthropologische Weisheit gelten konnte. Bis dahin war auch der "Grenzfall des Menschen" - der mir Fremde, der mir durch keine soziale Bindung Bekannte - zumindest doppeldeutig, er konnte Gast oder Feind (lat. hostis aus derselben Wurzel wie dt. Gast) werden. Nun aber ist jeder Mit-Mensch grundsätzlich nicht mehr als solcher, sondern als gefährlicher Wolf anzuerkennen.

Kampf ist wie Arbeit keine anthropologische Konstante, sondern historische Form spezifischer menschlicher Aktivität. Auf dem Grund der Geschichte des Kampfes liegt die Institution der Herrschaft. Kampf etabliert Herrschaft, stürzt sie, um eine neue zu errichten, sichert sie ab.

Kampf produziert Ermordete und Überlebende, Verlierer und Sieger, Unterdrückte und Herrscher. Kampf infiziert die Seele der Kämpfer mit Kälte und Wut. Die bringen sie heim vom Feld der Ehre. Sie fressen sich durch Empathie und Sympathie, entsichern die Menschen damit Stück um Stück - ob Loser oder Winner -, und mehren die Dyspathie, die in einem Wort zugleich schweres Leid und die Unfähigkeit, es zu empfinden, bedeutet.

Kampfmoral erfasst Schritt um Schritt auch Teil um Teil des friedlichen Alltags, der "ehrlichen Arbeit"; sie schafft die und dient den sich entwickelnden Prinzipien und Strukturen der Herrschaft. Diese sind von individueller Willkür unabhängig, sie binden auch die Herren. Neue Sieger übernehmen sie als Erbteil, dessen man sich nicht entschlagen kann, als Erbschuld von den besiegten Herren. Wo Herrschaft wirkt, ist Kampf unvermeidlich. Wo man kämpft, wird Herrschaft affirmiert.

In einem Moment des Showdowns sagt in der vielleicht bemerkenswertesten Szene der ersten Star-Wars-Trilogie der böse Imperator zur Lichtgestalt Luke Skywalker: Take your weapon! Strike me down with all your hatred, and your journey towards the Dark Side will be complete. (Nimm deine Waffe, strecke mich nieder mit all deinem Hass, und du hast deinen Weg zur Dunklen Seite der Macht beendet.) - Das Böse siegt auch im Sieg der Guten neu.


"Sünden" der Geschichte

"Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." So beginnt das erste Kapitel des "Manifests der Kommunistischen Partei". Auch zeitgenössische, bürgerliche Historiker wie Guizot und Mignet haben Ähnliches formuliert. Und dass Gewalt der "Geburtshelfer der Geschichte" sei, ist ein weit über marxistische Kreise hinaus gern verwendetes Diktum, das immer Marx zugeschrieben wird, der wörtlich vom "Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht", spricht (MEW 23, S. 779). Dass die Gewalt hier gegen das grammatische und das natürliche Geschlecht der allermeisten GeburtshelferInnen maskulin personifiziert wird, passt wohl gut zu Vorgang und Ergebnis der geschichtlichen Umwälzungen. Die geschriebene Geschichte ist durch alle Gesellschaftsformen hindurch eine der patriarchalen Dominanz.

Mythen unserer Weltgegend erzählen den Ursprung dieser Durchsetzungsform unter den Menschen noch als sündhaften Brudermord, z.B. Seths an Osiris, Kains an Abel oder des Romulus an Remus. In der liberalen und sozialistischen Geschichtsschreibung aber gelten Kampf und Erkämpftes seit gut zweihundert Jahren nicht nur nicht als Urverbrechen, sondern grosso modo als der Gang des Fortschritts und der Befreiung. Inzwischen werden fast alle Kriege nicht nur der "hochentwickelten" Länder ausschließlich für Freiheit und Fortschritt, Durchsetzung der Menschenrechte, als Revolutionen oder Unterstützung von Revolutionen geführt. Diese selbst haben ihren Platz im Zentrum dieser Sicht von Geschichte. Auch die sozialistische, die das Ende aller sozialen Unterdrückung, Gewalt und Herrschaft, die wahre Verwirklichung von liberté, egalité, fraternité als ihr Ziel propagiert.

Der Weg des Kampfs führt aber zu dem ihm eingeschriebenen Ziel - zur Herrschaft in immer wieder neuen Formen. Die Vorstellung, dass Kampf am Ende seiner historischen Entwicklung die grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse, deren Teil er ist, abschaffen könnte, führt am Ende in die genannte Aporie, dass es zuletzt der Kampf für die neue Welt ist, der die Kämpfer traumatisiert, schädigt, ja unfähig macht für das neue Leben.

Der Mensch ist nicht einfach ein animal rationale. Unser Leben, unsere Erkenntnis und unser Handeln sind mitgeprägt von Begehren, Lust und Leid unseres Lebenslaufes, nicht allein, nicht einmal überwiegend von dem, was wir zu Lebzeiten ein- und ausrichten, sondern ganz wesentlich von den zu Sitten, Gewohnheiten und Einrichtungen geronnenen Lernprozessen, Erfahrungen, Erlebnissen, Kämpfen und Traumata früherer Generationen, von überkommenen über- und unpersönlichen Strukturen und davon, wie uns das alles zugerichtet hat. Schlimmer jedenfalls, als wir es zu erinnern wagen. Die "Sünden" der Geschichte wirken wahrscheinlich weit länger als "bis ins dritte und vierte Glied", wie es in der Bibel heißt. In uns wirken Tradition und Traumata von Jahrtausenden.


Kampf und Kooperation

Keineswegs jedoch ist jeder Streit schon ein Kampf im dargelegten Sinne des Wortes. Nicht einmal jede Gewaltanwendung. Die Individuen und ihre Gruppen sind nicht kongruent. Gesellschaft, Gemeinschaft ist das, was "gemein gemacht", kommuniziert, in einem Prozess der Auseinandersetzung als gemeinsam akzeptiert und behandelt worden ist und laufend wird. Sie stellt sich mit jedem solchen Schritt und Akt auf Neue her. Wo dieser Prozess zwischen einzelnen oder zwischen Gruppen aktuell über Gegensätzlichkeiten und Streitigkeiten führt, kann er dank Empathie und Sympathie in Versöhnung und Einigkeit münden, auf sie hingeführt werden. Wäre das nicht der grundlegende Vorgang, gäbe es keine Kooperation, könnte die Menschheit nicht bestehen.

Kampf auf Sieg und Niederlage, gar: "the winner takes it all" ist "nach außen" Krieg konkurrierender Herrschaften und "nach innen" - in Grenzen also, wo die Herrschaftsfrage geregelt ist - Politik (auch in den freiesten Demokratien).

Diese beiden Vorgangsweisen, Einigung und Kampf, liegen allerdings nicht auf einer Ebene, sind keine Alternativen. Der Weg der Einigung und Kooperation ist die Basis menschlicher Gesellschaftlichkeit überhaupt. Auch die Institution von Herrschaft und der Kampf als wesentliche Form ihrer Durchsetzung und Sicherung beruht auf jener Kooperation und Einigung. Sie ist eine spezifische, gewaltsame, grundsätzlich instabile, rücksichtslose und konfliktive Formung, Beschränkung, Zersplitterung und zugleich doch eine effektive Kanalisierung unserer Kooperation. Herrschaft und Kampf haben sich - angetrieben von den durch sie aufgerissenen Widersprüchen in der Gesellschaft - zu immer neuen und weiter entwickelten Varianten gewandelt. Sie haben dabei ganz wesentlich das geprägt, was heute als Fortschritt geläufige Anschauung ist und angebetet wird - und nunmehr dabei ist, sich als drohende Menschheitskatastrophe zu entpuppen.


Eine Lebensweise kann nur verlernt werden

Die wesentliche Sicherung der Herrschaft sind die Menschen, die sich in ihr eingerichtet, wenigstens mit ihr in alltäglicher Praxis abgefunden haben. In ihrer aktuellen, weitgehend depersonalisierten und ungemein flexiblen Form ist sie eine Lebensweise, die wir buchstäblich ab ovo, vom Mutterleib an gelernt haben. Sie steckt in allem, in unserem Denken, im Fühlen, in unseren Wünschen, Erwartungen und selbst in unseren Vorstellungen davon, wie wir sie ändern könnten - sie ist uns in "Fleisch und Blut", "in Leib und Seele" übergegangen.

Was in der Gesellschaft also von Zeit zu Zeit massenhaft als Unterdrückung und Unrecht bewusst wird und empört, ist daher meist und zunächst immer nicht die Grundstruktur der Herrschaft, sondern das Versagen ihrer aktuellen Form. Für deren Re-Formierung, so zahm oder radikal sie auch auftreten mag, legt einem die allgemein akzeptierte Konkurrenz-Verfassung der Gesellschaft das Mittel in die Hand: politischen Kampf, sei es in staatlich regulierten Bahnen, sei es eskaliert zu (Bürger-)Krieg und Umsturz. Bloß: Eine "neue Gesellschaft" jenseits der Katastrophen von Kampf und Herrschaft kommt davon so wenig, wie man mit Wasser Feuer macht. Auch hier gilt Einsteins gern zitierter Spruch: "Probleme kann man niemals durch die gleiche Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind."

Dem Kampf zu entkommen ist in der aktuellen kapitalistischen Gesellschaft, die Konkurrenz auch in ihrem Inneren nicht bloß zu einer unausweichlichen Naturerscheinung, sondern zu einem heiligen Prinzip erklärt hat, schier unmöglich. Kampf und Konkurrenz und Freundschaften, die auf gemeinsamen Feinden beruhen, gehören zu den Essentials dessen, was eins zu lernen hat und lernt in dieser Lebensweise - und was den Weg heraus aus ihr so schwierig macht. Nur das Personal der Herrschaft kann gestürzt werden, sie selber ist ein Phönix, sie ersteht neu aus dem Flammen des Kampfs. Eine Lebensweise kann nur verlernt werden, indem eine neue erlebt wird.

Der soziale Raum enthält die Ordnung der sozialen Reproduktionsverhältnisse, also die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und den Altersstufen und die Organisation der Familie, und die Ordnung der Produktionsverhältnisse, das heißt die Aufteilung und Organisation der Arbeit und die hierarchisierten sozialen Funktionen (H. Lefebrve). Wenn die Menschen in ihm von diesen Ordnungen einigermaßen lückenlos kontrolliert werden und ihrer Logik verfallen sind, lasst alle Hoffnung fahren. Wahrscheinlich aber kommt ein solcher Eindruck bei manchen oppositionell gesinnten Leuten vor allem daher, dass sie in diesem Raum still sitzen und über die Blödheit der Leute räsonnieren oder im Kreis laufen und Kampf spielen, weil sie sonst ganz verzweifeln müssten.

Wir bewegen uns in einer fundamentalen Krise unserer Lebensweise. Die herrschaftliche Verwaltung wird brutaler, aber unsicherer. Wer Gewalt leidet, kann zu weniger Akzeptanz derselben neigen. - Wer also aus den Verhältnissen raus will, versammle sich an deren Rissen, nicht dort, wo sie intakt sind, versuche die Spalten zu erweitern, statt über ihre Kleinheit zu jammern. Und wer die Macht und Logik der gesellschaftlichen Ordnungsmächte kennt, lasse sich tunlichst nicht auf deren Umgang ein: den Kampf und die Gewalt; bewege sich dort, wo die Hürden jeweils übersteigbar sind, wo kein Bedarf nach Helden ist. Die legendäre soziale Bewegung, die das wirklich Alte im Sturmschritt beseitigt, gibt es nicht, höchstens eine, auf der die nächste Form von Herrschaft reitet.

Wir brauchen Zeit und Raum. Herrschaft und Kampf haben uns fünftausend Jahre voraus. Sie stecken in uns und zwischen uns und sind nicht auf die Schnelle abzulegen. Sie sind Stück um Stück abzuwickeln mit den Fähigkeiten, mit denen wir sie bis jetzt aufrecht halten: mit Empathie, Sympathie und unserer darauf fußenden Kooperation. Sie sind neu, der Menschheit würdig zu gestalten. Ohne Kampf und Konkurrenz.

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REZENSION

von Lorenz Glatz

Andreas Exner, Brigitte Kratzwald: Solidarische Ökonomie & Commons, Mandelbaum Verlag 2012, Reihe kritik&utopie INTRO, 138 Seiten, ca. 10 Euro

Ein gelungener Band dieser Reihe von Einführungen in einschlägige Themen. Zwei gute und wichtige Sätze gleich auf den ersten Seiten: "Auch die Gedanken in diesem Buch sind ein Commons, das nicht einer Person zuordenbar ist." Und: "Bestehen Commons und Solidarische Ökonomien innerhalb des Marktsystems, so sind sie immer zwiespältig. Sie versorgen das Kapital mit kostenlosen Ressourcen, bilden aber auch Räume der Autonomie, in denen Widerstand und Alternativen entstehen können." Dass für dieses Entstehen jedoch sozialer Kampf, speziell Klassenkampf die entscheidende emanzipatorische Rolle spielt, wie in langer Tradition so auch in diesem Text angenommen wird, bezweifle ich mehr denn je (siehe den Artikel links). Diese Sicht verdunkelt m.E. immer wieder die sonst so klaren Darlegungen und lässt die Sicht innerer Entwicklung und Ausgestaltung von Autonomie ein wenig zu kurz geraten.

Insbesondere aber scheint mir die Zusammenführung der beiden Diskurse über Solidarische Ökonomie und Commons umsichtig angelegt und in gelingender Weise durchgeführt. Die knappe Geschichte der Commons ist einer der Glanzpunkte. Auch die Beleuchtung der gegenwärtigen Entwicklung mit in der Kürze beeindruckend reicher und oft vergleichender Darstellung zeigt die Kompetenz der VerfasserInnen.

Abschließend hervorgehoben sei noch die für ein solches "Intro" sehr passende Gliederung mit Resümés und knappen Angaben fürs Weiterlesen.

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Aneinandergekettet

von Friederike Habermann

Eine Analyse der Ursprünge von Konkurrenz und Rassismus entlarvt die westliche Freiheit als Mythos. Der Wahn, die westliche Welt sei die höchste Stufe kultureller Entwicklung, übt weltweit subtile und offene Gewalt aus.


"Wir waren kaum vor Anker gegangen in Royal Bay, als eine große Anzahl Eingeborener von ihren Kanus auf das Schiff stiegen und Kakaobohnen etc. mit sich brachten; diesen schienen sie viel Wert beizumessen", notiert Kapitän James Cook im April 1769 in sein Tagebuch, als er zum ersten Mal in Tahiti landet. Doch nicht nur diese "Zeichen von Freundschaft und Unterwerfung" beschäftigen ihn. Er ersinnt sofort fünf Regeln für seine Mannschaft, um individuellen Handel auszuschließen, da dies "unweigerlich den Wert der Güter senken würde". Und am nächsten Tag fügt er hinzu, wie schwer es sei, die Inselbewohner, die "wie Affen klettern", vom "Stehlen" abzuhalten - "darin sind sie erstaunliche Experten".

Cook begriff nicht, so der postkoloniale Theoretiker Stuart Hall, dass der Austausch von Geschenken Teil von Praktiken der Gegenseitigkeit war. Da sie kein Wirtschaftssystem in ihrem Sinn erkannten, nahmen die Europäer an, dass die Indigenen überhaupt kein System hätten und Besuchern, deren natürliche Überlegenheit sie augenblicklich erkennten, Geschenke darböten - und dass sie umgekehrt klauen würden.

"Die Entdeckungen, welche unsere europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben", so formuliert 1789 Friedrich Schiller in seiner Antrittsrede als Professor für Geschichte in Jena, "geben uns ein ebenso lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herumstehen [...] Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben!"

1776 schreibt Adam Smith in seinem Buch "Wohlstand der Nationen", das als Fundament der kapitalistischen Gesellschaft gilt, über die Errichtung der "blühenden" Niederlassungen in Amerika und notiert, wie leicht die "elenden und hilflosen Eingeborenen" bei der Landnahme vertrieben werden konnten. In Wirklichkeit wiesen diese Ethnien sehr differenzierte und hochentwickelte Sozialstrukturen auf, seien es die Hochkulturen der Mayas und der Azteken in Mexiko oder die der Inkas in Peru. Im Ingenieurwesen leisteten sie Außergewöhnliches: Ihre Tempel überragten alles, was es in Europa gab, und die Königstraße der Inkas überbrückte mehr als die größte Entfernung des Römischen Imperiums von York bis Jerusalem.

Adam Smith sieht die Entwicklung der Menschheit in vier Stadien: vom Jägervolk über die Hirtenvölker und die Agrargesellschaften bis hin zur Gewerbe- und Handelsgesellschaft, der am höchsten entwickelten Form. Dies entsprach der als "Great Chain of Being" (etwa "Leiter des Lebens") vorherrschenden Idee: dass es nur einen Weg zur Menschwerdung und zur Zivilisation gebe und dass alle Lebewesen und alle Gesellschaften auf derselben Skala als früh oder spät, tiefer oder höher stehend eingeordnet werden könnten. Obgleich diese Ansicht von vielen vertreten wurde, so war es doch Smith, der die Entwicklungsstufen explizit an den Produktionsweisen festmachte.

Ungefähr zur gleichen Zeit entwarfen "Naturhistoriker" mit der "Great Map of Mankind" eine "Große Weltkarte der Menschheit", die diese verschiedenen Epochen darstellte. Die hierdurch räumlich geordnete Zeit machte die Europäer zur Krönung der Geschichte. Die von Indigenen bewohnten Landstriche und Kontinente wurden als "leer" definiert, als existierten Indigene in einer permanent früheren Zeit, als lebten sie nicht in der Gegenwart. Damit verbunden war der Mythos des jungfräulichen Lands, das auf die männliche Eroberung wartete - auf die Befruchtung mit Geschichte und Vernunft. Die Europäer legitimierten ihre koloniale Besitzergreifung mit dem Argument, dass sich die "Wilden" als nicht eigentumsfähig zeigten.


Die "Great Chain of Success" - die Leiter des Erfolgs

"In deutschen Unternehmen macht sich ein neuer, totalitärer Anspruch breit: Gefordert ist der durch und durch transparente und stets maximal motivierte Hochleistungsmitarbeiter", so beschreibt Der Stern im August 2012 die Veränderungen von Lohnarbeit und gibt unter anderen folgendes Beispiel: In Deutschlands größtem Software-Konzern SAP soll ein Programm der Firmentochter "Successfactors" künftig die Leistung eines jeden der weltweit 60.000 Angestellten messen und in einer Matrix darstellen - auf der X-Achse die "Performance", auf der Y-Achse sein "Potenzial". "Folglich findet man in der rechten Spalte oben die Namen der 'Stars' und 'Emerging Stars', darunter die Namen der 'Experienced Professionals', in der Mitte die der 'Soliden'. Links werden die Beurteilungen nach unten immer miserabler - 'Needs Coaching', 'Questionable Fit' oder gar 'Councel Out'. Aussortieren."

So natürlich uns heute eine solche "Great Chain of Success", eine Karriereleiter als Anordnung von den Erfolgreichsten bis zu den Versagern, erscheinen mag: Konkurrenz war nicht immer zu einem Grundelement menschlicher Existenz erklärt worden. Hatte Adam Smith als geistiger Vater der liberalen Ökonomie die entscheidende Grundlage für die Entstehung des "Homo oeconomicus" gelegt, so kam es im 19. Jahrhundert zu einer Umdeutung rassistischer Stereotype in das Recht des Stärkeren. Der Philosoph und Soziologe Herbert Spencer legte dar, dass das Prinzip der natürlichen Auslese auch innerhalb einer Nation anzuwenden sei. Die hierauf beruhende Ideologie des Sozialdarwinismus - wonach sich auch in der Gesellschaft die Überlegenen durchsetzen - hatte mit der Theorie von Charles Darwin zwar nicht mehr direkt zu tun, doch der beiden zugrundeliegende Gedanke der "natürlichen Auslese" und nicht zuletzt der von Spencer stammende Ausdruck "Survival of the fittest" formten den Homo oeconomicus wesentlich weiter aus. Und damit unser Bild vom Menschsein.

Als zweiter Vater des Homo oeconomicus nach Adam Smith gilt Jeremy Bentham, ein wesentlicher Begründer des Utilitarismus. Er fasste Entscheidungen als das Abwägen zwischen Kosten und Nutzen auf. Bei diesem Abwägen, so Bentham, solle man aber nicht nur dem Auf und Ab auf dem eigenen Geldkonto folgen, sondern das jeweils größtmögliche Glück der gesamten Menschheit bedenken. Benthams größte Leidenschaft war das Rechtssystem. Letztlich suchte er in seinen Gesetzentwürfen die Antwort auf das Problem der Vermittlung zwischen dem "Homo oeconomicus" und dem "Homo legalis", dem verständigen Rechtssubjekt: wie nach den Regeln des Rechts Menschen regiert werden können, die gemäß der Theorie von Smith in ihren rationalen Entscheidungen nicht beeinflusst werden dürfen, da nur so die "unsichtbare Hand" des freien Markts walten könne.

Zugleich ist Bentham der Erfinder des Panoptikums: einer Gefängnisarchitektur, in welcher die Einzelzellen kreisförmig angeordnet sind, und zwar um einen Wachturm, von dem aus alle Zellen sichtbar sind, die Insassen aber nie wissen, wann sie beobachtet werden. Es reicht nicht mehr, aufzuspringen, wenn die Schritte und das Schlüsselgeklapper des Wärters sich nahen. Die Entlassung hängt davon ab, ob das Verhalten des Insassen 24 Stunden am Tag zur Zufriedenheit der Wächter ausfällt. Somit wird die ständige Selbstkontrolle aus dem eigenen Interesse heraus zur Pflicht. Hierin besteht die Magie des Panoptikums: Die Disziplinierung wird verinnerlicht.

Bentham selber bezeichnet das Panoptikum als Methode der Machterlangung "in einem bisher beispiellosen Ausmaß", als "ein großes und neues Regierungsinstrument". Aus den Disziplinen, die zu seiner Zeit an begrenzten Orten - etwa Gefängnissen, Schulen, Fabriken, Militärbaracken, Psychiatrien und auch in den Familien - ausgearbeitet worden waren, ein die Gesamtgesellschaft lückenlos durchdringendes Netzwerk zu machen, das war der Traum Benthams.

Für den französischen Philosophen Michel Foucault gilt diese Gefängnisform als Ausdruck einer Machttechnologie, die für moderne Gesellschaften insgesamt charakteristisch ist. Er prägt den Begriff "Gouvernementalität"; wenngleich die Interpretation, wonach in diesem Ausdruck Regieren (gouverner) und Denkweise (mentalité) bewusst miteinander verbunden werden, inzwischen umstritten ist, so verhilft sie nichtsdestotrotz zum besseren Verständnis: Die Regierungsweise tritt nicht als äußere Macht auf, sondern als Verinnerlichung von Ansprüchen. Heute bilden diese als "Selbstbestimmung" einen zentralen Produktionsfaktor.

Ausgangspunkt für ein solches Kontrollsystem ist die Begierde als Grundlage des Interesses, über die in "ja-sagender" Weise regiert werden soll. Wer will beispielsweise nicht schön und schlank sein? Die neoliberale Regierungskunst orientiert sich am Modell des sich selbst regulierenden Markts: Hier wird mit angeblichen Gleichgewichten argumentiert, denen es zu ihrem natürlichen Zustand zu verhelfen gilt. Es geht nicht länger darum, Praktiken in Hinblick auf ein moralisches Prinzip als gut oder schlecht zu beurteilen, sondern als wahr oder falsch; es entstand eine "neue Herrschaft der Wahrheit", nach der sich so gut wie alle freiwillig richten. Und doch ist es ein Irrtum, zu glauben, das Einhalten des Body-Mass-Index führe zu mehr Gesundheit - tatsächlich wird weniger krank, wer etwas darüber liegt. So wird auch diese angebliche Natürlichkeit erst hergestellt.

An die Stelle der Kennzeichen, die Standeszugehörigkeit und Privilegien sichtbar machten, tritt ein System von Normalitätsgraden. Diese wirken klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend. Alle streben nach dem Ideal der Normalität (Homogenisierung); zugleich werden ihre Unterschiede vermessen und beurteilt (Individualisierung). Doch ist es eine scheinbare Individualität, so individuell wie softe oder rockige Supersternchen vor dem unerbittlichen Dieter Bohlen - denn alles dient nur dem Erreichen desselben Ziels, dem Erfüllen derselben Norm: erfolgreich zu sein.


Trügerische Freiheit

Wir fühlen uns im demokratischen Westen als freie, souveräne Subjekte - doch diese Freiheit beruht auf der Disziplinierung von Körper und Seele. Freiheit wird hier zu einem unverzichtbaren Bestandteil von Regierung und nach Foucault unabdingbaren Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise. Diese subtile Form stelle nicht etwa eine verminderte, sondern eine ausgeweitete Ausübung von Macht, welche jeden Aspekt des täglichen Lebens umfasse, dar. Dabei sei die Verinnerlichung von Kontrolle begleitet von einem wachsenden "Demokratisierungsprozess", von Mechanismen, welche die Funktion haben, "ein Mehr an Freiheit durch ein Mehr an Kontrolle und Intervention einzuführen".

Hierfür konditioniere der Liberalismus die Individuen darauf, ihr Leben als Träger von Gefahren zu empfinden. Heute müssen in diesem Zusammenhang Verbrechen und Terror genannt werden, die umso furchterregender wirken, je mehr sie aus der Mitte der Gesellschaft erwachsen und unsichtbar erscheinen, wie im Ausdruck "Schläfer" kristallisiert: der ruhige und sympathische Student, der irgendwann als Terrorist zuschlägt. Aber auch die Angst davor, dick zu werden oder anderweitig vom Ideal des Normalen abzuweichen und dadurch beispielsweise bei einem Vorstellungsgespräch zu versagen, kann als Moment für das Funktionieren der Gesellschaft gelten. Foucault schreibt: "Überall sieht man diese Aufstachelung der Angst vor der Gefahr, die gewissermaßen die Bedingung, das psychologische und innere kulturelle Korrelat des Liberalismus ist. Es gibt keinen Liberalismus ohne die Kultur der Gefahr." Als weitere Konsequenz des Liberalismus sieht Foucault, in einer Formulierung von Ulrich Bröckling, einen "demokratisierten Panoptismus": An die Stelle des allsehenden Beobachters im Wachturm trete ein nicht-hierarchisches Modell gegenseitiger Sichtbarkeit, bei dem jeder zugleich Beobachter aller anderen und der von allen anderen Beobachtete sei. Ob wir über unserem Body-Mass-Index liegen oder unseren Beruf nicht "mit ganzem Herzen" ausüben und damit womöglich im Teamwork die Gruppeneffizienz nach unten ziehen: Auf den Verweis durch Mitmenschen, was von uns als "normal" erwartet wird, brauchen wir nicht lange zu warten. Normal sind immer noch die Eigenschaften des Homo oeconomicus.


Die "Great Chain of Cultures" - die Stufenleiter der Kulturen

Während Foucault zufolge dem Rassismus historisch die Aufgabe zukam, "die Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss" zu etablieren, scheinen heute, so urteilt Thomas Lemke, "das ökonomische Prinzip und der Begriff der Selbstbestimmung eine ähnliche Funktion zu erfüllen". Wurden früher bestimmte "Rassen" als "minderwertig" angesehen, wird nun innerhalb aller Menschen aussortiert. Das heißt nicht, dass es keinen Rassismus mehr gäbe. 500 Jahre nachdem Europäer und Europäerinnen begannen, sich über den Globus zu verteilen und Erdteile voller Reichtümer in unterentwickelte Länder zu verwandeln, gilt der umgekehrte Weg als Straftat - außer, die migrierte Person erweist sich als nützlich, zur Reichtumsvermehrung beizutragen.

Gleichzeitig wird der Abstand zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern immer größer, verbunden mit politischen Instabilitäten in den letzteren. Dies bewegte den Entwicklungstheoretiker Ulrich Menzel schon 2003 dazu, sich für einen neuen Kolonialismus auszusprechen. "Die neuen Begriffe lauten: 'Failed States', Quasistaaten, neue Terra incognita [...] die weißen Flecken auf der Landkarte nehmen zu." Ähnlich wie in der Kolonialzeit Indigenen abgesprochen wurde, ihr Land zu besitzen, weil sie es nicht bestellten, spricht Menzel erneut ehemaligen Kolonien ihr Existenzrecht ab und entwirft ein Sieben-Punkte-Szenario für Intervention, einschließlich militärischer, zum Aufbau von "liberalen Protektoraten". Damit werde "die Bundeswehr zur Konkurrenz der humanitären Hilfsorganisationen". Freiheit dient als Selbstkonzept und Instrument zur Verteidigung der westlichen Gesellschaften. Nicht zufällig war der Krieg gegen Afghanistan "Enduring Freedom" ("andauernde Freiheit") betitelt worden, und nicht zufällig rief Präsidentengattin Laura Bush am 17. November 2001 im Radio zu einem Krieg gegen den "Krieg der Taliban gegen die Frauen" auf - für diese Frauen bedeutete das erst einmal nichts anderes, als sich die folgenden Wochen frei entscheiden zu dürfen, ob das auf dem Boden liegende gelbe Ding ein Päckchen mit Erdnussbutter oder eine Schmetterlingsbombe war.

Judith Butler setzt sich mit den Fotos von afghanischen Frauen ohne Schleier auf der Titelseite der New York Times nach dem Krieg als Zeichen des US-amerikanischen Triumphs auseinander. Sie stellt einen Zusammenhang zu den Fotos der sexuellen Folterungen in Abu Ghraib her und fragt nach der gemeinsamen Vorannahme: Seien Feminismus und der Kampf für sexuelle Freiheiten in diesen Kontexten zu einem Zeichen des zivilisatorischen Fortschritts geworden, mit welchem die USA den angeblich rückständigen oder vormodernen islamischen "Anderen" missioniere? In ihrer Antwort problematisiert Butler das Zeitverständnis. Sie sieht "mehr als eine Zeit entlang räumlicher Linien" und fährt fort: "Hegemoniale Konzeptionen des Fortschritts definieren sich selbst über und gegen eine vormoderne Zeitlichkeit, die sie selbst produzieren zur eigenen Legitimation." Butler bezieht sich auf einen Artikel von Thomas Friedman in der New York Times, in welchem dieser proklamiert, der Islam habe die Moderne noch nicht erreicht, er sei in einer Art kindlichem Stadium kultureller Entwicklung verblieben. Hier sind sie wieder: Sowohl die Vorstellung einer Great Chain of Being, nur leicht verwandelt in eine Great Chain of Cultures und implizit mit westlicher Zivilisation an der Spitze, als auch die Great Map of Mankind, wonach nicht-westliche Kulturen in einer anachronistischen Zeit leben. Durch die Folterungen seien die Insassen in den irakischen Gefängnissen - unabhängig von der Vielfalt ihrer kulturellen Hintergründe - konstruiert worden als "das islamische Subjekt", das aufgrund seiner Rückschrittlichkeit angeblich mit sexueller Folter besonders leicht zu zerstören sei. Die US-amerikanische Armee dagegen halte sich, wie Butler es formuliert, ihrer eigenen homophoben und frauenfeindlichen Kultur zum Trotz für "sexuell fortschrittlicher", da sie Pornografie konsumiere.

Die Mexikanerin Bettina Cruz Velázquez berichtete auf ihrer Rundreise durch Europa im Frühjahr 2012, wie die Felder um ihr Dorf - durch die mexikanische Revolution von 1910 als unveräußerbare Allmenden erkämpft, jedoch seit dem Beginn der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA wieder privatisierbar - gerade den Windrädern eines Stromkonzerns weichen müssen. Gleichzeitig wird der Wald, dessen Früchte, insbesondere Pitayas, von ihnen geerntet wurden, ebenfalls dafür gerodet und das Meer, von dessen Fischen sie leben, mit Offshore-Anlagen vollgestellt. Das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt: Auch heute kommt es wie damals in Tahiti zur Nicht-Anerkennung anderer Lebensweisen und Verkennung anderer Wirtschaftsformen als "leerem Land". Und - trotz Pornografie und erneuerbaren Energien: Davor gefeit sind wir auch dort nicht, wo wir uns für progressiv halten.

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REZENSION

von Maria Wölflingseder

Bärbel Danneberg: Eiswege - Nach dem Suizid des Partners zurück ins Leben. Mit Totentanz-Bildern von Herwig Zens. Promedia Verlag 2012, 176 Seiten, ca. 17 Euro

Die Journalistin Bärbel Danneberg, seit 2003 in Pension, hat ein sehr persönliches Buch über den Tod geschrieben. Nach 23 gemeinsamen Jahren hat sich ihr Lebensgefährte Julius Mende 63-jährig sechs Tage nach der Diagnose Krebs das Leben genommen. Das war vor über fünf Jahren.

Der erste Teil, der von den sechs Tagen vorm Tod handelt, und der dritte, in dem es um Bärbels langen Weg zurück ins Leben geht, sind in der ersten Person geschrieben. Den zweiten Teil, in dem die unmittelbare Begegnung mit dem Tod, mit dem Verlust ihres Mannes, beschrieben wird, konnte sie nur in der - distanzierteren - dritten Person schreiben.

Im Vorwort heißt es: "Das Unsichtbare sichtbar machen und vom tödlichen Schweigen einer überlebensgierigen Gesellschaft zu befreien, die den Tod als schnell zu entsorgenden Störfall im Getriebe der unerbittlichen Unversehrtheit betrachtet, ist mir ein Anliegen. Ich habe meine persönlichen Erfahrungen mit Zitaten anderer Autorinnen und Autoren verknüpft, die zum Thema Tod, insbesondere zum Suizid, gearbeitet haben, um sichtbar zu machen, wie sehr die 'arrogante Fortschrittsideologie' (Jean Ziegler) 'das abendländische Kollektivbewusstsein durcheinander gebracht' hat."

Mit Julius haben Franz Schandl und ich nach der "Wende" und der Öffnung des KPÖ-Organs viele Jahre lang in der Redaktion der Zeitschrift Weg und Ziel zusammengearbeitet. Und die Streifzüge hat Julius in den Anfangsjahren in vielerlei Hinsicht unterstützt.

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Außer Konkurrenz

Über den Zusammenhang von Leistungsport und Markt

von Holger Schatz

Kapitalismus wird gerne als eine sportliche Veranstaltung begriffen, die den Wettbewerb um stetige Verbesserungen ankurbelt. Gerät ein Land, ein Unternehmen oder ein Vorhaben ins Hintertreffen, dann spornt die Diagnose, nicht gut genug gewesen zu sein, dazu an, es "besser" zu machen, mehr zu trainieren, härter als andere zu arbeiten oder einfach "kreativer" zu sein. Dieser gleichsam naturgesetzliche Zusammenhang von Anstrengung und Erfolg gehört zum Kern der Vorstellungen, die in Sport und Ökonomie vorherrschen und ganz offensichtlich eine Naturalisierung und damit Legitimierung von Konkurrenz bewirken. Dies allein schon deshalb, weil Konkurrenz durch diesen proklamierten Kausalzusammenhang als gesellschaftlich sinnvolles Organisationsprinzip erscheinen kann. Konkurrenz belebt das Geschäft, heißt es gefällig, führt zu Bestleistungen und Qualitätsprodukten.

Dabei gibt es im Sport und eben auch im Leistungssport Kriterien von "Erfolg", die sich logisch, aber auch zunehmend empirisch von betriebs- und volkswirtschaftlichen Kriterien unterscheiden, auch wenn freilich das besagte Credo vom "Besserwerden" einen Gleichklang suggeriert. Genährt wird diese Art von Alltagsideologie vor allem auch von der medialen Präsenz des Wettkampfsports und seiner vielfältigen Wirkung auf den sogenannten Breitensport.


Fit für die Konkurrenz

Hier wie dort, im Wettkampf und auf dem Markt, gewinnt nicht, wer ein bestimmtes von vorneherein bekanntes Ziel erreicht. Ob sich die eigene Anstrengung auszahlt, hängt vor allem davon ab, was andere tun oder getan haben. Die Fähigkeit, schnell zu laufen, hoch zu springen oder eben ein bestimmtes Produkt respektive eine bestimmte Dienstleistung in einer bestimmten Qualität und in einer bestimmten Zeit herstellen und anbieten zu können, garantiert im Wettkampf bzw. auf dem Markt noch keinen Erfolg. All diese konkret-sinnlichen Eigenschaften sind allenfalls notwendige Bedingungen des Erfolgs. Hinreichend sind diese Eigenschaften nur, wenn sie im Vergleich zur Konkurrenz im entscheidenden Moment in bessere Ergebnisse umgesetzt werden können. Während dies im Wettkampf unumstößliche Geltung besitzt - es gewinnt immer der Schnellste -, ist auf dem Markt das "Bessersein" der Produkte und Dienstleistungen selbst nur eine notwendige Bedingung. Dies hängt zum einen natürlich mit den oftmals diffus erscheinenden Bewertungskriterien zusammen, die den Erfolg eines Produktes auf dem Markt ausmachen, und von den vielen "Zufällen" wie diversen Moden, von "Verzerrungen" durch Macht, Monopole, Kartelle etc. ganz abgesehen.


Der Konnex von Leistung und Erfolg bröckelt

Zum anderen aber macht sich auf dem Markt - so es sich nicht um einen Flohmarkt handelt - bei einem Produkt - so es als Ware produziert wurde - immer auch die Differenz von Gebrauchs- und Tauschwert geltend. Zwar hängt der Tauschwert eines Dings wesentlich von dem Tun der Konkurrenz ab, sodass ein Produkt, welches gemessen an der zu seiner Herstellung durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit effizienter produziert wird, ein monetär erfolgreiches Produkt sein kann - wenn auch nicht muss. In dem Maße aber, in dem nun der vielfach beschriebene und hier nur anzudeutende Selbstwiderspruch des Kapitalismus - Steigerung der Produktivität und gleichzeitig sinkende Wertsubstanz des einzelnen Arbeitsprodukts - sich zunehmend empirische Geltung verschafft, scheint auch der Zusammenhang von Leistung und Erfolg vollends auseinander zu brechen.

Freilich ist der Konnex von Leistung - verstanden als Anstrengung und Arbeit, die den jeweilig vorherrschenden Qualitätsnormen entspricht - und ökonomischem Erfolg unter Marktbedingungen schon aus logischen Gründen ein äußerst fragiler. Was auf der Ebene einer universellen Alltagsideologie - ob als Rechtfertigung von Ungleichheit oder als Forderung im Rahmen von Demokratisierungs- und Emanzipationsbestrebungen - plausibel erscheint, findet im Alltagsgeschehen nur schwer Entsprechung. Historisch betrachtet hat dabei die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung sowohl auf der Ebene des Produktions- wie auch des Zirkulationsprozesses diese Auszehrung gefördert. Mit Blick auf die Arbeit in der fordistischen Massenproduktion hatte Jürgen Habermas schon 1968 treffend konstatiert: "Das Maß des gesellschaftlichen Reichtums, den ein industriell entfalteter Kapitalismus hervorbringt, und die technischen wie organisatorischen Bedingungen, unter denen dieser Reichtum produziert wird, machen es immer schwieriger, die Statuszuweisung auch nur subjektiv überzeugend an den Mechanismus der Bewertung individueller Leistung zu binden." In nachfordistischen Arbeitsprozessen hat diese Entwicklung weiter an Tempo und Dichte gewonnen.

Gleiches gilt aber gerade auch für die Ebene der Zirkulation, also auch für die Märkte, auf denen Erfolg realisiert wird oder auch nicht. Märkte sind heute mehr denn je global ausgerichtet und die auf ihnen entstehenden Preise sind Ergebnisse hochkomplexer Prozesse, an denen eine Vielzahl von Akteuren wie Banken, Fonds, Versicherungen, aber eben auch Unternehmen in wechselseitiger Abhängigkeit beteiligt sind. Der "Erfolg" von Produkten und Dienstleistungen, die sich auf den Weltmärkten behaupten müssen, ist auf diese Weise vielfach von Börsen- oder Währungskursen respektive den auf sie stattfindenden Wetten und ihren Absicherungen (Derivaten) abhängig. Aus Sicht der im unmittelbaren Arbeitsprozess Beteiligten, wahrscheinlich aber auch darüber hinaus, gleicht jedenfalls eine Unternehmensbilanz heute einem Buch mit sieben Siegeln. Was Erfolg oder Misserfolg im Einzelnen letztlich ausmacht, scheint immer weniger darstellbar zu sein. Umso notwendiger die orwellsch anmutenden Durchhalteparolen, wonach sich Individuen und "Standorte" fit machen können und sollen für den globalen Wettbewerb. Und umso nachvollziehbarer der Wunsch nach Überschaubarkeit und Transparenz, eine Illusion, die sich offenbar im Wettkampfsport noch bedienen lässt, was meiner Meinung nach auch die heuchlerische Antidopinghysterie erklärt: Es soll Chancengleichheit herrschen, der Bessere soll gewinnen!


Fit for Work?

Aber nicht nur als ideeller Jungbrunnen eines anachronistischen Leistungsprinzips, sondern ganz direkt als kostengünstige, in Eigenregie durchführbare Maßnahme zum Erhalt und zur Verbesserung des Humankapitals scheint der Sport vom Kapitalismus mittlerweile in Dienst genommen zu sein. Flankiert von entsprechenden Kampagnen der Politik und der Krankenkassen, umgesetzt auch von Unternehmen mit "Angeboten" zur Mittagspause, erreicht die Lohnabhängigen heute die andauernde Aufforderung zur Körperoptimierung: Sporteinheiten oder bezeichnenderweise "Workouts" vor, während oder nach der Arbeit sollen die von entfremdeter und immer dichterer Arbeit Gestressten wieder belastbarer machen. Generell wächst der Druck zur gesunden Lebensführung, sei es durch Appelle, Propaganda und sanften Zwang oder durch finanzielle Sanktionen, wenn etwa Krankenkassen Prämiensenkungen an die Bereitschaft der Versicherten knüpfen, "etwas" für ihre Gesundheit zu tun.


No Sports?

Angesichts solcherlei Zumutungen ist man geneigt, dem Sport jegliche Elemente von Leistung austreiben zu wollen, sofern man ihm nicht sowieso schon den Rücken gekehrt hat, etwa weil einem jeglicher Spaß bereits zur Schulzeit ausgetrieben wurde, als Sport mehr oder weniger offen der Einübung fieser Sekundärtugenden wie Fleiß, Siegeswillen, Durchhaltevermögen und eben Konkurrenzdenken diente. Ist also Sport nur als gemütliches, solidarisches Treiben denkbar, bei dem Tore, Punkte, Höhen und Weiten nichts, Mitmachen jedoch "alles" ist?

Im Rahmen meiner persönlichen Verstrickung in Wettkampf- und Leistungssport und den damit verbunden Selbst- und Fremdbeobachtungen würde ich zumindest zwei Aspekte im Sport und gerade auch im Leistungssport identifizieren wollen, die sich durchaus gegen die genannten Indienstnahmen sperren können. Es ist dies zum einen jene Praxis des Trainierens für ein konkretes Ziel wie etwa eine persönliche Bestzeit oder etwa das Erlernen einer bestimmten Turnübung. Solcherlei Ziele müssen sich nicht an anderen messen und erfordern dennoch manchmal hartes Training, Ehrgeiz usw. Wer einmal an einem Marathon teilgenommen hat, weiß, dass hier für die allermeisten Teilnehmenden Platzierungen zumindest gegen Ende der Veranstaltung so ziemlich egal sind. Natürlich ließe sich einwenden, dass Ziele wie das bloße Durchkommen bzw. das Erreichen einer persönlichen Bestzeit nicht im luftleeren Raum entwickelt werden. Man trifft bei solcherlei Veranstaltungen jedoch immer wieder auch auf Menschen, die sichtlich glücklich damit sind, entweder einfach in einer Gruppe sportlich tätig zu sein oder eben ihre gewählten Ziele erreichen zu können. Bei älteren Sporttreibenden ist bisweilen in diesem Zusammenhang gar eine gelassene Akzeptanz des Schwindens eigener Leistungsfähigkeit zu bemerken. Es geht dann eben nicht mehr um "die" Bestzeit, sondern um das Erreichen neuer, nunmehr eben altersgerechter Zielmarken. Ganz offensichtlich wird es im Sport manchmal als etwas Befreiendes erlebt, dass es ausreicht, eine Sache einfach "gut" zu machen, während doch die alltägliche Erfahrung im kapitalistischen Wettbewerb eben die ist, dass gut nie gut genug ist bzw. dass selbst das Bessersein als andere nichts (mehr) garantiert.

Der zweite Aspekt einer möglichen Widerspenstigkeit von Leistung kommt mir in den Sinn, wenn ich an jene, manchmal etwas eigenbrötlerisch anmutenden Freaks gerade in der Welt des Ausdauer- und Extremsports denke, die quasi umgekehrt proportional zu jener Besessenheit, die sie bei der Ausübung "ihres" Sports an den Tag legen, sich völlig leidenschaftslos beruflichen Ambitionen versagen. Sei es, weil sie nach einer bewegenden Tour den Sinn und Zweck bestimmter "Arbeiten" noch weniger erkennen können als ohnehin schon, oder weil sie einfach zu müde dafür sind. In der Mehrheit sind solche Zeitgenossen wahrlich nicht, dafür allemal sympathischer als die vielen verbissenen Sportarbeitenden.

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Dead Men Working

Geladene Geschoße

von Maria Wölflingseder

Zeichnet sich nach jahrzehntelanger Beobachtung meiner Straßenkreuzung ein Sittenbild darin ab? Vor genau 20 Jahren zog ich hierher - in die Nähe der Kreuzung Schönbrunnerstraße und Gaudenzdorfer Gürtel, die ich fast täglich zwei Mal als Fußgängerin quere. Es treffen hier eine drei- und eine vierspurige Hauptverkehrsader aufeinander. Die Verhältnisse haben sich in dieser Zeit gehörig verändert. Nicht nur die des Verkehrs.

Heute gibt es hier vier Zebrastreifen mit Fußgängerampeln. Viele Jahre lang gab es nur drei. Aber damals die Schönbrunnerstraße auf der Innenseite des Gürtels ohne Schutzweg zu queren, war wesentlich weniger gefährlich als heute bei Grünphase der Fußgängerampel. Früher sind die Autofahrer, die gleichzeitig grün haben, gerne stehen geblieben. Heute preschen sie wie gehetzte Hunde knapp vor dir oder knapp hinter dir über den Zebrastreifen, um ein paar Meter weiter ohnehin vor einer stets roten Ampel wieder stoppen zu müssen. - "Wer bremst, fällt zurück!", wird gerne großspurig verkündet. Noch gefährlicher ist die Querung des Gaudenzdorfer Gürtels auf jenem Schutzweg, auf den ebenfalls Fußgänger und auf zwei Spuren abbiegende Fahrzeuge gleichzeitig geschickt werden. Wer nicht sofort bei grün auf den Zebrastreifen springt, hat kaum mehr eine Chance, überhaupt noch die Straßenseite zu wechseln, weil dann die Autos schon in voller Fahrt sind. Hat sich das erste Gefährt gerade doch noch eingebremst, hüte man sich davor, erleichtert weiterzugehen, da auf der nächsten Spur ein weiterer Flitzer auf dich zusteuert. Auch die Nachkommenden sollten im Auge behalten werden. Wenn sie auf den Bremsenden auffahren, wirst du von einem Doppelgeschoß niedergestoßen. Jeweils zwei Zebrastreifen müssen von mir überquert werden, um zur U-Bahn bzw. wieder nach Hause zu gelangen. Um dies weniger riskant zu gestalten, beobachte ich die Chauffierenden genau und versuche ihr Verhalten zu kalkulieren. Seit einigen Jahren werde ich immer wieder - mitunter auch von jungen Frauen - wüst beschimpft, wenn ich dezent auf die grüne Fußgängerampel deute. Ein Novum im Wiener Verkehrsgewühl, das sich seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs mindestens vervierfacht hat.

Das Wort Konkurrenz leitet sich vom Lateinischen her. Concurrere heißt "zusammen laufen", "um die Wette laufen". Könnte es sein, dass die rasant gestiegene ökonomische Anspannung, die auch jeder Einzelne zu spüren bekommt, sich auf das Gebaren hinterm Steuer auswirkt? Kann es da nicht leicht passieren, dass der allseits spürbare hohe Druck unbewusst aufs Gaspedal übertragen wird? - Umgekehrt ist wiederum vom Wirtschaftsmotor die Rede, der ins Stocken gerät. Auch ein in der Arbeitswelt oft gebrauchter Imperativ ist dem Metier der Motoren entlehnt: "Durchstarten!", lautet die Devise immerzu. An die Poleposition! Nur die Schnellsten haben - vielleicht - noch eine Chance. Die geforderte "Dynamik" der Arbeitsmonaden wird in den Medien und in der Werbung gerne von entsprechenden Illustrationen begleitet: Menschen in eilender Bewegung - in den verschiedensten Ausführungen. Sie streben in allen Lebenslagen nach den höchsten Quoten, den meisten "Gefällt-mir"-Klicks und an die Spitze der Charts. Als Gegenbild wird jenes der Hängematte ventiliert, in welcher die Arbeitslosen, die "Sozialschmarotzer" und gewisse EU-Länder auf der faulen Haut liegen.

In so einer verrückten Welt ist es nur logisch-konsequent, die erzwungene Stehzeit der Autos an roten Ampeln produktiv zu nützen. Ein richtiger Straßenzirkus, der an meiner Kreuzung immer wieder aufgeführt wird. Im Ampelphasentakt springen junge, verkleidete Menschen auf die Straße und nötigen den Chauffierenden allerlei Werbeartikel auf. Damit alle wissen, wofür die Stundenlöhner Kopf, Kragen und Bronchien riskieren, wird ein Transparent mit dem Logo des Auftraggebers quer über die Straße entrollt. - Manchmal trauen sich auch Bettler auf die Kreuzung. Sie "arbeiten" in Eigenregie.

Interessant ist, wie dem veränderten Verkehrsverhalten der Autofahrer von Staats wegen begegnet wird. Selten wird einem Übel auf den Grund gegangen, sondern stets versucht, einen Missstand vornehmlich technisch zu lösen. (Damit kann ja hervorragend Geld gemacht werden.) Im Falle meiner Kreuzung bastelte man im Laufe der Jahre an verschiedenen Erneuerungen. Der erwähnte vierte Schutzweg erhöhte jedoch die Gefahr eher. Die neuen LED-Lampen in den Ampeln sind zwar kilometerweit sichtbar, aber für grüne Fußgängerampeln scheinen viele Lenker blind zu sein. So wurden schließlich neben die rot-grüne Fußgängerampel zwei abwechselnd blinkende orange Lichter montiert. Auch von diesen wollen sich viele nicht bremsen lassen. Und zu guter Letzt sind alle Fußgängerampeln noch von Kameras flankiert worden. Aber lassen sich die Autos von einem fernen Auge des Gesetzes beeindrucken?

Übrigens auch auf Reisen sind Ruhe Suchende immer öfter von geladenen Geschoßen umzingelt. Seit Jahrzehnten friedliche Meeresbuchten werden plötzlich jeden Nachmittag von Ausflugsbooten belagert, die sich wie Freilufttechnomusicdiscos gebärden. Wenn diese endlich wieder in den Hafen zurückkehren, starten die Wassermopeds durch und drehen in höchsten Tönen und giftigen Abgasen ihre Runden. An der Adriaküste gab es auch bereits Tote und Schwerverletzte durch rasende Motorboote in Küstennähe.

Wo soll all die Rastlosigkeit hinführen? Im Burnout sind wir schon massenhaft. Ein weiteres fatales und letales Resultat der selbst verordneten Hetz-Unkultur ist der Sekundenschlaf von Autolenkern. Mitunter ist die chronische Übermüdung nicht mehr zu kontrollieren und das weithin überschätzte "Betriebssystem Mensch" bricht auf offener Strecke zusammen. Sein fahrbarer Untersatz wird einmal mehr zur Tötungsmaschine. Oft ein Himmelfahrtskommando auch für völlig Unbeteiligte.

In allerletzter Zeit scheint sich die Puls erhöhende Lage an meiner Kreuzung dennoch etwas entspannt zu haben. Zeigen die technischen Errungenschaften tatsächlich Wirkung? Oder ist es die Reaktion auf Unfälle, die im Frühjahr in Wien innerhalb kurzer Zeit mehreren Fußgängerinnen und Kindern das Leben kosteten. Oder beginnen die Menschen gar zu realisieren, dass sie die kollektive Ruhelosigkeit weder reich noch glücklich macht? - Herzklopfen bekomme ich jedenfalls lieber anderswo als auf meiner Kreuzung.

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2000 Zeichen abwärts

Bloß eine Modekrankheit?

von Maria Wölflingseder

Das Thema Burnout ist zwar in den österreichischen Medien seit einigen Jahren präsent. Doch der Tenor lautete bisher hauptsächlich: Burnout sei keine anerkannte Krankheit, sondern nur eine modische Bezeichnung für eine Depression bzw. eine beliebte Diagnose, um in die Berufsunfähigkeitspension gehen zu können; oder: selber schuld, wer nicht auf seine Work-Life-Balance achtet. Jedoch über die Methoden der Betriebe, ihre Mitarbeiter auszupressen und einzuschüchtern, wurde hierzulande bis dato noch kaum berichtet. Umso erstaunlicher der Beitrag "Burnout durch Arbeit - Unternehmen treiben Mitarbeiter in die Krankheit", der am 29.8.2012 im ZDF, in Frontal 21, gesendet wurde (online verfügbar). Hier wurde Tacheles gesprochen. Die charakteristische Arbeitsunfähigkeit durch schwere Erschöpfungszustände sei längst in der Masse der Betriebe angekommen. Sie betreffe nicht mehr nur Manager oder Angestellte in helfenden Berufen, sondern vor allem die IT-Branche. Hier sind die Burnout-Zahlen doppelt so hoch wie in anderen Betrieben. Das Bewertungssystem, mit dem heute in fast allen großen Firmen der Privatwirtschaft die Mitarbeiter auf Trab gehalten werden, funktioniert in einem renommierten IT-Unternehmen folgendermaßen: Von jeweils hundert erhalten auf jeden Fall fünf die Schulnote "nicht genügend" und zehn die Note "genügend" - auch wenn alle sehr gute, gute oder befriedigende Leistungen bringen. Ähnliches höre ich von Freunden, die bei Versicherungen oder im Facility-Management arbeiten. Weinende Männer, die um ihre Jobs zittern, sind an der Tagesordnung. Sie arbeiten 10 bis 16 Stunden täglich oder müssen in der Freizeit erreichbar sein - und trotzdem reicht es nie.

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Ein krankes System

von Tomasz Konicz

Wie der alltägliche kapitalistische Irrsinn (die kollabierende kapitalistische Arbeitsgesellschaft) immer mehr Menschen in den Wahnsinn treibt.


Mitte September erdreistete sich Dieter Hund zu einer seiner bisher wohl bösartigsten Lügen: "Arbeit hält gesund", auf diesen Nenner brachte die Bild-Zeitung die Auslassungen des Präsidenten der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDI), der in einem Gespräch mit dem größten Dreckblatt der westlichen Welt entgegen aller Evidenz behauptete, dass Lohnarbeit unter keinen Umständen psychisch krank machen könne. "Im Gegenteil: Berufstätigkeit schafft Selbstbestätigung und Anerkennung. Sie ist damit eine wichtige Basis für die psychische Gesundheit", so Hund. Wenn Lohnabhängige dennoch psychisch erkranken, dann seien sie selbst daran schuld, führte der BDI-Chef weiter aus: "Die wesentlichen Ursachen liegen dabei in genetischen und entwicklungsbedingten Faktoren, im familiären Umfeld, im Lebensstil und im Freizeitverhalten." Ein Arbeitgeberpräsident muss ja schließlich wissen, wovon er redet. Andernfalls würde es ja bedeuten, dass ein Dieter Hund und seinesgleichen uns etwas "gibt", was krank macht.

Dabei wandte sich Hund mit seiner Intervention gegen eine Fülle von Studien und Berichten, die genau das bestätigen, was der Arbeitgeberpräsident so verbissen verneint: Arbeit macht krank. Um 120 Prozent sei die Zahl der psychischen Erkrankungen unter Deutschlands "Arbeitnehmern" seit 1994 angestiegen, meldete etwa das Wissenschaftliche Institut der AOK (WidO) Mitte August. Aufgrund dieser Zunahme seelischen Leidens an den spätkapitalistischen Zuständen seien der AOK im vergangenen Jahr Kosten in Höhe von 9,5 Milliarden Euro entstanden. Diese Behandlungskosten seien binnen eines Jahres um eine Milliarde Euro angestiegen, lamentierte AOK-Vorstand Uwe Deh. In 2011 befanden sich 130.000 Menschen allein wegen des Burnout-Syndroms in Behandlung, wobei hier die größten Steigerungsraten zu verbuchen waren: Binnen der vergangenen sieben Jahre sind die auf Burnout zurückgeführten Krankheitstage um das Elffache auf 2,7 Millionen explodiert.

Beim Burnout, einem "arbeitsassoziierten Erschöpfungszustand", konstatiert auch die Bundespsychotherapeutenkammer (BptK) eine regelrechte Explosion der Krankheitsfälle, die seit 2004 um 1.400 Prozent zugenommen haben. Während 2004 nur 0,6 burnoutbedingte Fehltage auf 100 Versicherte kamen, stieg diese Ausfallrate bis 2011 auf neun Fehltage. Dennoch sollten laut BptK die Depressionen zu der immer noch mit Abstand häufigsten psychischen Erkrankung gehören, die 73 Fehltage pro 100 Versicherten auslöste. Der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) zufolge sind die psychischen Erkrankungen in etlichen Regionen 2011 sogar erstmals auf den "dritten Rang bei den Fehlzeiten" vorgerückt. Knapp 14 Prozent aller Ausfalltage der Versicherten der DAK sind auf Depressionen oder Angstzustände zurückgeführt worden, die allein im vergangenen Jahr um zehn Prozent zugenommen hätten. "Die psychischen Erkrankungen arbeiten sich nach vorne", kommentierte Bärbel Löhnert von der Klientenzentrierten Problemberatung in Dachau gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Vor wenigen Jahren seien diese Krankheitsbilder in den Statistiken noch "weit hinten" anzutreffen gewesen. Ähnliche Steigerungsraten des alltäglichen kapitalistischen Irrsinns melden auch andere Regionen: In Düsseldorf stieg die "Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen von 2010 auf 2011 um zehn Prozent", berichtete die WAZ, im Landkreis Fulda waren es sieben Prozent.

Dabei sind nicht nur die klassischen Arbeiter und Angestellten, sondern auch die mittleren Funktionsträger im Management von dieser Epidemie psychischer Erkrankungen betroffen, wie die Financial Times Deutschland unter Bezugname auf eine Studie des Instituts für angewandte Innovationsforschung (IAI) der Ruhr-Universität-Bochum meldete. Jeder vierte deutsche Manager sei burnoutgefährdet, auch das Risiko, einen Herzinfarkt zu bekommen, sei in dieser Gruppe deutlich höher. Thomas Kley, einer der Studienautoren, erklärte gegenüber der FTD: "Vor allem Führungskräfte aus dem mittleren Management haben ein deutlich höheres Risiko, einer vitalen Erschöpfung zu erliegen. Sie sind die sogenannten Umsetzer in den Unternehmen, sie müssen Zusatzarbeit stemmen und Schwierigkeiten beseitigen. Aber auch die nächsttiefere Hierarchieebene - die passiv Betroffenen - kämpfen am Limit." Inzwischen konstatieren Medizinsoziologen mit der "Gratifikationskrise" ein neues populäres Krankheitsbild, das zu einem 40 bis 80 Prozent höheren Herzinfarktrisiko führt. Hierbei handelt es sich um eine tief sitzende Unzufriedenheit, die dadurch ausgelöst wird, dass der Angestellte das Gefühl hat, seine Leistungen würden nicht zur Genüge von den Vorgesetzten gewürdigt. In dem Boomland Bayern etwa sollen 11,8 Prozent aller Lohnabhängigen von diesem Arbeitsfrust langsam verzehrt werden.

Und es herrscht inzwischen weitgehende Einigkeit darüber, dass es die (krisenbedingte) Verschärfung und Entgrenzung des Arbeitsregimes ist, die zu dieser Konjunktur psychischer Deformationen bei immer mehr Lohnabhängigen wie Funktionsträgern der Kapitalverwertung führt. Die "Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben" würden für Millionen von Lohnabhängigen immer stärker verschwimmen, beklagte beispielsweise die AOK, sodass die Betroffenen in einem Zustand ständiger Arbeitsbereitschaft verharren und kaum noch abschalten könnten. Rund ein Drittel der von der AOK im Rahmen einer Studie befragten Versicherten gab an, in den vergangenen Wochen Überstunden verrichtet und in der "Freizeit" auch Emails oder Telefonate von der Firma erhalten und bearbeitet zu haben. Rund zehn Prozent der Befragen erklärten, regelmäßig Arbeit mit nach Hause zu nehmen, während jeder Achte beklagte, Probleme mit der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben zu haben. Jeder zweite Lohnabhängige gab zudem an, "im Grundsatz außerhalb der Arbeitszeit erreichbar" zu sein. Der DGB tat wiederum gegenüber der Frankfurter Rundschau kund, dass inzwischen nahezu 70 Prozent seiner Mitglieder mit Wochenendarbeit konfrontiert seien: "35 Prozent arbeiten demnach regelmäßig, 33 Prozent ab und zu an Samstagen und Sonntagen." Hierbei handele es sich um eine "Zunahme um rund zwei Drittel innerhalb von zwei Jahrzehnten".


Mobbing, Schikanen, Psychoterror

Hinzu kommt die Intensivierung der Ausbeutung der "Ware Arbeitskraft", die durch eine Pervertierung des Freiheitsbegriffs, die Prekarisierung des Arbeitslebens und eine Verinnerlichung der Kapitalimperative erreicht wird. Rund ein Drittel aller Lohnabhängigen kann inzwischen die Arbeitszeit "selbst bestimmen", meldete die AOK. Da diese "Selbstbestimmung" in der Krisenkonkurrenz zu anderen Lohnabhängigen geschieht, wächst das Arbeitspensum aller Betroffenen bis ins Unerträgliche an. Die "Arbeitnehmer" arbeiteten deswegen "aus sich selbst heraus deutlich über ihre Leistungsgrenzen hinaus", konstatierte Antje Ducki, eine Mitherausgeberin des AOK-Reports. Es fände eine enorme Identifikation der Betroffenen "mit ihrer Arbeit und ihren jeweiligen Projekten" statt. Zudem habe sich längst der "Selbstständige Freelancer" als ein "Prototyp" des Berufslebens durchgesetzt. Somit erweist sich die "Marktfreiheit" mal wieder als der sicherste Weg, die lohnabhängigen Monaden bis weit über die Grenzen ihrer psychischen Belastungsfähigkeit gegeneinander zu hetzen.

Diese beständige Intensivierung der Krisenkonkurrenz äußert sich wiederum in einer Zunahme des Mobbings, der Schikanen und des Psychoterrors am Arbeitsplatz. Bei einer 2008 durchgeführten Umfrage gaben zwölf Prozent der befragten Angestellten an, schon mal selbst Opfer einer Mobbing-Attacke gewesen zu sein. Zeuge eines Mobbings an Kollegen war rund ein Drittel der Umfrageteilnehmer. Diejenige Gruppe, die überdurchschnittlich oft gemobbt wurde, bestand aus älteren Lohnabhängigen, von denen bereits 16 Prozent diese Erfahrung machen mussten. Hierbei handelt es sich somit zumeist um Leistungsterror, der sich gegen vermeintlich oder tatsächlich Schwächere richtet. Ein großer Teil der Depressionen, die in den genannten Studien konstatiert wurde, ist gerade auf diese Zunahme der Krisenkonkurrenz zurückzuführen.

Die kollabierende kapitalistische Arbeitsgesellschaft, die all diejenigen an dem immer weiter hochgeschraubten Leistungsterror zusammenbrechen lässt, die noch Arbeit haben, führt auch die aus den Tretmühlen des Kapitals herausgefallenen Menschen in den Irrsinn. Einem 2010 veröffentlichen Bericht der Techniker Krankenkasse (TK) zufolge kriegen arbeitslose Frauen doppelt so oft Antidepressiva verschrieben wie berufstätige Lohnabhängige. Arbeitslose Männer, deren Zurichtung zum Konkurrenzsubjekt, zum warenproduzierenden Patriarchat weitaus stärker ausgeprägt ist, müssen sogar viermal so oft mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden. Auch hier ist ein rascher Anstieg der psychischen Erkrankungen konstatiert worden. Binnen der letzten Dekade sei die Zahl der psychisch bedingten "Fehlzeiten" bei den Menschen, die in der kapitalistischen Arbeitslosenverwaltung gefangen sind, um 40 Prozent angestiegen.

Demagogen von Schlage eines Dieter Hund würden nun einwerfen, dass genau diese Statistik Belege dafür liefere, dass "der Mensch" nun mal Lohnarbeit brauche, um psychisch gesund zu bleiben. Tatsächlich zerbrechen aber diese Menschen an den fundamentalen Widersprüchen, denen sie mit fortschreitender Krisenentwicklung immer stärker ausgesetzt sind. In der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft stellt die Arbeit das zentrale Medium der - rein negativen, da arbeitsmarktvermittelten - Vergesellschaftung der Lohnabhängigen dar. Ohne Lohnarbeit ist der Arbeitslose ein Ausgestoßener, ein Aussätziger der Fetischgesellschaft, dessen sozialer Status weitaus niedriger angesetzt ist als der des elendsten Tagelöhners. Überdies werden die Arbeitslosen mit dem ganzen Folterinstrumentarium der Krisenverwaltung, das seit Hartz IV entwickelt wurde, dahingehend schikaniert, die Arbeit anzunehmen, die nicht vorhanden ist. Das ganze System der Verwertung der Arbeitslosigkeit ist darauf geeicht, den Arbeitslosen - die ohnehin aus der Arbeitsgesellschaft de facto ausgestoßen sind - das Leben zur Hölle zu machen, ohne ihnen einen Ausweg in die Tretmühle der Lohnarbeit bieten zu können. Es sind die Isolierung, die Schikanen der "Ämter" und die allgegenwärtigen Ressentiments gegenüber den als "Schmarotzer" denunzierten Arbeitslosen, die diese in psychische Erkrankungen treiben - und nicht etwa das Fehlen der kapitalistischen Tretmühle, an der immer mehr Menschen ebenfalls verzweifeln. Ein Sprecher der TK machte bei der Vorstellung des Reports folglich auch klar, dass dieser massive Anstieg der psychischen Erkrankungen bei Arbeitslosen erst nach der Einführung der Hartz-IV-Arbeitsgesetze einsetzte.

Arbeitslose wie "in Arbeit" befindliche Lohnabhängige gehen somit gleichermaßen an den eskalierenden Widersprüchen zugrunde, die durch die immer weiter voranschreitende Verdrängung der Lohnarbeit innerhalb der kapitalistischen Warenproduktion angefacht werden. Je größer das Automatisierungspotenzial ist, je weniger Menschen gebraucht werden, um in immer kürzeren Zeiten immer größere Warenmassen zu produzieren, desto stärker bildet sich der Druck aus auf all diejenigen, die in der Tretmühle des Kapitals noch verwertet werden, desto brutaler werden auch die Schikanen gegen die Masse derjenigen, die vom kriselnden Prozess der Kapitalverwertung bereits ausgespien worden sind. Der dem kapitalistischen System innewohnende Wahnwitz entfaltet sich in der Krise zur vollen Kenntlichkeit: Der potenzielle materielle Überfluss, der den durch den Kapitalismus hervorgebrachten Produktivkräften innewohnt, verwandelt die Welt zur einer einzigen Hölle auf Erden, zu einem Irrenhaus - für den depressiven Arbeitslosen genauso wie für den vom Herzkasper bedrohten Manager.


Mörderische Konsequenzen

Der kapitalistische Arbeitswahn, die um sich greifende Krisenkonkurrenz schlägt immer öfter auch buchstäblich in bösartigen und mörderischen Wahn um. Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen sprach Jens Hoffmann, Leiter des Instituts Psychologie & Bedrohungsmanagement in Darmstadt, 2010 von einer "massiven Zunahme" von Amokläufen innerhalb der letzten zehn Jahre. Die psychische Konstitution der Täter charakterisierte Hoffmann folgendermaßen: "Verzweiflung, ein Gefühl von Wert- und Ausweglosigkeit, kalte Aggression". Der Amoklauf bildet den finalen Fluchtpunkt für all diejenigen an den Krisenwidersprüchen zerbrechenden Konkurrenzsubjekte, die von ihrer ideologischen Verblendung und dem herrschenden Fetischsystem nicht lassen können und dieses in einem finalen und letalen Akt auf die Spitze treiben. Im Amoklauf, der seit Krisenausbruch eine stürmische Konjunktur erfuhr, kommt der autodestruktive Charakter der zunehmenden Krisenkonkurrenz zum Vorschein. Der Amoklauf des Einzeltäters spiegelt den Amoklauf des Kapitalismus wieder, hier kommt das kapitalistische Leistungsdenken und Konkurrenzgebaren zu sich. Die blinde und tödliche Gewalt gegen andere, der Vernichtungswille, der beim Amoklauf konkret zutagetritt, spiegelt den Vernichtungswillen des kapitalistischen Fetischsystems wieder, das in seiner Agonie eher die Welt in einen Vorhof der Hölle verwandelt, als einer lebenswerten Zukunft den Weg freizumachen.

Mit der tödlichen und zumeist selbstmörderischen Gewalt gegen andere Menschen korrespondiert der Anstieg der Gewalt gegen sich selbst. Immer mehr verzweifelte Menschen lassen sich dazu hinreißen, der Unerträglichkeit der kapitalistischen Vergesellschaftung im Akt des Suizids zu entfliehen. In Griechenland beispielsweise ist die Selbstmordrate allein in den vergangenen zwei Jahren um 40 Prozent angestiegen, in Italien wurde laut der New York Times zwischen 2005 und 2010 ein Anstieg der "wirtschaftlich motivierten" Suizide um 52 Prozent festgestellt. Der Zusammenhang zwischen Krise und steigender Selbstmordrate wurde in einer im Magazin Lancet veröffentlichten Studie empirisch klar nachgewiesen, in der festgestellt wurde, dass die Zunahme der Selbsttötungen mit dem Ausbruch der Rezession in der Eurozone in 2008 einsetzte. Die Länder mit den größten Wirtschaftseinbrüchen haben hierbei die stärkste Zunahme der Suizidraten erfahren. Bei einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um einen Prozentpunkt steige die Selbstmordrate bei Menschen unter 65 Jahren um 0,8 Prozent, ermittelten die Macher der Studie. Diese Selbstmorde stellen den finalen Akt der Unterwerfung unter das kollabierende und in offene Barbarei übergehende Arbeitsregime dar. Die ökonomisch überflüssigen Lohnabhängigen beseitigen sich selbst als Kostenfaktoren, wodurch der die Menschheit terrorisierende Arbeitsfetisch noch in ihrem Tod eine finale Bestätigung findet. Die Agonie der Lohnarbeit hat somit mörderische Konsequenzen.

Die dramatische Zunahme von Selbstmorden und psychischen Erkrankungen deutet auf die unerträglichen Widersprüche hin, denen die Lohnabhängigen im kollabierenden kapitalistischen System ausgesetzt sind. Die Reproduktion des zum Konkurrenzsubjekt zugerichteten Individuums wie des Gesamtsystems ist nur vermittels der Lohnarbeit möglich, die jedoch immer stärker aus der Warenproduktion verdrängt wird. Je geringer die Aussichten der Lohnabhängigen sind, im Verwertungsprozess des Kapitals noch überhaupt ausgebeutet zu werden, desto stärker wird der Druck der repressiven Elendsverwaltung, desto hysterischer die ideologische Überhöhung der Lohnarbeit. Diese krisenbedingte Epidemie des Irrsinns, die immer schneller um sich greift, blamiert auch die herrschende Ideologie, in der das kapitalistische System zu einem Naturzustand verklärt wird, der gerade aus den natürlichen Veranlagungen, aus einer unabänderlichen "Natur" des Menschen resultieren soll. Offensichtlich ist das herrschende System dermaßen die menschlichen Bedürfnisse, dass sie in wachsendem Ausmaß an dessen eskalierenden Widersprüchen mental zerbrechen.

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2000 Zeichen abwärts

Bloß enttabuisiert?

von Maria Wölflingseder

In der ORF-Hörfunkreihe des "Salzburger Nachtstudios" auf Ö1 gab es am 24.10.2012 eine Sendung über Burnout: "Ausgebrannt - Eine Zeitgeistdiagnose der Gesellschaft, von Menschen und Systemen". Eingangs wurde die Frage gestellt, warum denn die Zahl der psychischen Erkrankungen so hoch sei. Die Antwort lautete: "Ein Grund dafür könnte sein, dass diese Erkrankungen enttabuisiert wurden, dass man darüber sprechen darf, ohne sofort stigmatisiert zu werden." Wie bezüglich vieler anderer neuer gesellschaftlicher Symptome wurde auch hier versucht, die Brisanz zu relativieren. Als zweite Ursache ließ man dennoch die Zunahme der Zahl jener Menschen gelten, die mit ihrer Lebenssituation und Arbeitsumgebung unzufrieden seien. - Obwohl in dieser Sendung großteils individuelle Strategien gegen Burnout erörtert wurden, klangen trotzdem einige brauchbare Diagnosen an. Die Systemlogik zwinge uns zu ständigem Wirtschaftswachstum. Daraus folgt: Nur wer schneller ist, gewinnt. So dreht sich die Spirale der Überforderung von Mensch, System und Gesellschaft unaufhörlich weiter. Und Peter Hofmann, Psychiater an der Medizinischen Universität Graz, konstatierte, die Gesellschaft sei drauf und dran, sich selbst zu erschöpfen. Als perfide bezeichnete er den Umstand, dass kein Ende absehbar sei, ja nicht einmal mehr eine Karotte hänge vor der Nase. Wir verausgaben uns völlig, und dafür werden wir auch noch bedroht - gibt der Psychiater zu bedenken.

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Rückkopplungen

Casting

von Roger Behrens

Zum Teil sollen es über 30.000 Menschen sein, die zu den Vorstellungsterminen kommen, nein: pilgern. Wo die Kultur vollends zur Ware und die Ware selbst wieder zur Kultur geworden ist, sind die Castingshows die letzten, neuesten "Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware" (Benjamin, GS Bd. V·I, S. 50), das Fernsehen die Kirche dieser Religion. Manche kommen schon seit Jahren zu den Auswahlveranstaltungen, versuchen es immer wieder, eingelassen zu werden und wenigstens eine Runde weiterzukommen. "Eine Runde weiter" heißt "Recall", und das bedeutet auch Erinnerung (wie in dem Film "Total Recall"); doch Erinnerung hat hier niemand: Sonst wüsste man, wie die anderen vorgeführt wurden, wie viele Häme und Gemeinheit über sich ergehen lassen mussten. Dass auch und gerade die Verlierer und Versager mit ihren Auftritten in die Sendungen eingebaut werden, gehört zum Programm; schon zu Beginn ist das über Verträge geregelt, an die selbst die Gewinner über die Show hinaus gebunden bleiben.

Castingshows sind Talent-Shows. Allerdings: Mit Talent wird man im Kapitalismus nichts; Talent ist keine Qualifikation der protestantischen Ethik im Sinne des Berufs. Gleichwohl gehört die Ideologie des Talents zum Kapitalismus, gerade in seiner fortgeschrittenen Verwertungslogik. Schon in Patricia Highsmiths "The talented Mr. Ripley" verkörpert sich in der Disposition des Talents der Wunsch, dem bisherigen, als trostlos erfahrenen Leben zu entfliehen. - Talent ist, von griech. tálanton, "Waagschale, das Gewogene", eine Maßeinheit für ein einer bestimmten Geldsumme entsprechendes Gewicht. Im "Neuen Testament" ist es dann immer noch das "anvertraute Vermögen", doch schon auch in der übertragenen Bedeutung "der - einem von Gott anvertrauten - geistigen Anlage". Die Ideologie des Talents verspricht den Menschen, denen ansonsten jede Anlage abgesprochen wird, eine besondere Fähigkeit zu besitzen, die auch nur in ihrer Besonderheit erkannt werden kann: durch eine Jury, durch einen Coach, durch Dieter Bohlen, Heidi Klum, Nena etc.

Highsmiths Roman ist von 1955, die Verfilmung von 1999. Die Jahre markieren die Entwicklung der Ideologie des Talents, auch in Bezug auf die Verwertungsinteressen der Kulturindustrie und der ihr folgenden Popkultur: Im US-amerikanischen Fernsehen starten 1948 mit Ted Mack's Original Amateur Hour und Arthur Godfrey's Talent Scouts die ersten Castingshows, 1954 kommt die TV-Version der Miss-America-Schönheitswettbewerbe dazu. Ab 2000 wird von einer regelrechten Explosion des Castingshow-Formats gesprochen, wozu neben American Idol oder Deutschland sucht den Superstar auch Big Brother gehört.

Heute laufen mitunter vier, fünf Castingshows gleichzeitig im Fernsehen. Sie gehören zu den wesentlichen Formaten des Privatfernsehens und bilden mit Talkshows, Gerichtssendungen oder Pseudo-Dokus (Die Super Nanny etc.) das Reality-TV-Programm. Beliebtheit wie Unbeliebtheit der Sendungen gehören mit zur Sparte, die selbst auch nur ein Teil des Gesamtkomplexes des Fernsehens ist, das sich mittlerweile als eine die Bildschirm- und Studio-Grenzen weit überschreitende "Programmindustrie" darstellt. Die Trennung zwischen Privatfernsehen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist freilich Schein, bloße ideologische Funktion innerhalb des integrierten Spektakels.

Denn zu dieser Programmindustrie - von der Negt und Kluge schon 1972 sprachen - gehört längst auch die vermeintliche "Kritik", die Pseudodiskussion über Wesen und Unwesen der Castingshows. Fachbereiche wie Kultur- und Medienwissenschaften an den Universitäten profilieren die Angestellten, die solche Sendeformate einerseits produzieren und andererseits reproduzieren: mit Stichworten wie Mediendemokratie, kritischer Medienkonsum oder auch dem Label Unterschichtenfernsehen wird das Verwertungsinteresse des Medienverbundes überhaupt nicht tangiert und dadurch affirmiert. Und ob man als promovierter Medientheoretiker in der Redaktion einer Castingshow landet, als Forscher mit Analysen eben dieser TV-Formate reüssiert oder als Journalist darüber in der Tagespresse schreibt, wird heute in den meisten Fällen berufsbiografisch völlig zufällig über Jobs entschieden. Und ansonsten kann man es immer noch selbst als Kandidat einer Castingshow versuchen.

Das englische Wort "cast" meint nicht nur die Besetzung der Rollen beim Theater oder Film. Das Oxford English Dictionary verzeichnet weit über fünfzig weitere Bedeutungen für "cast" als Verb oder Nomen. Die Etymologie reicht bis ins frühe 13. Jahrhundert zurück; abgeleitet vom altnordischen "kasta", "werfen", ist "cast" also "der Wurf", im Sinne von "die Gestalt, die ein Ding annimmt, nachdem es (hin- oder hinein-)geworfen wurde". So eben auch die Schauspieler, die, einmal auf der Bühne, ihre neue Gestalt in ihrer Rolle finden. Das verweist aber auch auf die zahlreichen industrielltechnischen Bedeutungen von "cast" wie "Abguss" oder "Abdruck".

Heute werden die Rollen nicht mehr mit - professionellen - Schauspielern besetzt, sondern relativ beliebige, unprofessionelle Menschen werden für die Rolle, die sie als Menschen haben, glauben zu haben oder haben wollen, "gecastet", um dann mit dieser Rolle in den Kulturbetrieb integriert zu werden - bis sie auch hier rausfliegen, oder einfach in Vergessenheit geraten.

In ihrer Rolle, in der sich das Talent verbergen soll, sind die Gecasteten, also die "Eingepassten", Charaktermasken. Und "Charaktermasken sind das Resultat ständiger Personifikation", schreibt Franz Schandl (krisis 31, S. 126). Die Ideologie des Talents ist die Personifikation der Einzigartigkeit - als Persönlichkeit: "Zeige, wer Du wirklich bist!", im Sinne von "Beweise die Nützlichkeit Deiner Rolle (von der wir wissen, dass sie wenn überhaupt nur fürs Spektakel taugt)".

Das Prinzip des Castings ist insofern nicht Konkurrenz, sondern Rivalität. Die Shows annullieren die Reste noch vorhandener Solidarität, Sympathie wird zum Lohn der Jury und des Publikums.

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Facetten der Ichhaftigkeit

von Meinhard Creydt

In der Lebensweise der modernen kapitalistischen Gesellschaft nimmt die Ichhaftigkeit einen zentralen Platz ein. Noch vergleichsweise harmlos erscheint die Suche nach einem persönlichen Bezug zu Themen, der von ihrem Inhalt absieht und es auf eine wie auch immer geartete Möglichkeit absieht, anhand des Themas über sich selbst und das liebe Selbst sprechen zu können.


Selbstbetätigung und Funktionslust

Schon brisanter ist die Verkehrung des eigenen Bezugs auf Arbeiten zu einer Gelegenheit, sein "eigenes Ding" machen zu können. Vor lauter Funktionslust an den eigenen Fähigkeiten und Sinnen sehen die Beteiligten ab von der menschlichsozialen Beurteilung oder gar Gestaltung des Arbeitens, der Arbeitsprodukte und ihrer sozialen Kontexte.

Im Film "12 ich liebe Dich" sagt der von Devid Striesow gespielte Vernehmer im Stasiknast: "Ich bin gern Vernehmer. Man kommt mit vielen unterschiedlichen Menschen zusammen und hat Zeit, sie kennen zu lernen. Gerade in extremen Situationen lernt man sich besonders gut kennen." Weniger extrem, aber weit verbreitet lässt sich bspw. beobachten, wie Ingenieure sich gleichgültig gegenüber Zweck und Grund des Produktes und gegenüber der sozialen Dimension der Produktion (z.B. Entlassungen) verhalten, wenn es ihnen nur selbst gelingt, sich in ihre Tätigkeit "einzubringen". Die zugrunde liegende Maxime der Arbeitsbeurteilung, die sich auf den subjektiven Entfaltungswert konzentriert und alles andere hintanstellt, findet sich als "glückhafte Erregung über die neuen Dimensionen menschlichen Wissens und Könnens" auch bei den Technikern und Wissenschaftlern, die an Massenvernichtungswaffen arbeiten (vgl. Jungk 1963, S. 466, S. 490). "Die, die sich da auftaten, ließ diese Männer meist ganz vergessen, dass sie ja eigentlich hier zusammengekommen waren, um ein Todesinstrument zu entwerfen." (Ebd., S. 466)

Das Anliegen: Die erweiterte Reproduktion menschlicher Sinne und Fähigkeiten als Attribut des Individuums. Es avanciert durch dieses Hinausgehen aus sich (in die Objektivität hinein) und die Anverwandelung eines Segments der Objektivität zum angeeigneten, assimilierten Moment der individuellen Subjektivität allererst zum Selbst. Der Bezug auf das Außen bildet das Medium der Entfaltung von auf das Selbst begrenzten Sinnen und Fähigkeiten. Die Arbeit gerät von ihrer subjektiven Seite her zum Selbstzweck. Die subjektive Verausgabung ist nun das, worauf es dem Individuum ankommt (neben der Bezahlung oder extrinsischen Belohnung).

Ichhaftigkeit zeigt sich auch in einem unmittelbaren Bezug auf andere Menschen, in dem man sich nicht auf den anderen einlässt, sondern ihn so wahrnimmt, wie es für das eigene Seelenleben passt: als Anregung, als Kontrastfolie, als Anlass zu Empörungsmonologen, als Begebenheit, über die man anderen Interessantes zu erzählen vermag. Neben dieser eher rezeptiven Variante gibt es auch eine "produktive" Variante der Ichhaftigkeit. In ihr missrät der unmittelbare Bezug auf Mitmenschen dazu, sie als Gelegenheit zu nutzen, sich "zu produzieren", sie zum Publikum eigener Beeindruckungsversuche oder zur Kulisse der eigenen Geschäftigkeit als "Sender", der sich selbst gern reden hört, zu machen. Dieses "Sich-selbst-Produzieren" betrifft auch die Hilfe. Der Helfende kann sich "sachlich" auf den Empfänger der Hilfe beziehen. Dann steht im Vordergrund, ob das Helferhandeln angemessen und gut ausgeführt war. In einer anderen Perspektive bezieht sich der Helfende auf sich selbst. Dann wird zum Thema, ob er ein guter Helfer ist. Der Hilfeempfänger spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund steht die Aufmerksamkeit des Helfers für seine guten Absichten, sein Engagement und seine Auffassungen.


Profilneurotiker

Eine andere Facette der Ichhaftigkeit besteht in der Verliebtheit in die eigene Meinung. Zu dieser pflegt man eine Beziehung wie zu seinem Hund: "Wir zwei verstehen uns." Gedanken werden weniger nach der Seite ihres Inhalts, sondern als Privatbesitz gewürdigt. "Eine Meinung ist eine subjektive Vorstellung, ein beliebiger Gedanke, eine Einbildung, die ich so oder so und ein anderer anders haben kann; - eine Meinung ist mein, sie ist nicht ein in sich allgemeiner, an und für sich seiender Gedanke." (Hegel 18, S. 30) Die Gewissheit, es verhalte sich so in der Wirklichkeit, wie man es in der Meinung von ihr annimmt, wird zugleich dementiert. Der Inhaber will gar nicht wissen, ob es sich so verhält, wie er meint. "Kritik und Einwände sind in dieser Sicht ein einziger Anschlag auf die Freiheit, zu denken, wie man will. Dies ist konsequent. Für Subjekte, die durch die Gedanken und Überlegungen, die sie anstellen, nichts als ihre Individualität unterstreichen wollen, ist ein Argument nichts weniger als ein Attentat wider die Ehre und Selbstbestimmung der eigenen Person; es wird damit zur Ursache eines Konflikts. Dessen Lösung besteht in der wechselseitigen Versicherung, für sein Teil habe jeder der Beteiligten Recht, wenn auch nur seines." (Dorschel 1992, S. 233)

Zur Ichhaftigkeit gehört die übertriebene Auffassung davon, wie viel vom Individuum als solchem abhängt - sei es als Kontrollillusion, sei es als falsche Selbstkritik. Hinzu tritt die überkompensatorische Selbstverwichtigung, mit der das Selbst sich jene Bedeutung zuspricht, die es an seiner Existenz als Individuum in der Außenwelt vermisst, inklusive der Tendenz zur "Prestigepolitik" (Alfred Adler).

Mit der Ichhaftigkeit geht oft der profilneurotische Kult um die eigene Besonderheit einher. Er knüpft am erst mit der bürgerlichen Gesellschaft gegebenen Unterschied zwischen persönlichem und gesellschaftlichem Individuum an. Bleibt "ein Adliger stets ein Adliger ... abgesehn von seinen sonstigen Verhältnissen, eine von seiner Individualität unzertrennliche Qualität" (MEW 3, S. 76), so hat sich nunmehr ein Unterschied herausgestellt "zwischen dem Leben jedes Individuums, soweit es persönlich ist, und insofern es unter irgendeinen Zweig der Arbeit und die dazugehörigen Bedingungen subsumiert ist" (ebd.). In der modernen bürgerlichen Gesellschaft entsteht unter Voraussetzung der Gleichheit der Bürger als Repräsentanten von ökonomischem Wert und unter der Bedingung des als "numerisch" bezeichneten Individualismus der Aufklärung ein "qualitativer" Individualismus (Simmel 1957, S. 267). "Sobald das Ich im Gefühl der Gleichheit und Allgemeinheit hinreichend erstarkt war, suchte es wieder die Ungleichheit, aber nur die von innen heraus gesetzte." (Ebd., S. 265) Seine Frustrationen in der gesellschaftlichen Realität verarbeitet das bürgerliche Individuum als "Nivellierungserfahrung" und beantwortet sie mit einem reaktiven "exaggerierten Subjektivismus" (Simmel 8, S. 382). Hier macht sich die Kehrseite der Arbeitsteilung geltend. Zwar beansprucht sie das Individuum allein mit einem zur Austauschbarkeit objektivierten Segment seiner selbst. Zugleich aber "saugt" das verobjektivierte Ganze "seine Elemente nicht so vollständig in sich ein, dass nicht ein jedes noch ein Sonderleben mit Sonderinteressen führte" (Simmel 6, S. 629f.), in dem der "Rest" zur Geltung zu bringen ist, der das Individuum ausfüllt neben der in der Arbeitsteilung beanspruchten Seite. Auf diesen Rest kaprizieren sich nun die Individuum. Sie steigern "das verbleibende Privateigentum des geistigen Ich zu um so eifersüchtigerer Ausschließlichkeit" (ebd., S. 653). Das Getue um die individuelle Besonderheit gegenüber anderen soll in der Fokussierung auf die vermeintliche "unbestreitbare Eigenheit" das Individuum "für alle Leiden entschädigen" (MEW 3, S. 296). Es kommt dann dazu, "dass man dem, wodurch sich Menschen voneinander unterscheiden, ihrer Ich-Identität, einen höheren Wert beimisst als dem, was sie miteinander gemein haben, ihrer Wir-Identität" (Elias 1987, S. 21).

Zur distinktiven Selbstverortung gehört auch der Zusammenschluss zu Kollektiven, die den Wunsch erfüllen, "mit Menschen zusammenzukommen; die dieselben unmittelbaren und klar umrissenen Sorgen teilen Narzissmus zeichnet sich nicht allein durch hedonistische Selbstbezogenheit aus, sondern auch durch das Bedürfnis, sich mit 'identischen' Wesen zusammenzuschließen" (Lipovetsky 1995, S. 19f.).


Selbstsorge

Bei manchen, die lange Psychoanalysen hinter sich haben, erinnert man sich an die Scherzpostkarte, auf der es heißt: "Früher war ich eingebildet, heute weiß ich, dass ich toll bin."

Die psychotherapeutische Vorstellung, durch eine Vertiefung der Selbstaufklärung und -wahrnehmung heilsame Effekte zu erzielen, eröffnet - zumindest auch - kontra-produktive Effekte: "Je mehr das Selbst besetzt wird, je stärker es zum Objekt von Aufmerksamkeit und Deutung wird, desto größer wird die Unsicherheit, desto mehr Fragen tun sich auf. Durch die vielen 'Informationen' wird das Selbst zu einem leeren Spiegel, durch die vielen Assoziationen und Analysen wird es zu einer Frage ohne Antwort, zu einer offenen und unbestimmten Struktur, die im Gegenzug nach immer mehr Therapie und Anamnese ruft." (Lipovetsky 1995, S. 78) Psychotherapeutische Praktiken verfehlen nicht nur die Not, die sie lindern wollen, sondern steigern sie auch noch - wenigstens in einer Hinsicht. "Je mehr da gedeutet wird, desto stärker fließen die Energien zurück zum Ich, inspizieren es und besetzen es von allen Seiten; je mehr da analysiert wird, desto mehr Tiefe gewinnen die Verinnerlichung und Subjektivierung des Individuums; je mehr Unbewusstes und je mehr Deutungen es gibt, desto intensiver wird die Selbstverführung." (Ebd., S. 46) In der Psychotherapie avanciert das Individuum zum Mittelpunkt. Selten wird sich so eindringlich um den eigenen, persönlichen Sinn gekümmert. Suggeriert wird eine innere Fülle, die es nur zu entdecken und nutzen gelte. "Jedem sein Unbewusstes, seine eigene auszubeutende, symbolische Fundgrube, sein Kapital!" (Baudrillard 1972, S. 332) In der im Verlauf der Therapie möglichen persönlichen Geschichts(re)konstruktion ereignet sich eine Sinn stiftende Vereindeutigung und Verkehrung. Angesichts der Erfahrung fortschreitender Anonymität scheint wenigstens "die eigene Vergangenheit vor dem Zugriff anderer eher gesichert zu sein Dieses 'früher' wurde ja ursprünglich, unter dem Einfluss der Psychoanalyse, mit der Absicht der Befreiung von übermäßiger Bindung aufgesucht." Die nichtintendierten "Neben"effekte von Psychotherapie umfassen demgegenüber oft "Fixierungen statt Ablösung, Bindung an Vergangenes, dessen partielle Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit - meine Kinder, deine Schwester, mein Vater, dein Vater usw. übertrieben wurden. Ein nach rückwärts gerichteter Narzissmus der kleinsten Differenzen" (Brückner 1978, S. 46ff). An Psychotherapien wird als Effekt oft eine erhöhte Ichhaftigkeit beklagt. "Wirkungsloser Widerspruchsgeist, leicht aggressiv-frustrierte Grundstimmung, hohe Selbstakzeptanz, geringe Neigung, seine offensichtlich unsozialen Haltungen zu verdecken oder gar zu problematisieren. Eben - Unbehagen in der Kultur, geordnetes Leben auf resignierter Grundlage." (Burmeister 1976, S. 1f.)

Zur Ichhaftigkeit gehört die Verarbeitung von manifesten psychischen Problemen mit selbstbemutternder Selbstsorge, mit Selbstaufwertung durch dauernde Aufmerksamkeit für das liebe leidende Ich ("Negaholiker" Carter-Scott 1990). "Das Schwelgen in den eigenen Schmerzen, das wollüstige Sichverbohren in jedem Kummer, die Sucht, von seinen Missgeschicken vor sich selbst und anderen möglichst viel ,herzumachen'" (Simmel 1990, S. 94) - all dies bildet eine Selbstaufmerksamkeit, die man sich im Bezug auf Positives meist nicht zubilligt. Ex negativo traut man sie sich schon zu - anlässlich der imponierenden Größe des eigenen Unglücks. Nun gilt die Selbstaufmerksamkeit dem Betroffenen als Pflicht der Nächstenliebe. Man ist sich dann selbst der Nächste und bleibt es meist auch. Die exklusive Zuwendung kann schließlich keiner so aufbringen wie man selbst. Sie avanciert zunächst zur schlechten Gewohnheit und missrät im weiteren Verlauf zu einer Art Sucht. "Es ist sehr merkwürdig, zu wie viel unkeuscher Arroganz gerade das Leiden - nicht nur das eingebildete, sondern auch das wirkliche - verführt. Nicht viele sind so selbstbewusst, zu glauben: so etwas leistet doch kein anderer! Aber viele sind so anmaßend, zu glauben und auszusprechen: so etwas leidet doch kein anderer!" (Ebd.)

Zur im Sinne von Problembearbeitung dysfunktionalen und die Egozentrik steigernden Sorte von Selbstaufmerksamkeit gehört die grübelnde Hyperreflexion. Kognitiv kommt bei ihr meist nicht viel heraus: Der Betroffene verwirrt sich oft in "Abstraktionen der Hilflosigkeit". "Der Klient ist sehr beschäftigt und konstruktiv tätig, indem er seine Gefühlsinhalte auf verschiedene Weisen anordnet und gleichsam in Muster legt, ohne dass es klar ist, um was es für ihn eigentlich dabei geht und wie er das empfindet, was da von ihm hin und wieder arrangiert wird." (Dahlhoff, Bommert 1978, S. 70) Das Individuum dreht sich mit der "Hyperreflexion" (Frankl) nur weiter in "seine" Probleme hinein und verfehlt sein In-der-Welt-Sein oder nicht-ichhafte Aufgaben und Zwecke. Gerade mit ihnen würde es möglich, die Fixierung auf die unmittelbare Befindlichkeit zu überschreiten. Darin liegt ein pathogenen Prozessen entgegenwirkendes Moment, wenn diese Selbsttranszendenz nicht mit einer Missachtung eigener Grenzen einhergeht.

Die imaginäre Vergrößerung des Ich sorgt zuverlässig dafür, dass das Subjekt noch mehr anderen ebenso verfassten Betroffenen in die Quere kommt, als dies durch Privatbesitz, Konkurrenz und Hierarchie schon ohnehin notwendig ist. Das mehr oder weniger faktisch verhinderte Größenselbst zeigt sich mit den ihm von außen gesetzten Schranken beschäftigt. Nicht die Grenzen dieser Subjektivitätsform und ihre Infragestellung kommen in den Blick. Die Nichtachtung und die mangelnde Anerkennung des Größenselbst verursachen Kummer und Streit. In der Ehre "betrifft die Verletzung nicht den sachlichen, realen Wert ­..., sondern die Persönlichkeit als solche und deren Vorstellung von sich selbst, den Wert, den das Subjekt sich für sich selber zuschreibt." (Hegel 14, S. 177)


Das Wir als Wille und Vorstellung

Die Ichhaftigkeit entsteht im Kontext der Probleme der Lebensweise in modernen kapitalistischen Gesellschaften. Um eine mutwillige Eindrehung des Individuums in sich selbst handelt es sich nicht. Umkehrappelle sind eine Themaverfehlung. Die Arbeit an der gesellschaftlichen Überwindung der Ursachen von Ichhaftigkeit orientiert sich auch daran, das der Ichhaftigkeit niveaugleiche Bedürfnis nach ihrer Überwindung ohne Antastung ihrer Ursachen unnötig zu machen. Viel Zerstörung wird von Sekten und Nationalisten in die Welt gesetzt, um die Individuen von ihrer Ichhaftigkeit zu befreien. Sie sollen sich in ein ebenso partikulares, aber nun kollektives Größenich tendenziell auflösen.

Das Wir und die Gemeinschaft erscheinen als positives Gegenteil der Ichhaftigkeit. Dabei unterlaufen egozentrische Strebungen den Pol der Gemeinschaftlichkeit und des Sozialen und verkehren ihn. Fritz Künkel zeigt dies an der Bekehrung zum Wir als "sozialer Scheinheilung" (1931, S. 69) und am Führertum (1931, S. 94ff.). Er untergräbt damit damals von links bzw. rechts anerkannte Leitbilder. Er stellt sie nicht frontal infrage, sondern macht sie in ihrer Gegenposition zum Ichhaften so stark, dass deutlich wird, wie schwierig die Voraussetzungen von dessen Überwindung sind und wie heuchlerisch viele kurzschlüssig als Überwindung propagierte Konzepte ausfallen.

Die Verkehrung der Gemeinschaft durch ihr vermeintlich klares Gegenteil, das egoistische Individuum, erweist sich auch als charakteristisch für das - bei allem offiziellen Holismus der Volksgemeinschaft - latente Übergewicht individualistischer Momente im Weltbild Hitlers. T)er Kampf aller gegen alle ist das implizite Programm der systematisch durch die Doppelorganisationen von Partei und Staat angeheizten Konkurrenz zwischen den Unterführern und deren Bewährung im Kampf gegeneinander um den Aufstieg in der Elite. Der "Rassismus geht hier aus der Zersetzung der holistischen Vorstellung durch den Individualismus hervor" (Dumont 1991, S. 187). "Hitlers Rassenvorstellung ist im Antisemitismus fundiert. Er allein vermag die deutsche Bevölkerung ,rassisch' zu vereinen, die sich ansonsten, wie uns gesagt wird, in vier 'rassische Grundelemente' aufteilt." (Ebd., S. 198) Hitler erweist sich als zutiefst vom individualistischen "Gift, das er bekämpfen wolle, selbst infiziert. Der Individualismus des Kampfes aller gegen alle untergrub in seinem Geist das, woran er gern geglaubt hätte und woran die Deutschen glauben sollten: die 'Volksgemeinschaft'" (ebd., S. 188). Die Ausrottung der Juden erscheint nicht zuletzt als Manöver Hitlers, die eine Seite des seine Weltanschauung charakterisierenden Widerspruchs, den Individualismus, auf die Juden zu projizieren und sich seiner mit ihrer Vernichtung zu entledigen.

Die Ichhaftigkeit bildet ein Resultat sowie eine Teilmenge von ungelebtem Leben und Weltlosigkeit und ein sie verstärkendes Moment. Viktor von Weizsäcker (1947, S. 179ff; 1956, S. 249f.) hat sich mit dem Ausdruck "ungelebtes Leben" auf die verpassten, nicht ausgeschöpften, also auch nicht konkretisierbaren Möglichkeiten bezogen." Die getöteten. Söhne, die ungeborenen Kinder, sind sie nicht wirksamer als alles andere? Auch die unmöglichen Pläne, die nie getanen Taten, sind sie nicht wirksamer als alles, was geschehen ist?" (Weizsäcker 1950, S. 191) Günter Anders hat Weltlosigkeit treffend charakterisiert: "'Menschen ohne Welt' waren und sind diejenigen, die gezwungen sind, innerhalb einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist; einer Welt, die, obwohl von ihnen in täglicher Arbeit erzeugt und in Gang gehalten, 'nicht für sie gebaut' (Morgenstern), nicht für sie da ist; innerhalb einer Welt, für die sie zwar gemeint, verwendet und 'da' sind, deren Standards, Abzweckungen, Sprache und Geschmack aber nicht die ihren, ihnen nicht vergönnt sind." (Anders 1993, XI) Für diese Existenz "trifft Heideggers Grundcharakterisierung menschlichen Seins: dass dieses eo ipso 'In-der-Welt-Sein' sei, nicht eigentlich zu", leben die Menschen doch "nicht eigentlich 'in', sondern nur 'innerhalb' der Welt" (ebd., XII).

Linke, die sich auf ungerechte Verteilung und die Verteidigung des Lebensstandards der Massen konzentrieren, vermögen nicht, ungelebtes Leben und Weltlosigkeit in einer vom Primat des abstrakten Reichtums beherrschten Welt als deren Folge wahrzunehmen und daraus dessen existenzielle Infragestellung zu entwickeln. Die Betroffenen schreiben weiter ungelebtes Leben und Weltlosigkeit dem eigenen Ungeschick oder den Untaten anderer zu. Falsche Selbstkritik und zermürbende gegenseitige Beschuldigungen bilden die Folge. "Die Wüste wächst, weh dem, der Wüste birgt!" (Nietzsche)


Literatur

Anders, Günther 1993: Mensch ohne Welt - Schriften zur Kunst und Literatur, München.

Baudrillard, Jean 1972: Fetischismus und Ideologie, in: Pontalis, J.B. (Hg.): Objekte des Fetischismus, FaM.

Brückner, Peter 1978: Über Krisen von Identität und Theorie, in: Konkursbuch 1, Tübingen.

Burmeister, Jürgen 1976: Thesen zur Berufspraxis des
therapeutisch-beratenden Psychologen,
Bochum.

Carter-Scott, Cherie 1990: Negaholiker: Der Hang zum Negativen, FaM.

Dahlhoff Bommert 1978: Das Selbsterleben in der Psychotherapie, München.

Dorschel, Andreas 1992: Die idealistische Kritik des Willens, Hamburg.

Dumont, Louis 1991: Individualismus, FaM.

Elias, Norbert 1987: Die Gesellschaft der Individuen, FaM.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1971: Werke, Hg. v. Moldenhauer/Michel, 20 Bde, FaM.

Jungk, Robert 1963: Die Zukunft hat schon begonnen.

Künkel, Fritz 1931: Grundzüge der politischen Charakterkunde, Berlin.

Lipovetsky, Gilles 1995: Der Narziß oder die Leere, Hamburg.

Simmel, Georg 1957: Wandel der Kulturformen (1916,), in: Ders.: Brücke und Tor, Stuttgart.

Simmel, Georg 1990: Vom Wesen der Moderne, Hg. v. Werner Jung, Hamburg.

Weizsäcker, Viktor v. 1947: Fälle und Probleme, in: Beiträge aus der allgemeinen Medizin 3, Stuttgart. Weizsäcker, Viktor v. 1950: Diesseits und Jenseits der Medizin, Stuttgart.

Weizsäcker, Viktor v. 1956: Pathosophie, Göttingen.

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Auswälzung der Schulden

Auch David Graeber will nur halten, was schon versprochen wurde

von Franz Schandl

Dem US-amerikanischen Anthropologen, Anarchisten und Vordenker der Occupy-Bewegung ist ein doch überraschender publizistischer Erfolg gelungen.


Die Rezensionen, vor allem in Deutschland, waren geradezu hymnisch: Der Spiegel hält "Schulden"* für ein "antikapitalistisches Standardwerk", die Frankfurter Allgemeine sprach von einer "Offenbarung", die Zeit fand es "furios" und die Süddeutsche "grandios". Wir hätten uns dem gerne angeschlossen, indes es wollte trotz wohlwollender Lektüre nicht gelingen.

David Graeber erzählt uns eine lange Geschichte, von den Sumerern bis heute reicht da der Bogen, den er aufgespannt hat. "Das vorliegende Buch ist also eine Geschichte der Schulden" (S. 25), schreibt er. Der Untertitel unterstreicht das mehr als deutlich. Graeber besteht darauf, dass der Ausgangspunkt aller gesellschaftlichen Ordnungen in Schuldbeziehungen begründet ist. Schuld und Schulden habe es schon vor dem Geld, ja vor der Schrift gegeben, er behandelt sie wie eine anthropologische Konstante.

Schuld ist eine Ungleichheit unter Gleichen: "Schulden sind etwas Spezielles, und sie entstehen in sehr speziellen Situationen. Erstens muss es eine Beziehung zwischen zwei Personen geben, die einander nicht als grundsätzlich unterschiedliche Arten von Wesen betrachten, die zumindest potenziell gleich sind und tatsächlich gleich in den Belangen, die wirklich wichtig sind. Sie befinden sich derzeit nicht in einem Zustand der Gleichheit - aber es besteht eine Möglichkeit, die Dinge wieder ins Lot zu bringen." (S. 127) "Schulden sind eigentlich ein Tausch, der nicht zu Ende geführt wurde." (S. 128)

Nicht nur der letzte Satz holpert, irgendwie ist das alles schlampig! Zumindest was den entwickelten Kapitalismus betrifft, sind Schulden dezidiert nichts Spezielles in speziellen Situationen (das mag in anderen Gesellschaften der Fall gewesen sein), sie sind vielmehr der Allgemeinheit der Finanzierung geschuldet, somit Regel, nicht Ausnahme. Auch ist der Tausch oder Kauf trotz Schulden zu Ende geführt, lediglich die Bezahlung steht noch aus.

Vorerst könnte man ja durchaus angetan sein, dort nämlich, wo Graeber eine Ontologie des Tauschs gründlich desavouiert. Smith' Argumentation von der Natürlichkeit des Tausches wird strikt abgelehnt und dies auch umfangreich ethnologisch begründet. "Für Ökonomen beginnt die Geschichte des Geldes immer mit einer Fantasievorstellung einer Welt mit Tauschhandel." (S. 29) Doch "niemand tauschte je Pfeilspitzen gegen Fleischstücke." (S. 35) Bezüglich der imaginären Dörfer des Adam Smith spricht er zu Recht von einem "Mythos vom Tausch". (S. 49) "Tatsächlich können wir mit gutem Grund vermuten, der Tausch sei gar kein sonderlich altes Phänomen, sondern habe sich erst in modernen Zeiten verbreitet." (S. 43) Ja, er gräbt sogar tiefer, wenn er ganz richtig feststellt, dass das Wort "Tausch" bei Aristoteles nie vorgekommen ist. (S. 412) So weit, so gut.


Fütterung der Ontologie

Damit hat es sich aber leider, andere Termini finden in keiner Weise eine ähnliche Hinterfragung, im Gegenteil, sie sind völlig überfrachtet. Kreditsysteme sollen mitunter schon seit ewig existieren, sie seien vor der Münze und vor dem Geld anzusiedeln. (S. 45) "Kreditsysteme, Anschreibungen, auch Ausgabenkonten gab es lange bevor es Bargeld gab. Diese Dinge sind so alt wie die Zivilisation." (S. 24) "Was wir heute virtuelles Geld nennen, war zuerst da." (S. 47) Hier wird die Ontologie gefüttert. Denn wenn jene tatsächlich sich mit dem Menschsein etablierten, ist schwer zu argumentieren, dass sie nicht ewigen Bestand haben sollen.

Auch ist die Frage zu stellen, ob man jede vermerkte Einbringungsverpflichtung oder überhaupt jedes Register gleich in das Schema von Schuld und Kredit pressen soll. Ob damit nicht "unsere" Sichtweise der Dinge Verhältnisse überfällt, die ganz anderen Logiken gehorchten, als sie uns geläufig sind.

Tausch ist für Graeber unpersönlich und äquivalent, der Kredit hingegen sollte persönlich und nicht äquivalent sein. Zumindest will er es so. Das mag jetzt etwas verwirren, und so ist es auch. Bezüglich Markt und Tausch finden sich permanent widersprüchliche Aussagen, möglicherweise aber auch der schnellen (und mäßigen) Übersetzung geschuldet. Manchmal steht Markt unter Anführungszeichen, manchmal nicht. Ich muss ehrlich sagen, ich hab mich nicht immer rausgesehen. Es war manchmal - obwohl überhaupt nicht kompliziert formuliert, geschweige denn hermetisch - eine äußerst mühselige Lektüre.

Die Sprache der Ökonomie ist zur Sprache des Alltags geworden, sagt Graeber (S. 95). Allerdings bedient er sich sehr unkritisch dieser Sprache. Die herrschende Begrifflichkeit ist allzu oft auch seine. Was wirklich ernüchtert, ist die völlige Unbefangenheit betreffend Alltagskategorien wie Ökonomie, Politik, Demokratie, Kapital, Kredit, die einfach verwendet werden, als sei keiner dieser Begriffe auch nur irgendwie problematisch. Permanent, ja penetrant findet sich ein positiver Bezug auf die Gerechtigkeit und natürlich auf die Werte (S. 185). Wert oder Werte sind laut Graeber ganz dem gesunden Menschenverstand folgend "Auffassungen des Erwünschten", dahingehend zu interpretieren, dass sie sagen, was wir "wollen sollten" (David Graeber: Die falsche Münze unserer Träume. Wert, Tausch und menschliches Handeln [2001], Zürich 2012, S. 20). Wert wird also entlang der scheinbar unproblematischen Schiene einer "Wertorientierung" (ebd., S. 21) diskutiert.

Die Politik-Definition, sie könnte aus einem Staatsbürgerkundelehrbuch sein, ist geradezu hanebüchen in ihrer Schlichtheit: "Schließlich ist Politik die Kunst der Überzeugung; in der politischen Dimension des gesellschaftlichen Lebens wird etwas tatsächlich wahr, wenn nur ausreichend viele Menschen daran glauben." (S. 360) Einige Zeilen weiter unten vergleicht er plötzlich Politik mit Magie, was der Sache schon näher kommt, weil es die kulturindustrielle Dimensionierung doch anspricht. Aber der Widerspruch bleibt einfach stehen. Alles in allem ist da vieles inkonsistent.

In sich handelt es sich um ein sehr ungeordnetes Buch. Es ist wie ein wilder Ritt durch die Weltgeschichte, durch Zeiten und Räume, durch Bevölkerungen und Gebräuche. Bewaffnet ist der Ethnologe mit einem Suchscheinwerfer, der primär einen einzigen Sachverhalt ausleuchten will: die Schulden. Hier hat ein sehr kenntnisreicher Autor ein relativ erkenntnisarmes Buch geschrieben. Er kapriziert sich auf ein Thema, fokussiert es so stark und blendet alles andere aus. Nichts zu Fabrik und Büro, zu Geschlecht und Rasse; zu Alltag und Kulturindustrie, zu Arbeit und Hausarbeit. Nichts auch zum Kauf und den Geschäften, was wohl beim Thema Schulden und Kredit naheliegend gewesen wäre. Nichts zu Konkurrenz und Monopol. Auch keine expliziten Theorien des Geldes finden sich. Nichts zur Differenz privater und öffentlicher Schulden, nichts zur Definition von Schuldner und Gläubiger, nichts zur Psychologie und Psychosomatik von Schulden.


Marktwirtschaft ist nicht Kapitalismus

"In der Praxis bedeutete dies, dass die Konfuzianer den Markt guthießen, aber den Kapitalismus ablehnten." (S. 274) Mit solchen Sätzen im Mittelalter-Kapitel unterstellt Graeber einen unendlich weiten Kapitalismus-Begriff, der sich primär an Spekulation und Wucher, Krieg und Abpressung orientiert. Im Mittelalter konnte aber noch gar keine Rede sein von Kapitalakkumulation und Kapitalismus. Zarte Ansätze gab es vielleicht in einigen oberitalienischen Städten.

Tatsächlich versucht sich Graeber durchgehend an der Division von Markt und Kapitalismus: "Dies wirkt widersinnig, weil wir uns an die Prämisse gewöhnt haben, Kapitalismus und Marktwirtschaft seien dasselbe. Aber wie der bedeutende französische Historiker Fernand Braudel erklärt hat, könnte man sie in mancher Hinsicht durchaus als Gegensätze betrachten. Während die Märkte dazu dienen, mit Hilfe von Geld Güter auszutauschen - historisch geben sie dem, der Getreide übrig hat, die Möglichkeit, Kerzen zu erwerben und umgekehrt (dies könnten wir volkswirtschaftlich abkürzen als W-G-W', 'Wirtschaftsgut-Geld-anderes Wirtschaftsgut') -, kann der Kapitalismus als Kunst bezeichnet werden, Geld einzusetzen, um weiteres Geld zu verdienen (G-W-G'). Normalerweise geht das am einfachsten, indem man ein offizielles oder De-facto-Monopol errichtet. Aus diesem Grund versuchten alle Kapitalisten, ob sie nun Handelsherren, Financiers oder Industrielle sind, Bündnisse mit den Machthabern zu schließen und die Freiheit des Marktes einzuschränken." (S. 274, vgl. auch S. 395)

Er reduziert den Markt hier auf seine Gebrauchswertseite. Doch die Dinge, die dort zum Angebot liegen, sind Waren, keine Güter. Der Markt ist kein Lagerhaus oder gar eine Abgabe- und Entnahmestelle, wo man gegen etwas Rechengeld zu unschuldigen Produkten kommt, sondern umgekehrt: die für den Markt produzierten Waren sind dazu da, über sie an Geld zu kommen. Einmal mehr feiert das Märchen, dass das böse Kapital (und sein Staat) den armen Markt bedrängen und unterjochen, seine Auferstehung, es gelte daher, den Markt aus diesen Zwängen zu befreien. Absurd auch die Vorstellung, Geld auf ein reines Zahlungsmittel einschränken zu können, ihm den Warencharakter auszutreiben.

Bezeichnend etwa das Lob des islamischen freien Marktes im Mittelalter (S. 320, S. 337). Besonders angetan hat es unserem Autor der orientalische Basar, wobei er ausdrücklich das Feilschen als "eine Quelle des Vergnügens" (S. 110) besingt. Überhaupt ist er in den Basar im Speziellen wie den Markt im Allgemeinen verliebt. Hier erscheint alles persönlich und die Gleichmacherei des Kommerzes ausgeschaltet zu sein. "Vor allem müssen die Marktbeziehungen auf etwas anderem als reiner Berechnung beruhen, das heißt auf etwas, das typischer für das wirtschaftliche Zusammenleben der Menschen ist; auf einem Ehrenkodex, auf Vertrauen, auf Gemeinsinn und gegenseitiger Hilfe. Unter diesen Bedingungen spielt der Wettbewerb nur eine sehr untergeordnete Rolle." (S. 404)

An anderer Stelle schließt Graeber den aufsteigenden Buddhismus in China mit dem Finanzkapital kurz. (S. 281) Also: die Konfuzianer hatten es mit dem Markt, die Buddhisten jedoch mit dem Kapital. Begrifflichkeiten wandern verwegen, aber sehr zielfixiert durch die Jahrhunderte, ja Jahrtausende. Graeber unterzieht sich keiner Anstrengung zu historisieren, im Gegenteil. Er denkt zusammen, was differenziert werden müsste. Er tut alles in seine große Schachtel.

Getreu den anarchistischen Postulaten kommt der Staat immer schlecht, der Markt aber meist ganz gut weg. Staat und Markt werden an vielen Stellen antipodisch gedacht, nicht als zusammengehörende Ergänzungen, die beide zur Kapitalherrschaft unabdingbar sind. Der gute Markt schimmert stets durch (S. 297).

Das Unterkapitel "Was ist also Kapitalismus?" (S. 363 ff.) hinterlässt große Ratlosigkeit: Zuletzt wird behauptet, der Überbau sei schon vor der Basis da gewesen, Fabriken und Lohnarbeit seien erst dazugekommen. Vorher waren schon: Banken, Brokerfirmen, Spekulationsblasen, Renten. Um dann zu resümieren: "Der geheime Skandal des Kapitalismus ist, dass er nie hauptsächlich auf der freien Arbeit beruhte." (S. 368)

Zur Illustration sei die Marx'sche Sicht zitiert: "Da die kommerzielle und Zinsform älter sind als die von kapitalistischer Produktion, das industrielle Kapital, das die Grundform des Kapitalverhältnisses ist, wie es die bürgerliche Gesellschaft beherrscht - und wovon alle andren Formen nur als abgeleitete oder sekundäre erscheinen -, abgeleitet, wie das zinstragende Kapital; sekundär, d.h. als Kapital in einer besondren Funktion (die seinem Zirkulationsprozess angehört), wie das kommerzielle, so hat das industrielle Kapital im Prozess seines Entstehens diese Formen erst zu unterwerfen und in abgeleitete oder besondre Funktionen seiner selbst umzuwandeln. Diese ältren Formen findet es vor in der Epoche seiner Bildung und seines Entstehens. Es findet sie als Voraussetzungen vor aber nicht als von ihm selbst gesetzte Voraussetzungen, nicht als Formen seines eignen Lebensprozesses. Wie es ursprünglich die Ware vorfindet aber nicht als sein eignes Produkt, und die Geldzirkulation vorfindet, aber nicht als ein Moment seiner eignen Reproduktion. Ist die kapitalistische Produktion entwickelt in der Breite ihrer Formen, und die herrschende Produktionsweise, so ist das zinstragende Kapital beherrscht durch das industrielle Kapital, und das kommerzielle Kapital nur eine aus dem Zirkulationsprozess abgeleitete Gestalt des industriellen Kapitals selbst. Aber als selbständige Formen müssen beide erst gebrochen und dem industriellen Kapital unterworfen werden. Dem zinstragenden Kapital gegenüber wird Gewalt (der Staat) angewandt, durch gewaltsame Herabsetzung des Zinsfußes, so daß es dem industriellen Kapital nicht mehr die terms diktieren kann. Dies aber eine Form, die den unentwickeltsten Stufen der kapitalistischen Produktion angehört. Die wahre Manier des industriellen Kapitals, es sich zu unterwerfen, ist die Schöpfung einer ihm eigentümlichen Form des Kreditsystems." (MEW 26.3: S. 460)

Marx argumentierte so: Kredite hat es schon lange gegeben, aber ein Kreditsystem ist lediglich dem Kapitalismus eigentümlich und spezifisch. Die vorgefundenen Formen werden nicht übernommen, sondern revolutioniert und den neuen Verhältnissen unterworfen. Es findet Transformation statt. Der Wucher von einst hat mit den Zinsen von heute bloß peripher zu tun. Marx notiert: "Daher der Kredit in irgendwie entwickelter Form in keiner frühren Weise der Produktion erscheint. Geborgt und geliehen ward auch in frühren Zuständen, und der Wucher ist sogar die älteste der antediluvianischen (vorsintflutlichen; Anm. F. S.) Formen des Kapitals. Aber Borgen und Leihen konstituiert ebensowenig den Kredit, wie Arbeiten industrielle Arbeit oder freie Lohnarbeit konstituiert. Als wesentliches entwickeltes Produktionsverhältnis erscheint der Kredit historisch auch nur in der auf das Kapital oder die Lohnarbeit gegründeten Zirkulation." (MEW 42: S. 441)


Schuldenerlass

Mit seinem Aufruf zu einem Schuldenerlass nimmt Graeber Anleihen in der Antike "Ein Ablassjahr nach biblischem Vorbild ist überfällig, für Staatsschulden wie für Konsumschulden." (S. 410) Das klingt sympathisch, ist es doch auch ein Einbekenntnis, dass die Verteilung durch die Geldwirtschaft immer in eine Schieflage gerät. Doch Vorsicht: Wie werden welche Schulden kategorisiert? Was stünde tatsächlich zur Annullierung an? Das bürgerliche Subjekt würde wahrscheinlich dafür plädieren, seine Schuldenstände zu liquidieren und seine Außenstände zu exekutieren.

Doch nehmen wir mal an, dieser Vorschlag ginge auf, ohne dass sofort ein Zusammenbruch erfolgt, was dann? Würden die entgangenen Schulden sich nicht in den zukünftigen Preisen wiederfinden? Und überhaupt: Beginnt dann das Spiel des Geldes und in unserem Fall das Spiel des Kapitals wieder von vorne? Folgen dem Ablassjahr die Anlassjahre? Konkrete Schuldenerlässe gibt es auch heute schon, es geht ja gar nicht anders: Privat- und Firmenkonkurse sind letztlich Schulderlässe, die Schuldner müssen bloß einen geringen Prozentsatz (zehn Prozent) zurückzahlen, um dann nach einigen Jahren als schuldenfrei zu gelten.

Wir wollen nicht zahlen wird erst zu einer elementaren Forderung, wenn gleichzeitig: Wir wollen nicht bezahlt werden proklamiert wird, was eigentlich nur logisch wäre: Denn wenn alle nicht zahlen, kann niemand mehr bezahlt werden. Doch vor dieser Logik schrecken die Occupys nicht nur zurück, sie scheint ihnen gar nicht in den Sinn zu kommen. Ihr Begriff- und Erkenntnisgebäude ist absolut konventionell, geht nirgendwo über die bürgerlichen Werte hinaus. Im Gegenteil, die erleben wieder einmal eine dieser seltsamen Reprisen.


Elementarer Kommunismus

"Ich habe die Ansicht vertreten, jedes Tauschsystem beruhe zwangsläufig auf etwas anderem, auf etwas, das zumindest in seiner gesellschaftlichen Ausprägung letzten Endes dem Kommunismus entspräche." (S. 282) Dazu zählt er Liebe, Geselligkeit, Menschlichkeit, Freundschaft, "die Existenz des Kosmos" (S. 282). "Kommunismus ist das Fundament des menschlichen Zusammenlebens. Er macht die Gesellschaft überhaupt erst möglich." (S. 102) Graeber spricht von einem "elementaren Kommunismus", etwa einen Menschen zu retten, wenn es uns möglich ist, jemandem Essen und Trinken in Not zu geben etc. - "Kommunismus gründet demnach weder auf Tausch noch Reziprozität - außer, wie ich angemerkt habe, in dem Sinn, dass gegenseitige Erwartungen und Verantwortlichkeiten ins Spiel kommen. Selbst hier scheint es besser, ein anderes Wort zu verwenden - 'Wechselseitigkeit' vielleicht -, um hervorzuheben, dass Austausch nach völlig anderen Prinzipien abläuft; es ist eine grundsätzlich andere moralische Logik." (S. 109)

So dürfte der "Kommunismus, der sich im Alltag äußert, was wir als 'Liebe' bezeichnen - die Grundlage aller zwischenmenschlichen Beziehungen sein, aber auf diesem Kommunismus wird stets ein System des Tauschhandels und üblicherweise der Hierarchie errichtet. Diese Tauschsysteme können verschiedenste Formen annehmen, die meist vollkommen unschädlich sind (Hervorh. F. S.). Doch hier haben wir es mit einer ganz bestimmten Art von berechnendem Tausch zu tun. Wie ich schon anfangs erläutert habe, ist es etwas ganz anderes, ob man jemandem einen Gefallen oder ob man Geld schuldet, denn Geldschulden können exakt berechnet werden." (S. 405)

Irgendwie sagt er: unser Leben und unser Alltag wären schon in Ordnung, sie werden aber usurpiert. Ich würde umgekehrt meinen, dass das, was er als Kommunismus bezeichnet, einerseits die Gegenwehr gegen die ökonomischen Zumutungen darstellt, andererseits aber durchaus eine Qualität hat, die in Ansätzen die Befangenheiten tendenziell überwinden kann. Diese Formulierung ist absichtlich vorsichtig. Denn zu behaupten, das Richtige sei schon von jeher da, es werde vom Falschen nur niedergehalten, lässt mich ein sehr dualistisches Weltbild unterstellen, wo die Bösen immer das oder die anderen sind.


Opfer gegen Täter

Genau so ist es. Die Weltgeschichte denkt Graeber ganz moralisch als ein "Wir" und ein "Die", als ein "Unten" und "Oben". Stets betont er den Gegensatz von Reichen und Armen, der für ihn einer von Gläubigern und Schuldnern ist. Im großen Crash von 2008 offenbarte sich "ein Betrug, ein unglaublich komplexes Kartenhaus, bei dem der Zusammenbruch in dem Wissen eingeplant war, dass die Opfer am Ende gezwungen sein würden, die Täter zu retten". (S. 392) Das ist dann die wissenschaftliche Übersetzung von 99 gegen 1. Eine kleine verschworene Clique kassiert nur ab und nimmt uns aus, und wir, die Lämmer der Unschuld, finanzieren die Wölfe der Schuld. Da ist der anarchistische Sympathisant des Marktes mit den keynesianischen Sympathisanten des Staates auf einer Linie.

Es ist doch keineswegs so, dass die kleinen Leute oder gar die beschworenen 99 Prozent nur Schuldner und die Banken und Konzerne nur Gläubiger sind. Man denke bloß an die Sparguthaben, die Lebensversicherungen und vor allem die Pensionsfonds. Schuldner und Gläubiger treffen sich in uns allen. Die Schuldknechtschaft (wenn man das Wort schon verwenden will) ist allgemeiner Natur, der Kapitalismus ist ein wahres Schuldenkarussell, und das dreht sich unaufhörlich. Die Spieler, die da so bereitwillig mitspielen, sollten doch nicht so tun, als herrsche Gerechtigkeit, wenn sie gewinnen, und als herrsche Ungerechtigkeit, wenn sie verlieren. Es wird ihnen übel mitgespielt, weil sie wie alle anderen üble Mitspieler sind. Die einen mehr, die anderen weniger, aber das ist oft mehr eine Frage der Kraft als des Willens.


Liberale Rezeption

Abschließend noch einige Bemerkungen zur Rezeption in Deutschland, die sogar in den bürgerlich-konservativen Medien (man denke nur an Frank Schirrmacher in der FAZ) geradezu enthusiastisch ausgefallen ist. Wenn der Markt so glitzert wie bei Graeber, ist der Liberalismus nicht fern. Der fühlt sich sodann magisch angezogen. So ziemlich alles, was ich hier bemängelt habe, wurde ihm dort positiv angerechnet.

Remigius Bunia etwa, einer dieser wohlwollenden Rezensenten, schreibt im Merkur über Graeber: "Einerseits mag er den Markt und sympathisiert mit einer Marktwirtschaft, die diesen Namen verdient; andererseits glaubt er nicht an den Staat und sieht im Staat schlicht einen Großkapitalisten, der in bestimmten Segmenten das Monopol hat - mit allen Nachteilen." (Heft 06, Juni 2012, S. 535) Laut Bunia gehe es mit Graeber darum, eine bessere Buchgeldwirtschaft zu entwickeln, denn "Wertbemessung" sei ein "urmenschliches Bedürfnis". (ebd., S. 536) Das ist richtig zusammengefasst, auf jeden Fall kommt es so rüber.

Remigius Bunia folgert sogleich: "Eindrucksvolle Kulturgüter sind undenkbar ohne Kapital. Flugzeuge, Opernaufführungen, Universitäten, Kinofilme, Computer samt Internet, Brücken und so fort hängen von ihm ab. Kapital lässt sich abstrakt begreifen als das Potential zu zukünftigen Handlungen." (ebd., S. 540) Stets geht es um die Finanzierung. Ohne Finanzierung läuft nichts. "Finanzierung im großen Stil ist nötig, wenn die Investition ein neues Kulturgut schaffen soll, zu dessen Erzeugung viel Einsatzbereitschaft und Material mobilisiert werden muss (...) Immense Schulden sind somit der Motor kultureller Entfaltung." (ebd., S. 540)

Was soll man da sagen? Vielleicht gar nichts, nur ein bissl kleinlaut fragen, in etwa: Baut die Finanzierung Gebäude und Brücken, erntet die Finanzierung die Felder und Gärten, lehrt die Finanzierung die Schüler und Studentinnen, schleppt die Finanzierung die Kühlschränke und Bierkisten, montiert die Finanzierung Waschbecken und Betriebsanlagen? Schreibt die Finanzierung Dramen und Romane, Gedichte und Essays, spielt die Finanzierung in Opern und Theatern die Rollen, hat die Finanzierung den Marxismus oder die Wertkritik hervorgebracht? - Wir haben es immer schon gewusst: Ohne Kapital sind wir nichts, gar nichts!

Es sind fähige Köpfe und fertige Hände, die hier letztlich walten, die Finanzierung ist nur ein Treibmittel aus ihrem wertvermittelten Fetischhaushalt, dessen sie bedürfen, um tätig zu werden und an die Lebens- und Produktionsmittel zu kommen. Alles, was sie können, vermögen sie nicht aufgrund des Geldes, sondern trotz des Geldes. Ohne Geld würden sie noch mehr vermögen, denn dann bräuchten sie sich nicht um den Fetisch kümmern, könnten sich auf die Sache konzentrieren. Heute aber sind diese Möglichkeiten ohne Finanzierung nicht zulässig, da sie Diebstahl an der Akkumulation wären. Bunia kommen derlei Fragen überhaupt nicht in den Sinn, man sollte es ihm auch nicht vorwerfen, ist er doch ein Agent aus der Propagandaabteilung des Kapitals. Aber auch bei Graeber, der das ja nicht ist, kommen derartige Überlegungen nicht einmal in Ansätzen vor.

Im Jungle World-Interview redet Graeber dann noch mehr Klartext als in seinem Buch: "Ob das Geld jemals ganz verschwinden wird, wer kann das sagen? Ich denke, in einer befreiten Gesellschaft ist es möglich, Geld so einzusetzen, dass es seine Funktion als vergleichende Maßeinheit für unterschiedliche Werte behält. Es ist schwer, sich eine komplexe Weltgesellschaft vorzustellen, in der bestimmte unterschiedliche Werte oder Arbeitsleistungen nicht über Geld miteinander vermittelt (alle Hervorh. F. S.) werden. Es wird diese Zusammenhänge, die Geld als Bezugspunkt erfordern, vermutlich weiterhin geben." (Jungle World 28, 12. Juli 2012) Wenn das so gesagt wurde, dann ist das schlicht eine Kapitulationserklärung.


* David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012, 536 Seiten, gebunden, 26,95 Euro. Seitenzahlen beziehen sich, so nicht anders angeführt, auf dieses Buch.

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REZENSION

von Julian Bierwirth

Robert Kurz: Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie. Horlemann-Verlag 2012, 420 Seiten, ca. 16,90 Euro


Mit "Geld ohne Wert" ist das letzte Werk des im Juli 2012 verstorbenen Robert Kurz posthum erschienen. Kurz versucht in dem über 400 Seiten starken Essay ein alternatives Verständnis der "Kritik der politischen Ökonomie" vorzulegen. Er entfaltet zunächst die Probleme, in die sich orthodoxe marxistische Positionen ebenso hineinbegeben wie die "Neue Marxlektüre" und weist mit dieser Beschreibung auf wesentliche methodische Schwierigkeiten dieser Ansätze hin. In seinem Versuch, diese zu überwinden, geht er einerseits über die bisherige wertkritische Theoriebildung hinaus - und bleibt andererseits doch hinter ihr zurück.

So kann das von ihm vorgelegte Verständnis des Zusammenhanges von gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Handlungen, das er bereits in früheren Aufsätzen angedeutet hatte, nicht vollständig überzeugen und wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Das muss nicht grundsätzlich schlecht sein, bringt den Essay jedoch ob des polemischen Stils des Autors oftmals in unsicheres Gewässer. Ob die von Kurz vorgelegte Weiterentwicklung wertkritischer Theoriebildung tatsächlich einen Fortschritt im Erkenntnisprozess darstellt, bleibt so zumindest unklar. Gleichzeitig fällt auf, dass die für die Erklärung der Dynamik des zeitgenössischen Kapitalismus zentrale Kategorie des "fiktiven Kapitals" in "Geld ohne Wert" nicht einmal auftaucht.

Auch wenn die Schrift den Anspruch, den großen Wurf einer wertkritischen Methodologie darzustellen, wohl nicht erfüllen kann - lesenswert ist sie allemal.

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REZENSION

vom Karl Meyerbeer

Michael Seidman: Gegen die Arbeit. Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38. Graswurzelrevolution 2011, 478 Seiten, ca. 25 Euro

"Wir arbeiten alle hart, aber wir arbeiten für uns" - berichtet die Trotzkistin Mary Low aus dem revolutionären Spanien der 30er-Jahre. Dass dem entgegen die Verweigerung der Arbeit ein "grundlegender Aspekt der Aktivität der Arbeiterklasse" ist, zeigt Seidman in seiner Dissertation (1982), die jetzt auf deutsch vorliegt. Mit umfangreichem Archivmaterial über die spanische Revolution und die französische Volksfrontregierung belegt er, wie stark die ArbeiterInnen hier wie da ihre neu errungene Macht dazu eingesetzt haben, sich der Arbeit zu entziehen - durch Fehlen und Feiern in Spanien und die Durchsetzung von Urlaub, Wochenende und Massenkonsum in Frankreich.

Das Buch beschreibt den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext und rekonstruiert die Kämpfe gegen die Arbeit aus der Sicht der ArbeiterInnen auf der einen und der Gewerkschaften, Parteien und Betriebe auf der anderen Seite. Auch wenn Seidman kein Wertkritiker ist und außer in der knappen Einleitung kaum theoretisch argumentiert, ist sein Buch für die Wertkritik relevant, zeigt es doch, dass die begriffliche Kritik der Arbeit ein empirisches Pendant in der Alltagskultur der ArbeiterInnen hat.

Die immer wieder konstatierte Vergottung der Arbeit findet Seidman dagegen bei den kommunistischen, sozialistischen und anarchistischen Organisationen, die gegen den Absentismus ihrer AnhängerInnen und Mitglieder erst ideologisch und später durch die Einführung bewährter und neuer Zwangsmittel vorgegangen sind - meist vergeblich.

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Die Antiquiertheit der Menschenwürde

Warum auch ein Recht auf Bildung nichts mit Menschenwürde zu tun hat

von Erich Ribolits

1. Das Menschenrecht ist ein Kind des bürgerlichen Weltbildes

Für Menschen, die sich dem Ideal der Mitmenschlichkeit verpflichtet fühlen und gegen Unterdrückung und Diskriminierung eintreten, gelten die Menschenrechte in der Regel als die wesentlichste Grundlage eines humanen Zusammenlebens. Die Doktrin der "Gleichheit" bzw. "Gleichwertigkeit" aller Menschen und des "gleichen Rechts für alle" gilt ihnen als unabdingbare Voraussetzung jeder menschenwürdigen Gesellschaft - Regierungen, die sich über Menschenrechte hinwegsetzen und in ihrem Einflussbereich die Gleichheit der Chancen von Menschen, an den gesellschaftlichen Möglichkeiten zu partizipieren, nicht in vollem Umfang sicherstellen, gilt es mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. In diesem Sinn werden auch Kämpfe um Veränderungen gesellschaftlicher Teilaspekte häufig mit dem Hinweis auf Menschenrechte legitimiert. Auch der (Wieder-)Einführung von Studiengebühren an Universitäten wird regelmäßig mit dem Argument begegnet, dass "Bildung ein Menschenrecht und keine Ware" sei und durch Studiengebühren das den Menschenrechten zugrunde liegende Ideal der (Chancen-)Gleichheit untergraben würde.

Die Idee der Menschenrechte wurzelt im Gedankengut der Aufklärung, ihre Verankerung in den demokratischen Verfassungen erfolgte im Zuge der Installierung der bürgerlichen Gesellschaft. Im Grunde genommen sind es die von den BürgerInnen in Abgrenzung zu Bauernstand und Adel erkämpften bürgerlichen Freiheiten, die heute als Menschenrechte gelten. Jeder Kampf um die Verwirklichung oder den Ausbau von Menschenrechten ist somit gleichbedeutend mit einem Urgieren der Eingangsversprechen der bürgerlichen Moderne, die in der Losung nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit ihren populärsten Ausdruck gefunden haben. Das Eintreten für Menschenrechte bedeutet damit in letzter Konsequenz, einen Kampf um die Verwirklichung einer rückwärtsgewandten Utopie zu führen. Denn zum einen bedeutet die Verankerung der Menschenrechte in den Verfassungen der bürgerlichen Demokratien selbstverständlich einen Fortschritt gegenüber den vorher herrschenden gesellschaftlichen Zuständen - die Forderung nach ihrer flächendeckenden und konsequenten Durchsetzung ist somit mit gutem Recht mit fortschrittlichem Nimbus behaftet. Zum anderen hinterfragt der Kampf um Menschenrechte die aktuelle Gesellschaftsverfasstheit allerdings in keiner Weise, sondern versucht diese zu tradieren, indem er (bloß) die konsequente Durchsetzung ihrer Prämissen einfordert; er stellt in letzter Konsequenz somit eine systemkonservierende Aktion dar.

Die im Rahmen der bürgerlichen Revolutionen erhobene Forderung nach "Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit" birgt in sich nämlich einen unüberwindlichen Widerspruch: Durch das Propagieren gleicher gesellschaftlicher Bedingungen für alle wird das Überwinden von Herrschaft und dieser geschuldeten Willkür versprochen; die konkrete Ausprägungsform, in der "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" in der bürgerlich-kapitalistischen Verfasstheit der Gesellschaft in Erscheinung zu treten imstande sind, verkehrt dieses Versprechen jedoch unversehens in sein Gegenteil. Die als Befreiung von Zwängen suggerierte Gleichheit aller stellt bloß die Grundlage einer neuen Form von Herrschaft und deren gewaltsam eingeforderten Ansprüchen dar. Die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft besteht in letzter Konsequenz darin, die Bedingungen des jeweils eigenen (Über-)Lebens in Konkurrenz zu allen anderen auskämpfen zu dürfen. Die propagierte Gleichheit meint bloß die für alle in gleicher Form gegebene Berechtigung, an diesem Kampf teilzunehmen. Und mit Brüderlichkeit wird nur die Kompensation eventueller Handicaps bezüglich der Möglichkeit der Teilnahme an diesem Kampf angesprochen, nicht jene Zuneigung, die verunmöglichen würde, andere überhaupt als KonkurrentInnen wahrzunehmen und sie in den Kampf jeder gegen jeden zu zwingen. Die den Menschenrechten zugrunde liegenden Prinzipien sind untrennbar mit der Repression des Konkurrenzzwangs verknüpft, der Ruf nach ihrer (endgültigen) Durchsetzung ist in diesem Sinn danach zu prüfen, inwiefern die gesellschaftliche Realität dabei nicht im Namen von Grundsätzen hinterfragt wird, die zwar vorgeben, das Gegenteil von Herrschaft und Ausbeutung zu sein, letztendlich aber bloß deren ideologischer Ausdruck sind.

Das finale Kriterium, an dem sich Sieg oder Niederlage im allumfassenden Konkurrenzkampf der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entscheidet, ist der Wert. Im Kapitalismus werden menschliche Bedürfnisse nur so weit und nur in jener Form befriedigt, als damit investiertes Geld in mehr Geld verwandelt werden kann, also nur, wenn damit Wert generiert wird. Weder werden Güter in diesem System produziert und am Markt feilgeboten, um Menschen mit überlebensnotwendigen oder ihr Leben bequemer machenden Dingen zu versorgen, noch werden Dienstleistungen bereitgestellt, um das Leben von Menschen angenehmer zu machen. Abgesehen von vereinzelten systemwidrigen Liebhabereien stellen diesbezügliche Aktivitäten keine sozialen Akte, sondern profitorientierte ökonomische Unternehmungen dar. Zentrale Bezugsdimension der bürgerlichen Welt ist der Wert, er ist jener Gott, der über alles und jeden richtet. Verwirklicht wird der Wert am Markt; in der nahezu totalitären Welt des Werts erlangt somit auch nur Geltung, was marktgängig ist. Nicht der Mensch mit seinen Bedürfnissen, Ängsten und Sehnsüchten ist somit Souverän der auf ihn wirkenden gesellschaftlichen Verhältnisse, auch er findet nur in marktgängiger Form - als Ware - "Gnade vor dem Wert". Die "Möglichkeiten des Lebens" von Menschen sind determiniert durch den in Gelddimensionen ausgedrückten Wert, den ihre Arbeitskraft am Markt zu erzielen imstande ist - ihr Zugang zu den Mitteln des Lebens ist nur in dem Maß gegeben, in dem sie über Geld verfügen. Zwar wird durch die Bezugnahme auf die Menschenrechte eine uneingeschränkte Anerkennung aller Individuen als Menschen suggeriert, in der Realität legt allerdings der alles dominierende Markt fest, wie viel Mensch-Sein ihnen vergönnt ist.


2. Die Gleichheit des Menschenrechts ist die Gleichheit vor dem Markt

Obwohl die Menschenrechte heute in großen Teilen der Welt formell anerkannt sind, verhindert das nicht, dass Jahr für Jahr Millionen von Menschen nur deshalb an Hunger und Krankheiten sterben, weil sie für - durchaus verfügbares - Essen und Medikamente nicht bezahlen können. Auch hierzulande wächst die Zahl der Menschen, denen nicht einmal mehr die minimalsten Grundlagen eines Lebens in Würde vergönnt sind, rapide an. Und unsereins hat sich zwischenzeitlich nicht bloß daran gewöhnt, dass viele Menschen nur durch die "milden Gaben der Fleißigen und Tüchtigen" überleben können; die "nicht Markttauglichen" gelten uns auch als Mahnung und Beweis dafür, dass es im Konkurrenzkampf gerecht zuginge. Die Wahrnehmung des Menschen - was ihm zugemutet und von ihm erwartet wird - ist im bürgerlich-kapitalistischen System zutiefst von der Vorstellung des warenproduzierenden und geldverdienenden Wesens bestimmt, "das elementare 'Rechte' seiner Existenz, sogar das auf 'Leben und körperliche Unversehrtheit', nur besitzen kann, soweit es etwas oder wenigstens sich selbst (und im äußersten Fall seine körperlichen Organe) zu verkaufen hat, also seinerseits zahlungsfähig ist. Nur insofern ist ein Mensch überhaupt rechtsfähig, also auch menschenrechtsfähig, als er im Rahmen der kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten funktionieren kann, die zum Naturgesetz der Gesellschaft erklärt worden sind. Die bürgerliche so genannte Aufklärung hat unter 'Menschsein' einzig und allein die Existenz von Subjekten der abstrakten 'Arbeit' in betriebswirtschaftlichen Funktionsräumen und des Warenverkehrs auf den Märkten [...] verstanden." (Kurz 2002: S. 16) Wie sehr die Menschenrechte eine Funktion der kapitalistischen Ökonomie darstellen, wurde kürzlich demonstriert, als, im Zuge der Diskussion einer Änderung der Vertragsbedingungen griechischer Staatsanleihen, die Rechtsanwälte verschiedener Hedgefonds wegen der erwarteten Schmälerung der Fonds-Renditen in Erwägung zogen, gegen die griechische Regierung eine Menschenrechtsklage beim Europäischen Gerichtshof einzubringen - das Eigentumsrecht gilt in der EU nämlich als Menschenrecht und eine Wertverminderung von Eigentum stellt somit eine Menschenrechtsverletzung dar. In Lateinamerika haben Hedgefonds ähnliche Prozesse in der Vergangenheit bereits für sich entscheiden können.

In diesem Sinn hat die Gleichheit der Individuen als Subjekte in der bürgerlichen Gesellschaft denselben Charakter wie die Gleichartigkeit aller ökonomisch vermittelten Dinge als Waren, die sich aus der Tatsache ihres In-die-Welt-Tretens unter dem Gesichtspunkt des Werts und der darauf beruhenden Vergleichbarkeit ableitet. Ihre propagierte Gleichheit besteht darin, dass sie allesamt nur als Waren in Erscheinung treten. Den Angehörigen der Gesellschaft kommt die ihnen in Form der Menschenrechte zuerkannte Besonderheit als "gleichberechtigte Subjekte" einzig als funktionierende Elemente der warenproduzierenden Gesellschaft zu. So wie eine Investition der jeweiligen ökonomischen Unternehmung in Bezug auf deren konkreten Inhalt letztendlich völlig gleichgültig gegenübersteht und diese einzig unter dem Fokus des generierbaren Werts beurteilt, bedeutet Gleichheit der Menschen im Kapitalismus somit auch die Gleichgültigkeit hinsichtlich ihrer jeweiligen besonderen Ausprägung als Mensch.

"Es geschieht ihnen wie den Waren. Nicht in ihrer konkreten Erscheinung, nicht als spezifische Gebrauchswerte sind sie von Belang und werden in Rechnung gestellt, sondern einzig nach Maßgabe ihres Wertcharakters. Das Subjekt ist die Wertform des Individuums, in Form seiner konkreten Allgemeinheit und 'unmittelbaren Austauschbarkeit', seiner Gleichheit und totalen Vergleichbarkeit. Als Individuen sind sie verschieden, aber in Form des Subjekts sind sie identisch, [...] so unterschiedlich sie nach Temperament oder Bedürfnis auch sein mögen, als Träger ein und derselben Charaktermaske sind sie vom gleichen Schlag." (Bruhn 1994: S. 133)

Die Gleichheit, die im Menschenrecht angesprochen wird, ist die Gleichheit von Wertverkörperungen, als die Menschen in dieser Gesellschaft in Erscheinung treten (müssen). Die Menschenrechte sind untrennbar mit dem repressiven Prinzip der Konkurrenz zwischen diesen Verkörperungen von Wert verbunden. Freiheit bedeutet somit bloß, seine Verwertungspotenz in Konkurrenz zu anderen uneingeschränkt feilbieten zu dürfen. Gleich und frei sind die Menschen nicht an sich, sondern nur als Konkurrenzsubjekte. Das zieht nach sich, dass auch eine Bezugnahme der Menschen aufeinander in einer Form, in der sie sich als Individuen unterschiedlicher Bedürftigkeit wahrnehmen, den Prämissen des Systems zuwiderläuft und systematisch erschwert ist. Genauso wie ihnen die Objekte ihrer Bedürfnisse nur über den Markt vermittelt entgegentreten, drängt die Logik des Systems sie auch hinsichtlich ihrer gegenseitigen Beziehungen mit aller Macht in das Korsett des Marktes. Normal erscheint die Begegnung mit anderen Menschen, wenn sie sich in der Dimension des Warentauschs unter Bedingungen der Konkurrenz abspielt, d.h. geprägt ist von gegenseitigem misstrauischem Belauern, Versuchen der Übervorteilung, der egoistischen Jagd nach Schnäppchen und Ähnlichem. Freiheit unter Konkurrenzbedingungen zwingt den Menschen die Charaktermaske des/der EgoistIn auf - "das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen vom Menschen" (Marx 1976: S. 364).

Der Ausbeutung, Hierarchie und Willkür, die im Feudalismus geherrscht hatte, hat die bürgerliche Gesellschaft die unpersönliche Gleichheit der Menschen im Warentausch entgegengesetzt. Dabei kann der sich in den Menschenrechten widerspiegelnde Anspruch, dass alle Gesellschaftsmitglieder dieselbe Möglichkeit des Erreichens der mehr oder weniger guten gesellschaftlichen Positionen haben sollen und niemand von vornherein benachteiligt oder begünstigt sein soll, durchaus als Fortschritt gegenüber dem vorherigen Prinzip der ständisch legitimierten gesellschaftlichen Schichtung und Positionsdeterminierung gesehen werden. Die zugleich vollzogene Installierung des Werts als oberstes gesellschaftliches Richtscheit hat diesem Sieg über die kaltherzige feudale Ordnung allerdings unversehens eine neue Dimension der Unmenschlichkeit verliehen. Durch das Propagieren des Anspruchs, dass niemand von vornherein mehr wert sein soll, sondern der "Wert von Menschen" erst über ihre Brauchbarkeit ermittelt werden soll, wurde der Wert als das Trennende zwischen den Menschen installiert. In diesem Sinn rekurrieren die Menschenrechte bloß auf Gleichwertigkeit aller Menschen, nicht darauf, dass allen Menschen - unabhängig von ihren jeweiligen Stärken und Schwächen - im gleichen Maß Würde zukommt.


3. Das (Menschen-)Recht auf Bildung ist das Recht, sich zur Ware machen zu lassen

Nirgends offenbart sich der Antagonismus von Würde und Wert deutlicher als im Erziehungs- und Bildungswesen. Einerseits tritt Erziehung und organisiertes Lernen stets mit dem Anspruch auf, den je erreichten Grad an Menschlichkeit an die nächste Generation weiterzugeben. Erziehung gilt als Kürzel für das Bemühen, Heranwachsende in die je gegebene menschliche Kultur einzuführen, sie in letzter Konsequenz dem in der Natur dominierenden Prinzip des Kampfes "jeder gegen jeden" zu entfremden. Der dem Menschen "von Natur aus" innewohnende "rohe" Überlebenswille soll durch Erziehung und Lernen im Sinne eines Anerkennens der bedingungslos gegebenen Würde des Nächsten relativiert werden - der Mensch soll befähigt werden, zwischen Selbsterhaltung und Nächstenliebe zu vermitteln. Anderseits hat Erziehung und Lernen in dem auf Verwertung von allem und jedem ausgerichteten System aber die Aufgabe, Menschen tauglich für das Überleben in genau diesem System zu machen, das heißt, ihre "Verwertbarkeit" zu fördern. Dabei geht es zum einen um die Schärfung jener Potentiale, durch die sie im Konkurrenzkampf erfolgreich sein können, zum anderen und vor allem geht es dabei aber auch darum, ihnen das Konkurrenzprinzip als das logische Prinzip jedweden Zusammenlebens darzustellen. Es geht also darum, sie zum Verinnerlichen der Vorstellung zu bringen, dass einzig ihr Erfolg im allumfassenden Konkurrenzkampf über ihren Wert und damit über die Möglichkeiten und Spielräume ihres Lebens entscheidet. In letzter Konsequenz müssen sie lernen, jeden eventuell aufkeimenden Impuls, anderen Menschen trotz deren Andersseins ein gleiches Maß an Leben in Würde zuzugestehen, zu unterdrücken und Andere nur als KonkurrentInnen wahrzunehmen.

In besonderem Maß kommt der angesprochene Antagonismus in der Forderung nach Chancengleichheit im Bildungswesen zur Geltung. Im "Lexikon der Politik" (Nohlen 2004) wird Chancengleichheit definiert als "Bestandteil liberaler, an individueller Leistung orientierter Gerechtigkeitsvorstellungen. Das Konzept der Chancengleichheit versucht, die divergierenden Werte Freiheit und Gleichheit kompatibel zu machen, indem allen Bürgern gleiche politische Rechte garantiert und allen Gesellschaftsmitgliedern gleiche Startchancen im ergebnisoffenen Wettbewerb um knappe Güter und Positionen eingeräumt werden."

In gleicher Form wie das Konzept der Menschenrechte ist auch die Forderung nach Chancengleichheit in bürgerlichen Gerechtigkeitsvorstellungen verankert. Es geht dabei um gleiche Wettbewerbschancen, nicht darum, allen Menschen einen qualitativ gleichen gesellschaftlichen Status zu garantieren. Das Konzept ist nicht am Modell einer egalitären Gesellschaft orientiert, gefordert wird bloß eine für alle im gleichen Maß gegebene Chance, unter gleichen Startbedingungen um die mehr oder weniger attraktiven Positionen in der Gesellschaft kämpfen zu dürfen. Die Forderung nach Chancengleichheit ist in einer Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit verankert, in der Freiheit untrennbar an Markt und Konkurrenz, sowie - das ist dabei ganz wesentlich - daran geknüpft ist, dass es "GewinnerInnen und VerliererInnen" gibt.

Indem gleiche Chancen gefordert werden, wird davon ausgegangen, dass die Mitglieder der Gesellschaft nicht in gleichem Maß Zugang zu Gütern und Positionen erhalten sollen und dass das jeweilige Ausmaß, in dem ihnen dieser Zugang gewährt wird, unter ihnen ausgekämpft werden soll. Ein Kampf, bei dem alle von der gleichen Linie starten, soll entscheiden, wer in welchem Maß in der Lage ist, die gewährten Chancen zu nutzen. Die ApologetInnen der Chancengleichheit wollen bloß, dass dieser Kampf fair über die Bühne geht und niemand von vornherein und durch leistungsfremde Mechanismen begünstigt oder benachteiligt wird. Wer schlussendlich zu den GewinnerInnen oder VerliererInnen zählt, soll einzig darüber bestimmt werden, wieweit jemand jene Leistungen erbringt, die in Hinblick auf die Verwertbarkeit von Arbeitskräften aktuell gefordert sind. Das Maß ihrer Verwertbarkeit und ihre Verwertungsbereitschaft sollen darüber entscheiden, ob und wieweit Menschen Zugang zu den gesellschaftlich bestimmten Mitteln des Lebens haben. Wer einen chancengleichen Zugang zu Bildung fordert, unterwirft sich damit aber nicht bloß dem Konkurrenzzwang des bürgerlichen Kapitalismus, viel wesentlicher ist, dass er sich damit auch einem spezifischen sozialdarwinistischen Menschen- und Gesellschaftsbild verankert: Die "Konkurrenz um gute Futterplätze" wird zur unüberwindbaren Natur des Menschen erklärt und im gleichen Atemzug eine soziale Ordnung legitimiert, die Menschen - je nach ihrer "Brauchbarkeit" - unterschiedliche Lebensmöglichkeiten zugesteht.

Die bürgerliche Pädagogik hat eine mit diesem Menschenbild korrelierende Ideologie entwickelt, die im Begriff "Begabung" ihren Ausdruck findet. Der Rekurs auf die "genetisch disponierten" unterschiedlichen Begabungen von Menschen wirkt gewissermaßen als "naturalistische Zurücknahme" (Koneffke 1969: S. 410) der idealisierten gesellschaftlichen Gleichheit. Indem behauptet wird, dass sich in den Ergebnissen eines fair ablaufenden Wettbewerbs die von Natur aus unterschiedlich gegebenen Begabungen von Menschen niederschlagen, wird ihr unterschiedlicher Zugang zu Positionen und Gütern gerechtfertigt. Durch Chancengleichheit sollen die Begabungen individuell gefördert und zu optimaler Entfaltung gebracht werden; wer trotzdem verliert, hat es eben - ganz objektiv - "nicht drauf" und muss sich - legitimerweise - mit eingeschränkten Lebensmöglichkeiten begnügen. Pierre Bourdieu hat diese Form der Rechtfertigung gesellschaftlicher Ungleichheit ohne Umschweife als "Rassismus der Intelligenz" (Bourdieu 1993) bezeichnet. Den rassistischen Aspekt der Begabungsideologie sieht er darin, dass, wie bei Rassismen üblich, dabei eine Biologisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge stattfindet - unbeeinflussbare (vorgeblich) biologische Tatsachen werden als Legitimation für die Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Menschen und sozialen Gruppen herangezogen. Die nicht untypisch als "GewinnerInnen" bezeichneten Bevorteilten der bürgerlichen Gesellschaft schaffen sich mit Hilfe des "Rassismus der Intelligenz" eine Rechtfertigung für die Privilegien in der von ihnen beherrschten sozialen Ordnung, er vermittelt ihnen das Gefühl, "Wesen höherer Art" zu sein.


4. Chancengleichheit - eine Chimäre

Wer glaubt, sich mit der Forderung nach Chancengleichheit im Bildungssystem als KämpferIn für eine humane Gesellschaft auszuweisen, ist - bewusst oder unbewusst - schon in die Falle der Begabungsideologie getappt. Der "in bester gesellschaftskritischer Absicht" vorgebrachte Ruf nach gleichen Bildungschancen für alle lässt bloß vergessen, dass auch ein "gerecht" organisiertes Bildungswesen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft niemals dafür da ist, Heranwachsenden dabei zu helfen, ihr Selbstbewusstsein und ihren "Eigen-Sinn" zu entdecken und zu kultivieren. Seine Aufgabe ist es, die gravierend unterschiedlichen Entfaltungs- und Lebensmöglichkeiten von Menschen in dieser Gesellschaft mit dem Alibi unterschiedlicher Begabungen naturalistisch zu legitimieren. Wie Bourdieu schreibt, funktioniert das Schulsystem "von unten bis ganz nach oben so [...], als bestünde seine Funktion nicht darin, auszubilden, sondern zu eliminieren. Besser: in dem Maß, wie es eliminiert, gelingt es ihm, die Verlierer davon zu überzeugen, dass sie selbst für ihre Eliminierung verantwortlich sind. Indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten und Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur. Die formale Gleichheit, die die pädagogische Praxis bestimmt, dient in Wirklichkeit als Verschleierung und Rechtfertigung der Gleichgültigkeit gegenüber der wirklichen Ungleichheit in Bezug auf den Unterricht und der im Unterricht vermittelten oder, genauer gesagt, verlangten Kultur." (Bourdieu 2001: S. 39)

Die Gleichheit dieser Gesellschaft - und damit jene, die im Menschenrecht angesprochen wird - ist nicht die für alle in gleichem Maß gegebene Möglichkeit, ihre Verschiedenheit entwickeln zu können, sondern (im günstigsten Fall) die Gleichheit aller, dem Richtscheit des Werts unterworfen zu sein. Was als (Chancen-)Gleichheit idealisiert wird, ist die Freiheit, sich unter Bedingungen systematischer sozioökonomischer Ungleichheit brauchbar für die Verwertung zu machen. Der Zwang, sich selbst zu Humankapital degradieren zu müssen, wird als Freiheit verklärt - Not wird zu (Menschen-)Recht umgedeutet:

"Dass das Individuum sich zu sich selbst als seine ursprüngliche Ware zu denken hat, dass es seine Mündigkeit im autonomen Umgang mit sich als seiner eigenen Verfügungsmasse zu beweisen hat, dass es seine Fähigkeit, zu seinen körperlichen und geistigen Kräften als Tauschwerten sich zu verhalten, immer aufs Neue erproben und unter Beweis stellen muss - all dies befördert das krud natürliche Individuum erst zum [im 'Menschenrecht' angesprochenen, E.R.] Menschen, zum Subjekt und zur Person, durch die hindurch, als seine Charaktermaske, das Eigentum als das vermenschlichte Allgemeine sich ausspricht. Das Privateigentum des Subjekts an sich selbst ist die Ontologie des Menschen an und für sich. [...] Subjekt ist er nur als das subjektivierte Eigentum, Mensch nur als selbstbewusste Ware, Bürger nur im Gleich und Gleich des Tausches." (Bruhn 1994: S. 128)

Die mit dem Chancengleichheitsappell untrennbar verknüpfte Vorstellung von Bildung als Investition zur Steigerung der individuellen Verwertbarkeit ist geknüpft an die Vorstellung von Bildung als einem knappen Gut. Indem Bildung auf den Status einer Ressource herabgewürdigt wird, bei der sich aufgrund ihrer begrenzten Verfügbarkeit logischerweise die Frage des "gerechten" Zugangs stellt, wird sie immanent auf vermarktbare Fähigkeiten, Fertigkeiten und Qualifikationen reduziert. Unter diesen Prämissen ist Bildung ein Synonym für eine über Zertifikate messbare und kauf- und verkaufbare Ware, die der Wertsteigerung der Arbeitskraft am Arbeitsmarkt dient. Um den mehr oder weniger gegebenen Zugang für alle zur "Ware Bildung" und um ihren Preis kann es dann auch einen Kampf geben, und dieser kann möglicherweise durch eine Politik der Chancengleichheit auch einen Gerechtigkeit suggerierenden Anstrich erhalten. Allerdings handelt es sich dabei letztendlich dennoch bloß um eine Chimäre, denn selbst wenn politische Schritte in Richtung Chancengleichheit im Bildungssystem gesetzt werden, verändert sich an der sozialen Verteilung des Zugangs zu sozialen, kulturellen, politischen oder wirtschaftlichen Lebensbereichen nämlich tatsächlich kaum etwas.

Die Forschung hat das, nachdem die Chancengleichheitsforderung in den 1960er und 1970er Jahren als Reaktion auf den "Sputnikschock" in fast allen westlichen Industrieländern auf die politische Agenda gekommen war, auch sehr bald erkannt und eine Reihe von AutorInnen - wie z.B. Heinz J. Heydorn (1980), Ivan Illich (1973), Pierre Bourdieu (1971) oder Stefan Blankertz (1989) - haben damals wiederholt vor der "Illusion der Chancengleichheit" gewarnt. Im wohl bekanntesten in dieser Zeit erschienenen Buch, das sich mit dem Thema kritisch auseinandergesetzt hat, wurden Ergebnisse einer umfangreichen, in den USA durchgeführten Untersuchung zu den Hintergründen sozialer Ungleichheit referiert. Zusammenfassend schreibt der Autor Christopher Jencks, dass ein - wie er es nennt - "Gleichmachen der Bildungschancen" nur sehr wenig dazu beitragen würde, Erwachsene hinsichtlich ihrer sozialen Situation gleicher zu machen. Selbst wenn Schulen dahingehend organisiert werden würden, dass sie sich in erster Linie um Schüler bemühen, die ihre Hilfe am meisten brauchen, bestünde kein Grund für die Annahme, dass es dadurch zu einer höheren sozialen Mobilität in der Gesellschaft käme (vgl. Jencks 1973: S. 275). Auch eine einige Jahre später hierzulande durchgeführte Studie weist nach, dass die in den letzten Jahrzehnten gesetzten Schritte zu einer Reduzierung materiell bedingter Bildungsbarrieren weder die Einflüsse des ökonomischen und kulturellen Milieus auf die Bildungsungleichheit besonders beeinflusst noch ernsthafte Folgen für die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft gezeitigt haben (vgl. Blossfeld/Shavit 1993). Die für Kinder verschiedener sozialer Schichten in unterschiedlichem Maß gegebene Wahrscheinlichkeit, eine gehobene gesellschaftliche Position zu erreichen, wird durch Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit im Bildungswesen erschreckend wenig verändert (genauer in: Ribolits 2009: S. 76 ff.).


5. Gleiches Recht auf Bildung für alle transportiert den Geist von Bildung als Investition

Durch die verstärkte Umsetzung des Anspruchs nach einem für alle im gleichen Maß gegebenen Recht auf Bildung gelingt es somit zwar nicht, die soziale Vererbung aufzubrechen, jedoch wird, dadurch dass Bildung auf diese Art verstärkt in den Gerechtigkeitsfokus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gelangt, die Wahrnehmung von Bildung als Investition massiv gefördert. Wie im ersten Teil dieses Textes skizziert wurde, ist die systembestimmende Grundprämisse des bürgerlichen Kapitalismus Konkurrenz; Gerechtigkeit kann im Vorstellungshorizont dieses Systems dementsprechend immer nur Wettbewerbsgerechtigkeit bedeuten - also für alle im gleichen Maß gegebene Teilnahmebedingungen am Konkurrenzkampf. Eine Gerechtigkeitsvorstellung, die jenseits der Auffassung liegt, dass sich soziales Leben in Form eines Kampfes "jeder gegen jeden" artikuliert, würde voraussetzen, die Normalitätsvorgaben dieses Systems zu transzendieren. Genau diese Idee der Überwindung der sich aus dem Status quo ergebenden Denkvorgaben ist letztendlich die Grundlage jeder Bildungsvorstellung, die sich nicht bloß als Qualifizierung versteht. Eine derartige, nicht als Zurichtung für den Markt verstandene Bildung ist aber kein knappes Gut, das man in einem mehr oder weniger gerecht organisierten Wettbewerb gewinnen oder verlieren und wiederum im Wettbewerb einsetzen kann, um sich eine vorteilhafte gesellschaftliche Position zu sichern. Bildung, die Selbstbestimmung und Emanzipation zum Ziel hat, ist nur für alle - oder eben für keinen - möglich. Das Ziel von Bildung, ein (tatsächlich) menschliches Zusammenleben "ohne Status und Übervorteilung" (Adorno 1959: S. 97) auf den Weg zu bringen, kann somit nicht durch den an einem "fairen Wettbewerb" orientierten Kampf um Chancengleichheit gesichert werden. In letzter Konsequenz hintertreibt ein unter dem Titel Menschenrecht gefordertes Recht auf Bildung für alle genau das, wofür es sich lohnen würde, um ein derartiges Recht zu kämpfen: Eine Bildung, die Mut für eine Gesellschaft macht, in der es um die Würde von Menschen und nicht um ihren Wert geht.

Es ist nicht leicht, die aus Wert und Konkurrenz gespeisten Denkvorgaben des Systems zu transzendieren, und schon gar nicht leicht ist es, Bedingungen für Bildungsprozesse zu schaffen, die ein derartiges Denken zum Ziel haben und dem Affix "Bildung" somit tatsächlich gerecht würden. Allerdings zu erwarten, dass systemverhaftete Bildungseinrichtungen die Entwicklung einer derartigen Autonomie fördern und die BesucherInnen von Bildungseinrichtungen im derzeit herrschenden Gesellschaftssystem an eine Kritik der alles überstrahlenden Konkurrenzprämisse heranführen könnten, ist schlichtweg naiv. Bestenfalls können die dort tätigen Lehrenden versuchen, eventuelle (noch) vorhandene Freiräume auszunützen und klammheimlich - in homöopathischen Dosierungen - Ansätze einer systemunterlaufenden Lernkultur zu verwirklichen. Grundsätzlich ist das Bildungswesen aber jener Bereich der modernen Gesellschaft, der in erster Linie dafür zuständig ist, die Vorstellung in den Köpfen von Heranwachsenden zu verankern, dass es gerecht sei, die je eigenen sozialen (Über-)Lebensmöglichkeiten gegen seine Mitmenschen auskämpfen zu müssen, und es ein besonderes Talent darstellen würde, sich in diesem zum "Wettbewerb" schöngeredeten Kampf als besonders tüchtig zu erweisen. In Schulen geht es nicht um die "Freisetzung des Denkens", dort geht es auch nicht darum, den Mut zu fördern, gesellschaftliche Utopien zu entwickeln, die über die Prämissen des Status quo hinausweisen; Schulen sind Orte, deren Funktion vor allem darin besteht, "die Erziehung zum tauglichen Konkurrenzsubjekt" (Huisken 2011: S. 57) durchzuführen. Die zentrale Botschaft, die Heranwachsende in der Schule verinnerlichen müssen, lautet: "Alle sind gleich - aber manche sind gleicher" (vgl. Orwell 2005) - und "gleicher" sind sie deshalb, weil sie den Vorgaben des Konkurrenzsystems besser entsprechen.

In diesem Sinn zeugt der Kampf um ein Recht auf Bildung für alle - der aus dem Anspruch gespeist ist, dass jede/r Heranwachsende mit den gleichen Voraussetzungen auf seinen/ihren Bildungsweg starten könne, indem schulisch oder vorschulisch für kompensatorische Maßnahmen gesorgt wird, durch die Defizite von Kindern aus "bildungsfernen" Schichten ausgeglichen werden - bloß von einem "sozial engagierten Gleichheitsfanatismus" (Huisken 2011: S. 61). Eine so gefasste Kritik an den herrschenden Zuständen - in denen ja tatsächlich nicht einmal noch das Eingangsversprechen der Moderne wirklich eingelöst ist, dass nur Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit für die Positionsverteilung in der Gesellschaft ausschlaggebend sein sollen - blendet die schulische Bedeutung und den außerschulischen Zweck des Leistungsvergleichs systematisch aus. Die Forderung nach Gerechtigkeit wäre im Sinne dieser Kritik schon erfüllt, wenn im Bildungswesen ohne Einfluss der Herkunftsfaktoren der Klassengesellschaft allein die systemrelevanten Leistungen der BesucherInnen darüber entscheiden würden, wer zur/zum SiegerIn oder VerliererIn wird (vgl. ebd.). Eine derart verstandene Gleichheit macht Menschen zur Ware - auch wenn sie unter dem Titel "Menschenrecht" transportiert wird.


Bibliografie

Adorno, Theodor, W., 1959: Theorie der Halbbildung, in: Ders.: Gesammelte Schriften Band 8, Soziologische Schriften I (hg. von Rolf Tiedemann), Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 93-121.

Blankertz, Stefan, 1989: Legitimität und Praxis. Öffentliche Erziehung als pädagogisches, soziales und ethisches Problem - Studien zur Relevanz und Systematik angelsächsischer Schulkritik, Wetzlar: Büchse der Pandora.

Blossfeld Hans-Peter/Shavit, Yossi, 1993: Dauerhafte Ungleichheit. Zur Veränderung des Einflusses der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen in dreizehn industrialisierten Ländern, in: Zeitschrift für Pädagogik 39 (1/1993), S. 25-32.

Bourdieu, Pierre, 1993: Der Rassismus der Intelligenz, in: Ders.: Soziologische Fragen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 252-256.

Bourdieu, Pierre, 2001: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik, Hamburg: VSA-Verlag.

Bourdieu, Pierre; Passeron, Jean-Claude, 1971: Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart: Klett.

Bruhn, Joachim, 1994: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg im Breisgau: Ça-Ira-Verlag.

Heydorn, Hans-Joachim, 1980: Ungleichheit für alle - Zur Neufassung des Bildungsbegriffs, Bildungstheoretische Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Huisken, Freerk, 2011: Über die Erziehung zum tauglichen Konkurrenzsubjekt, in: Lederer, Bernd (Hg.): "Bildung": was sie war, ist, sein sollte. Zur Bestimmung eines strittigen Begriffs, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 57-72.

Illich, Ivan, 1973: Entschulung der Gesellschaft. Entwurf eines demokratischen Bildungssystems, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Jencks, Christopher, 1973: Chancengleichheit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Koneffke, Gernot, 1969: Integration und Subversion. Zur Funktion des Bildungswesens in der spätkapitalistischen Gesellschaft, in: Das Argument 54, Berlin: Argumente Verlag, S. 89-430.

Kurz, Robert, 2002: Politische Ökonomie der Menschenrechte, in: Streifzüge 3/2002, S. 16.

Marx, Karl, 1976: Zur Judenfrage. Marx-Engels-Werke (MEW), Band 1, Berlin/DDR: (Karl) Dietz Verlag, S. 347-377.

Nohlen, Dieter (Hg.), 2004: Lexikon der Politik. Digitale Bibliothek Band 079, Berlin: Directmedia Publishing.

Orwell, George, 2005: Farm der Tiere. Ein Märchen, Zürich: Diogenes Verlag.

Ribolits, Erich, 2009: Lernen statt revoltieren? Zur Paradoxie der Forderung nach Chancengleichheit im Bildungswesen, in: Ders. (Hg.): Bildung ohne Wert. Wider die Humankapitalisierung des Menschen, Wien: Löcker, S. 67-85.

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REZENSION

von Maria Wölflingseder

Martin Mair: Erste Hilfe Handbuch für Arbeitslose. Hrsg. vom Verein "Aktive Arbeitslose", Media Austria 2012, 202 Seiten, ca. 12 Euro

Alle unfreiwilligen Langzeitkunden des AMS sind immer wieder bass erstaunt über die ständigen Neuerungen, mit denen sie hier konfrontiert werden. Besonders "innovativ" sind die Begründungen einer Bezugssperre. 100.000 sind einmal im Jahr mit einer solchen konfrontiert. In Wien bzw. in Österreich gibt es mehrere Beratungsstellen von Arbeitslosen für Arbeitslose, an die sich jene wenden können, die sich im Behördenwirrwarr verheddern. Einer dieser Vereine hat nun ein umfangreiches "Erste Hilfe Handbuch für Arbeitslose" herausgegeben. Eine Gruppe um den engagierten Martin Mair.

Dieses Handbuch stellt erstmals umfassend die gesetzlichen Grundlagen der Arbeitsvermittlung und der AMS-Zwangsmaßnahmen dar. Es zeigt, wie sich Erwerbsarbeitslose trotz verschlechterter Gesetzeslage und Rechtspraxis gegen die zahlreichen Fallen des AMS wehren können und wo die zahlreichen Ungereimtheiten der AMS-Bürokratie liegen. Von der Antragstellung und den Voraussetzungen für den Bezug über die Kontrollmeldung, den Betreuungsplan, die Arbeitsvermittlung, die Maßnahmen bis hin zu Bezugssperre und Bezugseinstellung sowie zu Bescheid, Rechtsmittel und Datenschutz wird alles durchexerziert. Hilfreich und verdienstvoll! Dass auch ausführlich auf die "menschenrechtliche Dimension als neuen Bündnispartner" eingegangen wird, ist jedoch eine unnötige Illusion.

Aktive Arbeitslose
www.aktive-arbeitslose.at
kontakt@aktive-arbeitslose.at
Krottenbachstraße 40/9/6
A-1190 Wien

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Auslauf

Traurig

von Petra Ziegler

Am besten ganz großes Theater. Trifft hemmungslose Prahlerei im Allgemeinen eher auf Missbilligung, kann sich mit weit besseren Erfolgsaussichten der Anteilnahme des jeweiligen Umfelds versichern, wer laut genug sein Leid beklagt. Selbstdarstellerisches Talent vorausgesetzt, avanciert eins so zum Mittelpunkt, zieht Augen und Ohren auf sich, macht jede Gelegenheit zur Bühne. Im Ringen um Aufmerksamkeit bringt gekonntes Frustablassen Punkte. Immerhin Troubles - selbst wer sonst kaum was hat, bleibt damit im Rennen.

Leise Traurigkeit verblasst neben wuchtig inszeniertem Unglück. Mit Traurigkeit ist nichts anzufangen. Weder als melancholischen Weltschmerz lustvoll ersäufen, noch als schicke Tristesse begrüßen kann eins sie. Traurigkeit ist und macht wenig anziehend, sie lässt sich so recht weder aus- noch vorführen. Sie behindert unzulässig die Betriebsamkeit, was einzig im Trauerfall noch toleriert werden kann, und taugt wenig zur Geschäftemacherei. Das macht das (erfolgreiche) Bemühen der Pharmafirmen nachvollziehbar, derlei Missstimmung als depressive Störung zu klassifizieren und entsprechend zu medikalisieren.

Es ist ein Gefühl, "als ob die Seele unwohl wäre" (Kästner), Bedrücktheit, eine Neigung zu Rückzug, gemischt mit Wehmut und Trennungsschmerz. Durchaus unverhofft - eins ist ja nicht aus irgendeinem Wolkenkuckucksheim gefallen oder hat halluziniert - scheint rundum alle Perspektive verbaut. Die Anlässe sind so vielfältig wie inkommensurabel: Abschied (für immer, von der Jugend oder auch nur vom Sommer), eine zerbrochene Freundschaft, (kollektive) Verblendung, der Gedanke an Mögliches und doch Unverwirklichtes, vergebliche Mühe, eine (im schlimmsten Fall selbst) versagte Freude, aus Unachtsamkeit Versäumtes; ja, auch verloren gegangene Träume gehören hier her; eine nicht geglückte Annäherung, mit Gelderwerb vergeudete Zeit...

Eher unfreiwillig von der Rolle, sind uns Rückkehr und Wiedereinordnung ins zeitgenössische Getriebe erschwert. Eins müsste sich dazu erst überwinden, müsste. Zögert eins an diesem Punkt, haben wir einen Moment individueller Ver-Weigerung. Viel ist das nicht. Die Stimmung kann kippen, in Resignation, sentimentale Verklärung, egozentrische Nabelbeschau, kann sich in endloser Selbstspiegelung verlieren. Oder eins greift zu psychoaktiven Substanzen und schluckt's runter. Gesellt sich Wut dazu, bringt das vielleicht eher wieder in Fahrt, aber ebenso leicht ins alte Fahrwasser.

Traurig ist eins meist aus "gutem" Grund. Hier rührt sich eine Ver-/Mittlerin zwischen dem, was ist, und dem, was sein kann (mitunter auch: gewesen ist), zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit. Weniger Wegweiserin, eher Indikator, ein jedenfalls deutlicher Hinweis auf Fehlendes. Da will nicht hingenommen werden, erst recht nicht, was sich vermeiden lässt.

Die Nicht-Notwendigkeit der herrschenden Zustände ist geradezu das Charakteristikum unserer Zeit, macht sie skandalös und unannehmbar. Wann immer uns vorgerechnet wird, wie viel an monetären Mitteln nötig wäre - für die Versorgung aller mit Essentiellem etwa, für dies oder jenes -, heißt das in Wahrheit: Es ist machbar! Wir können das! Nicht, es wäre vorstellbar irgendwann, in hundert Jahren vielleicht..., sondern: Jetzt! (Oder allenfalls, sobald das Nötige herangeschafft ist.) Dass unsere Wirklichkeit eine andere ist, liegt nicht an mangelnden Fähigkeiten oder Kenntnissen, nicht an technischem oder logistischem Unvermögen, nicht mal am Unwillen, an Gott oder Teufel, schlechtem Karma oder irgendeiner menschlichen Natur. Es ist der verrückten Gewohnheit geschuldet, allem, was es so braucht, auch noch Wert anzudichten. Das ist uns ganz selbstverständlich geworden, nennt sich Geld und bestimmt die Regeln: Nur was sich rechnet, darf wirklich werden, Machbarkeit entscheidet sich an Finanzierbarkeit. Und so gut wie alle glauben dran.

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AutorInnen

Roger Behrens, 1967. Lebt in Hamburg, Weimar und Belo Horizonte. Philosoph und Sozialwissenschafter. An mehreren Universitäten, bei testcard und Zeitschrift für kritische Theorie tätig. Buchautor, zuletzt: Verstummen. Über Adorno (2004).

Julian Bierwirth, 1975. Lebt in Göttingen, Studium der Sozialwissenschaften. Weltverbesserer, z.B. bei Gruppe 180° - Für einen neuen Realismus und emanzipationoderbarbarei.blogsport.de

Meinhard Creydt, 1957. Soziologe und Psychologe, lebt in Berlin. Autor von Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit (2000). Weitere Texte auf: www.meinhard-creydt.de

Lorenz Glatz, 1948. Streifzüge-Redakteur.

Friederike Habermann, hat Ökonomie, Geschichte und Politikwissenschaft studiert. In sozialen Bewegungen aktiv. Mehrerer Bücher, u.a. Der Homo oeconomicus und das Andere. (2008), Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag (2009).

Thomasz Konicz, 1973. Studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover, Wirtschaftsgeschichte in Poznan, wo er wohnt. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa.

Stefan Meretz, 1962. Lebt in Berlin. Studien der Werkstoffwissenschaften und Informatik. Schwerpunkte: Freie Software und Technikentwicklung. Im Diskussionskreis Wege aus dem Kapitalismus, Blogger auf keimform.de. "Traforat" der Streifzüge.

Karl Meyerbeer, seit Mitte der 1990er in der radikalen Linken aktiv. Lebt in einer Kommune in Thüringen. Mitherausgeber von Topf & Söhne. Besetzung auf einem Täterort (2012).

Emmerich Nyikos, 1958. Historiker, lebt als freier Autor in Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozess. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems (2010).

Erich Ribolits, 1947. Lebt in Wien. Bildungswissenschafter an mehreren Unis. Forscht zum Verhältnis von Arbeit, Bildung und Gesellschaft. Autor von Die Arbeit hoch? (21997) und Bildung - Kampfbegriff oder Pathosformel (2011). "Traforat" der Streifzüge.

Mladen Savic 1979 in Zagreb, damals Jugoslawien, studierte Germanistik und Philosophie in Québec später in Wien, Eigenbrötler.

Holger Schatz, 1967. Soziologe, mal freiberuflich erwerbstätig, mal nur tätig. Lebt in Freiburg. Autor von Arbeit als Herrschaft (2004). Weitere Texte auf: www.holgerschatz.net

Franz Schandl, 1960. Streifzüge-Redakteur.

Hedwig Seyr, seit mehr als einem halben Jahrhundert an der Donau; zuletzt in Wien Französisch und in Bratislava Deutsch unterrichtet; gegen Staatsgrenzen, für Fahrräder.

Norbert Trenkle, 1959. Lebt in Nürnberg. Vom Studium der Betriebswirtschaft zur Ökonomiekritik. Freier Publizist; krisis-Redakteur. Zuletzt mit Ernst Lohoff Autor von Die große Entwertung (2012).

Maria Wölflingseder, 1958. Streifzüge-Redakteurin.

Petra Ziegler, 1969. Streifzüge-Redakteurin.

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IMPRESSUM

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Quelle:
Streifzüge Nr. 56, Herbst 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2013