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STREIFZÜGE/028: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 55, Sommer 2012


Streifzüge Nummer 55 / Sommer 2012

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALT

Ernst Lohoff und Norbert Trenkle: Auf der Mülldeponie des fiktiven Kapitals.
Die Grenzen des finanzkapitalistischen Krisenaufschubs und der Irrwitz der "Sparpolitik"

Severin Heilmann: Probe entfällt wegen Auftritt!

Maria Wölflingseder: Lauter Lustbarkeiten - trotz alledem.
Das Leben zwischen Hingabe und Widerstand

Roger Behrens: Reduzierter Versuch über Lust und Liebe

Ricky Trang: Occupied by the Spectacle. Zu Raoul Vaneigem:
Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben

Franz Schandl: Kurven der Lust.
Fragmente und Umrisse einer Typologie

Elisabeth Pein: Die Umarmung nach Picasso

Peter Pott: Lust holt man sich. Mit Liebe

Meinhard Creydt: Wohl und Depression

Lorenz Glatz: Lust auf Befreiung.
Fünf Bemerkungen. Sprunghaft

Home Stories: mit Beiträgen von Martin Scheuringer
und Maria Wölflingseder

Peter Klein: "Kapitalismus forever".
Zwei Briefe zu Wolfgang Pohrts Buch

Peter Samol: Pauschalausfälle

Erich Ribolits: Kritische Bildung.
Königsweg zu einem veränderten gesellschaftlichen Sein?

Kolumnen
Immaterial World: Stefan Meretz
Rückkopplungen: Roger Behrens

Rubrik 2000 abwärts
Franz Schandl (F.S.)
Petra Ziegler (P.Z.)
Dominika Meindl (D.M.)
Peter Mitmasser (P.M.)
Lukas Hengl (L.H.)
Andreas Wally (A.W.)

*

Ein

lauf

von Severin Heilmann

Unsere Streifzüge sind diesmal ausgedehnter Art, heften wir uns doch an die Fersen einer ausgesprochenen Vagantin. In ihrer Nähe bleibt nicht viel mehr eindeutig. Ich selbst, verehrte/r Leser/in, sah mich in theoretischer wie praktischer Vorbereitung zur gegenständlichen Nummer nicht selten mit ihrem zwitterigen Wesen konfrontiert. So sind etwa Lust haben auf und Lust empfinden durch, wenn's drauf ankommt, zwei mitunter recht verschiedene Regungen. Damit sich niemand einen begrifflichen Fehltritt mit praktischen Folgen zuziehe, ist nützliches Rüstzeug in Form eines Glossars eingepackt. Denn auf der abwechslungsreichen Erkundungstour ist uns kein Weg, keine Betrachtung zu steil: Van Beethoven bis zum Schweinsbratl erstreckt sich die Route. Auch die gegenwärtigen Depressionsgebiete sparen wir nicht aus und nehmen selbst von dort noch einen bittersüßen Abstieg.

Dass dieser Streifzug fällig war, mögen sich aufmerksam Lesende schon gedacht haben, verrät ihnen doch der Untertitel (bitte zurückblättern), dass wir mit der Lust unter einer Decke stecken. Was wir da aber genau treiben, ist dem Erzeugnis nicht immer unmittelbar anzusehen. Sie werden sich gar schon zu der Verdächtigung hinreißen haben lassen, dass da was ironisch zu verstehen sei; vielleicht als Anspielung auf die Textwüste, die sich dahinter vor ihnen auftut. Was aber doch ebenfalls für den eigentlichen Sachverhalt spräche, dass wir nämlich durchaus ein lustiger Haufen sind, nicht nur in der Redaktion, da vielleicht noch am allerwenigsten. Doch wie so fast alles ist auch unser Bestreben nicht frei von Widerspruch: Gesellschaftskritik leisten, ohne selbst unlustig zu werden, wo doch gerade das Unlustige Gegenstand der Betrachtung ist, fällt nicht gerade leicht. Drum bleibt, wenn's gelingt, jene unlustige Kritik als Treibsatz möglichst dicht angeschlossen an unsere Trägerrakete einer lustvollen Perspektive.

Der Einstieg ist ja nun bewältigt, folgen wir der Neigung und genießen Ein- und Ausblick. Viel Vergnügen!

*

Auf der Mülldeponie des fiktiven Kapitals

Die Grenzen des finanzkapitalistischen Krisenaufschubs und der Irrwitz der "Sparpolitik"

von Ernst Lohoff und Norbert Trenkle

1.

In den letzten drei Jahrzehnten hat sich das Gesicht des Kapitalismus vor allem in einer Hinsicht dramatisch verändert: Noch nie in seiner Geschichte hatte der Finanzsektor auch nur ansatzweise so großes Gewicht innerhalb der Gesamtwirtschaft wie in der gegenwärtigen Epoche. In den 1970er Jahren waren Derivate noch so gut wie unbekannt. Heute liegt das Gesamtvolumen allein dieses neuen Typs von Finanzmarktprodukten nach Schätzungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bei 600 Billionen Dollar und erreicht damit ungefähr das Fünfzehnfache der weltweiten Summe der Bruttoinlandsprodukte. Im Jahr 2011 belief sich der tägliche Umsatz auf den Weltdevisenmärkten auf 4,7 Billionen Dollar. Weniger als ein Prozent ging auf Transaktionen auf den Gütermärkten zurück. Der Kauf und Verkauf von Aktien, Schuldtiteln und anderen Zahlungsversprechen ist ins Zentrum der Kapitalakkumulation gerückt, und die "Realwirtschaft" ist zu einem bloßen Anhängsel der "Finanzindustrie" geworden.

Spätestens seit das Platzen der US-Immobilienblase die rasanteste Talfahrt der Weltwirtschaft nach 1930 auslöste, wird diese Entwicklung von allen Seiten vehement beklagt. Die Aufblähung des Finanzüberbaus soll für die Malaise verantwortlich sein. Nach dem Crash von 2008 richtete sich der Zorn vor allem gegen Banken und andere private Finanzmarktakteure, die, wie es hieß, in ihrer "Profitgeilheit" risikoblind geworden seien. Mittlerweile hat sich der Fokus zur Staatsschuldenkrise hin verschoben, und es stehen nun verstärkt die angeblich verschwendungssüchtigen staatlichen Kreditnehmer am Pranger. Die Grundvorstellung aber ist hier wie dort die gleiche: Alles träumt von der Rückkehr zu einem "gesunden", auf "ehrlicher Arbeit" gegründeten Kapitalismus, einem Kapitalismus, in dem die "Realwirtschaft" den Ton angibt und die Finanzwirtschaft jene nachgeordnete, dienende Rolle spielt, die ihr die volkswirtschaftlichen Lehrbücher andichten.

Gerade in der Krise treten die Widersprüche und Verrücktheiten des Kapitalismus schärfer denn je hervor. Das herrschende Denken jedoch will davon nichts wissen und redet nur von angeblichen "Fehlentwicklungen" und "spekulativen Übertreibungen" in einer besonderen Abteilung des Systems. Das aber kommt nicht nur einem Generalfreispruch für die angeblich alternativlose marktwirtschaftliche Ordnung gleich, sondern verbindet sich reibungslos mit einer Personifizierung der gesellschaftlichen Übel, die den "Bankern" und "Spekulanten" - wenn nicht gleich "der amerikanischen Ostküste" - angelastet werden. Die überall grassierende einseitige Kritik am Spekulationskapital und an den sich immer höher türmenden Schuldenbergen ist aber nicht nur ideologisch verquer bis gemeingefährlich, sie stellt gleichzeitig den realen ökonomischen Zusammenhang auf den Kopf. Dass die manifesten Krisenschübe von der Finanzsphäre ihren Ausgang nehmen, heißt in keiner Weise, dass dort die grundlegenden strukturellen Krisenursachen zu suchen sind.

Die Verwechslung von Auslöser und Ursache ist keine Erfindung unserer Tage. Schon 1857 beim ersten großen Weltmarktcrash machten solche Pseudoerklärungen die Runde. Ein gewisser Karl Marx spottete damals: "Wenn Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung und nicht den letzten Grund und das Wesen darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen von Industrie und Handel durch Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansahen." (MEW 12, S. 336)


2.

Die kapitalistische Produktion verfolgt nur einen Zweck: die Verwandlung von Geld in mehr Geld. Kommt dem Kapital die Aussicht auf Verwertung abhanden, hört es auf Kapital zu sein. Deshalb ist das kapitalistische System zur Expansion verurteilt. Es muss sich immer neue Verwertungsfelder erschließen, immer mehr lebendige Arbeit einsaugen und immer höhere Warenberge auftürmen. Schon im 19. Jahrhundert kam es immer wieder zu Unterbrechungen dieses Ausdehnungsprozesses. Gemessen an den aufgehäuften Massen von Kapital herrschte periodisch Mangel an profitablen "realwirtschaftlichen" Anlagemöglichkeiten. So oft sich solche Überakkumulationskrisen anbahnten, drängte verstärkt Kapital in den Finanzüberbau, wo es sich eine Zeitlang als "fiktives Kapital" (Marx), also durch die Akkumulation von monetären Ansprüchen, vermehren konnte. Erst wo diese Kapitalvermehrung ohne Verwertung an ihre Grenzen stieß, kam es dann zu manifesten Krisenschüben.

Im Krisenprozess unserer Tage wiederholt sich dieses Grundmuster - allerdings in ganz neuen Dimensionen. Schon die zeitliche Dauer spricht Bände. Einst ein kurzfristiges, höchstens ein bis zwei Jahre währendes Phänomen am Vorabend der zyklischen Kriseneinbrüche, ist die Vermehrung des fiktiven Kapitals zum Hauptmerkmal einer ganzen Epoche geworden. Seit den frühen 1980er Jahren nimmt die Gesamtmasse an auf den Finanzmärkten gehandelten Eigentumstiteln ununterbrochen und exponentiell zu. Zwar wechselten die primären Träger dieser Dynamik mehrfach (Staatsanleihen, Aktien, Hypothekenkredite, Derivate etc.), doch stets bildete die "Finanzindustrie" das Zentrum, von dem die globale Kapitalvermehrung abhing.

Das kommt nicht von ungefähr. Anders als in früheren Stadien kapitalistischer Entwicklung ist das Ausweichen in den Finanzüberbau in den letzten dreißig Jahren nicht mehr das Resultat eines nur vorübergehenden Fehlens ausreichender realwirtschaftlicher Verwertungsmöglichkeiten. Vielmehr ist seit dem Ende des fordistischen Nachkriegsbooms eine selbsttragende realwirtschaftliche Akkumulation ein für allemal unmöglich geworden. Denn der enorme Produktivitätssprung im Gefolge der dritten industriellen Revolution führte zur massenhaften Verdrängung von Arbeitskraft aus den wertproduktiven Sektoren und damit zum Abschmelzen der einzigen Grundlage der Wertverwertung: der Vernutzung lebendiger Arbeitskraft in der Warenproduktion. Deshalb kann die globale Akkumulationsbewegung schon seit Jahrzehnten nur weiterlaufen, weil die Finanzsphäre über die fortwährende Erzeugung neuer monetärer Ansprüche zum zentralen Motor der Kapitalvermehrung geworden ist. Gerät dieser finanzindustrielle "Produktionsprozess" ins Stocken, ist ein katastrophaler Absturz der Weltwirtschaft unvermeidbar.


3.

Im gängigen Börsenjargon ist immer wieder die Rede davon, in Wertpapierkursen seien Erwartungen "eingepreist" und es würde an den Finanzmärkten mit der "Zukunft" gehandelt. In solchen Formeln scheint - wenn auch unbegriffen - das Grundgeheimnis des heutigen Kapitalismus auf. Bei der Schaffung von Eigentumstiteln geschieht etwas Verrücktes, das in der Welt der realen Güter, des sinnlich-stofflichen Reichtums, völlig undenkbar ist. Sinnlich-stofflicher Reichtum muss vor seiner Nutzung erst einmal vorhanden sein. Noch nie hat beispielsweise ein Mensch auf einem Stuhl Platz genommen, dessen Herstellung erst geplant war. Beim finanzindustriellen Reichtum ist diese zeitliche Logik auf den Kopf gestellt. Noch gar nicht geschaffener Wert, Wert, der möglicherweise nie entstehen wird, verwandelt sich vorab schon in Kapital - in fiktives Kapital. Bei jedem Ankauf von Staatspapieren und Unternehmensanleihen, bei jeder Aktienemission und Schaffung neuer Derivate wird ein in den Händen des Käufers befindliches Geldkapital gegen ein Zahlungsversprechen getauscht. Der Käufer lässt sich auf dieses Geschäft in der Erwartung ein, dass ihm die Einlösung des Zahlungsversprechens später mehr Geld einbringt, als er jetzt für dessen Ankauf an den Verkäufer weggibt. Diese Perspektive macht das Zahlungsversprechen zur aktuellen Gestalt seines Kapitals.

Für die gesamtkapitalistische Reichtumsbilanz ist aber weniger die Einlösung der springende Punkt als vielmehr eine für den Zeitraum zwischen Ausgabe und Einlösung des Eigentumstitels charakteristische Merkwürdigkeit. Solange dieses Zahlungsversprechen gültig und glaubwürdig bleibt, tritt es als Zusatzkapital neben das Ausgangskapital. Das Kapital verdoppelt sich also durch die bloße Schaffung eines verbrieften monetären Anspruchs. Und dieses Zusatzkapital existiert keineswegs nur auf dem Papier als Bilanzposten des Geldkapitalisten, sondern führt ein selbstständiges Leben. In der Gestalt des Eigentumstitels zirkuliert es auf dem Markt und geht genauso in den Wirtschafts- und Verwertungskreislauf ein wie das tatsächlicher Verwertung entstammende Geldkapital. Nicht anders als dieses kann es für den Kauf von Konsumgütern ebenso verausgabt werden wie für Investitionen. Seine Herkunft sieht man ihm nicht an.


4.

Im Zeitalter der dritten industriellen Revolution kann der Kapitalismus nur überleben, soweit es ihm gelingt, in immer größerem Ausmaß zukünftigen Wert in die Gegenwart zu pumpen. Deshalb sind die Finanzmarktprodukte inzwischen zum mit Abstand wichtigsten Warentypus geworden. Nur die Verwandlung des Kapitalismus in ein auf der Vorwegnahme von Wert beruhendes System hat ihm in den letzten drei Jahrzehnten einen neuen Entwicklungsspielraum verschafft, obwohl die Wertbasis permanent schrumpft.

Doch die finanzindustrielle Expansion stößt zunehmend an ihre Grenzen. Keinesfalls ist die "Ressource Zukunft" so unerschöpflich, wie es scheinen mag. Logisch ergibt sich dies daraus, dass die Akkumulation von fiktivem Kapital durch finanzindustrielle Spiegelungen gegenüber der auf Wertproduktion beruhenden Kapitalakkumulation einige Besonderheiten aufweist. Eine wurde schon genannt: die begrenzte Lebensdauer dieser Art von Kapitalvermehrung. Mit der Einlösung von Eigentumstiteln (der Tilgung eines Kredits, der Fälligkeit eines Futures etc.) verschwindet auch das durch sie repräsentierte fiktive Zusatzkapital wieder im Orkus. Dieses muss erst einmal durch neue Eigentumstitel ersetzt werden, bevor es zu einer Expansion kommen kann. Daher kann die Produktion von Eigentumstiteln die Rolle des Ersatzmotors für den kapitalistischen Gesamtbetrieb nur ausfüllen, wenn der Ausstoß dieser Art von Waren sehr viel schneller wächst als die Produktion in den realwirtschaftlichen Schlüsselbranchen früherer Epochen. Sie unterliegt einem potenzierten Wachstumszwang, weil sie nicht nur immer wieder frischen künftigen Wert vorabkapitalisieren, sondern auch noch rastlos Ersatz für die auslaufende vergangene Wertantizipation schaffen muss. Dass sich das fiktive Kapital jahrzehntelang explosionsartig vermehrt hat, war also keine Fehlentwicklung, die sich zurückdrehen ließe; für einen Kapitalismus, der auf dem Vorgriff auf künftige Wertproduktion beruht, war es systemnotwendig.

Je schwerer die Last der schon vorab verbrauchten kapitalistischen Zukunft aber wird, desto schwerer fällt es auch die Dynamik der fiktiven Kapitalschöpfung in Gang zu halten. Das gilt umso mehr, als das Ansaugen zukünftigen Werts nur dann funktioniert, wenn die angebotenen Eigentumstitel sich auf realwirtschaftliche Hoffnungsträger beziehen, die zukünftigen Gewinn versprechen. Unter den Reaganomics waren dies vornehmlich US-Staatsanleihen, in Zeiten der New Economy Aktien von Internet-Unternehmen und in den Nullerjahren die scheinbar endlos steigenden Immobilienpreise. Fehlen aber solche Hoffnungsträger, stößt der auf der beständigen Neueinspeisung künftigen Werts beruhende Kapitalismus an seine Schranke.

Dieser kritische Punkt ist inzwischen erreicht. Zwar ging auch nach dem Einbruch von 2008 die Expansion der finanzindustriellen Produktion weiter; aber diese Dynamik wird nicht mehr von privatwirtschaftlichen Gewinnhoffnungen in irgendwelchen Wachstumssektoren getragen, sondern von den staatlichen Haushalten und den Zentralbanken. Im Bemühen, den augenblicklichen Kollaps des Finanzsystems zu verhindern, hat die öffentliche Hand als traditionell verlässlichster aller Schuldner die Altlasten übernommen. Noch einen Schritt weiter sind die Zentralbanken gegangen. Sie gewähren nicht nur den Geschäftsbanken in einem historisch beispiellosen Umfang Kredite zu faktischen Nullzinsen, sondern fungieren außerdem noch als "Bad Banks", als Sondermülldeponien der verbrannten kapitalistischen Zukunft. Zum einen akzeptieren sie als Sicherheit bei ihrer Kreditvergabe auf dem Markt nicht mehr absetzbare Eigentumstitel, zum anderen kaufen sie zur Refinanzierung der öffentlichen Hand Anleihen ihrer eigenen Staaten an. Der Krisenprozess lässt sich mit solchen Maßnahmen auf Dauer selbstverständlich nicht stoppen, er wird nur verlagert und gewinnt eine neue Qualität.


5.

Für die längerfristige Entwicklung ist die Mutation der Zentralbanken zu "Bad Banks" entscheidend. Denn die Währungshüter können zwar durch den Aufkauf notleidender Eigentumstitel die Dynamik fiktiver Kapitalschöpfung einstweilen aufrechterhalten, aber nur, indem sie ein riesiges Inflationspotential aufstauen. Die Entwertung des fiktiven Kapitals muss früher oder später auch in den USA und Europa in eine Entwertung des Geldmediums umschlagen. In China deutet sich dieser Prozess bereits an.

Prägender für die augenblickliche Situation ist freilich der paradoxe Doppelkurs aus Sparpolitik und Verschuldung, den die Regierungen der führenden kapitalistischen Länder eingeschlagen haben. Um Kreditwürdigkeit zu demonstrieren und sich auf den Finanzmärkten frisches Geld besorgen zu können, werden massive Sparanstrengungen für die Zukunft beschlossen. Bezeichnend dafür ist die in Deutschland mitten im Krisenjahr 2009 von allen großen Parteien beschlossene "Schuldenbremse" ab 2016, die inzwischen nach halb Europa exportiert wurde. Es ist jetzt schon klar, dass sie zum gegebenen Zeitpunkt wieder ausgebaut oder "vorübergehend ausgesetzt" wird, ähnlich wie im letztjährigen US-Budgetstreit, weil alles andere wirtschaftlich katastrophale Konsequenzen hätte. Vorerst aber beruhigt die Ankündigung die Gemüter an den Finanzmärkten und in der aufgescheuchten Öffentlichkeit und trägt so dazu bei, dass Deutschland seine Schuldner-Bestnote behält und neue Kredite zu günstigen Konditionen aufnehmen kann.

Trotzdem bleibt die proklamierte Politik des Schuldenstopps keinesfalls folgenlos. Der Sparwille wird nämlich demonstrativ an den Teilen der Gesellschaft exekutiert, die als "nicht-systemrelevant" eingestuft werden. Ihnen wird noch das letzte Butterbrot genommen, nicht um damit die Schulden zu bezahlen, sondern damit die öffentliche Hand gegenüber den Geld- und Kapitalmärkten ein bisschen länger den Schein der Kreditwürdigkeit aufrechterhalten kann. Genau das macht auch den zynischen Charakter der aktuellen Sparprogramme vor allem in den südlichen Eurostaaten und Irland aus. Nur damit der Euro-Raum noch eine Weile die Rückzahlfähigkeit seiner Schulden simulieren kann, wird die Masse der Bevölkerung ins Elend getrieben.


6.

Wie dieses Verelendungsprogramm legitimiert wird, ist allgemein bekannt. Der griechischen Rentnerin kratzen die Sparideologen das spärliche Mahl vom Teller, weil die Gesellschaft angeblich "über ihre Verhältnisse" gelebt habe. Der Aberwitz dieser Begründung übersteigt noch deren Unverschämtheit. Sie stellt das Grundproblem auf den Kopf, vor dem die Weltgesellschaft heute steht. Denn diese Gesellschaft lebt schon lange quantitativ und qualitativ weit unterhalb der Verhältnisse, die bei einer vernünftigen Anwendung der Produktivitätspotentiale, die der Kapitalismus selbst hervorgebracht hat, möglich wären. Längst schon könnte mit weniger als fünf Stunden produktiver Tätigkeit pro Woche und Person ein Reichtum produziert werden, der allen - und zwar wirklich allen - Menschen auf dieser Welt ein gutes Leben erlauben würde; und dies, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Dass diese Möglichkeit nicht längst verwirklicht wurde, liegt einfach daran, dass unter kapitalistischen Bedingungen aller Güterreichtum nur eine Daseinsberechtigung hat, wenn er sich dem Zweck der Kapitalvermehrung unterordnet und als abstrakter Reichtum darstellen lässt.

Mit der dritten industriellen Revolution aber hat die Gesellschaft eine Schwelle erreicht, an der sie zu produktiv für den armseligen Selbstzweck der Wertverwertung geworden ist. Nur der beständig erweiterte Vorgriff auf künftige Wertproduktion, die Vorabkapitalisierung von Wert, der nie produziert werden wird, hat drei Jahrzehnte lang die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Dynamik ermöglicht. Diese verrückte Aufschubstrategie steckt jedoch inzwischen selbst in einer heillosen Krise. Das ist aber weder ein Grund, den "Gürtel enger zu schnallen" noch in den regressiven Phantasien eines "gesunden", auf "ehrlicher Arbeit" gegründeten Kapitalismus zu schwelgen. Eine emanzipatorische Bewegung gegen "Sparpolitik" und repressive Krisenverwaltung muss vielmehr darauf zielen, die zwangsweise Kopplung von stofflicher Reichtumsproduktion und Wertproduktion ganz bewusst zu kappen. Es gilt, die Frage der "Finanzierbarkeit" offensiv durchzustreichen. Ob Wohnungen gebaut, Krankenhäuser betrieben, Nahrungsmittel produziert oder Bahnlinien unterhalten werden, darf nicht davon abhängen, ob die nötige "Kaufkraft" vorhanden ist. Kriterium dafür kann einzig und allein die Befriedigung konkreter Bedürfnisse sein. Wenn Ressourcen stillgelegt werden sollen, weil "das Geld fehlt", müssen diese eben angeeignet und in bewusster Frontstellung gegen die fetischistische Logik der Warenproduktion transformiert und betrieben werden. Ein gutes Leben für alle kann es nur jenseits der abstrakten Reichtumsform geben.

Die große Entwertung

Im globalen Finanzmarktcrash entladen sich die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft. Der akute Krisenschub nimmt zwar von den Finanzmärkten seinen Ausgang, die Ursachen liegen aber tiefer. Was Marx anhand der Krisen des 19. Jahrhunderts nachgewiesen hat, gilt erst recht für das Weltwirtschaftsbeben unserer Tage. Nichts ist analytisch so naiv und ideologisch so gemeingefährlich wie die Dolchstoßlegende, eine gesunde Realwirtschaft sei der grenzenlosen Habgier einer Handvoll Banker und Spekulanten zum Opfer gefallen. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Das historisch beispiellose Abheben des Finanzüberbaus in den letzten 35 Jahren war selber schon das Ergebnis und zugleich die provisorische Überwindung einer fundamentalen Krise der kapitalistischen Gesellschaft. Eine Produktionsweise, die auf der Vernutzung lebendiger Arbeitskraft beruht, muss angesichts des ungeheuren Produktivkraftschubs der mikroelektronischen Revolution an ihre strukturellen Grenzen stoßen.
Ernst Lohoff und Norbert Trenkle zeichnen die Geschichte und das Ende des finanzkapitalistischen Krisenaufschubs nach und zeigen, warum die Weltgesellschaft für die armselige kapitalistische Produktionsweise längst zu reich ist und warum sie auseinanderbrechen und in Elend, Gewalt und Irrationalismus versinken muss, wenn sie dies nicht überwindet.
Ernst Lohoff / Norbert Trenkle (Gruppe Krisis): Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind. UNRAST Verlag, Münster 2012, br., 304 Seiten, 18 Euro.

*

Probe entfällt wegen Auftritt!

von Severin Heilmann

Montag morgens wird der Delinquent zwecks Hinrichtung aus seiner Zelle geholt. Sein Befund: "Die Woche fängt ja gut an!" Ein Witz - wir dürfen schmunzeln! Wäre es keiner, gehörte sich das freilich nicht! Leben ist immerhin eine ernste Sache, gegen Ende zu eine todernste gar. Wir aber schmunzeln, ahnungsvoll. Vielleicht, dass etwas Wesentliches verraten wurde und wir uns darüber auch etwas verraten fühlen? Verraten etwa in den Anstrengungen des Überlebens - Daseinsbewältigung nennen wir's - vor dem Hintergrund ihrer letztendlichen Nichtigkeit? Einen Witz auseinanderlegen ist natürlich auch eine Unart, aber behalten wir die Geschichte im Kopf, indes wir folgende Überlegungen anstellen.

Auf die Mischung kommt es an

Wie lässt sich denn lust- und freudvoll leben angesichts der einzigen so ungewissen Gewissheit, des jeweiligen konkreten Endes? Hierzu Nietzsche: "Durch die sichere Aussicht auf den Tod könnte jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn beigemischt sein - und nun habt ihr wunderlichen Apotheker-Seelen aus ihm einen übelschmeckenden Gift-Tropfen gemacht, durch den das ganze Leben widerlich wird!" (Menschliches, allzu Menschliches II) Lusttropfen oder Gifttropfen, was haben wir uns da beigemischt? Allwo "die sichere Aussicht" die einen in Angst und Schrecken stürzt, leitet sie andere derweil zu ausgelassener, spielerischer Unbeschwertheit - seltsam, dass sie beides, so Gegensätzliche vermag. Haben wir uns also eine üble Vergiftung zugezogen? Wenn ja, wes Art ist das Gift und weshalb dann - bei gleicher Aussicht - mischen wir's uns stets hinein?

Ein Blick in die Apothekerseelen offenbart die Kur

Spätestens als die Antike noch jung war dürfte die Vorstellung, das Leben nach jeweiliger philosophischer Präferenz willentlich gestalten zu können und sollen, Einfluss gewonnen haben. Freude und Freuden bieten hier allemal einen viel versprechenden Ansatz. Die Wahl zwischen Lust und Unlust, Freude und Leid scheint nicht allzu schwierig. Doch Momente höchster Lust sind selten hienieden und obendrein von kurzer Weile. Lange Weile, wir wissen's, hat sie jenseits. Kein Wunder, dass mit gebotener Skepsis von allzu heftigem Luststreben abgeraten wurde, mit der Empfehlung, sich vielmehr den ewigen, himmlischen Freuden der Seele zu ergeben als den höllischen, zudem vergänglichen Gelüsten des Fleisches. Eine Empfehlung übrigens, die nur auf dem Boden der systematischen Trennung von Leib und Seele, von diesseits und jenseits ernst genommen werden kann.

Wo man ihr folgte, trieb sie nicht selten beachtliche Lust- und Leibfeindlichkeit hervor. Weil aber selbst die reinste Seele noch kaum den Zuckungen und Lockungen ihrer Trägersubstanz zu widerstreben vermag, behalf sie sich zuweilen recht pragmatisch:

Der Wikipedia-Eintrag "Askese" erklärt im Zusammenhang mit den antiken Kynikern: "Die sofortige Befriedigung sollte die Hoffnung auf künftigen Lustgewinn überflüssig machen und so der Entstehung vermeidbarer Bedürfnisse vorbeugen." Unsere Kur hingegen: "Die sofortige Lustunterdrückung sollte die Hoffnung auf künftigen Lustgewinn entfachen und so die Entstehung vermeidbarer Bedürfnisse schüren." Jedoch, Lust wie Leben lassen sich nicht aufschieben. Sonnenuntergänge, reife Erdbeeren, Vogelgesang und Abschiedsküsse wollen jetzt genossen sein. Spontaneität ist das Gebot für allen Genuss; und was ist Spontaneität im Wesen anderes, als die Fähigkeit, sich überraschen zu lassen, staunen zu können?

Was nun aber tun wir? Wir wachsen hinein in ein Korsett des sanften Zwanges, tragen es stolz und schnallen es enger. Wir leben in Schachteln und wissen drum, wo drinnen und draußen, was mein, was dein ist, haben Name und Anschrift und Schubladen für den Rest. Alles ist so lange in Ordnung, als es seine Ordnung hat. Zeit und Raum sind reglementiert, unser Wohlverhalten darin somit gewährleistet; Uhrenwecker, Mittagspausen, Gedanken-Stoppschilder, Vorschriften, Warnhinweise, die gesicherten Wege nicht verlassen! Wir misstrauen allem Naturhaften, Unbändigen, Unregulierten: es widersetzt sich unserer Ordnungsliebe. Unsere Ordnung nämlich will Sicherheit, darum Berechenbarkeit, darum Kontrolle, darum also Zwang. "Um es kurz zu fassen, es sind zwei weitverbreitete Eigenschaften der Menschen, die es verschulden, dass die kulturellen Einrichtungen nur durch ein gewisses Maß von Zwang gehalten werden können, nämlich, dass sie spontan nicht arbeitslustig sind und dass Argumente nichts gegen ihre Leidenschaften vermögen." (Sigmund Freud, Zukunft einer Illusion)

Zwängler

Dass wir ohne dieses gewisse Maß von Zwang sogleich samt unseren kulturellen Einrichtungen zurück in den chaotischen Urzustand kippen wollten, dem wir zufällig einst entschlüpft zu sein glauben, lässt sich unschwer weiterspinnen. Wobei schon der merkwürdige Umstand, dass wir es trotz Arbeitsunlust und Leidenschaftlichkeiten bis hierher geschafft haben, zu manch Zweifel an Freuds Bespiegelung Anlass geben sollte. Jedenfalls scheint aus solchem Blickwinkel unsere Situation von jeher prekär, die Lage ernst. Kontrollzwang ist deshalb keineswegs nur eine individuelle pathologische Symptomatik, unsere Gesellschaft gründet darauf. Und so finden denn in der dominierenden Kommunikationsform unserer Tage Sicherheit, Berechenbarkeit und Kontrolle auf ihre unappetitliche Art zusammen: Geld geworden üben sie ihren sanften Zwang aus - hier ist der Lust kein fruchtbarer Boden bereitet. Wo Momente der Überraschung, der Ungezwungenheit und Unberechenbarkeit grundsätzlich auf Unbehagen und Misstrauen stoßen, weil, was Ordnung stört, auch Sicherheit gefährdet, da kann sie nicht gedeihen. Geblieben sind ihre kümmerlichsten Reste in leer geräumten, sterilen Lustreservaten des Warenkonsums. Da ist mit Sicherheit zu haben, was Lust nie wollte: berechenbare, kontrollierbare und gleichförmige Abfüllung. Erfüllung ist nicht abzusehen und auch gar nicht vorgesehen; zufriedene Menschen sind keine guten Konsumenten.

Und doch ahnen wir, dass wir verraten und verkauft sind, dass das nicht alles gewesen sein kann, wir gewiss einem fürchterlichen Betrug zum Opfer gefallen sein mussten. Nackte Angst packt uns beim Gedanken, dass es sodann jederzeit vorbei sein könnte, ohne freilich je gelebt zu haben. Just hier, in dieser einzig entscheidenden Bedenklichkeit - Gibt es ein Leben vor dem Tod? -, die uns den wohlriechenden Tropfen Leichtsinn hätte beimischen können, versagen wir vollends. In dumpfer Behaglichkeit zerstreuen wir uns mit allerlei ungefährlichen Pläsierchen und nichtigen Ungezogenheiten und tun so, wie alle andern auch: als wäre die Sache gar nicht die unsrige, als würde hier lediglich probiert.

Lust ist auch Schmerz

Lust und Schmerz, meinen wir, das ginge nicht zusammen. Zwar sagen wir "Freud und Leid" und "Lust und Schmerz" und erinnern damit intuitiv an das verschwisterte Verhältnis, aber wollen tun wir stets nur das eine... von beiden. Lust und Schmerz mögen die zwei entgegengesetzten Pole am jeweiligen Ende einer Gefühlsskala markieren, doch die Skala ist ein und dieselbe. Empfindungsvermögen und Sensibilisierung sind ihrer beider Voraussetzung; und, was braucht's mehr zum Lebendigsein?

Und wir: was braucht es mehr, um sich dagegen abzusichern? Wenn nämlich sie, die Lust, nicht zu haben ist, so, bitte möchten wir doch wenigstens vom Schmerz verschont bleiben. Allein, wo fängt er an, wo hört er auf und hört er auf, wo sie anfängt? Die ganze Bandbreite der Nuancen liegt ja dazwischen und verbindet sie. Wer könnte da noch explizit auseinander halten, was implizit doch zusammenhält? Könnte anhand einer Momentaufnahme entschieden sein, ob es unsäglicher Schmerz oder unaussprechliche Lust ist, was in höchster Ekstase das Antlitz eines Menschen zeichnet?

Es ist darum verwegen, vielleicht aber nicht gar so verdreht, sich gegen Schmerz zu immunisieren, indem man Lust (wenigstens) aus ihm zieht. In der Tat ist Masochismus nicht lediglich auf den klinisch bedeutsamen Befund beschränkt, und nicht nur in Schlafzimmern und strengen Kammern wird er wohlgelitten, ebenso im Sport, in der Arbeit und in gewaltsamen, zuweilen auch künstlerisch-performativen Auseinandersetzungen. In der Hauptsache jedoch behelfen wir uns, Apotheker die wir sind, vermittels einer wahrhaftigen Rosskur: Abstumpfung, Desensibilisierung, Aushärtung bis zur hinreichenden Empfindungsstarre - Anästhesierung, ein Hausmittel! Wir haben uns mit unserm Gift-Tropfen paralysiert, nur der Ernst, der bleibt - ihn brauchen wir nicht zu fühlen, wir sind es; und meinten dabei irrtümlich, es wäre dies eben der Ernst des Lebens. Wollten wir das tatsächlich?

Appassionato

Ganz anders als Masochismus oder gleich Abtötung pflegt die Leidenschaftlichkeit Umgang mit der Lust. Sie will die Kultivierung dessen, was Lust bereitet, daher die Steigerung der Eindringtiefe, daher aber auch die mögliche Verletzlichkeit, daher auch die Anfälligkeit für Schmerz; hingegen - anders als der reinste Hedonismus - weiß sie um die prinzipielle Unmöglichkeit, das Lustempfinden vom Schmerzempfinden zu lösen; sie weiß um die Unmöglichkeit, die Klaviatur so zu manipulieren, dass diese bloß in Dur noch bespielt werden kann, sondern erfreut sich gleichermaßen an gelegentlich angeschlagenen Moll-Akkorden. Nicht, dass ihr danach gelüstete - sowenig wie nach Stumpfsein -, doch auch diese kultiviert sie; sie weiß um ihren eigenen Wortsinn, mag sie gut leiden. Kraft ihrer Kreativität schafft sie intensivierte Erlebnismöglichkeiten und findet in ihren schönsten Momenten, eben weil sie mögliches Leid nicht scheut, zu Rausch und Überwältigung, zu Intensität und Erlebnistiefe.

Ja zur Lust...

­...bedeutet demnach, allenfalls auch Ja zum Schmerz zu sagen, freilich ohne ihn deshalb gleich begrüßen zu müssen. Dagegen ist Schmerzfreiheit nur bei Totalverlust unseres Empfindungsvermögens zu realisieren, das sollten wir nicht wollen. Vor allem bedeutet ein Ja zur Lust das Verlassen der Einhegungen, des abgesicherten Terrains des Alltags, welchen wir "den grauen" nennen. Sicherheit gibt's im Safe, im Betonbunker und im Stahlsarg; Leben ist anderswo! Wir haben keine Lust zu überleben; immer nur überleben - das kann bloß wollen, wer nie je gelebt. Lust zu leben, am Leben, im Lebendigsein ist uns gegeben - nehmen wir an! Das "es gibt", das wir vor alles setzen, das einen Namen hat, verweist ja auf den Geschenkcharakter des Lebens! Das will nicht bloß als Dasein bewältigt werden, es will als Hiersein genossen, gelitten sein: Hiersein ist herrlich!; voller Überraschung, Wandel, Variation. Staunend und leichten Fußes in sie hinein; durchaus mit Humor die Unlust zu transzendieren, und maßvoller Ironie den Ernst zu blamieren, da kann nicht viel verhakt sein, das Ja-Wort zu geben.

Der Tod, seine Frische

Im Grunde sind wir todgeweiht. Aber ist der Tod ernst? Alles ist lächerlich, wenn man an den Tod denkt, sinnierte Thomas Bernhard und meinte wohl den Tropfen Leichtsinn. Ernst ist drum allenfalls das Leben. Und Ernst ist der einzig ernste Feind der Lust. Wie ihm begegnen? Und wie bekommt unser Leben die köstliche, wohlriechende Note Leichtsinn?

Alles, was der Tod gebietet, ist vollständige Aufgabe und Hingabe; im Grunde nichts anderes, als es die schönen Augenblicke tiefen Empfindens auch verlangen. Überhaupt hat Lust nicht wenig mit der Fähigkeit zu tun, sich selbst im rechten Moment zu vergessen, aufzulösen, hinzugeben; Selbstkontrolle und Ich-Grenzen zu überwinden. Was Franzosen nicht ungefähr la petite mort, also den kleinen Tod nennen, sei uns hier Hinweis genug. Jedenfalls ist's gewiss diese Art Leichtsinnigkeit, die Nietzsche empfiehlt, die dem gravitätischen Ernst des Lebens die Zunge zeigt und das aufgeschobene, betrogene Leben mit voller Kraft und ohne Rückversicherung wieder in seine intensivste Mitte holt.

Gestorben wurde zwar immer schon; dass der Tod dennoch nichts an seiner Frische eingebüßt hat (E.M. Cioran), braucht nicht zu wundern, ist er doch das Unannehmlichste, was dem betrogenen Leben so passieren kann. Zum Wundern ist allerdings, dass noch gelebt wird; angesichts der Beschneidungen und Einhegungen der Lustreviere fragt sich, was da überhaupt noch gelebt werden soll? Bedauerlicherweise stoßen wir kaum je auf Hinweisschilder, die darauf etwa, wie folgt, Aufschluss geben würden:

Pardon, meine Herrschaften, das hier ist keine Generalprobe, wir sind bereits mitten in der Aufführung. Aber keine Angst: sterben werden wir soundso, in hundert Jahren sind wir alle mausetot. Lasst uns zusehen, dass wir vorher noch ein bisschen Leben haben! ... ein lustvolles! Denn spätestens "am Ende ist alles ein Witz" (ahnte Charlie Chaplin); den gab's hier aber eingangs schon!

*

Lauter Lustbarkeiten - trotz alledem

Das Leben zwischen Hingabe und Widerstand

von Maria Wölflingseder

Am Ende von Interviews werden Künstler/innen und Wissenschaftler/innen gerne gefragt, worum es im Leben gehe. Oft kommt darauf die Antwort: "Um Liebe und Tod." - Ja, aber was ist mit der Lust? Mit der Lust in all ihren unendlichen Variationen? Lust, der Welt mit allen Sinnen zu begegnen: feinfühlig, hellhörig, scharfsichtig, geruchs- und geschmacksintensiv? Was ist mit der Neugierde? Auf Menschen, von denen wir uns angezogen fühlen, die wir begehren, denen wir uns seelenverwandt fühlen? Auf Städte mit ihren Plätzen und ihrer Architektur, die uns staunen machen? Auf die Natur mit all ihren Geheimnissen und Wundern. Auf Landschaften in all ihren faszinierenden Formationen, die uns mitunter nicht mehr loslassen? Auf die Magie von Gewässern, die wir am liebsten nie wieder verlassen würden? Und was ist mit der Neugierde auf die phantastischen Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst? Was ist mit der Lust auf alles Spielerische? Auf alles Verführerische? Was ist mit der Neugierde auf Erfahrungen und Erkenntnisse? Was ist mit der Lust auf den ewigen Reigen von Eindruck und Ausdruck? Lust, sich hinzugeben, sich überraschen und beeindrucken zu lassen? Und Lust, wiederum sich auszudrücken, um andere zu überraschen?

Brennen - Leuchten - Funkeln

Lust ist nicht nur eine herbeigesehnte körperliche, geistige und seelische Verfassung, sondern sie erfordert auch unsere Bereitschaft. Unsere Bereitschaft zu Empfänglichkeit. Der reisende Schriftsteller Bernhard Hüttenegger stellt fest: "Das Abenteurertum beginnt mit der Erlebnisfähigkeit. Der Sensibelste ist der größte Abenteurer." (S. 67)

Ist Lust nicht Voraussetzung und Ergebnis? Ist Lust nicht Ursprung und "Gewinn" von Staunen und Freude, von Spontaneität und Humor, von Leidenschaft und Faszination, von Ironie und Leichtigkeit, von Inspiration und Kreativität, von Sinnlichkeit und Begehren, von Freundschaft und Liebe? Ein Perpetuum mobile? - Und ist Lust nicht eine unbändige Lebenskraft? Ist nicht in jeder Lust auch Eros? Das Erotische ist ja weit mehr als nur der sexuelle Trieb. Ist Lust nicht Quelle, Beweggrund und Ernte des Daseins?

Einem, dem es großartig gelungen ist, viele Facetten der Lust zu erleben und aufs anschaulichste und innigste mitzuteilen, ist Stefan Zweig. Seine Reiseberichte, seine Aufsätze und Vorträge und seine Werke über andere Dichter und Wissenschaftler zeugen von höchst feinsinniger, leidenschaftlicher Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit. Welch atemberaubender Zauber! Welch seltener Gleichklang mit meinem eigenen Empfinden und Erkennen. Zweig gelingt das exzellente Kunststück, Gegensätzliches lustvoll zu verknüpfen. Die Texte sind überaus intim und gefühlvoll, und gleichzeitig äußerst klar und nüchtern reflektiert und präzise formuliert. "...meine Fähigkeiten zu rein abstraktem Denken sind gering. Gedanken entwickeln sich bei mir ausnahmslos an Gegenständen, Geschehnissen und Gestalten..." (Zweig 1960, S. 114) Gerade dadurch werden seine Erlebnisse und Erkenntnisse so plastisch, so lebendig.

Lust wird in Stefan Zweigs Reisetexten oft direkt angesprochen: "...um der Lust willen des Nicht-zu-Hause-Seins und deshalb Nicht-sich-selbst-Seins" (2004, S. 261), "...jede Reise" wird "zur Entdeckung nicht nur der äußeren, sondern auch unserer eigenen inneren Welt." (S. 263) Darin liege "alle Wollust". (S. 417) - In "Die Welt von gestern" beschreibt Zweig in einem eigenen Kapitel das Paris in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Um wieviel sinnlicher und aufgeschlossener war diese Stadt, verglichen mit allen anderen europäischen. "Schon das bloße Flanieren war eine Lust und zugleich eine ständige Lektion..." (1960, S. 150)

Lust nach Vorschrift?

Was ist heute aus der Lust, die Welt mit allen Sinnen offenherzig zu entdecken und kreativ in ihr zu wirken, geworden? Wurde sie nicht regelrecht zu einer Pflicht gemacht? Wenn etwas ständig beschworen wird, ist Gefahr in Verzug. Nicht unsere eigenen Ideen und Vorstellungen nämlich sollen wir verwirklichen, sondern all unsere Fähigkeiten lustvoll in den Dienst der Verwertung, der ökonomischen Effizienz stellen. Und wer keinen Job hat, muss doppelt so optimistisch strahlen. Vergeht einem da nicht alle Lust? Offenbar nicht. Früher wurde Arbeit als Mühsal und Zwang betrachtet, heute wird sie zum Genuss erklärt. Die, die noch Arbeit haben, können gar nicht auf hören damit. Das höchste der Gefühle: Im Job gut gefordert und leistungsstark zu sein, auf dass der viel beschworene Flow über uns komme - die völlige Vertiefung und das Aufgehen in einer Tätigkeit. Die passende Übersetzung dafür wäre wohl eher "Funktionslust" denn "Schaffensrausch". Warum aber sind wir massenhaft ausgelaugt, depressiv und ausgebrannt, wenn wir doch so hochmotiviert arbeiten?

Bezeichnend für unsere blindwütige Betriebsamkeit ist auch die Sinnverkehrung des Spruchs "Carpe diem". Dieses Zitat aus der Ode "An Leukonoë" des römischen Dichters Horaz heißt "Genieße (pflücke) den Tag". Eine Aufforderung, die knappe Lebenszeit heute zu genießen, anstatt es auf morgen zu verschieben. Im Deutschen wurde daraus fälschlicher Weise "Nutze den Tag".

Erschöpft, aber emsig und rastlos geht es nach der Arbeit ins Freizeitvergnügen. Dieses wurde wiederum längst zur Arbeit einerseits und zur Ware andererseits. Wellness und Schönheitschirurgie, Internet, Sex und Pornographie im digitalen second life - das sind nicht nur die angesagten Lüste von heute, sondern vor allem die boomenden Branchen. Am Wochenende ist dann ein Flash gegen den Flow nötig, um "herunterzukommen". Der immense Drogengenuss ebenfalls ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. - Selbst der kulinarische Genuss gelingt immer weniger. Viele leiden an Übergewicht oder Magersucht. Und je mehr Fernsehköche wir am Bildschirm verfolgen, desto mehr Fastfood futtern wir.

Dem nicht genug. Sogar die schlichte Lust des Lachens ist unter Kuratel gestellt worden. Das Lachen hat Karriere gemacht. Sogar zum Weltlachtag (6. Mai) haben wir es gebracht. Kein Wunder: sobald wir nichts mehr zu lachen haben, sobald uns das Lachen angesichts der Verhältnisse vergangen ist, kann es - wie so vieles andere - zum Event stilisiert und zum Kauf angeboten werden. Lachseminare und Lachjoga sind ein Hit. "Eine Minute Lachen ist so herzerfrischend wie 45 Minuten Entspannungstraining." - Es gibt offenbar nichts, das nicht rationalisiert werden könnte. Ähnlich wie dem Lachen ist es auch dem Kuscheln ergangen. "Absichtsloses Berühren" (sic!) wird heute auf kostenpflichtigen Kuschelpartys unter fachlicher Aufsicht vollzogen - ein "bewährtes Anti-Stress-Mittel". Klinisch erprobt, streng reglementiert, garantiert steril.

Auch die polyamoröse Bewegung erscheint mit ihrem Hang zu Kategorisierung, Normierung oder gar Ideologisierung alles andere als lustvoll. Wer will denn nach "anerkannten Maßstäben" (Wikipedia unter Polyamorie) lieben? Unermesslich sei die Lust!

Die wenigen Stimmen gegen die gesellschaftlichen Deformierungen alles Lustvollen müssen in unseren westlichen Gefilden mit der Lupe gesucht werden. Eine rare ist die des Musikers Christian Muthspiel. In seiner Eröffnungsrede für die Paul Hof haimer Tage 2007 sprach er von seiner "Sehnsucht nach der Renaissance". Diese war geprägt von Vielseitigkeit - vor allem auch alles Musische betreffend - anstatt wie heute von immer diffizilerem Spezialistentum. Schöpferische Tätigkeiten aller Art, "zweckfrei, ohne Anlass, ohne Grund" vermisst Muthspiel schmerzlich. Er war schockiert, wie "ungehemmt und wild und phantasievoll malenden" Kindern im Kindergarten durch "sukzessive Einengung, Bedrängung und schließlich Auslöschung gestalterischer Fähigkeiten" die Lust sich auszudrücken genommen wird. Er selbst habe alle Ausbildungen in Graz abgebrochen, um an einer kanadischen Schule zwei Lehrer zu finden, die ihm erstmals nicht "herablassend-kumpelhaft", sondern "als eigenständigem Künstler mit speziellen Fähigkeiten neugierig, offen und anerkennend" begegnet sind. Ein Befreiungsschlag.

Filterlos genießen

Wo sind die "Spielräume", in denen wir nach Lust und Laune unvermittelt genießen können? Sinnlich live anstatt anonym und digital. Ohne Wellness-Tempel und Therapeut. Jenseits der Warenform. Im Hier und Jetzt, die Magie des Augenblicks auskostend? Wo sind spannende Mehrdeutigkeiten anstatt Einheitsbrei mit Einheitsgeschmack? Wo überraschende Leckerbissen? - So wie der aus Rumänien stammende Psychologe und Schriftsteller Catalin Florescu vermisse ich "eine Leidenschaft, die sich im Funkeln der Augen ausdrückt", und "Leute, die mich mit ihren Geschichten bezaubern können. Es herrscht der milde Ton, die vorsichtige Bewegung, die banale Sprache. Die Monotonie durchzieht die westlichen Länder." (S. 57)

Warum mündete die sexuelle Befreiung sogleich in jegliche Reizlosigkeit? Warum kippte die Überwindung alter Normen und Verbote prompt in Gleichgültigkeit? Berührung fällt zunehmend unter sexuelle Belästigung. Und die Kunst des Flirtens ist schon fast gänzlich ausgestorben? Anstatt dessen regiert die Angst vor Übergriffen. Scheuklappen, Panzer und Stöpsel in den Ohren scheinen zur Grundausstattung des gestylten Menschen zu gehören. Obendrein wirkt die sexual correctness als Chlorbleiche der Lust. - Die Schriftstellerin Tzveta Sofronieva aus Bulgarien stellte fest, sie brauche in Deutschland oft viel Energie, um ihr spontanes Genießen nicht in Gesten und Berührungen zu zeigen. Lust aber hat für sie "mit Verlangen, mit Wollen zu tun. Mit Erinnerung an Gerüche. Mit Berühren und mit Ästhetik. Mit spontaner Körperlichkeit und bedachtem Forschen. Mit Genuss." (S. 230)

Da der Vollzug der kapitalistischen Normierung geografisch nicht überall gleich schnell und gleich gut klappt, sind Danko Rabrenovic, als er als "unterentwicckelter Balkanier" in Deutschland landete, einige Besonderheiten aufgefallen: Hier "ist alles perfekt durchorganisiert - sogar das Freizeitvergnügen. Ich hatte den Eindruck, dass sich neunzig Prozent des sozialen Lebens in Vereinen und am Stammtisch abspielten. Selbst fürs Ausflippen gibt es feste Regeln: Beim Karneval oder auf dem Oktoberfest lässt man ein paar Tage ordentlich die Sau raus, danach herrscht wieder Ruhe. Neulich meinte ein deutscher Bekannter, viele Paare würden sogar das Fremdgehen organisieren, indem sie einmal im Jahr ohne Partner mit dem Kegelverein oder der Thekenmannschaft zum Ballermann nach Mallorca führen." - Als Rabrenovic bemerkte, dass es seiner Tochter im Kindergarten nicht möglich sei, ohne wochenlanges Vorausplanen eine Freundin zum Spielen einzuladen, weil deren Nachmittage mit Chorsingen, Schwimmen, Ballett und musikalischer Früherziehung verplant sind, überlegte er doch auch einen Verein zu gründen. "Einen Verein gegen straff organisierten Kinderalltag und gegen Freizeitstress bei Erwachsenen. In der Satzung stünde folgender Satz ganz oben: 'Wir wollen Spontaneität!' Und zwar jetzt - und nicht nächsten Freitag um 16 Uhr." (S. 80f.)

Lust wird in unserer Gesellschaft zwar hochgehalten. Aber offenbar nur, um uns gleichgeschaltet ins Reich der belanglosen Beliebigkeiten zu überführen. Die Lustbarkeiten geraten zunehmend in den Sog der endlosen Warenwelt, um dort der Banalität und Bedeutungslosigkeit anheimzufallen. - Wo bleibt die Lust, die ihren Namen verdient? Wo bleibt Vielfältigkeit statt Uniformiertheit, Fantasie statt Kopie, Humor statt Stupor? Ist Lust nicht per se nonkonform, aufmüpfig, ungeniert, furchtlos, verrückt?

Verkorkstes Denken und Sprechen

Vielerlei Unlustigem und vielerlei Pseudolust kann aus dem Weg gegangen werden, aber der Sprache, die einen umgibt, kann man sich schwer entziehen. Einerseits dem österreichweiten Pseudo-Hochdeutsch, der vermurksten Kopie der Sprache der Unterhaltungsindustrie. Die Dialekte hingegen mit ihrem einschlägigen Klang und den mannigfaltigen Ausdrücken sind immer weniger zu hören. Die Normierung fordert auch hier ihren Tribut.

Noch beklemmender aber ist die weit verbreitete Ausdrucksweise des liberalen Bildungsbürgertums, einschließlich der Linken und Alternativen. In diesem Sprachstil macht sich freilich wiederum das entsprechende Denken und Fühlen bemerkbar. Selbst wenn es im Alltag um Zwischenmenschliches geht, wird eine elaborierte Sprache verwendet, die wie aus einem Soziologielehrbuch klingt. Ist unser Leben zum Forschungsobjekt verkommen, das wir wie Wissenschaftler/innen cool "von außen" betrachten? Da ist die Rede von "Liebesmanagement", vom "Lebensabschnittspartner", von der "On-Off-Beziehung", oder von der "erziehungstechnischen Aufteilung des Kindes" bei getrennten Paaren. Anstatt von Gefühlen wird von der "emotionalen Ebene" gesprochen. Menschen sind nicht arm oder süchtig. Sie haben eine "Armutserfahrung" oder ein "Alkoholproblem". In wissenschaftlicher Manier wird das Leben, nein, der "Lebensentwurf" und der "Lebensstil" pausenlos reflektiert, diskutiert, evaluiert und neu konzipiert.

Die Wahrnehmung der Welt und der Menschen erfolgt überdies durch die Brille der political correctness. Sinnliche Eindrücke werden nur mehr durch unzählige Filter wahrgenommen. Das unvermittelte Leben wird auf Distanz gehalten. Dementsprechend fordern wir kein Leben voll Muße und Lust, sondern nur die rechtliche Gleichstellung von diesen und jenen Diskriminierten, die Homo-Ehe oder die Eintragung des dritten Geschlechts - transgender - im Pass. Das kann doch nicht alles sein?

Lust, Leid & Möglichkeit

Andere Verhältnisse wären möglich. Solche, in denen es wenig Misslichkeiten und Leid, aber viel Sinnlichkeit und Lust gäbe. Aber eine Welt ohne jegliches Leid ist wohl unwahrscheinlich. Auch wenn in der Antike entsprechende Philosophien - etwa der Hedonismus oder der Stoizismus - entworfen worden sind.

Die Lust wird zwar als Dauerzustand ersehnt - "Weh ruft: Vergeh! / Doch alle Lust will Ewigkeit, / will tiefe, tiefe Ewigkeit" (Friedrich Nietzsche, Das trunkene Lied) -, doch wäre permanente Lust überhaupt eine? Dabei muss sie gar nicht von Unangenehmem unterbrochen werden. Ist Lust nicht auch einem natürlichen Rhythmus unterworfen? Tun und Lassen? Erleben und Nachfühlen? - Und weil zum Leben auch der Tod gehört, ist das Gegenteil der Lust nicht so sehr die Unlust als vielmehr die Vergänglichkeit. Aber ohne Vergänglichkeit gäbe es die Lust wiederum gar nicht.

Abgesehen von solchen "letzten" Fragen, gibt es eine andere wichtige, eine viel zu selten gestellte: Wie wird Leid in einem Kulturkreis erlebt, verkraftet und überwunden? Wie kann es gelingen, angesichts des persönlichen Schmerzes und der gesellschaftlichen Katastrophen, angesichts der Präpotenz der Dummheit, die uns an den Rand der globalen Vernichtung gebracht hat, die Lust trotzdem nicht zu verlieren? Wie schaffen wir diese Quadratur des Kreises? - Nicht dadurch, dass wir Leidvolles leugnen und verdrängen. Auch nicht indem wir es - wie in der Esoterik - einfach positiv wenden und zu Sinnvollem, Notwendigem, Karmisch-Bedingtem erklären. Auch nicht, in dem wir in Arbeit und Konsum flüchten. Sondern nur dadurch, dass wir die eklatanten gesellschaftlichen Widersprüche, die persönlichen Unvereinbarkeiten des Lebens nicht nur sehen, sondern sie auch aushalten. Das Schwere leichter machen, ohne es zu leugnen. Was wäre dazu besser geeignet als die Kunst?

"Musik steht über all dem Dreck, der in der Welt passiert", sagte Anita Lasker-Wallfisch, die als Jugendliche das Konzentrationslager als Cellistin in der Lagerkapelle überlebt hat, in einer Radiosendung. "Jedes Leid wird erträglich, wenn man eine Geschichte darüber erzählt", bemerkte Hannah Arendt. - Die Kunst ermöglicht, auf vielfältige Weise von der Macht des Faktischen zu abstrahieren, sie zu kritisieren und Schmerzliches zu bewältigen. Geschichten zu erzählen ist so wichtig wie die tägliche Nahrung. Die jüdische Erzähltradition ist ein anschauliches Beispiel dafür. Beeindruckend die Fülle an Büchern, die von Erniedrigung, Verfolgung und dem Holocaust handeln.

Ein ganz besonders kathartisch wirksames Mittel ist die Ironie, genauso wie die Groteske, die Burleske, die Satire und das Clowneske. Lachen wirkt reinigend - auch im größten Kummer. Hier sei beispielsweise an den Filmklassiker von 1942 "To Be or Not to Be" von Ernst Lubitsch (1892-1947) erinnert und an das Remake von Mel Brooks (geb. 1926) aus dem Jahr 1983. Diese Persiflagen Hitlers sind eine großartige Verbindung von Sarkasmus und Ernsthaftigkeit. Gerade in katastrophalen Zeiten dürfen der Humor und die Vorwegnahme einer menschlichen Zukunft nicht fehlen.

Auf die Bedeutung von Möglichkeiten hat auch Robert Musil hingewiesen. Er wollte den Wirklichkeitssinn ergänzt wissen: "So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist." (S. 16)

Literatur lässt mittels der Kraft der Imagination eigene Bilder, eigene Welten im Leser entstehen. Eine abstrakte Darstellung löst eine Vorstellung aus. Das kann nicht nur sehr lustvoll sein, sondern ist auch gut geeignet, die Macht des Faktischen zu hinterfragen, anstatt ihr auf den Leim zu gehen. Christian Muthspiel zitierte in seiner Rede Joseph Brodsky: "Ein Mensch mit sicherem Geschmack, besonders in Stilfragen, ist nämlich weniger anfällig für die primitiven Refrains und rhythmischen Beschwörungsformeln, die jeder Art von politischer Demagogie eigen sind."

"Trudle durch die Welt - sie ist so schön"

Kunst ist ein höchst lustvolles Mittel sich auszudrücken und sich beeindrucken zu lassen. Sie erweitert nicht nur den Horizont, sondern wirkt auch als Katalysator, als Verstärker des Lebens. Kunst ist etwas, das jeder von der Wiege bis zum Grabe, in fast jeder Lebenslage genießen kann: Musik, Geschichten, Bilder ... Umso intensiver, je mehr wir uns den staunenden Blick des Kindes erhalten. Auch als Erwachsene sollten wir uns immer wieder zu Anfängen, zu neuen Entdeckungen verleiten lassen. Nur wer sich die Sinnlichkeit, also das Interesse an der Welt erhält, wird lustvoll alt werden.

Ein schönes Beispiel für Entdeckerlust: Der von Geburt an blinde Wiener Erich Schmid reist gerne alleine. Das ist zwar sehr anstrengend, aber nur so erlebt er Begegnungen und macht Erfahrungen, die ihm fehlen würden, wäre er im geschützten Kreis seiner Frau und seiner Kinder unterwegs.

Die Fähigkeit, mit all den herrschenden Paradoxien leben zu können, ist Voraussetzung, um weder der Lust noch des Widerstands überdrüssig zu werden. Was Kurt Tucholsky über "Die Kunst, richtig zu reisen" schreibt, gilt wohl auch ein bisschen für die Lebensreise: "Entwirf deinen Reiseplan im Großen - und lass dich im Einzelnen von der bunten Stunde treiben. Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt - sieh sie dir an. ... Entspanne dich. Lass das Steuer los. Trudle durch die Welt. Sie ist so schön: gib dich ihr hin, und sie wird sich dir geben." (S. 118)


Literatur

Catalin Florescu in: Feuer, Lebenslust!, Stuttgart 2003.

Bernhard Hüttenegger: Alphabet der Einsamkeit, Klagenfurt/Wien 2008.

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. I, Reinbeck 1987.

Christian Muthspiel: Sehnsucht nach der Renaissance, Eröffnungsrede für die Paul Hofhaimer Tage 2007. (www.daszentrum.at/4_rueckblick/rueckblick_hofhaimer/2007/rueck_hofh_2007_rede_muthspiel.htm)

Danko Rabrenovic: Der Balkanizer - Ein Jugo in Deutschland, Köln 2012.

Tzveta Sofronieva in: Feuer, Lebenslust!, Stuttgart 2003.

Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden, Bd. 7, Reinbek bei Hamburg 1975.

Anita Lasker-Wallfisch: Mein Cello hat mir mein Leben gerettet, Gestaltung: Petra Herczeg und Rainer Rosenberg, 2.10.2011, Radio Ö1, Menschenbilder.

Stefan Zweig: Die Welt von gestern, Frankfurt/Main 1960.

Stefan Zweig: Zeiten und Schicksale - Aufsätze und Vorträge 1902-1942, Frankfurt/Main 1990.

Stefan Zweig: Auf Reisen, Frankfurt/M. 2004.

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Reduzierter Versuch über Lust und Liebe

von Roger Behrens

Dieser Versuch umkreist die These, dass die heute selbstverständlich erscheinende Verbindung von Lust und Liebe sich historisch entwickelt hat; ferner: dass sich mit der lustvollen Liebe die Vorstellungen von der Liebe selbst verändert haben, insbesondere in der Ausformung des romantischen Liebesideals.


Eva Illouz spricht von der "Verdinglichung der romantischen Liebe" (Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2003, S. 28): "Romantik" wird an Waren gebunden und die Waren selbst werden "romantischer". Ihre These, die in den letzten Jahren durch diverse Publikationen bekannter wurde, ist an sich nicht neu: Schon Marcuse hat in Grundzügen in "Triebstruktur und Gesellschaft" und "Der eindimensionale Mensch" skizziert, was dann etwa Wolfgang Fritz Haug als "Kritik der Warenästhetik" ausführte und heute als kritische Theorie der Popkultur zu fassen ist: dass Verdinglichung und Versinnlichung in der fortgeschrittenen Warentauschgesellschaft parallele Prozesse sind. Die bereits von Walter Benjamin diagnostizierte "Ästhetisierung der Politik" zeigt sich in der postbürgerlichen Gesellschaft, in der die Waren selbst zur Kultur werden, als Gleichzeitigkeit von Kommodifizierung der Emotionen und Emotionalisierung der Waren.

Allerdings verändert sich dabei ebenso der gesellschaftliche Charakter der Emotionen wie auch der der Waren, und dies mitunter in einem Maße, dass, wie im Fall der "Liebe", sowohl von einer Transformation dieses Gefühlskomplexes gesprochen werden kann, eigentlich aber auch überhaupt erst von der Erfindung der Liebe (einschließlich ihrer retro- wie prospektiven Illusionen und Imaginationen sowie Phantasmagorien, Phantasmen oder einfach nur Phantasien).

Hier geht es um den Versuch, Illouz' These, dass Kapitalismus und Gefühle gegenseitig sowie miteinander verkoppelt sind, zu radikalisieren:

a) "Liebe" ist kein getrennt zu betrachtendes Epiphänomen, das gleichsam vom Kapitalismus okkupiert wird; nicht die "romantische Liebe" wird verdinglicht, sondern die Menschen, die als verdinglichte in ihrem zu "Beziehungen" (vgl. dazu Bernd Guggenberger, Wenn Liebe zur Beziehung wird, in: Ders., Sein oder Design. Im Supermarkt der Lebenswelten, Hamburg 1998, S. 103ff ) verdinglichten Miteinander überhaupt erst Ideologeme wie das der romantischen Liebe hervorbringen.

b) Die romantische Liebe ist eine Erfindung wie die Romantik selbst. Als Ideologie reproduziert sie sich in Bildern, genauer: einer Unmenge von jedoch ewiggleichen Bildern. Der Terminus "Bilder" wird hier einmal im Sinne der situationistischen Kritik des Spektakels, zum anderen im Sinne der von Walter Benjamin entworfenen kritischen Theorie des dialektischen Bildes und Traums verwendet.

c) Zum Bild der Liebe als romantischer gehört die Vorstellung ihrer Abgeschiedenheit von allen sozialen Bindungen. Als Ideal verlangt die romantische Liebe eine Art solipsistische Redundanz: Wo die Liebe ist, soll nichts anderes sein. Das Ideal kapriziert sich auf eine Einsamkeit, mit der die Liebenden sich der Sehnsucht hingeben, eben gerade nicht zu vereinsamen. - Als Nähe und Geborgenheit verspricht die romantische Liebe derart für das Privatleben genau das als Intimität, was in der verwalteten Welt der Normalfall sozialer Isolation und Deprivation ist.

d) Die Bilder der romantischen Liebe - und das sind heute allesamt technische, durch Apparate, also Fernsehen und Film vermittelte Bilder - funktionieren wie optische Täuschungen: Sie suggerieren, in Bezug auf die Liebe die Menschen so zu zeigen, wie sie wirklich sind. Man hofft vielleicht, Tipps für das eigene Liebesleben zu bekommen, glaubt sich oder andere irgendwie wiederzuerkennen. Tatsächlich zeigen sie von der Liebe, ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten gar nichts. Allerdings ist jedes Bild der Liebe so inszeniert, dass man sich tendenziell in es verlieben könnte. Damit rutscht der Fetischcharakter der Waren in das Unbewusste, das Unbewusste selbst aber in die Bilder erzeugenden Apparate.

e) Die Liebe steht keineswegs im Widerspruch zum Kapitalismus; als Emotion ergänzt sie das rationalistische Kalkül. Sie wird nachgerade zu einem Element der Kontrolle, eine Leidenschaft, die verspricht, sogar die Ökonomie zu bändigen; sie befriedet Klassenkämpfe, nivelliert Hierarchien, besänftigt Autoritäten, sorgt für ein gutes Betriebsklima. Das gelingt, indem die Liebe auf ein verhandelbares beziehungsweise kommunizierbares Maß an Lust und Unlust eingeschränkt wird.

f) Verdinglichte Menschen können durchaus Gesellschaft machen: Sie können zur Arbeit gehen, Häuser und Straßen bauen, Familien gründen, Kinder erziehen, in den Urlaub fahren, einkaufen gehen, Blumen pflanzen, Kriege führen, Politik machen etc. Sie können auch lieben; mehr noch: die Liebesfähigkeit wird ihnen umstandslos zugesprochen. Ja, im Vergleich zu anderen Tätigkeiten scheint "zu lieben" (oder "sich zu verlieben") sogar recht einfach zu sein; und das, obwohl die Liebe immer wieder scheitert. - Wie alle Waren wird auch die Liebe "für das verdinglichte Bewusstsein zu den wahren Repräsentanten seines gesellschaftlichen Lebens". (Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, Darmstadt und Neuwied 1988, S. 185)

Liebe und Lust als soziales Verhältnis

Liebe ist ein gesellschaftliches Verhältnis, Lust auch. Im neunzehnten Jahrhundert wird "Liebe" als diffuses und differenziertes Gefühl zu einer bestimmten menschlichen, und das heißt dem bürgerlichen Privatleben zugehörigen Emotion kanalisiert: als konstitutives Vermögen moderner - i.e. individueller, der Ideologie nach autonomer und authentischer - Subjektivität. Für die Maske des bürgerlichen Privatlebens hat "Liebe" dabei eine ähnliche Bedeutung wie "Freiheit", "Gleichheit" oder "Gerechtigkeit" für den Bürger in seiner politischen Charakter-Rolle. Mehr als im allgemeinen gesellschaftlichen Leben ist im Privatleben eine relative Kohärenz und Konsistenz von Leib und Seele, Körper und Geist gefordert. Sie wird durch "Liebe" paradox gewährleistet und zugleich in ihrer Fragilität immer wieder erschüttert: Erscheint die Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit des Subjekts in seinen Rollen des Außerprivaten als unzumutbar, unanständig, unzurechnungsfähig, wahnsinnig, irrational, asozial, krank etc. (der moderne Politiker kann sich etwa nicht mehr leisten, was dem König noch möglich war: er darf in seinem Amt nicht verrückt werden), dient sie für die Rollen des Privaten nachgerade als Beleg für den Zusammenhalt des Somatischen und Sinnlichen - und wird so zum Beweis für die Liebesfähigkeit selbst: als Leidenschaft beziehungsweise als Passion.

Goethe hat dafür mit den "Leiden des jungen Werthers" eine Vorlage geschaffen, die später zum romantischen Ideal der Liebe verdichtet wird: Die Liebe wird tragisch und konstituiert damit potenziell das Subjekt als tragisches; nicht nur, weil es womöglich in der Liebe oder mit seiner Liebe scheitert, sondern gerade weil das bürgerliche Subjekt in seiner tragischen Privatexistenz in einem dramatischen Widerspruch zu den Anforderungen des allgemeinen sozialen Verhaltens (in der "Öffentlichkeit") steht: die bürgerliche Gesellschaft um achtzehnhundert ist alles, nur nicht tragisch. Hingegen ist die Hauptrolle des bürgerlichen Charakters vor allem: tragisch.

Ideologie, Bild

Das romantische Ideal der Liebe ist Ideologie, mithin im doppelten Sinne: als objektiv notwendig falsches Bewusstsein, aber auch als zugleich subjektive Weltanschauung und subjektive Täuschung (Lüge). Zur romantischen Liebe gehört die Annahme, dass sie eine Art auratischer Gegenstand sei, eine sich in Personen zeigende Emanation eines Geistigen, ein Bindegewebe, das Freundschafts-, Sexual-, Ehe- und ähnliche Beziehungen bedingt, gleichzeitig aber als bedingungslos imaginiert wird. Insofern fungiert das romantische Ideal der Liebe beziehungsweise das Ideal der romantischen Liebe als Illusion unhintergehbarer Selbstgewissheit, wo anderweitig - sei's durch Religion, sei's durch Vernunft - diese Selbstgewissheit nicht mehr gewährleistet werden kann.

Zwar lässt sich zeigen, dass das heute als "romantisch" firmierende Ideal der Liebe oder besser (weil ein vermeintliches Gefühlschaos dazu gehört) im unsortierten Plural: dass die heute als "romantisch" firmierenden Ideale der Liebe ihre Ursprünge in den Entwürfen von Subjekt- und Rollenmodellen haben (insbesondere in Hinblick auf Erotik, Sexualität und Gender), die zwar mit der Romantik entstehen, aber nicht mit ihr identisch sind oder aus ihr hervorgehen. Denn gleichwohl sind die Ideale der romantischen Liebe gerade in Bezug auf das "Romantische" rückwärtsgewandte Projektionen, also Vorstellungen und Repräsentationen der erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vollends entfalteten Gesellschaft des Spektakels. Die alltagssprachliche Synonymisierung von "romantisch" mit "schwärmerisch", die zugleich mit idyllischen Bildern einer lieblichen, unschuldigen wie unberührten Natur und Kerzenschein-Ambiente assoziiert ist, geht am Gehalt der Romantik vorbei. An der thematischen Vielfalt romantischer Literatur, Malerei, Musik etc. zeigt sich, dass "Liebe" keineswegs die Domäne der Romantik ist (erst recht nicht der Frühromantik um 1800). Die Brechungen, die sich selbst noch in den reaktionären Verwandlungen der Romantik im Verlauf des 19. Jahrhunderts sedimentieren, bleiben in den heute kursierenden Idealen der romantischen Liebe ausgespart. Romantik wird zum Kitsch; die romantische Liebe ist der Kitt, mit dem die Fragmente des Bestehenden zur heilen Welt zusammengeklebt werden.

Die romantische Liebe rangiert auch deshalb als Ideal, weil sie Bild ist. Anders gesagt: Die romantische Liebe ist kein Begriff; und das ist auch entscheidend für das durch sie vermittelte (oder vermeintlich vermittelte) Selbstverständnis: die romantische Liebe begreift sich nicht, lässt sich nicht begreifen und will auch nicht begriffen werden. Auch das gehört zur Begriffslosigkeit dieser Liebe: Die Herausbildung der romantischen Ideale geht schon im neunzehnten Jahrhundert einher mit einer Aussetzung der begrifflichen Systeme der Philosophie; begriffliche Welterklärungen werden durch Weltbilder ersetzt (dazu gehört auch die Bedeutungsverflachung von zum Beispiel "ästhetisch", das nunmehr bloß noch "schön" meint).

Die romantischen Ideale der Liebe entstehen aus der Massenkultur heraus, entfalten ihre phantastischen Bilder in den mit zahlreichen Illustrationen versehenen Trivialromanen, Bilderbüchern und illustrierten Zeitschriften. Eingerahmt ist das von der fortschreitenden Entwicklung der kapitalistischen Industrie, deren Waren nun zunehmend ihren spezifischen, nämlich urbanen Charakter bekommen, um ebenso auf den urbanen Märkten angeboten werden zu können. Was sich vollends erst in der modernen Konsumgesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts durchsetzt, hat hier, etwa im Paris als "Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts" (Benjamin) seinen Ursprung: Die Waren werden emotionalisiert, wie auch die Emotionen kommodifiziert werden.

Dies betrifft indes nicht nur die Waren hinsichtlich ihrer Gebrauchswerteigenschaften; vielmehr bedeutet die Emotionalisierung als Kommodifizierung eine scheinbare Verlebendigung der Warendinge in ihren Tauschwerteigenschaften (während der Gebrauchswert der Waren gerade dadurch einer Mortifikation unterworfen wird; der Gebrauch wird in der Konsumtion liquidiert, übrig bleibt der "Wert", der eine substanzielle Gebrauchsqualität an sich darzustellen scheint. Dies Prinzip setzt sich zunächst bei Luxusartikeln oder in der Kunst durch, aber auch in der Prostitution).

Diese Verlebendigung der Ware vollzieht sich über Bilder, die aus dem Tausch selbst generiert werden - scheinbar zwangsläufig, und scheinbar auch zwangsläufig von Anfang an falsch. Jede Ware ist ein Versprechen, aber keines dieser Versprechen kann eingelöst werden. Jede Reklame lügt. Auch die romantische Liebe ist in allen ihren Facetten ein Reklamebild; auch die romantische Liebe ist immer eine Lüge (Zizek sagt: Liebe bedeutet nicht "Ich liebe Dich!" als exzeptionelle Zärtlichkeit einer Person, einem Ding oder auch der ganzen Welt gegenüber; sondern Liebe bedeutet Ich wähle mir etwas aus - ein gewalttätiger Akt).

Die Lüge wird akzeptiert im Ideologem der tragischen Liebe, also einer Liebe, die immer schon als Unmöglichkeit erscheint und deren Scheitern vorausgesetzt ist (einmal mehr: das wäre nicht möglich für irgendein Ideologem, das im außerprivaten Bereich der Gesellschaft wirkmächtig sein soll. Beispielweise könnte "Gerechtigkeit" nicht politisch proklamiert werden, wenn sie unmöglich wäre; oder: "Freiheit" kann für sich ein Trug sein, aber sie kann nicht an sich schon zum Scheitern verurteilt sein ...). Darin funktioniert die Liebe in ihren unzähligen, aber doch immer wiederkehrenden, ewig gleichen Bildern - Herzchen, Turteltauben, Rosen etc.; subjektiv funktioniert sie als Lüge durch die Implementierung der Lust.

Liebe wird mit Lust verkoppelt; gleichzeitig werden aber Liebe und Lust auch von den Emotionen entkoppelt. Liebe wie Lust werden, gerade wo sie ineinander verwachsen scheinen, sowohl entsinnlicht als auch - obwohl sie doch auch das Subjekt überhaupt erst verkörpern - aus dem lebendigen Körper herausgelöst, demotionalisiert.

Lust-Maschine, Motor der Erregung

Die psychoanalytische Theorie unterscheidet "zwei Prinzipien des psychischen Geschehens": das Lustprinzip und das Realitätsprinzip. Bereits in der "Traumdeutung" spricht Sigmund Freud vom "Urlustprinzip". (Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Studienausgabe Bd. II, Frankfurt am Main 2000, S. 569)

In diesem Zusammenhang erläutert er: "Wir hatten uns in die Fiktion eines primitiven psychischen Apparats vertieft, dessen Arbeit durch das Bestreben geregelt wird, Anhäufung von Erregung zu vermeiden und sich möglichst erregungslos zu erhalten. Er war darum nach dem Schema eines Reflexapparats gebaut; die Motilität, zunächst der Weg zur inneren Veränderung des Körpers, war die ihm zu Gebote stehende Abfuhrbahn. Wir erörterten dann die psychischen Folgen eines Befriedigungserlebnisses und hätten dabei schon die zweite Annahme einfügen können, dass Anhäufung der Erregung - nach gewissen uns nicht bekümmernden Modalitäten - als Unlust empfunden wird und den Apparat in Tätigkeit versetzt, um das Befriedigungsergebnis, bei dem die Verringerung der Erregung als Lust verspürt wird, wieder herbeizuführen. Eine solche, von der Unlust ausgehende, auf die Lust zielende Strömung im Apparat heißen wir einen Wunsch; wir haben gesagt, nichts anderes als ein Wunsch sei imstande, den Apparat in Bewegung zu bringen, und der Ablauf der Erregung in ihm werde automatisch durch die Wahrnehmungen von Lust und Unlust geregelt. Das erste Wünschen dürfte ein halluzinatorisches Besetzen der Befriedigungserinnerung gewesen sein. Diese Halluzination erwies sich aber, wenn sie nicht bis zur Erschöpfung festgehalten werden sollte, als untüchtig, das Auf hören des Bedürfnisses, also die mit der Befriedigung verbundene Lust, herbeizuführen." (A.a.O., S. 568)

Freud charakterisiert die Lust und Unlust als eingebunden in einen Apparat. Erregung, Abfuhr, Befriedigung und Erinnerung sind die zentralen Begriffe, nach denen, so Freud, der Wunsch die den psychischen Apparat und damit auch Lust und Unlust in Bewegung setzende Instanz ist (und nicht Lust oder Unlust selbst). Ebenso ist auch hier schon entscheidend, dass die Empfindung der Lust über die Abstellung der Unlust erklärt wird: als Prinzip wirken Lust und Unlust zusammen und nur zusammen. In "Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens" (1911) und "Jenseits des Lustprinzips" (1920) hat Freud das mit dem Begriffsschema Lustprinzip und Realitätsprinzip expliziert (ein Schema, das übrigens durchaus hohe Analogien zu Marx' Basis-Überbau-Modell aufweist):

"In der psychoanalytischen Theorie nehmen wir unbedenklich an, dass der Ablauf der seelischen Vorgänge automatisch durch das Lustprinzip reguliert wird, das heißt, wir glauben, dass er jedesmal durch eine unlustvolle Spannung angeregt wird und dann eine solche Richtung einschlägt, dass sein Endergebnis mit einer Herabsetzung dieser Spannung, also mit einer Vermeidung von Unlust oder Erzeugung von Lust zusammenfällt. Wenn wir die von uns studierten seelischen Prozesse mit Rücksicht auf diesen Ablauf betrachten, führen wir den ökonomischen Gesichtspunkt in unsere Arbeit ein." (Jenseits des Lustprinzips, in: Studienausgabe Bd. III, a.a.O., S. 217)

Freuds Terminologie ist einem Vokabular entlehnt, dem die allgemeinen geschichtlichen Veränderungen nicht äußerlich bleiben: "Ablauf", "Vorgang", "Spannung", "automatische Regulierung" sind technologische Metaphern, die ihre Entsprechung in der durch Maschinen gesteuerten Produktion der fordistischen Fabrik und der so genannten Arbeitswissenschaft Frederick Winslow Taylors ("One best way") haben. Sie konvergieren mit der "technologischen Ratonalität" (vgl. Herbert Marcuse, "Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie", in: Schriften Bd. 3, Springe 2004, S. 286ff) und insofern spiegelt Freuds Entwurf einer Triebökonomie die Realität einer Politischen Ökonomie - zwischen gesellschaftliches Sein und gesellschaftliches Bewusstsein schiebt sich ein individuelles Unbewusstes. Doch Freud geht nicht von der Realität aus, sondern vom "seelischen Apparat", der bestrebt ist, "die in ihm vorhandene Quantität von Erregung möglichst niedrig oder wenigstens konstant zu erhalten" (Jenseits des Lustprinzips, a.a.O., S. 218f). Was von diesem Apparat als "unlustvoll empfunden" wird, nennt Freud "funktionswidrig" (a.a.O., S. 219). Es geht also zunächst weder um die Frage, wie das "reale Leben" das "Seelenleben" konstituiert, noch um die Frage, wie sich der Mensch kraft des psychischen Apparates die Realität aneignet, sondern um die "Abwendung" und "Entfremdung" von der Wirklichkeit.

"Es erwächst uns nun die Aufgabe, die Beziehung des Neurotikers und des Menschen überhaupt zur Realität auf ihre Entwicklung zu untersuchen und so die psychologische Bedeutung der realen Außenwelt in das Gefüge unserer Lehren aufzunehmen ... Wir haben uns in der auf Psychoanalyse begründeten Psychologie gewöhnt, die unbewussten seelischen Vorgänge zum Ausgange zu nehmen, deren Eigentümlichkeiten uns durch die Analyse bekannt worden sind. Wir halten diese für die älteren, primären, für Überreste aus einer Entwicklungsphase, in welcher sie die einzige Art von seelischen Vorgängen waren. Die oberste Tendenz, welcher diese primären Vorgänge gehorchen, ist leicht zu erkennen; sie wird als das Lust-Unlust-Prinzip (oder kürzer als das Lustprinzip) bezeichnet. Diese Vorgänge streben danach, Lust zu gewinnen; von solchen Akten, welche Unlust erregen können, zieht sich die psychische Tätigkeit zurück (Verdrängung)." (Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, in: Studienausgabe Bd. III, a.a.O. S. 17f)

Ausgangspunkt ist die Normalität als gestörte Normalität, als Betriebsstörung des seelischen Apparates. Der Neurotiker ist beides: der Kranke (bei dem die Abwehr der Realität bis zur Psychose sich steigern kann), aber auch die pathologische Vorlage des Menschen. Der vom Architekten Louis Sullivan berühmt gemachte Satz "Form follows function" gilt auch hier. Wir sind im neurotischen Zeitalter.

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Occupied by the Spectacle

Zu Raoul Vaneigem: Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben

von Ricky Trang

Wenn es etwas Lächerliches daran gibt, von der Revolution zu sprechen, dann natürlich deshalb, weil die organisierte revolutionäre Bewegung aus den modernen Ländern, in denen die Möglichkeiten zu einer entscheidenden Gesellschaftsveränderung konzentriert sind, seit langem verschwunden ist. Dass alles andere noch viel lächerlicher ist, da es sich um das Bestehende und um die verschiedenen Formen seiner Duldung handelt, bedarf keiner besonderen Erwähnung.

Besonders lustig ist es trotzdem nicht, wenn alle organisierten Kräfte jene sind, die das Spektakel wollen. Längst schon sind auch jene, die vorgeben etwas ändern zu wollen, kein Feind mehr dessen, was ist. Wenn der Änderungswunsch darin besteht, die Zeit zurückzudrehen und den fleißigen und anständigen 99% wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, wenn jede kritische Reflexion über die historische Entwicklung entfällt und revolutionäre Bestrebungen durch den frommen Glaubenssatz "die Welt sollte am besten so bleiben, wie sie früher einmal war" und ein völliges Unverständnis innerkapitalistischer Gesetzmäßigkeiten ersetzt werden, droht die Existenz fetischistischen Bewusstseins total zu werden.

Dabei muss eine Revolte gegen das Spektakel ebenso total sein wie das Spektakel selbst. Dementsprechend rückten die Situationisten vor einem halben Jahrhundert die Kritik des Alltags ins Zentrum und verlangten die Aufhebung der Ware und die Abschaffung der Arbeit. Sie wussten, dass es, um die bestehende Gesellschaft wirklich erschüttern zu können, einer umfassenden Erklärung derselben bedarf. Zweifellos muss eine solche Erklärung zunächst vermeiden, sichtbar falsch zu sein. Sie darf daher nicht von den Folgen der Ereignisse widerlegt werden. Trotzdem muss sie völlig unannehmbar sein, da sie ja die bestehende Welt selbst für schlecht erklärt. Eine Erklärung, die laufend um die Entwicklungen des Spektakels und die Erkenntnisse seiner Feinde erweitert werden muss.

Wer mit der Zeit, dem Spektakel und dem sich herauskristallisierenden Wissen über seine Funktionsweise und Geschichte nicht mithalten kann, der darf sich nicht wundern, wenn er mit seinem neuen Buch auf einer Auswahl an Büchern rund um das Thema "Occupy" landet.

Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben

Raoul Vaneigems Buch war eigentlich als Autobiografie angekündigt. Was Vaneigem in den fünf Kapiteln abhandelt, ist aber nicht die Chronologie seines Lebens, sondern eine Betrachtung der Haltungen, die er seit seiner Kindheit in einer belgischen Arbeiterfamilie als Revolutionär, als Alkoholiker und Intellektueller, als Familienvater und als alter Mann gewonnen, überwunden oder modifiziert hat.

Und es ist ein Buch, das einen ratlos und im Zwiespalt zurücklässt. Ein typischer Vaneigem, der gegen die Herrschaft des Geldes, die Tyrannei entfremdeter Arbeit und überhaupt gegen alles zu Felde zieht, was der Kunst, ein gutes Leben zu führen, zuwiderläuft. Aber, wie wir sehen werden, auch ein alter paranoider Mann, der mit der Entwicklung des Spektakels nicht mehr mitkommt und für den hinter jeder Ecke ein Spekulant lauert.

Doch beginnen wir am Anfang, in den sechziger Jahren. Heute erinnere ihn so manches an die Stimmung dieser Zeit, schreibt er, als er zu dem neuen Proletariat gehört habe, das im Konsumüberfluss seine Ärmlichkeit entdeckte. Er versucht in der gelebten Erfahrung einer chaotischen Vergangenheit jene Elemente zu finden, deren Genese und Entwicklung ihm in der Gegenwart einen stabileren Halt geben sollen, um jene Umkehrung der Perspektive darauf zu gründen, die er nie aufgehört hat herbeizuwünschen. Wenn er dem Faden seiner Irrwege folgend, seine Lehrzeit in der Umkehrung der Perspektive nachzeichnet, ist es nicht überraschend, dass die Ereignisse des Mai 1968 ihm als immer wiederkehrender Referenzpunkt dienen.

Wir nahmen die auf uns lastende Entfremdung mit dem Skalpell der Hellsicht auseinander, um sie weniger drückend zu machen

Was sich im Mai 1968 mit der Klarheit einer jähen, schroffen Offenbarung Ausdruck verschafft hat, ist ihm nicht mehr und nicht weniger als die Ablehnung des Überlebens im Namen des Lebens. So wie die Französische Revolution Gott getötet hat, hat die Bewegung der Besetzungen vor aller Augen die Stützpfeiler einer jahrtausendealten Zivilisation untergraben, deren Fundament schon ausgehöhlt war und nun darauf reduziert ist, den schauerlichen Prunk ihres Zerfalls zu zelebrieren.

Unterschätzt das Ausmaß der Flutwelle nicht, die entstand, als eine erste Bewusstwerdung unter dem Schaum einer gewaltigen Ablehnung auf brandete, die Nein sagte zu Lohnarbeit und Aufopferung, zu Ideologien, Schuldgefühlen, Macht und Zwang, zu Raub und Hierarchien, zum Herr-Knecht-Verhältnis, zu Ausbeutung und einem "um alles gebrachten Leben". Aus dieser Brandung ist der ununterdrückbare Wunsch nach einem anderen Leben entstanden, das erst erfunden werden muss.

Das Unbehagen an der Warenzivilisation brachte 1968 eine Realität ans Licht, die die Fiktion von konsumierbarem Glück nicht länger verbergen konnte: die lukrative Ausbeutung des schöpferischen Potentials des Menschen, das allein fähig ist, eine wahrhaft menschliche Gesellschaft zu begründen. Seither hat der Konsumismus die todbringende Illusion verbreitet, das Überleben könne so weit verbessert werden, dass es einen Komfort garantiert, der das Fehlen echten Lebens vergessen macht.

Sich einem Leben zu überlassen, dessen Herz beim geringsten seiner Wünsche zu klopfen beginnt

Wie haben wir es so lange ertragen, in einer Welt dahinzuvegetieren, in der das erste Gebot befiehlt, sich selbst und die anderen um ihr Leben zu bringen? Alles in und um uns hat die Gestalt einer Sünde angenommen, von der wir uns freikaufen müssen. Eine solche Zivilisation, die den Menschen und die Welt in Gewinnobjekte verwandelt, lässt den Tod ihre Geschicke lenken.

So ist Vaneigem zu dem Entschluss gekommen, auf nichts mehr zu warten und alles auf die Leidenschaft des Lebendigen zu setzen. Er hat lange genug gebraucht, um zu verstehen, dass es nur einen Stützpunkt gibt, der den Plänen zum Umsturz der Welt festen Halt und beständige Sicherheit verleihen kann: den nämlich, sein Glück zu erschaffen, und zwar so, dass es, um das Glück der anderen bereichert, sich nur darum kümmert, es voranzubringen.

Für ihn haben jene Orte und Zeiten absolute Priorität, zu denen Liebe und Freuden ihn hinziehen. Dort entstehen Augenblicke, die gerade in ihrer Flüchtigkeit dem Glück Beständigkeit verleihen. Sie sind weder Obdach noch Zuflucht, sondern ein Vorposten, Enklave seiner Lebenskräfte in einem Land, das er von den tödlichen Strahlungen des Geldes befreien will.

Den Plan, die Meute der Umweltverschmutzer und Plünderer von Leben und Erde zu vernichten, hat er nie aufgegeben und heute weniger denn je. Doch hat er beschlossen, künftig auf den Lebenswillen zu bauen und nicht mehr auf den Todestrieb, der sich aus dessen Verkehrung speist. Er nährt nicht mehr die Träume vom Racheengel, ob er Emile Henry, Ravachol oder Bonnot heißt. Seiner Überzeugung nach ist der beste Weg nicht, seine Feinde und sich gleich mit zu zerstören, noch sie durch Selbstaufopferung zu erledigen, sondern sich sein eigenes Leben aufzubauen und in ihm und um es herum die Unentgeltlichkeit des Lebendigen herzustellen.

Die besten Absichten sind tödlich, wenn nicht der Wunsch nach einem besseren Leben, sondern Berechnung sie nährt

Als die Situationisten die Unlebbarkeit der Warengesellschaft hervorhoben, schien sich alles zusammenzutun, um sie zu widerlegen: Öffnete der Triumph des Konsums dem Proletariat nicht die Tür zu einer Selbstbedienungs-Demokratie, die mit den Fanfaren der euphorischen Reklame des Marktes das Zeitalter des Glücks prophezeite? Sie ahnten, welche Verheerungen diese Enthirnung anrichten würde, die, ohne grobe Propagandamethoden zu brauchen, überall die Keime eines konsumierbaren Hedonismus aussäte, indem sie ein Warenparadies eröffnete, das gegen einen bescheidenen finanziellen Beitrag jedem zugänglich sein sollte. Auch fünfzig Jahre später noch sind die proletarisierten Massen in ihrer existenziellen Verwirrung von einem Konglomerat aus Reklame-Träumen in all ihrer Nichtigkeit fasziniert, die ihnen um den Preis einer aller wahren Wünsche und infolgedessen auch ihrer lebendigen Substanz entleerten Existenz geboten werden. Die Profitmaschinerie hat aus dem Planeten eine demokratisch geführte Strafkolonie gemacht, in der die Folterknechte austauschbar sind und an ihrer eigenen vorprogrammierten Vernichtung arbeiten.

Ne travaillez jamais

Bescheiden gesteht Vaneigem zu, dass es immerhin zwei Bücher waren, die am deutlichsten das Ende der Warenzivilisation und die Geburt einer menschlichen Zivilisation anzeigten. (Er meint damit natürlich sein Handbuch der Lebenskunst und Debords Gesellschaft des Spektakels.)

Zwei Bücher, die auch zeigten, dass die SI keine Analyse des Kapitals hatte - sie hat es verstanden, durch seine Auswirkungen. Sie hat die Ware kritisiert, nicht das Kapital - oder, genauer gesagt, sie hat das Kapital als Ware kritisiert und nicht als Verwertungssystem, das die Produktion wie auch den Tausch beinhaltet. Die SI sah das Kapital in der Form der Ware und ignorierte den Zyklus als Ganzes. Und Vaneigem war immer Visionär - daran lag und liegt seine große Stärke, es kam nicht von ungefähr, dass seine Sprüche und Parolen im Mai 68 die Wände der Sorbonne zierten - und theoretisch das schwächste Glied der SI. Mit diesem Erbe im Gepäck erwies er sich auch in Hinblick auf die seit damals gewonnenen Erkenntnisse der Gegner des Spektakels als entwicklungsresistent. Wobei natürlich nicht alles, was er seitdem sagt, falsch ist, ganz im Gegenteil. Aber lesen wir weiter.

Die Einführung einer auf Lohnarbeit basierenden Wirtschaftsform hat die Wirklichkeit ihren Imperativen unterworfenen. Die Arbeit hat noch die ihr fremdesten Aktivitäten, die Kunst und Liebe, brandig gemacht. Warum sollten uns die Religionen mit ihrem letzten Röcheln verschonen, wenn die Existenz weiter als Kreuzweg erlebt wird? Niemand entkommt dieser Verflechtung von Zwängen und Freuden, in deren Netzen die Söldnertradition die widerspenstige, ausschweifende Natur einfängt. Die Tyrannei der Lohnarbeit, die noch die kleinsten Genüsse ihrem Geist und ihrem Rhythmus anpasst, ist ein Verrat an der Kindheit und den Verheißungen, die sie für die Zeit der Reife erahnen lässt. Der Fluch der Arbeitslosigkeit liegt darin, dass sie den Fluch der Arbeit fortbestehen lässt. Kaum steht das Fließband still, empfindet der Mensch die Abschaffung der Sklaverei, durch deren Einführung er sich einst disqualifiziert hat, als Qualitätsverlust.

Doch was diese Arbeit genau ist, bleibt ihm ebenso verborgen wie die Sache mit dem Gebrauchs- und Tauschwert, vom Verfall der Wertsubstanz ganz zu schweigen.

Wir sind von Schafen umgeben, die davon träumen, Metzger zu sein

Aus diesen Defiziten erwachsen Verschwörungstheorien. Den Schleier der vaneigemschen Sprache beiseite gewischt bleibt das übliche Gejammer all der Ratlosen und Wütenden, die nichts verstanden, aber dafür sofort die Schuldigen gefunden haben, was heute als Gesellschaftskritik salonfähig geworden ist: Der verkalkte Kapitalismus opfert Industrie und staatliche Versorgungseinrichtungen der Börsenspekulation, unter dem Druck der Börsenspekulation zerbröselt die Produktion gesellschaftlicher Güter, und der Spekulations- und Finanzkapitalismus wertet die nützliche Tätigkeit ab und die lukrative Nutzlosigkeit auf, wobei der Tauschwert auf Kosten des Gebrauchswerts wächst, jener hypertrophe Tauschwert, der über dem seiner Substanz entleerten Gebrauchswert taumelt. Oder kurz zusammengefasst: weil die grotesken, furchtbaren Götter der Börsenspekulation über abgewertete Menschen herrschen...

Es ist dieser neue Obskurantismus, der den Verstand ebenso wirksam verstopft wie einst die religiöse Verdummung, die mit ihrem Geruch nach Scheiterhaufen und Weihrauch heute wieder am Marktstand der Moderne ausliegt. So wird das Anprangern der gesellschaftlichen Barbarei, ohne das Übel an der Wurzel zu packen, zur Gefahr: Es wird nach Schuldigen gesucht, statt an den Bedingungen anzusetzen, die sie hervorbringen.


Raoul Vaneigem: Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben - Die Situationisten und die Veränderung der Haltungen, Edition Nautilus, Hamburg 2011, 192 Seiten, ca. 20,50 Euro.

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2000 Zeichen abwärts

Fehlbegriffe der Lust

In der Lust mag Gier sein, aber die Lust ist deswegen keine Gier, wie das Synonym doch unverzeihlich nahe legt. Appetitio mit Begierde zu übersetzen, ist jedenfalls nicht treffend. Wäre nicht, was Begierde heißt, mit Sinneslust besser und treffender umschrieben? Ebenso übrigens die Neugierde mit Wissenslust. Weder Sinneslust noch Wissenslust sind Gieren! Aber Gier, man ahnt es schon, passt hervorragend zur Wirtschaft. Denn wenn dort notwendigerweise die "Profitgier" herrschen will, muss sie doch, leicht verwandelt, alle anderen Bereiche auch dominieren. Reell wie ideell, und die Sprache des Kapitals sagt es uns auch so vor. Gier wird dieser Ideologie zufolge nicht als soziale Konditionierung gesetzt, sondern als natürliche Anlage den Menschen unterschoben. Begierde unterstellt, dass wir das, was wir haben wollen müssen, auch haben wollen.

Verführt ist nur, wem etwas passiert, was eins nicht wollte. Auch Verführung ist ein Fehlbegriff, weil er in klassischer Manier Täter und Opfer, Jäger und Beute nahelegt. Das Spiel der Lüste ist jedoch eines der (wenn auch gelegentlich unterschiedlich akzentuierten) gegenseitigen Lockung. Es hat in den wenigsten Fällen mit Führen und Geführt-Werden zu tun. Was sich hier formuliert, ist maskulinistische Angeberei. Aber eine patriarchale Gesellschaft muss wohl solcher Terminologie huldigen, um bestimmte Vorgänge explizit als Herrschaftsverhältnisse zu indizieren, egal ob und inwieweit sie es sind.

Wenn man Lust hat, ist man dann lüstern oder lustig? - Beide Worte treffen es nicht. Sowohl Lüsternheit als auch Lustigkeit betonen einseitige Akzente, sie sind somit nur partielle Konzentrate der Lust. Lüsternheit ist Übersteigerung der Projektion, in ihr wird die Lust überquantiert und überfrequentiert, also maßlos, taktlos, ruhelos. Lustigkeit hingegen ist ein kondensiertes Alltagssubstrat der Lust. In seiner profanen Tauglichkeit nicht zu verachten.

F.S.

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Kurven der Lust

Fragmente und Umrisse einer Typologie

von Franz Schandl

Ewig hat es sie ja nicht gegeben. Der Geschlechtstrieb ist lediglich ein Instinkt, aber noch keine Lust. Lust entsteht erst historisch mit der Entwicklung der Sexualität, die über den Sex hinausreicht. Lust ist nicht instinktgesteuert. Lust ist also etwas anderes als der direkte Trieb oder die unmittelbare Begierde. Die Sexualität der Menschen ist mehr als die Befriedung der Instinkte, in ihr wird die Befriedigung eines Bedürfnisses zum Akt eines selbstständigen, ja tendenziell selbstbestimmten Genusses. Lust ist ein Artefakt. Natur ist ihr nur Stoff, nicht Inhalt. Mag Sex noch Natur sein, so ist es Sexualität nicht mehr. Kurzum, die Menschen vögeln tatsächlich um des Vögelns willen. Sexualität hat mit der Fortpflanzung nur noch am Rande zu tun, der Instinkt selbst ist bloß noch ein ferne Quelle, die mit der Etablierung der Erotik jeden Vorrang verloren hat. Der Menschen Lust ist originell, aber nicht originär.

In der Lust entfalten sich vielmehr die besten Momente der Humanisierung, von der zartesten Berührung bis zur heftigsten Durchdringung. Ganz allgemein ist die Lust als eine spezifische Kultivierung menschlicher Grundbedürfnisse zu fassen und somit weit über diese hinausweisend. Was auflebt, ist die Fantasie. In der Lust geben sich die Menschen nicht den Trieben hin, sondern in der Lust wird der Trieb transformiert. Kein basic instinct steht an, mag eins sich einbilden, was es will. Lust reflektiert und zelebriert das Begehrte. So sehr, dass ihr eine andere Qualität zugestanden werden muss. Dezidiert pflegt die Lust Prozeduren, die in der Natur nicht vorgesehen sind. Sie ist keine Manifestation der Überwältigung, so sehr eins sich auch "überwältigt" fühlt. Lust ist nur beiläufig läufig, im Prinzip hat sie sich von der Läufigkeit emanzipiert.

Empfindung samt Findung

Nennen wir sie vorerst das Affizieren und Partizipieren von Annehmlichkeiten. Sie ist etwas, das aus dem Inneren kommt, aber der Äußerung via Betätigung bedarf, um dann wiederum als Innerung auszuklingen. Lust genügt sich nicht im Schwelgen des Gefühls, sie will den Effekt spüren und genießen. Lust verlangt nach Erleben und Befriedigung. Kennzeichnend dafür der Wechsel von Spannung und Entspannung. Sie ist nicht das eine oder das andere, sondern in der Lust wird das eine im anderen aufgehoben. Lust orientiert in ihrem Werden auf das Resultat, sie ist Wollen samt Können. Die Scheidung in eine Lust als Möglichkeit und eine Lust als Wirklichkeit ist nur bedingt zulässig. Sie gehören zusammen. Zwar nicht eins, aber wollen sie es werden.

Die Kurve der Lust ist eine der Intensivierung, sie verläuft von der Regung über die Steigerung zur Beruhigung. Lust will Erlösung. Sollte die Vorfreude die Freude stets übertreffen, dann läuft etwas schief. Vorfreude ist ein schönes Gefühl, aber die Freude kann sie nicht ersetzen. Ziel der Lust ist natürlich ein Glückserlebnis, ein Zustand höchster Lebenserfüllung, "denn das Glück ist frei von Mangel: es genügt sich selbst" (Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt von Franz Dierlmeier, Stuttgart 1969, S. 286). Glücklich sein heißt, unmittelbar kein Verlangen mehr zu haben. Der Hunger ist dazu da, gestillt, der Durst ist dazu da, gelöscht, und die Lust ist dazu da, befriedigt zu werden.

Wenn ich Lust empfinde, geht mir etwas ab. Wenn ich Lust finde, ist mir etwas abgegangen. Ob wir jetzt in den sexuellen Jargon gestolpert sind? Zweifellos, der trifft mehr, als er erkennt. Dass der Artikel immer wieder in die Erotik rutscht, ist aber kein Zufall, denn dort liegt auch das Zentrum der Lüste. Aufgabe dieses Beitrags ist es nicht, bestimmte Lüste einzuschätzen oder gar zu vergleichen. Hier werden aber grobe Umrisse einer Typologie angeboten, einige notwendige Unterscheidungen getroffen und Abgrenzungen vorgeschlagen.

Lust meint Empfindung samt Findung. Sie "hat die Gewissheit, dass an sich schon dies Andere es selbst ist" (G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1806), Werke 3, S. 270). Das An-Sich wird zum Für-Sich, folgen wir dieser Denkfigur. "Die genossene Lust hat wohl die positive Bedeutung, sich selbst als gegenständliches Selbstbewusstsein geworden zu sein, aber eben sosehr die negative, sich selbst aufgehoben zu haben." (S. 272) Sie negiert die Spannung, indem sie diese positiv einlöst. Aber die Verwirklichung zeitigt eine Wirkung, die das Verwirken in sich trägt. Lust geht also im Lust-gehabt-Haben, das dem Lust-Haben folgt, unter. Lust ist kein Zustand von Dauer, sondern einer von Momenten. Lust hat demnach eine gewisse Eile, sie lässt sich nicht perpetuieren oder gar konservieren. Sie blüht in den Augenblicken der Diskontinuität, sie ist nicht planbar und auch nur eingeschränkt steuerbar.

In ihren Genüssen ist die Lust schier unendlich. Ein Zuviel kann es kaum geben. Es mag eine Fresssucht, eine Spielsucht, eine Drogensucht ausmachbar sein, eine Lustsucht gibt es mitnichten. So ist die Lust ein Ansinnen, das alles treffen könnte, aber dann doch dieses oder jenes trifft, also sich konkretisieren muss, will sie Wirklichkeit werden, nicht reines Verlangen bleiben. Erfüllte Lust meint Verschmelzung. Immer geht es um eine reelle oder ideelle Einverleibung. Stets regt sich Appetit. Was außen ist, soll zu mir kommen oder auch in mir werden. Das Terrain der Lust ist grenzenlos, kein Gebiet, auf dem sie nicht ihre Mannigfaltigkeit demonstriert.

Unweg

Kann das Realitätsprinzip als Einsicht in die Notwendigkeit charakterisiert werden, so das Lustprinzip als Aufleben der Bedürftigkeit. Das Realitätsprinzip beschreibt Freud als "den Aufschub der Befriedigung, den Verzicht auf mancherlei Möglichkeiten einer solchen und die zeitweilige Duldung der Unlust auf dem langen Umwege zur Lust" (Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), Studienausgabe, Band III, Frankfurt am Main 2000, S. 220). Der Umweg ist freilich ein Unweg. Eine Straße, die nicht zur Lust leitet, sondern die Lust um- und letztlich ableitet. Lust wird dabei zwar nicht verboten, sondern als ewiges Versprechen installiert. Somit ist sie aber bloß noch leere Projektion, verliert sich in einem Wollen, das zu keinem Vermögen mehr findet.

"Wie das Lust-Ich nichts anderes kann als wünschen, nach Lustgewinn arbeiten und der Unlust ausweichen, so braucht das Real-Ich nichts anderes zu tun, als nach Nutzen zu streben und sich gegen Schaden zu sichern. In Wirklichkeit bedeutete die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip keine Absetzung des Lustprinzips, sondern nur eine Sicherung desselben. Eine momentane, in ihren Folgen unsichere Lust wird aufgegeben, aber nur darum, um auf dem neuen Wege eine später kommende, gesicherte zu gewinnen." (Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (1911), Studienausgabe, Band III, S. 21f.) Und Freud ergänzt: "Die Lehre von der Belohnung im Jenseits für den - freiwilligen oder aufgezwungenen - Verzicht auf irdische Lüste ist nichts anderes als die mythische Projektion dieser psychischen Umwälzung." (S. 22)

Sigmund Freud hält ganz nüchtern fest, dass das Lustprinzip nicht herrschen kann, denn sonst müsste "die übergroße Mehrheit unserer Seelenvorgänge von Lust begleitet sein oder zu Lust führen, während die allgemeine Erfahrung dieser Folgerung energisch widerspricht" (Jenseits des Lustprinzips, S. 219). Das soll gar nicht abgestritten werden. Indes, warum widerspricht sie ihr? Diese Frage ist unmittelbar anzuschließen, der Befund nicht als eherne Gegebenheit zu lesen, die keiner weiteren Erläuterung bedarf. Denn tatsächlich geht es im einzigen Leben um das gute Leben, d.h. das Dasein den Lüsten anzunähern, die Notwendigkeiten zurückzudrängen und die Annehmlichkeiten zu erweitern. Es geht darum, soviel als möglich gerne zu tun, nicht weil wir es positiv denkend so zu interpretieren haben, sondern weil es einfach Freude macht.

Lust kann somit nicht als ledige Approximation gelten, sondern bedarf auch der Erreichung ihrer Vorhaben. Lustverlangen und der Lustgewinn gehören unvereinbar zusammen. Unvereinbar deswegen, weil das eine zwar nicht das andere ist, aber das eine ohne dem anderen nicht sein kann. Lust kann nicht auf das Prospektive reduziert werden. Lust auf etwas ist nicht von der Lust bei etwas zu trennen. Erst Lusterfüllung komplettiert Lust, das Begehren allein ist zu wenig. Wenn Lust einen Mangel beheben möchte, dann muss sie sich vollziehen, will Lust nicht in Unlust umschlagen.

"Realitätsprinzip" contra "Lustprinzip", das klingt überhaupt so wie: "Zuerst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen." Schon Meister Kant hat dieses affirmative Programm trefflich vorformuliert: "Junger Mensch! (ich wiederhole es) gewinne die Arbeit lieb; versage dir Vergnügen, nicht um ihnen zu entsagen, sondern, so viel wie möglich, immer im Prospekt zu behalten." (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht (1798), Werkausgabe, Band XII, Frankfurt am Main 1991, S. 559)

Und wenn die Arbeit nie auf hört, ja sich ausweitet? Dann muss man auf das Vergnügen entweder verzichten, es ersetzen oder gleich in ein halluziniertes Jenseits verschieben. Diese Umwege wollen kompensieren, sie anerkennen die Realitäten und führen oftmals zum Verlust der Lust. Das Realitätsprinzip rationalisiert die Menschen auf die bürgerliche Normalität. Ihr sollen sie sich ergeben und zu ihr sollen sie halten. Diese Realität fordert sich durchaus aggressiv ein, indem sie stets ihre Reproduktion voraussetzt und Zuwiderhandeln sanktioniert. Dass es eine Wirklichkeit jenseits dieser Realität geben könnte, soll den Drangsalierten gar nicht erst kommen.

Unlust

Wenn wir von Lust reden, dürfen wir die Unlust nicht verschweigen. Die Unlust ist tatsächlich Überträger der Konvention. Lust hat ja immer Veränderung im Visier, Unlust nicht. Sie repräsentiert den Tod im Leben. Unlust hat man nicht auf etwas, sondern von etwas. Wer die Schnauze voll hat, hat keinen Appetit mehr. Auch wenn wohl niemand unlustig sein möchte, wird die Unlust doch durch die Handlungen und noch mehr durch die Unterlassungen kultiviert. Vielfach wollen die Unlustigen, weil sie aus ihrer Unlust nicht herauskönnen, diese dann noch verallgemeinern, also auch jenen auf halsen, von denen sie meinen, es ginge ihnen besser. Es regiert die Gleichheit des Schlechten: Euch werden wir schon noch Mores lehren! Das Leben ist kein Wunschkonzert! Wenn es mir schlecht geht, soll es dir auch nicht besser gehen! - Wo Freude nicht Ziel ist, wird Schadenfreude zum Lückenbüßer. "Je tiefer das Glück, umso weniger wird in dieser Gegend davon gesprochen, damit man sich nicht drinnen verirrt und die Nachbarn nicht neidisch werden", schreibt Elfriede Jelinek in ihrem Roman Lust (Reinbek bei Hamburg 1989, S. 100).

Die Unlustigen negieren bereitwillig ihre Bedürfnisse und versäumen so ihre Möglichkeiten. Indifferenz und Lustlosigkeit sind zwangsläufig die Folgen. Der Mangel an Lust rührt direkt aus dem Mangel an Empfinden und Empfindlichkeit, und er führt wiederum direkt zu diesen Ausgangspunkten zurück. Trotz aller Propaganda ist unser Leben auf Lustlosigkeit angelegt. Wir sind abgestumpft, mentale Analphabeten, die Ware vermittelt eine Gleichgültigkeit sondergleichen: alles ist kauf bar, alles ist verwertbar, und wir sind als Hüter der Ware die Verhüter des Lebens. Unsere Stärke geht in der Arbeitskraft verloren, anstatt sich als Lebensenergie zu entfalten. Bei Vermögen denken wir nicht an Kenntnisse und Fähigkeiten oder noch naheliegender daran uns zu mögen, sondern an Geld und Immobilien, Autos und Fernreisen.

Glück und Genuss, Lust und Freude haben mit dem Wert nichts zu schaffen, das hat bereits Kant ganz richtig konzediert: "Das gründlichste und leichteste Besänftigungsmittel aller Schmerzen ist der Gedanke, den man einem vernünftigen Menschen wohl anmuten kann: dass das Leben überhaupt, was den Genuss betrifft, gar keinen eigenen Wert und nur, was den Gebrauch desselben anlangt, zu welchen Zwecken es gerichtet ist, einen Wert habe, den nicht das Glück, sondern allein die Weisheit dem Menschen verschaffen kann; der also in seiner Gewalt ist." (Immanuel Kant, Anthropologie, S. 562) Des Lebens Wert liegt in der Verwertung, sagt Kant hier. Verblümt, aber doch. Das ist aufrichtig, aber kann man das wollen?

Lust oder Wert?, das ist wieder einmal eine Entscheidungsfrage. Will Wert sich etablieren, muss er die Lust drangsalieren, will die Lust sich erschaffen, muss sie den Wert abschaffen. Und in Ansätzen geschieht das ja auch. Das Leben ist zwar besetzt, doch die Lust ist eine subversive Kraft, die immer wieder jenseits des Tauschs ihre Kunststücke probiert. Nicht alles verunglückt.

Sirenen der Geilheit

Entspannung kennt neben der Befriedigung noch eine zweite Form: die Zerstreuung. Der Begriff legt es schon nahe: Zerstreuung ist Dekonzentration. In der Leistungsgesellschaft folgt sie einer zwingenden Logik. Da die Energie in diversen Arbeits- und Alltagsprozessen verbrannt wurde, bestimmen reaktives Tun und passives Hinnehmen die sogenannte Freizeit. Man hat das Gefühl, dass für nicht wenige die Lust zu einer Last, ja regelrechten Zumutung geworden ist. Eben weil es zusehends schwieriger wird, sich in ihr einzurichten ohne fundamental zu scheitern, sei es auch bloß, weil man nicht die Zeit dafür hat, die man sich nehmen müsste. Sie ist einem genommen.

Ökonomisch attraktiv ist es, diesen Mangel zu verwalten, zu behandeln und auch zu erzeugen, d.h. Empfindungen anzustacheln und Findungen zu erschweren. Das erhöht die Geilheit und lässt auf diversen Surrogaten Wirtschaftssparten sprießen. Zerstreuung und Ablenkung haben mitgeholfen, die große Unterhaltungs- und Abfütterungsindustrie des Spektakels zu entwickeln. Lustakte werden zu Konsumakten, und zwar auch aufgrund ihrer vermeintlichen Anstrengungslosigkeit. Lust wird begradigt am Highway des Tauschs. Die satten Landschaften des Lebens sind außerhalb der Leitplanken, aber man kommt zügig voran. Man fährt ab, aus Lust wird Unterhaltung, stets geht es darum, die "Kostenlosigkeit der Lust" (Raoul Vaneigem, Das Buch der Lüste (1979), hier zit. nach www.soilant.ch/lueste.htlm) durch Angebote des Entertainments zu unterlaufen. Aus dem Spiel der Lüste werden Spielräume des Marktes.

Die Befreiung der Lust hin zum Geschäft hat inzwischen ein rasantes Tempo angenommen. Es ist nämlich noch gar nicht so lange her, da wurde Lust (meist flankiert von religiösen Wahnvorstellungen) regelrecht abtrainiert: durch Zucht und Disziplin, durch Drill und Angstmache, Verbot und Strafe. Das gibt es zwar alles noch, aber nicht mehr in seiner offenen und repressiven Form. Nicht die Unterdrückung der Lust ist in den kapitalistischen Metropolen des Westens ein zentrales Problem, sondern deren Zurichtung. Was im Alltag keinen oder immer weniger Platz findet, wird durch die Sexualisierung der Ware im Spektakel substituiert. Warum aktivieren, wenn konsumieren in jeder Hinsicht einfacher erscheint?

Die Sexualisierung der Gesellschaft ist gleichbedeutend mit der Ablenkung der Lüste. Lust zu haben ist keine unanständige Regung mehr, sondern eine ständige Pflicht. Sie wird unablässig dekonstruiert und rekonstruiert, sortiert und filtriert, malträtiert und präpariert, sodass wir oft gar nicht wissen, was da unser ist. Ziel ist es, aus diversen Lüsten Kapital zu schlagen, sie geschäftsfähig zu machen, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Lust wird angeregt, aber auf ganz spezifische Weise. Die Kulturindustrie ist eine große Lustumleitungsmaschine, das Spektakel ein großer Monolog.

Wir sind umstellt. Der erotische Appeal ist die erste Aufgabe der flächendeckenden Werbung. Das Spektakel funktioniert als Appetizer diverser Zerstreuungen. Dauernd prasseln sexuelle Codes auf uns nieder, überfluten unsere Sinne und prägen unsere Sinnlichkeit. Nichts kann dem unbeschadet entgehen. "Psychoanalytiker hätten es nicht schwer nachzuweisen, dass in dem gesamten monopolistisch kontrollierten und standardisierten Sexualbetrieb, mit den Schnittmustern der Filmstars, Vor- und Ersatzlust die Lust überflügelt haben", schrieb Theodor W. Adorno vor fünfzig Jahren (Sexualtabus und Recht heute (1962); Gesammelte Schriften 10.2, Frankfurt am Main 1997, S. 535). König Sex dominiert, aber nicht, weil Lust und Freude sind, sondern weil sie nicht sind. Mit "oversexed and underfucked" wird einiges richtig beschrieben. Wir leben in der geilsten, aber wahrscheinlich asexuellsten aller Welten.

Geilheit ist heute ja in aller Munde. Geil zu sein, ist obligat, nicht geil zu sein ein Manko. "Geiz ist geil", schreit die Reklame. Frisch abgerichtete Youngsters üben fortan die Steigerungsstufen, finden allerlei urgeil, saugeil, megageil. Christl Stürmer war zwischenzeitlich sogar "endgeil" (Kurier, 25. Februar 2007). Der Aufdringlichkeit des Vokabulars kann niemand entkommen. Zweifellos, es war noch nie so geil wie jetzt. Aber das ist kein gutes Zeichen. So geil muss die Gesellschaft nämlich nur sein, wenn die erotischen Gelüste ihrer Mitglieder so dürftig befriedigt werden wie das gegenwärtig der Fall ist. Begehren und Betätigen sind extrem asynchron.

Wo Geilheit zu nichts führt, wird sie zu einem inflationären Gewese. Sie verwest am lebendigen Leib der Entzündeten. Aber durch die verordnete Geilheit können die Warensubjekte immer im Prospekt gehalten werden. Geilheit mimt das stets verlockende Versprechen. Wir erwarten, dass wir etwas zu erwarten haben, und folgen den Sirenen. Das Wirkliche hat auch hier die Auseinandersetzung mit dem Fiktionalen verloren. Unerlöste Geilheit wird zu einem pathologischen Fall.

Lust und Liebe

Was die Lust von der Liebe unterscheidet, das ist die Bindung. Nicht, dass die Lust nicht zur Bindung fähig wäre, indes sie muss nicht, die Bindung ist ihr kein unhintergehbares Merkmal. Lust hat etwas Vagabundierendes, sie ist zwar nicht ziellos, aber sie ist auch nicht unbedingt zielfixiert. Lust beginnt bei einem selbst und sie gilt einem vorerst auch selbst. Liebe mag ebenfalls bei sich beginnen, aber sie gilt vornehmlich dem anderen, dem Du. Steht bei Lust die eigene Befriedigung im Mittelpunkt, so geht es bei der Liebe ums Herschenken und Hingeben. Liebe ist jenseits des partiellen Bezugs. In ihr will man den anderen ganz. In der Liebe kippt die Zufälligkeit der Begegnung in die Notwendigkeit der Beziehung.

Liebe gibt es bloß zwischen Menschen, Lust hingegen kann sich auch auf Dinge, Zustände und Stimmungen, Landschaften und Musikstücke, Eigenschaften und Merkmale erstrecken, generell ist nicht unbedingt eine zweite Person vonnöten. In der Lust wird eine Potenz abgerufen, in der Liebe eine Potenz potenziert. In der Lust kann man die Lust lieben, aber in der Liebe liebt man nicht die Liebe, sondern die oder den Geliebte(n). Lust ist zuerst ein solistisches Anliegen; Liebe, so sie gelingt, ein Duett. Ohne Lust keine Liebe, aber die Lust muss nicht zur Liebe führen und die Liebe selbst geht in der Lust nicht auf. Es ist also auch viel Lust ohne Liebe in der Welt und die ist in ihren vitalen Formen nicht zu verachten. Wie die Liebe nicht auf die Lust zu reduzieren ist, so ist die Lust nicht nur in der Liebe zu Hause. Lust ist schon ein Verhältnis, aber Liebe ist auch noch eine Beziehung.

Beispiel: "Ich liebe Dich" und "Ich liebe Schokolade". Beide machen Lust, aber Liebe machen kann ich nur mit Dir. Eigentlich ist die Aussage "Ich liebe Schokolade" sowieso fragwürdig. Erstens ist sie eine Überhöhung des Gefühls, zweitens müsste ich sie kaufen oder stehlen, drittens kann sie nicht und niemals Nein! sagen, und viertens hat die Schokolade keine Möglichkeit, zurückzulieben, sie kann nicht einmal Ja! sagen. Sie wird verzehrt, ohne sich zu verzehren. Es ist keine wechselseitige Beziehung, sondern ein absolut einseitiges Verhältnis.

Lust besteht aus Sequenzen, die aufeinander bezogen sein können, es aber nicht müssen. Liebe besteht aus Konsequenzen, die auf ein Du konzentriert sind. Und diesem Du ergeht es ähnlich. Das hat nicht nur Vorteile. Was in den Anfängen sich spielerisch gestaltet und ergibt, wird mit der Zeit zu einer großen Herausforderung aufgrund der in jeder Liebe angelegten Trennung. Der Alltag ist nicht nur ein großer Feind der Lust, sondern insbesondere auch der Liebe, sie ist nicht aus ihm geboren, aber sie wird in ihn gestoßen. So verliert jede Liebe das Originäre, das nicht einfach durch Pflege, Sorge, Achtsamkeit wettgemacht werden kann.

Gerade weil die Begegnung zum Zusammensein führt, verfällt jene in diesem. Es wird immer schwieriger sich zu treffen, wenn man beisammen ist. Will einem die Liebe nicht vergehen, bedarf es stets neuer Anläufe. Anläufe, die sich zusehends komplizierter gestalten. Die weitergeführte Liebe ist also mehr als die Fortsetzung eines Beginns. Das Verlieben verbrennt mit der Zeit, so sehr es einst auch zündend gewesen ist. Keine Flamme ist von Dauer. So ist das Verlieben nicht die Bedingung der Liebe, sondern bloß eine Voraussetzung, deren Kräfte bald erlahmen. Keine Liebe kann sich vom Impetus ihrer Konstitution erhalten - so sehr frisch Verliebte sich das auch einbilden. Kein Anfang, der Kontinuität garantiert. Lieben ist anstrengender als Verlieben.

Ganz zentral ist der Liebe das Verzehren, das mehr ist als ein Gelüsten, auf jeden Fall aber viel umfassender emotionalisiert als die Geilheit. Das Verzehren ist ein seliger Ausnahmezustand, wo der oder die andere das seligmachende Element der eigenen Stimmigkeit ist. Man mag es Harmonie nennen. Liebe ist der intensivste Ausdruck, ohne den anderen nicht sein zu wollen, ja zu können. Deswegen schafft diese Leidenschaft nicht nur immense Freuden, sondern auch unendliche Leiden. Die Liebe selbst ist das entschiedenste Konzentrat unserer Seinsbestimmung. Für nichts lebt man so wie dafür. Lediglich in der Liebe sind die Individuen bereit, ihre Wände abzureißen und sich wirklich zu öffnen, nicht nur Offenheit zu demonstrieren. Die Liebe ist das Erlebnis schlechthin. Nichts vermag das Leben so auszudrücken wie die Liebe.

Denken als Leidenschaft

Bereits Kant feixte: "Man muss sich wundern, wie sonst scharfsinnige Männer einen Unterschied zwischen dem unteren und oberen Begehrungsvermögen darin zu finden glauben können, ob die Vorstellungen, die mit dem Gefühl der Lust verbunden sind, in den Sinnen oder dem Verstande ihren Ursprung haben. Denn es kommt, wenn man nach den Bestimmungsgründen des Begehrens frägt und sie in einer von irgendetwas erwarteten Annehmlichkeit setzt, gar nicht darauf an, wo die Vorstellung dieses vergnügenden Gegenstandes herkomme, sondern nur, wie sehr sie vergnügt." (Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), Werkausgabe, Band VII, Frankfurt am Main 1991, S. 129)

Das Denken ist eine große Leidenschaft, die ohne Lust gar nicht in die Welt treten könnte. Denken steht also nicht gegen die Lust (wie es die Konstrukteure des Gegensatzes von Bauch und Kopf gemeinhin behaupten), sondern erfüllt deren Kriterien auf seine Weise. Es ist nicht so, dass es da die Lust gäbe und dort das Denken. Diese Trennung ist fatal. Denken, das über Registrieren hinausgeht, ist eine der größten Empfindungen, die nur irgendwie möglich sind. "Nichts alberner als zu glauben, dass, wer genau denken könne, nicht fühlen könne, und dass Denken nicht leidenschaftlich sei. Das glauben allein Sentimentale. Umgekehrt muss unser Fühlen genau so genau sein wie unser Denken. Und unser Denken genau so passioniert wie unser Fühlen. (...) Nicht nur gilt, dass, wer nicht genau denken kann, auch nicht genau fühlen könne, sondern auch umgekehrt, dass, wer nicht genau fühlen kann, auch nicht genau denken könne. Wer die zwei als antipodische Tätigkeiten oder Zustände hinstellt oder, sich auf sein Fühlen berufend, das Denken verächtlich macht, der weiß ebensowenig, was Fühlen ist, wie was Denken ist, der kann weder das eine noch das andere." (Günther Anders, Ketzereien, München 1991, S. 246)

Diese Zeitschrift etwa möchte nicht bloß Erkenntnisse verschenken, sie möchte auch - wie der Untertitel verrät - Transformationslust magazinieren. Lust darf aus dem Denken nicht ausgeschieden werden. Wenn die Lust am Denken in ihrer Situation andere Lüste ausschließt, dann ist das oft keine Frage des Prinzips, sondern eine der aktuellen Kapazitäten. Es geht nicht alles, schon gar nicht auf einmal. Die Lustpotenziale sind nicht unendlich und so hat diese Verdrängung, sofern sie nicht chronisch wird, nichts mit Lustfeindschaft zu tun. Beim Denken ist das Vögeln out und beim Vögeln ist das Denken auch nicht in. Eine Lust sind sie aber beide. Wenn ich esse, kann ich nicht zeitgleich streicheln; wenn ich lese, kann ich nicht im selben Moment gärtnern. Deswegen ist das Lesen aber ebenso wenig gartenfeindlich wie das Essen streichelfeindlich. Der Vorwurf, dass jemand oder etwas verkopft ist, ist also zu präzisieren, ansonsten gehört er ins Reich der Gerüchte bzw. stellt er eine blanke Denunziation dar.

Aber selbstverständlich ist das Denken das künstlichste aller Gelüste, naturfern, ja unnatürlich, wenn auch im Körper sitzend. Nur das Denken kann sich bewusst von der Unmittelbarkeit der Beeindruckung lösen, Kontexte herstellen und Reflexionen pflegen. Und dieses Denken hat auch die anderen Sinne angesteckt. Unser Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten ist ohne die Besonderheit des Denkens nicht zu denken. Wenn eine Kuh und ich Schönbergs Kammersymphonie hören, dann hören wir zwar die gleiche Musik, aber keineswegs das Selbe. Des Menschen Sinne sind nicht einfach da, sie sind rauschfähig und variantenreich, gedopt wie getoppt.

Bezauberung ist ein menschliches Sondervermögen, eben weil die Leute denken können. Das Sich-in-was-Versetzen, das Projizieren und Spekulieren sind ja hervorragende Eigenschaften, ja Kennzeichen. Kein Denken und Fühlen ohne das. Allerdings stellt sich die Frage, ob und inwiefern man sich dieser Merkmale souverän bedienen kann, ohne ihnen hilflos ausgeliefert zu sein. Gerade im Fetischismus kippt die menschliche Bezauberung in eine herrschaftliche Verzauberung. Glauben ersetzt Denken. Indes, nur durch das Denken ist es überhaupt möglich, sich jenseits der Befangenheiten zu positionieren. Lediglich Denken erlaubt etwas wie Souveränität und Willen. Das alles gibt es freilich nur in Ansätzen, aber ohne das Denken wäre es gar nicht möglich.

"Die sinnliche Intelligenz wird die klassenlose Gesellschaft schaffen." (Vaneigem) - So ungefähr. Worüber man sich heute lustig macht, dass eben niemand von Lust und Liebe leben kann, gerade das gilt es zu verwirklichen. Justament! Nun, es wird nicht alles Lust und Liebe sein, aber leben davon und damit, das hat schon was. Nichts erscheint reizender.

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2000 Zeichen abwärts

Verlust

Mit vier war ich sehr draufgängerisch. Ich war (zugegeben) blond, meist in Cord- oder karierten Hosen, nicht allzu leicht zu beeindrucken, und ich fuhr Ferrari. Entsprechend rot. Was anderes kam nicht in Frage. Mein Beuteschema war klar: groß, dunkel, lässige Gangart. Hat immer geklappt.

Kleinere Kinder waren lästig, Buben was zum rumkommandieren, Mädels waren, nun ja, manche waren wie ich, andere waren Schmeichelkatzen. Frauen waren immer selbstverständlich. Es gab aber doch einige, die ich mochte. Mit Männern war es die reine Freude. Anbändeln ohne zu bezirzen, keine Rollenvorgaben, recht spielerisch. Libertins d'esprit, ein bisschen wild, dann wieder ganz ernsthaft, konzentriert, selten rücksichtslos. Die selbstgefälligen Deppen, die ignoranten Trotteln, faden Zipfe, unsensiblen Möchtegerns und kleinen Geister, die gab es wohl auch, denen war konsequent aus dem Weg zu gehen.

Ich bin immer noch nicht leicht zu beeindrucken, umso eher zu erheitern. Mit Autos verstellt eins heute vorrangig die Gegend, das lohnt nicht mal den Führerschein. Was anzieht ist nicht immer augenfällig, die Schlüsselreize sind andere geworden und es braucht einen zweiten, gelegentlich dritten Blick. Die Kids haben es nach wie vor nicht einfach. Meine Freundinnen machen mich staunen, jede für sich, ganz eigen. Die selbstgefälligen Deppen, die ignoranten Trotteln, faden Zipfe, unsensiblen Möchtegerns und kleinen Geister, die wurden nicht weniger. Und ich nicht weniger konsequent. Männer, wie soll ich es sagen, es gibt immer noch einige, die ich mag. Manche auch sehr und über längere Zeit. Und doch, es fehlt mir, es fehlt ihnen, es fehlt mir mit ihnen und ihnen mit mir an Leichtigkeit. Was wollen sie (sonst noch)? - Was mir, bin ich bei mir oder auch außer mir, nie in den Sinn kommt, die Zuschreibung Frau, wirkt dann bleischwer, erdrückend, lähmend, geisttötend. Soviel Verlust, noch bevor eins sich verlieren möchte.

P.Z.

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Die Umarmung nach Picasso

von Elisabeth Pein

Das Hörspiel die Umarmung, nach Picasso, das die Autorin Otto Breicha gewidmet hat, entsteht im September und Oktober 1985, wird vom WDR unter der Regie von Klaus Schöning produziert, am 10.6.1986 findet die Erstsendung statt. Der Titel die Umarmung, nach Picasso hat die Funktion eines Intermedialitätsmarkers, der hier ein Hereinnehmen der bildenden Kunst in den Hörspieltext bezeichnet.

Friederike Mayröcker schreibt als Anmerkung zu Beginn des Hörspiels, dass sie der Bildband über Pablo Picasso, nämlich dessen Suite Vollard, welche über 100 Radierungen enthält und 1930 entstanden ist, zu dem Dialoghörspiel angeregt habe. Den Titel gibt sie ihrem Werk nach einer der Bilderserien.

Picasso verwendet die Umarmung als Leitmotiv seines künstlerischen Werkes. Und es scheint, als habe dieser Titel auch für Mayröcker in diesem Hörspieltext eine universale Bedeutung. Er charakterisiert das Verfahren, das vom Bild zur Sprache führt, und beschreibt aber auch die Verquickung von Kunst und Leben in diesem Hörspiel. Dieser Durchdringung von Kunst und Leben entsprechen inhaltlich die polaren Figuren Sie und Er. Es werden die Polaritäten Bild und Sprache, Kunst und Leben, sowie Mann und Frau von der Autorin problematisiert.

Das Hörspiel wurde fast ohne Musik realisiert, hie und da wird der Dialog von einem Klavierakkord unterlegt. Es beginnt mit den Worten und dem eigentlichen Thema: Sie: "Wenn sie näher kämen (...) so würden sie genauer sehen (...) können, im Schatten des Chronometers, später steigt sie ins Bad, sirrend Wolkenschwärme (...)." Er: "Ich würde gerne dieser Lockung nachgeben, diese Frau betrachten (...)." (Mayröcker 2001: 170)

In diesem Hörspiel werden Distanzen und deren Überwindung zum Thema. Der gesamte Anfang steht im Konjunktiv, damit erzielt die Autorin einen Zustand zwischen Phantasie und Realität. Das Dialoghörspiel ist fast durchgängig ein Paralleltext zu den Radierungen Picassos der Suite Vollard und in dieser Form les- und hörbar. Es zeigt inhaltlich die erotische Wirkung der Betrachtung der Kunstwerke, wie sie die Personen Sie und Er erleben, aber zeigt auch die "erotische Beziehung" von Künstler und Kunstproduktion. Mayröcker übersetzt in einem sehr erotisch gefärbten Dialog den Inhalt der Bilder in eine poetische Sprache und macht die Werke Picassos für die Zuhörer erlebbar.

Mit dem Aufruf, die Bilder aus der Nähe genau zu betrachten, versucht die Frau den Mann in ihre Nähe zu bringen und lässt die von Picasso abgebildeten Figuren ein Eigenleben in ihrer Phantasie spielen, das sie dem Manne mitteilt. Die Frau lockt den Mann mit einer erotisch konnotierten Sprache, zum Beispiel: "Kaltnadeldurchdringung" oder "mit Magnetnadel durchdrungen", also poetischen Termini, die suggerieren, es würde sich um Bildtechnisches handeln, aber durchaus erotisch aufgeladen sind.

Sehen und gesehen werden

Friederike Mayröcker sagt von sich selbst, sie erfasse das meiste durch die Augen, vieles entstehe bei ihr durch die optische Erfahrung. Die Tätigkeit des Schreibens ist, wie sie selber immer wieder betont, eine Form des Liebesaktes. Es fällt auf, dass Mayröcker rein visuelles Material, den Themenkreis rund um Sehen und Gesehen-Werden sowie die dadurch entstehende Erotik zum Fokus dieses Hörspieles macht.

Der Text ist durchzogen von Bildern, auf der einen Seite jenen von Picasso, aber auch von den in der Phantasie entstehenden Bildern der beiden Protagonisten, ja es überlagern sich beide, und so ist der Mond, der auf der Glasscheibe eines halb geöffneten Fensters gespiegelt ist, also selbst schon wieder Abbild im Glas, auch in der Picassoabbildung sichtbar. "Kommen sie näher! ganz nah! sehen Sie jetzt den Mond im Fenster, die Hälfte des Fensters ist aufgeschlagen, darin der Mond als Spiegelung, wir sprechen vom Mond am Himmel, aber er ist nur als Spiegelung sichtbar! Ist das nicht merkwürdig: der Mond aus dem Gemälde tritt jetzt hier ins Bild, in unser persönliches Bild (...)." (Mayröcker 2001: 172)

Das Hörstück spielt mit der Thematik des Sehens und Gesehen-Werdens und des Voyeurismus.

Die Kustodin und der von ihr begehrte Mann betrachten gemeinsam Picassos Bilder. Bei einem Exponat Picassos assoziiert die Frau die Angst des Paares, beim Liebesspiel gestört zu werden. "(...) diese flüchtige Panik in den Augen des Paares, die Tür sei nicht richtig verschlossen, jeder könnte sie überraschen." (Mayröcker 2001: 179)

Es werden psychische Bereiche der Beziehung zwischen Mann und Frau angerissen und lyrisch skizziert. Auch aggressivere Töne werden angestimmt, so dreht sich ein Themenkreis um Tiermisshandlungen und um die Darstellungen von Schlachten und den geblendeten Minotaurus von Picasso. Deckfarben werden aggressiv geritzt und gestochen, ist doch die Aggression immer auch unbewusster Anteil jeder Liebesbeziehung.

In Mayröckers Phantasie werden die Schwarz-Weiß-Bilder farbig, und so schildert sie diese auch dem Hörer, gestaltet sprachlich ihren von den Bildern ausgelösten Farbenrausch. Sie lässt die Blicke von ihr und ihm auf dem spiegelnden Glas sich vereinigen und durch das Sprechen über den Inhalt der Bilder wird das Begehren der Frau ausgedrückt. Mayröcker involviert den Hörer in höchst lyrische Stimmungen. Sie legt in ihre sprachliche Schilderung der Bilder Picassos auch Fragen für den Hörer, der aufgefordert ist, mitzuphantasieren.

Die Dramaturgie des Akustischen steht in Beziehung zu den Radierungen. Anfangs wirkt alles eher statisch und ist von Klarheit geprägt, wenn es um die Thematik der freien Blätter geht. Dann wird die Sprache Mayröckers immer dynamischer, ja wild, und ist beinahe in Auflösung begriffen. Die wirklich überzeugende akustische Interpretation des Textes durch die Schauspieler Gisela Stein und Bruno Ganz trägt dem Rechnung. Immer wieder taucht von der weiblichen Seite die Phantasie auf, sich in einen Tiermenschen zu verwandeln.

Auch in Picassos Werk, im Blinden Minotaurus (1934) sowie in Minotauromanie (1935), erscheinen Tiermenschen, genau eine Stier-Mensch-Figur, einmal stark und aggressiv geschildert, wenn sie ein Pferd attackiert, und auch trotz des mächtigen Körpers hilflos, wenn sie blind vom Kind geführt wird.

Die Kustodin phantasiert die Vereinigung als totale Verschmelzung, sie sei das Bild des Mannes, das ER ist, dann wird sie selbst zu dem Mann, der ER ist; das sei ein Seelenaustausch. Die letzte Dialogsequenz entspricht dem Beginn des Hörspiels, und die Sehnsucht nach Annäherung wird wieder mit dem Satz "...wenn sie jetzt näher kämen" (Mayröcker 2001: 184) umschrieben. Die Entfernung zwischen Mann und Frau ist also immer noch nicht überwunden und auf der szenischen Ebene scheitert die Nivellierung der Distanzen durch die ersehnte Umarmung der Frau.

Synästhetische Beschreibungen

Beim Phänomen der Synästhesie werden zwei Sinnesmodalitäten in Bezug zueinander gestellt. Die Medizin kennt seit mehr als dreihundert Jahren den Begriff "Synästhesie". Bereits John Locke beschreibt 1690 in Essay concerning human understanding, einen Blinden, welcher den Klang der Trompete mit der Farbe Purpur vergleicht. Im 19. Jahrhundert hat die Synästhesie einen starken Einfluss auf Künstler und ihre Werke. Charles Baudelaire setzt vor allem in dem Gedichtband Die Blumen des Bösen die Entsprechung von Tönen, Farben und Gerüchen bewusst ein. Die Synästhesien im Hörspiel die Umarmung, nach Picasso lösen bei dem bereiten Hörer vielfältige sinnliche Wahrnehmungen aus.

Die Suite Vollard

Das große Verdienst von Ambroise Vollard ist die Veröffentlichung von hundert Radierungen Picassos, welche zwischen 1930 und 1937 entstehen. Ambroise Vollard ist einer der größten Kunstsammler der bildenden Kunst, der aber nicht wirklich bekannt ist. Nur ein kleiner Teil seiner Veröffentlichungen erscheint zu seinen Lebzeiten. Seine Werke erscheinen in einer sehr kleinen Auflage und werden nur von wenigen Sammlern erworben, obwohl Vollards Arbeiten von hohem künstlerischen Instinkt zeigen.

Ambroise Vollard wird 1867 als Sohn eines Notars in Großbritannien geboren. 1880 geht er nach Montpellier, um Jus zu studieren. Er durchforstet die Kunstläden des Quartier Latin nach Bildern, welche damals billig zu haben sind. Im Laufe der Jahre wird er ein angesehener Sammler und Verleger. Picasso begegnet Vollard bei seinem zweiten Paris-Besuch 1901. Vollard kauft seine Werke, er bevorzugt besonders die Bilder Picassos der blauen und rosa Periode.

Die Suite Vollard umfasst siebenundzwanzig separate Blätter mit verschiedener Thematik und dreiundsiebzig Blätter mit fünf Themen: Die Liebesschlacht umfasst fünf Blätter, Atelier des Bildhauers sechsundvierzig Blätter, Rembrandt vier Blätter, Der Minotaurus und Der blinde Minotaurus fünfzehn Blätter und zuletzt die drei Portraits von Ambroise Vollard. Auf den ersten Blick lässt die Vielfalt der Themen auf das Fehlen eines Zusammenhangs schließen. Als die Blätter zusammen veröffentlicht werden, ist aber der zugrundeliegende Zusammenhang und Stil sofort ersichtlich. Für die siebenundzwanzig einzelnen Blätter benötigt Picasso sieben Jahre (von 1930 bis 1936) für ihre Fertigstellung. Die sechsundvierzig Blätter, deren Thema Das Atelier des Bildhauers ist, repräsentieren einen einheitlichen kreativen Durchbruch. Die elf Minotaurus Blätter werden zwischen Mai und Juni 1933 fertiggestellt.


Bibliographie

Friederike Mayröcker: die Umarmung, nach Picasso, in: Friederike Mayröcker: Magische Blätter I-V. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2001. S. 170-185.

Friederike Mayröcker: die Umarmung, nach Picasso, Erstsendung: Köln. WDR 20.11.1986, Regie: Klaus Schöning, Dauer:47'05", Sie: Gisela Stein, Er: Bruno Ganz.

Verwendeter Tonträger: CD du Executive-Production by Dieter Bachmann / Pia&Werner X. Uehlinger in connection with the May-issue od. "du Zeitschrift der Kultur" Zürich.

CD1 die Umarmung, nach Picasso Klaus Schöning, WDR Köln, 1994.

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2000 Zeichen abwärts

Über falsche Schnurrbärte

Zuweilen versuche ich öffentlich lustig zu sein, zuweilen verdiene ich sogar Geld damit. Denn wie ließen sich die Zumutungen der Realität anders ertragen als durch ironisch-seitliches dran Vorbeigehen? Wie den Zorn sinnvoller sublimieren als durch Satire? Der Humor ist doch das Öl, mit dem sich der Ringer im Kampf gegen das Böse unangreifbar macht. Sinnvolleres, als dem Leben Hofnärrin zu sein, ist mir beruflich bislang noch nicht eingefallen.

Jetzt ist es aber so, dass ich nicht immer aus lauteren Gründen auf Bühnen geladen werde. Ich bin nämlich quasi zufällig eine Frau und verheiße in dieser Funktion einen exotischen Bonus für gendersensible VeranstalterInnen. Denn im Spaßmilieu sind wir rar.

Der Frauenanteil in der Humor-Dienstleistungsbranche ist kaum höher als bei den Taliban. Nicht dass mich jemand falsch versteht: Ich kenne privat 17 schreiend komische Frauen, die locker dreimal lustiger sind als ich. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt als Ärztinnen, Forschungsassistentinnen, Hausfrauen. Wahrscheinlich gibt es deshalb so wenige Komikerinnen, weil wir schon als Mädchen dazu angehalten werden, zu gefallen und nicht zu viel Raum in Anspruch zu nehmen. Was sollen denn die Leut' denken. Hübsch und empathisch, anmutig und friedliebend sollen wir sein. Grimassenschneiden macht Falten und sieht an Damen ordinär aus. Ach, es ist ermüdend.

Ich schlage gegen das Schönseinmüssen engagiertes, öffentliches Blödsein vor, kombiniert mit hässlichen Verkleidungen. Oft tut's ja schon ein falscher Schnurrbart, auch verstörend unmodische Ballkleider, bizarre Perücken oder ausgestopfte Vögel erfüllen den Zweck. Diesen Rat gebe ich gerne auch Männern mit auf den Lebensweg: Schiachseindürfen ist befreiend, öffentliche Satire befriedigend.

D.M.

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Lust holt man sich. Mit Liebe

von Peter Pott

"Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. ... Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen - und zu der Natur - muß eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußrung deines wirklichen individuellen Lebens sein."
(MEW EB 1, 567)


Narziss und Echo

"Hände weg, lass die Umarmungen! Eher will ich sterben als dir gehören", schreit Narziss die Nymphe Echo an, die ihn liebt und wiedergeliebt werden will. Narziss hasst die Umarmungen, die seinen Körper spüren wollen, sodass auch er ihn spüren muss. Er verachtet die Liebe, die unter die Haut geht - und aufwühlt, was nicht ins Bild passt, das er von sich hat und behalten will: das Bild des schönen Jünglings, das er von sich im klaren Wasser erblickt. "Er bestaunt sich selbst und verharrt unbeweglich mit unveränderter Miene wie ein Standbild aus parischem Marmor. ... Nichts ahnend begehrt er sich selbst, empfindet und erregt Wohlgefallen, wirbt und wird umworben, entzündet Liebesglut und wird zugleich von ihr verzehrt."

Was Narziss liebt, kann seine Liebe nicht erwidern. Die, die es kann, die Nymphe "Echo", die ihn liebt und von ihm geliebt werden möchte, liebt er nicht. Sie muss sich zurückziehen, "hält sich im Walde versteckt, verbirgt schamhaft das Gesicht im Laub und lebt von nun an in einsamen Höhlen. ... Sorgen gönnen ihr keinen Schlaf und zehren den Leib jämmerlich aus; Magerkeit lässt die Haut schrumpfen, in die Luft entschwindet aller Saft des Körpers, nur Stimme und Gebein sind übrig. Die Stimme bleibt, das Gebein soll sich in Stein verwandelt haben. Seit dem ist sie im Wald verborgen und lässt sich auf keinem Berg blicken. Alle können sie hören. In ihr lebt nur der Klang."

Wie Echo verschwindet, so schwinden auch Narziss die Lebenssäfte und -kräfte. Er verzehrt sich. Er ahnt, dass die Liebe, die seinem Spiegelbild gilt, seinen Tod bedeutet. "Kein Gedanke an Nahrung, kein Gedanke an Schlaf kann ihn von dort losreißen", nicht einmal der Gedanke an den Tod. Ihm gegenüber hat er nur den Wunsch, der "Geliebte lebte länger", d.h., dass das Bild, das "Spiegelbild seiner Schönheit", für das er entflammt ist, für das er sich verzehrt, seinen Leib überleben möge.

"Was tun? ... Was ich begehre, ist bei mir." Narziss bettet "sein müdes Haupt aufs grüne Gras. Und der Tod schloss die Augen, welche die Schönheit ihres Eigentümers bewunderten. Da war der Leib nirgends mehr. An seiner Stelle finden sie eine Blume, in der Mitte safrangelb und umsäumt mit weißen Blütenblättern." Sie, die Narzisse, erinnert daran, dass der Mensch sein Leben verspielt, wenn er die Stimme der Natur aus dem Spiel lassen will. (Ovid, Met. III, 339-510)

So ging eine Griechenwelt unter

Der moderne Mensch will sich nicht erinnern. Er hat dafür keine Zeit. Will sie sich zumindest nicht nehmen. Zeit ist Geld. Der heutige Mensch, sagt Paul Valéry, arbeitet nicht mehr an dem, was sich nicht abkürzen lässt. Ihm fehlt die Geduld für das "geduldige Verfahren der Natur". Er vertraut blind der mitreißenden Kraft der Maschine - in der Annahme, dass sie sein Vertrauen erwidert.

Narziss' antike Zeitgenossen trauten eher ihren Augen und Ohren, den Händen, die die Natur als das "lebendig Handelnde" erfassten, nie als geistlose Materie abtaten, stets als ein Du betrachteten, das auch zu Wort kommen sollte. Ihr Umgang mit der Natur war kein technokratischer. Er "vollzog sich anders: im Rausche", wie Benjamin bemerkt, der, fügt er hinzu, "die Erfahrung (ist), in welcher wir allein des Allernächsten und des Allerfernsten, und nie des einen ohne des andern, uns versichern. Das will aber sagen, dass rauschhaft mit dem Kosmos der Mensch nur in der Gemeinschaft kommunizieren kann" (IV 1, 146): einer im Fluss befindlichen Gemeinschaft, die die Natur nicht selbstherrlich als reines Chaos abtut, das zu bändigen ist, sondern als fruchtbares Chaos anerkennt, auf das sie sich einlassen muss, wenn sie nicht erstarren will.

Um das Naturverständnis der alten Griechen "auf den entscheidenden Begriff zu bringen: die Natur bei Homer ist eine durch und durch dynamische Natur". Dynamisch nicht nur "im Sinne des Waltens einer Kraft, sondern das Entscheidende ist, wie überall alles am Werke ist ­... Dies Am-Werk-Sein der Dinge ist die Übersetzung des griechischen enérgeia, dieses so wichtigen Begriffs, der mit dem, was wir Energie nennen, nur den Namen gemein hat." (Schadewaldt 64ff.) Wie auch in der griechischen téchne eine ganz andere Vernunft zur Sprache kommt als in der modernen Technik. Das erklärt, warum die griechische Sichtweise von der Welt zu keiner mechanischen wird, sondern immer dialektisch bleibt.

"Die griechische Vernunft verdankt ihre Gestalt weniger den Verhältnissen zwischen Menschen und Dingen als den Beziehungen der Menschen untereinander, und sie hat sich nicht so sehr aus den Techniken der Bearbeitung der natürlichen Welt entwickelt als vielmehr aus den Verfahren, vermittels derer die Menschen aufeinander Einfluss nehmen und deren gemeinsames Werkzeug die Sprache ist: die Kunst des Politikers, die Kunst des Redners und des Lehrers. Die Vernunft der Griechen ist diejenige, die es erlaubt, in positiver, reflektierter und methodischer Weise auf die Menschen einzuwirken; sie ist nicht die einer Umgestaltung der Natur." (Vernant 134f.) Hat sie auch Herrschaft im Sinn, so doch nicht Herrschaft im technischen, sondern im politischen Sinne: das unter "Freien" ausgesprochene und ausgehandelte Staatswesen, das sich der Arbeit der "Unfreien" verbunden weiß, diese aber aus der polis ausschließt, die deren Arbeit Wert verleiht.

Die aus der polis ausgeschlossenen Produzenten vermögen in den Genuss des von ihnen produzierten Reichtums nur zu kommen, insofern sie Lust an der Herrschaft ihrer Herren finden und sich diese zu eigen machen. Sie haben sie gefunden! Und finden sie immer noch. In der Lust an abstrakter Arbeit. Mit ihr gewinnen die Unfreien die Freiheit, ihre herkömmliche Gefangenschaft aufzugeben und sich gefangen nehmen zu lassen von der Herrlichkeit des technischen Fortschritts, der "verschiedne Metamorphosen (durchläuft), deren letzte die Maschine ist oder vielmehr ein automatisches System der Maschinerie" (MEW 42, 584).

"So ging eine Griechenwelt unter. Die christliche", weiß Karl Kraus, "ließ kein Lied der Liebe singen" (282). Sie erließ das Gebot: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst." Die christliche Welt erkannte den antisozialen Charakter der Liebe "und machte aus ihm ein Genussmittel. Die christliche Liebe konvertiert alles, selbst den Glauben. Der getaufte Eros liebt nicht alles, aber er nimmt mit allem vorlieb. Nichts ist ihm unerreichbar. Er sagt, dass er die Nächstenliebe sei, und weidet sich an verwundeten Kriegern. Er rettet gefallene Mädchen und bekehrt ungläubige Männer. ... Er besucht Opiumhöhlen, um dort zu sagen, wie schön es in den Kirchen sei." (ebd.)

Der getaufte Eros will nur noch das Eine

Die Menschen, die aus der Kirche kommen, sind verwandelt. Sie sind entschlossener geworden. Man sieht es ihren Gesichtern an. Sie nehmen die Wirklichkeit mit anderen Augen wahr. Ihr Blick, den sie auf die Tatsachen werfen und mit dem sie sich die Natur wie gewöhnlich zu eigen machen, ist ein "kritischer" geworden. Sie haben Höheres im Sinn und eben deshalb weniger Sinn für das Sinnfällige. Das Leuchten, das noch in den Augen liegt und von der kirchlich verkündeten Welt kündet, hat sie abgestumpft für das Licht, das im Blick der Mitmenschen und auch im Anblick der Dinge liegt.

Statt dem anderen in die Augen zu sehen und so zu sehen, was auch dieser sieht, sind die vom Schauspiel in der Kirche faszinierten und dadurch geblendeten Menschen überzeugt, dass ihre leibhaftigen, d.h erotischen Beziehungen zueinander, zu ihren Tieren und ihrer Erde, unreine Beziehungen sind, die zu reinigen sind: vor berufenen Ohren zu beichten. Damit ist, wie Aaron J. Gurjewitsch bemerkt, ein eigentümliches Spiel von Frage und Antwort zum Zweck der "Wahrheitsfindung" gemeint, in dem die Rollen klar verteilt sind, der Beichtvater in diesem "Gericht Gottes" als Richter, das beichtende Gemeindemitglied "gleichzeitig als Angeklagter wie als Kläger" auftritt.

"Von ihm werden die Fähigkeit und die Bereitschaft verlangt, seine Handlungen zu analysieren, sie vom Gesichtspunkt der christlichen Lehre zu bewerten und im Falle der Verletzung der Gebote diese zu bereuen. Die Lehre der Kirche blieb im Verhältnis zu seinem Bewusstsein nicht irgendetwas Äußeres." (377)

Das bisher Selbstverständliche wird durch die Beichte zum Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit - nicht, dass es ausgerottet werde, aber dass es zweifelhaft werde: die magische Praxis der Heilkunst nicht anders wie die Riten der Feldbestellung und der Ernte. Mit besonderem Nachdruck fragen die Beichtväter nach dem Liebesleben ihrer Beichtkinder. Und der zur Beichte Gekommene gesteht. Er gesteht, um sich weiteren Fragen auszusetzen: Fragen, die nicht nur einzelne Verfehlungen ans Licht bringen wollen, sondern auch die persönliche Einstellung dazu aushorchen, die geheimen Gefühle und Gedanken belauschen; Fragen, die in die "Tiefe der Persönlichkeit" vordringen, diese so erst hervorbringen, eine Tiefsinnigkeit, die wesentlich um den Sex kreist und die Sexualität, wie Michel Foucault deutlich gemacht hat, zu einem beunruhigen Geheimnis machen, dem man nicht genug nachspüren kann, um es zu lüften, was gewiss "die Wirksamkeit und die Ausdehnung des kontrollierten Gebietes" steigert, zugleich "aber zu einer Versinnlichung der Macht und zu einem Gewinn an Lust" führt (28ff.).

Die mit System praktizierte Härte gegenüber dem Körper und seiner Sprache wirkt wie der Zaubertrank der Circe. Die diskriminierte Lust kehrt zurück. Anders als sie war. Das durch die Mühle des Wortes Gottes gedrehte Begehren drängt sich dem Bekehrten als Wolllust wieder auf, die sich entschieden gegen die antike Vorstellung richtet, nach der die Lust ein selbstverständliches Moment praktischer Handlungen ist, ein durchaus kultivierbares Moment, das sich darin erfüllt, dass sie eine bestimmte Handlung, den Geschlechtsakt z.B., zu etwas Schönem macht. Der "getaufte Eros" dagegen drängt sich als ein Verlangen auf, das nur das Eine will, seine Befriedigung, für die der Andere nur Mittel zum Zweck ist. Die Lust ist offenbar eine Sache des abstrakten Geistes, der neugierig auf sie ist. Er motiviert das bedrängte Menschenkind, den vielfältigen Weisen ihrer praktischen Verkörperung so gründlich wie möglich nachzugehen, immer wieder neue aufzuspüren, sich auch die abenteuerlichsten Weisen nicht entgehen zu lassen, sie sich in jeder Weise bewusst zu machen - und sie aufs schärfste zu verurteilen. Was den Eifer der Schnüffelei erst richtig scharf macht.

Die Mönche mehr noch als die Masse der Menschen wissen ein Lied von ihrer Bedrängnis zu singen. Wie gewaltige Streiche sie auch gegen ihren Leib führen mochten, so schreibt Ernst Lucius, die in ihm "verschanzten Feinde hat keiner ganz aus (ihm) vertreiben können. Denn mochten auch die sinnlichen Begierden nach Speise, Trank und Wohlleben in einer Weise geschwächt werden, dass sie sich kaum noch bekundeten, so blieb um so lebendiger der Geschlechtstrieb. Ja, es scheint, wie wenn derselbe durch das Fasten und durch die Kasteiungen nur noch gesteigert worden wäre, wie wenn die unterdrückte Sinnlichkeit mit besonderem Erfolg gerade auf diesem Gebiet sich gerächt hätte. Jedenfalls gibt es keine innere Anfechtung, die öfter an den Einsiedler herantritt als die Unkeuschheit." (361)

Die Liebe in Amt und Würden

Der Zwang, alles zu gestehen, was konkret Lust bereitet, verleiht der abstrakten Lust eine Faszination, die sie nie zuvor gehabt hat. So kann der Mensch die Dinge auf sich zukommen lassen, ohne sie in ihrem Anderssein zur Kenntnis zu nehmen: als eine Masse uneigensinniger Sachverhalte, die sich ihm zu einem apparativen System fügen, dem er sich - von der Chance der Ausweitung sofort fasziniert, wie McLuhan meint (57) - als dessen "Servomechanismus" fügt. "Der Mensch wird sozusagen zum Geschlechtsteil der Maschinenwelt." (63) Genauer gesagt: Der Mann wird zum Geschlechtsteil der Maschinenwelt. Die Frau hält ihm die Stange. Diese wird zum Instrument, mit deren Anwendung sich vereinigt, was sich praktisch nichts zu sagen hat, Mensch und Mensch nicht anders als Mensch und Maschine, den "Rausch der Zeugung" in einen "Taumel der Vernichtung" verwandelnd, der alle Differenzen beseitigt und einen Bund imaginiert, der ein Ausbund der Liebe ist, die Ehrensache ist - und von Sinneslust und -leid abstrahiert. Daher "soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine" (1. Kor. 29-31). Genauer gesagt: Er soll seine Frau nicht als ein eigensinniges Individuum begehren, das ihn in seiner Andersheit reizt und verführt, eine Ich-Du-Beziehung aufzunehmen, in der sich Liebe gegen Liebe tauscht, sie in einen "Lustzustand" geraten, "den man Rausch nennt" (Nietzsche) und der ein "Rausch der Zeugung" (Benjamin) ist, in dem der Mann sich durch die Frau, die Frau sich durch den Mann produziert.

Statt ihr in die Augen zu sehen und sich von ihrer Schönheit "blenden" zu lassen, wird von ihm, wie Gurjewitsch schreibt, "die Fähigkeit und die Bereitschaft verlangt, seine Handlungen zu analysieren, sie vom Gesichtspunkt der christlichen Lehre zu bewerten" und seine Frau so zu lieben, wie er sich selber lieben soll: als Werkzeug Gottes, des Herrn, das nur das Eine will, Zeugnis ablegen für die Schöpfung des Herrn, sich daher jede sinnliche Lust an seiner Natur versagt, wobei "um so lebendiger der Geschlechtstrieb" bleibt.

Zum Glück, muss man sagen. Denn dadurch kommt es immer wieder zur Paarung. Ist die menschliche Fortpflanzung gesichert, die dann auch die Kirche billigt. "Wir bewundern die von Demut, Enthaltsamkeit und Frömmigkeit begleitete Jungfräulichkeit, die heilige Ehe aber umgeben wir mit Ehre", verkündet das Konzil von Gangra. Ihre Ehre liegt in dem feierlichen Entschluss von Mann und Frau, die sich nicht beherrschen konnten, schwach wurden und einander verfielen, ihrer Schwäche Herr zu werden - und in den heiligen Stand der Ehe eintreten, der die Liebe zur Staatsaktion erhebt, durch die die Eheleute den amtlichen Auftrag erhalten, ihre unvermeidlichen sinnlichen Ausschweifungen, in denen sie über sich hinauswachsen, als Auswüchse zu kritisieren und im Zaum zu halten, sodass die produktive Kraft der Liebe - "die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand auf hebt", die Marx und Engels "kommunistisch" nennen (MEW 3, 35) - sich nicht entfalten und in der Gesellschaft eine bessere vorstellen kann.

Die Liebe liebt die Ausschweifung

Also sprach Zarathustra: "Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! Höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! ... Besser ... närrisch sein vor Glücke als närrisch vor Unglücke, besser plump tanzen als lahm gehen." (Nietzsche II, 530) Denn auch was plump tanzt, wenn es denn tanzt und nicht nur so tut, "will anders werden und dahin abreisen", weiß Ernst Bloch (I, 456f.). "Das Fahrzeug sind wir selbst, verbunden mit dem Partner oder der Gruppe. Der Leib bewegt sich in einem Takt, der leicht betäubt und zugleich in ein Maß bringt. ... Er schreitet den Wunsch nach schöner bewegtem Sein aus, fasst es ins Auge, Ohr, den ganzen Leib und so, als wäre es schon jetzt. Leicht, beschwingt oder streng, in jedem Fall tritt hier der Leib anders an, in anderes ein. Wobei ein Trieb besteht, immer stärker darin fortzufahren" (ebd.), so auch in anderen "Ich-Du-Beziehungen" abzufahren, die erfahrbar machen, dass das "Fahrzeug", das wir mit dem einen Partner bilden, erfahrener wird, wenn es auch mit einem anderen abfährt - und wir so erfahren, was wir in der Welt eigentlich zu suchen haben.

Ist das Tier "unmittelbar eins mit seiner Lebenstätigkeit" (MEW EB 1, 517), der Mensch ist genötigt, "seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewusstseins" zu machen. Seine Lebenstätigkeit ist dem Menschen also nicht vorbestimmt. Er hat die Qual der Wahl: die Freiheit, sich eine Lebenstätigkeit zu suchen, die ihm die Freiheit lässt, sich eine andere, schönere zu suchen. Formiert das Tier "nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der species, der es angehört", so vermag "der Mensch nach dem Maß jeder species zu produzieren ...; der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit", d.h. nach individuellen Gesichtspunkten.

Ausgangspunkt der menschlichen Geschichte ist nicht "der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen" (MEW 13, 615), sondern der Mensch als Mensch, der kein Subjekt einer besonderen Lebensart ist, sondern ein Individuum von gesellschaftlicher Wesensart, das sinnliche Gegenstände außer sich hat, Gegenstände seiner Sinnlichkeit, die weder objektiv noch subjektiv "unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden" sind (MEW 40, 579), das also nicht weiß, wie Mann die Fäuste ballt, eine Truppe bildet, erfolgreich zuschlägt, das Wild zur Strecke bringt, den Acker bestellt, ein Haus zimmert. Das im Augenblick auch nicht wissen will. Es will wissen, was die Dinge, die es antrifft, ihm antun, was sie anderen antun und was zu tun ist, damit sich mit den Dingen auskommen lässt. Er will wissen, was er eigentlich auf der Welt zu suchen hat - und schaut sich um. Das bringt ihn auf Gedanken.

Was dem Menschen in den Sinn kommt, der Mond am Himmel, der nur halb zu sehen ist, die Entenschar auf dem See, das lärmende Gezwitscher der Vögel, die zitternde Rosenknospe, bringt ihn aus der Fassung - und seine beunruhigende Fassungslosigkeit zur Besinnung auf die sinnlichen Eindrücke, die ihm die Sinne verschafft haben. Er besinnt sich auf die verlorene Verfassung, um sie über die Besinnung der neuen Eindrücke neu und anders zu verfassen, um mit dieser eindrucksvolleren Verfassung seiner Sinnlichkeit die beunruhigende äußere Wirklichkeit erneut ins Auge, Ohr, den ganzen Leib zu fassen - in der Erwartung, dass der wiederholt angeblickte Mond sich anders blicken lässt, das wiederholt angehörte Vogelgezwitscher freundlichere Töne offenbart, die Liebe auf den zweiten Blick mehr Sinn macht als die auf den ersten.

Erfüllt sich die Erwartung, fällt dem Menschen, wie Benjamin schreibt, "die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu" (I 2, 646). Er nennt sie ein Gespinst: wie das Gespinst der Spinnerin ein Kunstwerk, das sich im Unterschied zur Kunst der Spinnerin aber nicht zu einem greifbaren Stoff verfestigt. Es ist ein Kunstwerk, das sich im Innern des Subjekts abspielt: ein lebhaftes Kunstwerk, das die gegenwärtige Sinneswahrnehmung über die Verknüpfung mit den Erinnerungen vergangener Wahrnehmungen erinnert und neugierig darauf bedacht ist, sich durch weitere sinnliche Wahrnehmungen zu bilden - und so ein Gespür für die Wirklichkeit zu bekommen, mit dem das menschliche Individuum die in ihm "schlummernden Potenzen" als einmalige Vorstellung von und zu den überall in der Natur schlummernden Potenzen erspürt.

Sinnesleid und -lust

Das Wissen, das die Menschen brauchen, damit ihnen die Welt zu ihrer wird, liegt ihnen fern und geht ihnen doch nah. Es kommt ihnen zu Ohren, fällt in die Augen, liegt auf der Hand. Es wird ihnen durch die Sinnesorgane vermittelt, die klüger sind, als der Mensch denkt, wenn er sie nur als Mittel zum Zweck denkt. Statt auf Beute ist die menschliche Sinnestätigkeit auf Erfahrungen von und zu "jeder species" der Natur eingestellt. Alle Sinne produzieren einseitig, in ihrer Gesamtheit aber universell und sprechen für eine Lebenstätigkeit des Menschen, die über die verschiedenen Weisen der Erfahrung weiser wird und mit ihrer Weisheit nie am Ende ist. Die Sinne "verhalten sich zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum Menschen und umgekehrt. Das Bedürfnis oder der Genuss haben darum ihre egoistische Natur und die Natur ihre bloße Nützlichkeit verloren, indem der Nutzen zum menschlichen Nutzen geworden ist." (MEW EB 1, 540)

Die Sinne denken also mit. Sie denken natürlich nicht logisch. Sie denken sinnlich. Erleiden die Wirklichkeit. Zum Glück. Wie Marx nahe legt. "Sinnlich sein, d.h. wirklich sein, ist Gegenstand des Sinns sein, sinnlicher Gegenstand sein, also sinnliche Gegenstände außer sich haben, Gegenstände seiner Sinnlichkeit haben. Sinnlich sein ist leidend sein" und zugleich - weil der Mensch ein "sein Leiden empfindendes Wesen" ist - leidenschaftlich. "Die Leidenschaft, die Passion ist, die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen" (MEW EB 1, 579): ein Bewusstsein, das wissen will, was Sache ist, das aber noch nicht weiß, es aber im Auge und nicht nur im Auge hat, das wie die anderen Sinnesorgane ein Organ ist, das sich, wie Goethe im Vorwort zu seiner Farbenlehre bemerkt, nicht mit dem bloßen "Anblicken einer Sache" begnügt, sondern sich an ihr auch begeistert. "Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, dass wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren." (XIII, 317)

Das Zwitschern eines Vogels, das lästig ist, treibt den Menschen weder prompt in die Flucht noch zum Angriff, sondern in den Zustand einer sinnenden Betrachtung, die rhythmisch und phantastisch zugleich ist und dem Betrachter erlaubt, im Vogelgezwitscher einen Gesang zu erkennen, den zu erkennen der Vogel selber weit entfernt ist. Er gibt dem Vogel - wollen Horkheimer / Adorno wissen - mehr zurück, "als er von ihm erhält. Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen Sinnen zurücklässt: die Einheit des Dinges in seinen mannigfaltigen Eigenschaften und Zuständen; und es konstituiert damit rückwirkend das Ich", dessen "innere Tiefe" in nichts anderem besteht "als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt" (198).

Die Liebe ist ein Kraftakt von doppelter Kraft

Die Fähigkeit, im lärmenden Gezwitscher einen Gesang zu erkennen, ist eine Kunst, über die allein der Mensch verfügt: Liebe zur Natur, die dieser das Vermögen gibt, "den Blick aufzuschlagen" (Benjamin), die sie als ein lebendig Handelndes ausmacht, als ein Du, mit dem ins Gespräch zu kommen ist - und nur dann ins Gespräch zu kommen ist, wenn die einsame Lust an der Natur aufgehoben ist in der Lust des Menschen am Menschen, die nicht eine heimliche sexuelle Verstrickung ist, sondern der offensichtliche Versuch eines Individuums, sich mit einer bestimmten Äußerung seines wirklichen individuellen Lebens in das Leben eines anderen Individuums einzumischen: eines anderen, das als Du ansprechbar ist, die Liebe zu ihm auch mit Gegenliebe beantworten kann und so zum Vorschein kommt, was verborgen bleibt, wenn wir die "Menschen sogleich in ihrer Vielzahl zu betrachten" versuchen, wie Luce Irigaray zu bedenken gibt (110).

Was die Liebe zum Du von der zu einer Vielzahl von Menschen unterscheidet, das ist ihre Radikalität: die Tatsache, dass keiner den anderen nur als Funktion des eigenen Willens wahrnimmt, beide sich mit Lust auf den Leib rücken und sich gegenseitig durch ihre Andersheit verrückt machen, sie ihre Differenzen nutzen, "durch Einbegreifen des Widersprechenden über sich selber hinauszugehen" (Adorno: 171) und etwas zeugen, was es so noch nie gegeben hat. Solches Zeugen ist in jedem Fall nicht nur eine Technik oder ein bloß biologischer Vorgang, sondern eine Kunst, die besagt: "Über dich hinaus sollst du bauen. ... Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe. ... Ehe: so heiße ich den Willen zu zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist als die, die es schufen ..." (Nietzsche II 332)

Einen Kraftakt nennt Wilhelm von Humboldt den Akt, mit dem zwei Menschen das Eine schaffen, "das mehr ist als die, die es schufen": einen Kraftakt von doppelter Kraft, in dem "eine auf Wirkung und eine andre auf Rückwirkung" gerichtete Kraft zum Zuge kommt, zwei unterschiedliche Kräfte also, eine männliche und eine weibliche Kraft, über die jeder Mensch verfügt, die aber gleichzeitig nur von zwei Menschen wahrzunehmen sind. "Hier nun beginnt der Unterschied der Geschlechter ... Alles Männliche zeigt mehr Selbsttätigkeit, alles Weibliche mehr leidende Empfänglichkeit. Indes besteht dieser Unterschied nur in der Richtung, nicht in dem Vermögen. ... Etwas bloß Leidendes ist nicht denkbar", wie eine tätige Kraft ein Unding ist, die vom Stoff, den sie bearbeitet, unberührt bleibt (I, 268ff.).

Die sexuelle Differenz ist entscheidend nicht nur für den unmittelbaren Geschlechtsakt und dessen Folgen. Die Differenz zwischen Mann und Frau sorgt auch sonst im Leben für die Lust, mit der zum Vorschein kommt, "was vorher nicht vorhanden" war (ebd.). Man muss diesen Vorgang nur begreifen! Wer ihn nur erlebt, "der mag noch so gedankenvoll sein, er ist weltlos", wie Martin Buber sagt -"und alle Spiele, Künste, Räusche, Enthusiasmen und Mysterien, die sich in ihm begeben, rühren an die Haut der Welt nicht". Die Erfahrung des "Lustzustandes, den man Rausch nennt" (Nietzsche), erscheint als belanglos: ein gefährlicher Irrtum, wie Benjamin meint, wird doch diese - unreflektierte - Erfahrung ständig von neuem fällig und dann mit verheerenden Folgen. Wir müssen daher "zu einem Begriff von Geschichte kommen, nach dem der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel darstellt. Dann", so Benjamin weiter, "wird als unsere geschichtliche Aufgabe die Herbeiführung des Ausnahmezustandes uns vor Augen stehen; und dadurch wird sich unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sehr verbessern." (Benjamin I.3, 246)

Vor Augen steht uns dann, dass der "Ausnahmezustand, in dem wir leben", ein Zustand ist, in dem der Mensch sein Verhältnis zum Menschen und zur Welt als ein menschliches setzt, einer den anderen als anderen erlebt, "ihn also nicht als Objekt betrachtet, sondern als seinen Partner in einem Lebensvorgang" (Buber), der nicht am Ende ist, wenn die Partner sich auch anders paaren - und sich zutrauen, das hier wie da erzeugte "Mehr von Kraft" (Nietzsche) als gemeinsame Kraft zu bekunden, die die in der Liebe wirkenden Kräfte als gesellschaftliche Kräfte zu erkennen gibt, mit denen die Individuen ihre gesellschaftliche Zuständigkeit für die Zustände ihres Alltags nicht nur proklamieren müssen, sondern auch in die eigenen Hände nehmen können: "zur Aneignung einer Vertrautheit, die vertrauter ist als die bereits bekannte Welt"; als Bedingung "des Erlebens einer Intimität, die ich noch nicht kenne" (Irigaray 115).

Liebe und Arbeit

Soll Liebe nicht nur das Überleben sichern, sondern in der Gesellschaft eine bessere begründen, dann kann die erste Liebe nicht die letzte sein, muss Raum für eine nächste bleiben, müssen die Individuen sich nicht nur einmal füreinander begeistern, sondern immer wieder neu und anders, muss ihnen die Begeisterung durch die Andersheit des anderen zum Bedürfnis werden, müssen sie sich für ihre Begeisterung begeistern - und aus Treue zu ihr die Ehe brechen und sich auch einem anderen Du anvertrauen: nicht, um das alte Du gegen ein neues auszutauschen, sondern um zusammen eine Lebensgemeinschaft zu bilden, die sich ihre im Ausnahmezustand erschlossene "reale Möglichkeit qualitativ neuer Prozesse" auch "im Medium der fortgesetzten Aneignung von äußerer" Natur erschließt (zur Lippe 62). Kurz gesagt: Sie muss die Möglichkeit auch in der Form der Arbeit in die Hände nehmen: in die eigenen, damit sie nicht in fremde Hände fällt; Hände, die vom Ausnahmezustand noch ergriffen sind und entsprechend zugreifen, die nicht nur zupacken, sondern die Sache, die sie in die Hand nehmen, auch begreifen und sich von ihr ergreifen lassen. Wozu außer der körperlichen Anstrengung ein Wille erforderlich ist, der sich "für die ganze Dauer der Arbeit ... als Aufmerksamkeit äußert" (MEW 23, 193): als Aufmerksamkeit, wohl gemerkt - und nicht als Zähigkeit. Sie verhält "sich zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum Menschen und umgekehrt" (MEW EB 1, 540).

"Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen" (MEW EB 1, 517) - und nicht lediglich ein Gebrauchsgegenstand, dessen Herstellung das Spiel der Hände einer - inzwischen ungeheuer entfalteten - Technik unterwirft, die sich in fremden Händen befindet, die dem Arbeiter den Gegenstand seiner Produktion entreißen, damit auch sein Gattungsleben, sodass sein "Vorzug vor dem Tier in den Nachteil (sich verwandelt), dass sein unorganischer Leib, die Natur, ihm entzogen wird" (ebd.). Woran sich nichts ändert, wenn sich die Besitzverhältnisse ändern. So oder so kann der Arbeiter sich den Produktionsmitteln nur als "Servomechanismus" (McLuhan) andienen. Fehlt ihm doch die Erfahrung, die notwendig ist, sie sich gesellschaftlich anzueignen. "Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht nur an privaten, sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt", die den Menschen nur die Wahl lässt, weiterzumachen wie bisher oder "von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen, aus Wenigem heraus zu konstruieren". Dem "Innern mehr als der Innerlichkeit" gehorchend (Benjamin III, 214ff.).


Literatur

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, Ffm. 1984.
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Ffm. 1980.
Bloch, Ernst: Prinzip Hoffnung I - III, Ffm. 1967.
Buber, Martin: Das dialogische Prinzip, Gütersloh 2006.
Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. I., Ffm. 1977.
Goethe: Maximen und Reflexionen, Ffm. 1976.
Goethe: Werke, Bd. XIII, München 1975.
Gurjewitsch, Aaron J.: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1982.
Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, Ffm. 1969.
Humboldt, Wilhelm von: Werke in fünf Bänden, Bd. I, Darmstadt 2002.
Irigaray, Luce: Welt teilen, Freiburg im Breisgau 2010.
Kraus, Karl: Die chinesische Mauer, Ffm. 1987.
Lucius, Ernst: Die Anfänge des Heiligenkults in der christlichen Kirche, Tübingen 1904.
McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle, Düsseldorf 1992.
Nietzsche: Werke in Drei Bänden, Hrg. Karl Schlechta, München 1960.
Ovid: Metamorphosen, in deutsche Prosa übertragen von Michael von Albrech, München 1988.
Vernant, Jean-Pierre: Die Entstehung des griechischen Denkens, Ffm. 1982.
zur Lippe, Rudolf: Naturbeherrschung am Menschen I, Ffm. 1974.

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Essen ist der Sex des Alters

Essen ist der Sex des Alters, heißt es. Weil man sich zwar noch an Sex erinnert und insgeheim davon phantasiert, aber eigentlich schon zu müde dazu ist und er irgendwie nicht mehr so aufregt, braucht es also Ersatz für die Lust, die der Sex nicht mehr liefern kann. Das ist das Essen. Schweinsbraten und Sachertorte mit Schlag sind weniger mühsam, aber ähnlich lustvoll und jetzt noch dazu befriedigender.

Aber selbst das war einmal. Auch Schweinsbraten und Sachertorte mit Schlag werden einem zunehmend vergällt. Früher haben uns die Heilsapostel den Sex madig gemacht, heute machen uns die Gesundheitsapostel das gute Essen madig: Gewicht, gar Übergewicht! Bauchumfang! Body-Mass-Index! Cholesterin! Kunstmargarine statt Bauernbutter und Magermilch statt Schlagobers. Koffeinfreier Kaffee ohne Zucker und viele Kräutertees. Statt vollreifer, sonnenwarmer Paradeiser mit Salz auf Bauernbrot und Butter desselben Ursprungs den vierten Aggregatszustand des Wassers: die holländische, weit gereiste Tomate. Farb-, vitamin-, geschmacklos, aber mit in einer - selbstverständlich ethisch einwandfrei profanierten - tibetischen Gebetsmühle handgemahlenem Himalajasalz.

Das soll Lust sein? Der Sex des Alters? Das ist doch einfach fad. Sie gaukeln uns mit den glatten, sterilen, coolen, emotionsfreien Schönheiten in Film und Druck Erotik und Genuss vor wie mit den kunstvollen Hochglanzbildern von gesundem Essen. Das eine so blutleer, geschmacksfrei und langweilig wie das andere.

Aber heißt es nicht: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende? Oder sollen wir uns wirklich für den staatlichen Nicht-Pflegenotstand aufheben? Eine der schönsten Todesarten ist angeblich der Herzinfarkt bei aufregend geilem, lustvollem Sex. Wenn der Sex schon nicht mehr so recht klappt, dass es zu einem Herzinfarkt reicht: warum nicht der letale Herzinfarkt bei aufregend geilem, lustvollem Essen?

P.M.

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Immaterial Worl

Selbstentfaltung

von Stefan Meretz

Have a lot of fun, lautet der legendäre Hackergruß. Spaß haben? Steht das nicht für die inhaltsentleerte dumpf-blöde "Spaßkultur" von Comedy & Co? Weit gefehlt. Der Gruß verweist auf die Motivation, sich einer komplexen selbstgestellten Aufgabe hinzugeben - wie die der Entwicklung von Software oder anderen nützlichen und schönen Dingen. Das Entscheidende dabei ist die Freiwilligkeit, ist es, sich lustvoll einem selbstgewählten Ziel zu verschreiben, ist die Identität von Zweck und Selbstzweck.

Im emanzipatorischen Kontext wird für diese Form der Motivation der Begriff Selbstentfaltung verwendet. Das ist eine terminologische Gratwanderung, verwenden doch auch allerlei Esoteriken diese Bezeichnung, meinen damit aber etwas anderes. Es geht gerade nicht um eine Identität mit außerweltlichen Mächten, um ein Aufgehen im Nirwana, um die Unterordnung unter anderes oder andere. Sondern um Selbstbestimmung und Autonomie in Kooperation mit anderen.

Es geht auch nicht um ein bürgerliches Konzept der "Selbstverwirklichung", das schon vom Wort her nahelegt, es gäbe dort ein fixes, identitäres "Selbst", das nur mehr "wirklich" werden müsse, das sich nur die passenden Accessoires zulegen müsse, um sich mit und in ihnen zu finden. Selbstverwirklichung als Warenmonade. Ich kaufe, also bin ich - selbst?

Marx und Engels definierten Selbstentfaltung im Kommunistischen Manifest als die "freie Entwicklung eines jeden", die die "Bedingung für die freie Entwicklung aller" ist. Sinngemäß, denn das heutige Wort kannten sie nicht. Aber den Kern hatten sie erfasst: Selbstentfaltung ist die Selbstentwicklung, die die Entwicklung aller anderen Menschen voraussetzt. Die anderen sind hier nicht mehr aus ethischen oder anderen äußerlichen Erwägungen freundlicherweise einzubeziehen, sondern sie sind einbezogen, strukturell und bedingungslos.

Selbstentfaltung hat zwei zentrale Voraussetzungen: Commons und Peering. Commons ist die Alternative zur Warenform. Es ist die soziale Form, in der die lebensnotwendigen Dinge nicht in getrennter Privatproduktion erzeugt und in einem nachgeschalteten Tausch vermittelt werden, sondern in der die Lebensbedingungen in einer im Vorhinein vermittelten und bedürfnisgetriebenen Weise entstehen.

Peering beschreibt dabei das Moment der Vermittlung im Vorhinein. Peering bedeutet Kommunikation und Verhandlung der Beteiligen als Gleichrangige. Peering ist ein Aspekt der Inklusionslogik. Peering konstruiert keine Anderen, die auszuschließen sind, sondern identifiziert andere Peers, die einbezogen werden. Für die Überwindung von Sexismus, Rassismus und sozialphobischen Ismen ist dies eine entscheidende Voraussetzung, wenn auch keine Garantie.

Selbstentfaltung bedeutet, sich als das zu erfahren, was wir alle sind: gesellschaftliche Menschen in der menschlichen Gesellschaft. Das ist nichts Besonderes, denn das sind wir immer. Nur erfahren wir es nicht. Wir erfahren uns getrennt von anderen. Ich mache mein Ding, die anderen ihres. Sich die eigene Entwicklung als von anderen getrennte vorzustellen, ist eigentlich absurd und dennoch gängig, denn wir erleben es so.

Selbstentfaltung erzeugt echte, lebendige Motivation, eine Motivation, die unter dem Diktat der allgegenwärtigen Verwertung nicht mehr zu haben ist. Doch lassen sich Motivation und Verwertung nicht geschickt kombinieren, lässt sich Selbstentfaltung nicht auch kaufen? So ermuntert uns das postmoderne Kapital: "Tu was du willst, Hauptsache, es rechnet sich."

Die Antwort ist als Crowding-out-Effekt bekannt geworden. In zahlreichen Studien wurde untersucht, wie sich Menschen verhalten, wenn man ihnen für das, was sie ohnehin gerne tun, Geld gibt, wenn man selbstzweckhaftes Tun mit Belohnung und fremder Zweckerfüllung verbindet. Ob bei Kindern oder Erwachsenen, bei Armen oder Gutsituierten, es zeigt sich: Anstrengung und Ergebnisse gehen in den Keller. Es ist frustrierend, ja beleidigend, für eine lustvoll ausgeübte Tätigkeit "belohnt" zu werden. Anerkennung ja, Bestechung nein.

Der Lustvertreibungseffekt allerdings, so ein zweites Ergebnis, zeigt sich nur unter den Bedingungen einer halbwegs abgesicherten Lebenssituation. Empfinden Menschen einen erheblichen Existenzdruck, so bleiben Anstrengung und Ergebnisse hoch oder nehmen gar zu, sofern Geld als Resultat winkt. Doch handelt es sich hier nicht um tatsächlich motivierte Aktivitäten, sondern um motivationsförmig verinnerlichten Zwang unter dem Druck prekärer Verhältnisse.

Wir alle kennen solche Gedanken: "Ich muss mich motivieren, um die Aufgabe anzupacken." Oder noch direkter: "Ohne Termindruck kriege ich gar nichts auf die Reihe." Dabei ahnen oder wissen wir doch: Sobald ich mich "zu etwas motivieren" muss, ist es keine Motivation, sondern Überredung und Zwang. Selbst ausgeübter innerer Zwang, der sich als Motivation tarnt. Myriaden von Motivationsseminaren vermitteln die "Selbsttechniken" dazu. Die Botschaft: "Es liegt allein an Dir."

Selbstentfaltung und wirkliche Motivation sind etwas anderes. In der motivierten individuellen Entfaltung realisiere ich meine Potenz als Gesellschaftswesen auf eine reziprok-inklusive Weise. Unter kapitalistischen Rahmenbedingungen geht dies nur in Subräumen, die wir uns erst schaffen müssen, und das auch nur begrenzt. Aber es ist die Kraft, die die commonsbasierte Peer-Produktion vorantreibt.

Selbstentfaltung ist der Kern des Kommunistischen, und Kommunistisches ist in aller Geschichte. Es gab immer Menschen, die alle Schranken ihrer individuellen Entfaltung hinwegzuräumen trachteten, nur waren bisher die Bedingungen nicht danach. Eine verallgemeinerte reziproke Inklusion ließ sich nicht erreichen, irgendwann ging es immer auf die Knochen von Subalternen.

Das kann heute anders werden. Der Kapitalismus, die Inkarnation der strukturell-allgemeinen reziproken Exklusion, hat gerade jene materiellen Bedingungen geschaffen, die Selbstentfaltung nicht nur ermöglichen, sondern auch verallgemeinerbar machen können. Dafür ist es jedoch erforderlich, sich der Voraussetzungen der Selbstentfaltung bewusst zu werden.

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Schaukeln

Eine Schaukel schwingt zwischen Himmel und Hölle, zwischen Tier und Gott. Sie schwingt von der Ewigkeit unseres Bewusstseins zur Endlichkeit unseres Körpers. Sie schwingt von Libido zu Agape, vom Singen zum Furzen - und wieder zurück. Nennen wir sie die Lustschaukel.

Warum wir Menschen schon seit Jahrtausenden versuchen von ihr hinunter zu springen und so womöglich das Schönste versäumen, ist mir ein Rätsel. Es scheint, wir wollten nicht akzeptieren, dass Leben so ein wackeliger, dualer Zustand ist, in welchem sich entfernt, wonach wir streben und umgekehrt. Sehen wir uns selbst doch an: Indem wir Menschen alles daran setzen, anders zu sein als das Tier, und danach streben, unsterblich zu werden, den Göttern gleich, fallen wir selbst noch unter das Ansehen jenes.

Das Schaukeln in Bejahung des wackeligen Hinundher von Angst zu Liebe, von Großmut zu Engstirnigkeit und wieder zurück - wäre es nicht das eigentlich Lustvolle? Lust und Leid blieben zwar weiterhin entgegengesetzt, würden sich aber viel eher in Frohsinn und Akzeptanz auflösen. In diesem Zustand dann bräuchte man nicht mehr das Tier vor sich und den anderen und die anderen nicht vor einem selbst verstecken.

Warum uns die Lust ein Dorn im Auge ist? Weil sie uns an unsere tierische, endliche Natur erinnert. Ihr gegenüber fühlen wir uns so erhaben. Dabei ist der Unterschied zum Tier gering. Man könnte sagen, er wäre nichts weiter als T-Shirt und Jeans. Und doch, etwas ist anders, wir belügen uns selbst.

Mut zum Schaukeln! Mut zur Wirklichkeit! Denn, sehen wir nur, was ist: Wir sind ein Haufen Fleisch auf einem Haufen Steine, und doch ist alles voll Wunder und Geheimnis. Wir sind nackt und verloren, voller Bedürfnisse und Ängste, und doch auch voll Liebe und Eintracht. Ich las: Wer Liebe kennt, sucht nicht nach Gott. Klingt uns hier nicht schon das Unendliche an? Warum also diese ganze Maskerade? Warum das Versteckspiel vor sich und den Anderen?

Sehen wir, was ist: Das Schaukeln ist des Lebens Lust!

L.H.

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Wohl und Depression

von Meinhard Creydt

Psychische Probleme und Erkrankungen als Symptom und zugespitzte Folge von im modernen Kapitalismus gesellschaftlich weit verbreiteten Bewusstseins- und Subjektivitätsformen zu denken - dieses Thema fristet eher ein Aschenputtel-Dasein. Unerschrocken ob dieser Lage und ob der Umfangsbeschränkung dieses Artikels zeigt er einige charakteristische Momente des depressiven In-der-Welt-Seins. Und beansprucht eine notwendige, keine erschöpfende Argumentation.

1.

Eine spezifische Verbindung von Arbeit und Konsum bildet die konstitutive Voraussetzung für Depressionen. Man möchte seine Befriedigung in der Belohnung durch ein unspezifisches Wohl finden und meint, es sich mit seinen Opfern (in der Arbeit, in seinen Diensten für andere bzw. in all dem, was man leistet) verdient zu haben. Die entsprechende Mentalität ist einerseits arbeitsam und leistungsbeflissen, hegt andererseits konsumistische Erwartungen an eine passive Befriedigung, an ein Wohlergehen, an ein Befriedigt- und Versorgtwerden. Arbeit wird instrumentell verstanden und nicht als Herausbildung inhaltlich bestimmter Fähigkeiten und Sinne, die für das Individuum wichtig und im emphatischen und nicht nur pekuniären Sinne wertvoll für andere Menschen sind. Arbeit bzw. Leistung gelten in der entsprechenden Mentalität als Mittel zum Lebensunterhalt sowie als Mittel dafür, als ordentlicher Mensch geachtet zu werden, der nicht auf Kosten anderer existiert, oder als Mittel für die Geltung, es zu etwas gebracht zu haben.

In dieser depressionsbegünstigenden Mentalität konstellieren sich viele Bestandteile des Lebens zu einer Mischung, in der wie in manchen chemischen Verbindungen die Elemente sich gegenseitig neutralisieren. Die Arbeit ist nicht in ihrem menschlich-sozialen Inhalt von Belang, sondern als Mittel. Der Konsum ist nicht selbst etwas, sondern der Ausweis für das Wohl und den Frieden mit der eigenen Existenz.

Bei der Arbeit geht es in der depressionsfördernden Mentalität um deren Erledigung, um das Ihr-Gewachsen-Sein, nicht aber um den eigenen Sinn der Beteiligten für den menschlich-qualitativen Gehalt der Arbeitsprodukte und des Arbeitens selbst sowie des Bezugs der Arbeiten auf das Leben derjenigen, die deren Resultate konsumieren oder mittelbar von ihnen betroffen sind. Die Aushöhlung der Inhalte wird sich rächen.

2.

Ein zweites die Depression begünstigendes Moment betrifft die Selbstwahrnehmung und die Vorstellung vom In-der-Welt-Sein. Die darin maßgebliche Absage an die die Menschen entwickelnde Auseinandersetzung und die Orientierung auf den Frieden mit der eigenen Existenz haben eine gewisse Nähe zu Freuds "Lustprinzip". Im Unterschied zu hedonistischen Vorstellungen vom Lustprinzip empfindet Freud zufolge die Psyche die "Anhäufung von Erregung" als "Unlust" und setzt sich in Bewegung, "um das Befriedigungsergebnis, bei dem Verringerung der Erregung als Lust verspürt wird, wieder herbeizuführen" (Freud, GW II, 604). "Das Lustprinzip ist dann eine Tendenz, welche im Dienste einer Funktion steht, der es zufällt, den seelischen Apparat überhaupt erregungslos zu machen oder den Betrag der Erregung in ihm konstant oder möglichst niedrig zu halten." (Freud, GW XIII, 67f.) Die "Absicht" des "seelischen Apparats" bestehe darin, "die von außen und innen an ihn herantretenden Reizmengen und Erregungsgrößen zu bewältigen und zu erledigen" (Freud GW XI, 370). Freud orientiert sich an einem homöostatischen Prinzip, das Entspannung zur primären Grundtendenz erhebt. Das "Realitätsprinzip" beinhaltet bei Freud keine "Ersetzung" oder "Absetzung" des Lustprinzips, "sondern nur eine Sicherung desselben" (Freud VIII, 235f.). Das mit dem Lustprinzip vorgegebene übergreifende Ziel bleibt. Der Sinn für die Realität betrifft im "Realitätsprinzip" die Realität als Mittel zur Lustbefriedigung und wendet sich gegen eine unmittelbare, ungeschickte und unkundige Weise der Befriedigungssuche. Die Beschäftigung mit der Realität als Mittel der Lustbefriedigung gilt dann als notwendiger, aber unbeliebter Umweg.

Die prinzipielle Orientierung an Lust ist nicht unmittelbar, sondern reaktiv. Sie drückt die Resignation aus, in der Gesellschaft keinen inhaltlich bestimmten und über Arbeiten, Tätigkeiten und Gegenstände vermittelten Bezug der eigenen Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen auf andere Menschen zu finden, der das eigene Leben positiv erfüllt. Diese Resignation liegt der Konzentration auf die eigene psychische Zuständlichkeit und auf deren abstrakte Wahrnehmung als Lust zugrunde. Beide gehören zu einer Gesellschaft, in der die Gestaltung des Arbeitens, der Gegenstandswelt und der gesellschaftliche Strukturen zunächst erst einmal Mittel zur Akkumulation des abstrakten Reichtums ist und nicht die Entfaltung des Bezugs von Menschen zueinander in ihren Sinnen, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen den Inhalt des gesellschaftlichen Reichtums bildet.

Die Suche nach dem abstrakten Wohlbefinden übergeht die schon von Platon (Gorgias 646c) am Hedonismus geäußerte Kritik, nicht Lust oder Nutzen seien die motivierenden Ziele, sondern bestimmte Dinge und Tätigkeiten, zwischen denen wir also inhaltliche Rangunterscheidungen vornehmen. Wem es nur um die Lust oder das Wohl überhaupt gehe, der möge sich am besten die Krätze wünschen, um sich besser kratzen zu können. Max Scheler (1966, 351) wendet zu Recht gegen den Hedonismus ein, Glück lasse sich nicht unmittelbar anstreben, sondern sei immer nur "auf dem Rücken" von anderen Tätigkeiten zu erreichen. Man spielt nicht Klavier, um glücklich zu sein. Sondern: Wer Klavier spielen könne, der habe nicht nur vielleicht Glück bei den Frauen, wie ein alter Schlager meint, sondern sei glücklich, weil er Klavier spielen könne. Aus der zunächst wirtschaftlichen und dann auch seelenökonomischen Fassung des Anzustrebenden als des größten Nutzens oder größten Wohlbehagen gewinnt das Individuum keinen Aufschluss und keine Selektionshilfe, für was es sich entscheiden soll. Dafür sind inhaltliche Urteile über die zu beurteilenden Tätigkeiten oder Objekte und über ihren jeweiligen menschlich-sozialen Sinn notwendig.

In der Depression radikalisiert sich eine bereits im normalen Leben enthaltene Glücksvorstellung. Sie beinhaltet die Zielsetzung einer wunschlos glücklichen Saturiertheit. Das Individuum hat dann nicht bestimmte Werke oder Zwecke im Sinn. Als ganzes möchte es sich affimiert fühlen und zur Ruhe kommen. Die vielfältigen überanstrengenden Inanspruchnahmen als jeweiliger Leistungserbringer bleiben als Maßstab erhalten - nur eben negativ. Wo Lust drauf steht, geht es oft faktisch um die Verringerung oder Vermeidung von Unlust. Der Schlaf wird als ein alles vergessen lassender Zustand idealisiert und zum überkompensatorischen Wunschbild des zumutungsfreien Tages: "Es war nicht Ergebung, die das unvermeidliche Übel aufnimmt, nicht Abhärtung, die das ungefühlte trägt, nicht Philosophie, die das verdünnte verdaut, oder Religion, die das belohnte verwindet; sondern der Gedanke ans warme Bett war's. Abends, dacht' er, lieg' ich auf alle Fälle, sie mögen mich den ganzen Tag zwicken und hetzen wie sie wollen, unter meiner warmen Zudecke und rücke die Nase ruhig ans Kopfkissen." (Jean Paul: Schulmeisterlein Wutz)

3.

Aus der Orientierung am überkompensatorischen Ideal des Wohls folgt - und das ist ein drittes konstitutives Moment für depressive Erfahrungsverarbeitung - die Abwertung jeder besonderen Handlung und jedes besonderen Genusses als nur sehr teilweiser Befriedigung, vermag sie doch das Allgemeine nicht einzulösen, das das Wohl verheißt. Bereits der prädepressiven Mentalität mangelt es an einer Überschreitung des Selbst, verstanden als Auseinandersetzung des Individuums mit etwas, das nicht wieder es selbst ist. Dem Betroffenen fehlt es subjektiv in seinem Horizont an emphatischen Anliegen in der Welt. Gewiss können solche Anliegen ideologisch ausfallen. Dann bildet das Absehen des Individuums von sich selbst kein Moment der Entfaltung seiner Praxis, sondern legitimiert im Dienst an einer vermeintlich großen Sache jedes individuelle Opfer: "Hat man sein Warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie." (Nietzsche) Zur Konzentration auf die eigene psychische Befindlichkeit motiviert auch die diffuse Angst, durch das Sich-Einlassen auf Anderes sich selbst zu verlieren. Unter anderem dieses - in seinen Grenzen rationale - Moment hemmt in der depressionsbegünstigenden Mentalität den Betroffenen dabei, sich für etwas wirklich zu interessieren. Auch das trägt zur Freudlosigkeit bei. Freude hat man an etwas oder über etwas. Freude hat einen Gegenstand oder einen Inhalt. Wohl ist ein innerer Zustand. Freude ist transitiv, Wohl intransitiv.

Wenn man "Geist" und "Herz" auf menschliche Praxis im emphatischen Sinne bezieht, so trifft Max Webers von "Fachmenschen ohne Geist und Genussmenschen ohne Herz" die in der bürgerlichen Gesellschaft angelegte Lebensweise, die zur Depression beiträgt. Die emphatisch verstandene Praxis, also die Bildung und der soziale Bezug der Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen im Arbeiten, an der Gegenstandswelt, in den Sozialbeziehungen und in der Gestaltung der gesellschaftlichen Welt stehen in der die Depression fördernden Mentalität unter pauschalem Verdacht, es handele sich um Illusionen oder Ideologie. Der die Depression ausmachende Rückzug in die eigene weltlose Existenz findet kurzzeitige Unterbrechung in manischen Phasen. Die eigene Weltlosigkeit soll in ihnen unter Nichtantastung ihrer Ursachen mit einem besinnungslosen Überlaufen zur Welt voluntaristisch überwunden werden.

4.

In der für die Depression förderlichen Daseinsweise strebt der Betroffene viertens nach dem psychischen Einkommen als saturierter Bürger, ohne selbst sich als für die eigene selbstwertdienliche Interpretation und kreative Ideologisierung der eigenen Existenz zuständig zu zeigen, also dafür, sich "sein" Leben schön zu interpretieren oder auf andere Weise als anerkennenswert zurechtzulegen. Er überantwortet sich an die normal vorgegebenen Mittel und Ziele der Existenz, an Arbeit und Konsum. Charakteristisch ist die Schwäche in Bezug auf die persönlich-individuelle Aufbereitung und subjektiv-imaginäre Assimilation des Gegebenen. "Hypernomisches Verhalten zeichnet sich durch eine geringe Distanz gegenüber den normativen Rollenerwartungen aus, durch eine bloße Anpassung an vorgegebene Normen, ohne persönliche Stellungnahme, sowie durch ein geringes Vertrauen in eigene kreative Fähigkeiten, d.h. durch mangelnde Ich-Leistungen." (Kraus 1991, 44) Der Betroffene setzt in seiner ihm als alternativenlos erscheinenden Lebensweise zu sehr darauf, dass sich alles von allein einreguliert. Er ist nicht faul, sondern im Gegenteil fleißig, bemüht und beflissen. Sein Tun erscheint aber als notwendige Leistung, mit der der Depressive sich das Recht auf sein Wohl erworben zu haben meint. Dessen Nichtzustandekommen erscheint dann als unverständliche Gemeinheit. Im Tausch sieht man sich um die aufgrund der eigenen (Vor-)Leistungen legitimerweise fällige Gegenleistung betrogen.

Der depressive Typus unterscheidet sich von anderen Typen der Erfahrungsverarbeitung, die auf eine, wenn auch jeweils problematische partikulare Entfaltung der Fähigkeiten und Sinne orientieren. Beim histrionischen Modus ist dies die Ausstrahlungskraft, das spielerische Verwandeln von Situationen und der dramatisierend-mitteilungsfreudige Stil, beim sich beweisenden Empfinden und Verhalten ist es das Überbieten und die Durchsetzung. Der vom depressiven Modus Betroffene geht das Leben nicht von einer bestimmten Idee der Lebensführung (z.B. individuelle Macht, Abwechselung, Glanz, Ordnung usw.) aus an, von der her er dann etwas interpretieren kann - wie verkehrt auch immer -, er kann nicht die Produktivität einer Einseitigkeit nutzen, sondern er erleidet die Lauheit. Für den depressiven Modus sind gegenüber den vielfältigen Einseitigkeiten, die die Welt jeweils von einer Seite aus angehen und erst einmal auch dazu stehen, die Wohltemperiertheit und der Ausgleich typisch. Und der Abstand gegenüber Exaltationen und Outriertem. Man möchte mit seiner Durchschnittlichkeit und mit dem Willen, nichts Besonderes sein oder gar darstellen zu wollen, das Wohl erreichen.

Auch aus der Kritik an der als gewollt oder wichtigtuerisch erscheinenden Lebensführung oder den entsprechenden "Ich-Leistungen" ergibt sich im depressiven Modus ein Verzicht auf die eigene Gestaltung des Lebens. Er bildet die Gegenfigur zur als manirierte und eitle Selbstverwichtigung angesehenen überdrehten Geschäftigkeit vieler Menschen. Sie "führen" ihr Leben, indem sie es sich privatideologisch zurechtlegen und sich lustvoll in ihren Eigensinn und ihre Besonderheit eindrehen. In der für die Depression einschlägigen Mentalität wird demgegenüber erwartet, das Wohl müsse sich ereignen und ergeben, es müsse von sich aus klappen, man solle nichts "zwingen". Für die Depression ist der Ausfall von Kompensationsmechanismen charakteristisch, die andere Typen neurotischer Verarbeitung auf ihre Weise produktiv und kreativ werden lassen: Sollen in der histrionischen Inszenierung, dem Zwangsritual oder der hypochondrischen Sorge um die Gesundheit unerfüllbare Wünsche durch neurotisches Agieren erzwungen werden, so beinhaltet die Depression, "auf die Geworfenheit zurückgezwungen zu werden", was "heißt, dass das Agieren als Täuschung entlarvt wird. In der depressiven Stimmung wird der Lastcharakter des eigenen Seins als unaufhebbar erfahren. Wer depressiv ist, macht sich keine Illusionen mehr. ... Jede agierende Form des Umgangs mit seelischem Leiden steht in der Gefahr, in Depression umzuschlagen, wenn die Einsicht aufdämmert, dass das Agieren ein unmögliches Unterfangen ist. Das Agieren selbst kann dergestalt als Abwehr von Depression aufgefasst werden." (Holzhey-Kunz 1994, 193)

5.

In der Depression entgleist und verwildert fünftens eine unbewusste Strategie des Subjekts, in der das Individuum seinen Subjektstatus defensiv dadurch zu wahren sucht, dass es sich pessimistisch zeigt und sich vor Enttäuschungen schützt. Jedes tatsächliche Missgeschick avanciert dann zum Symbol einer allgemeinen Misere des eigenen Lebens. Zwar hat die "Selbsteinschließung der Depressiven, die traditionell als Enttäuschungsprophylaxe aufgefasst wird", ihr Motiv im Schutz vor erwartetem Objektverlust, aber entfaltet eine eigenartige Selbstaufwertung um den Preis der Entleerung dieses Selbst aufgrund seines Rückzugs von den Objekten. Depression ist immer auch "ein Akt der Selbstbefreiung von allen Abhängigkeiten und Objektbindungen. Dieser Befreiungsaspekt in der Entfernung aller Objekte und zugleich in der Selbst-Entfernung (Selbst-Mord) enthält die grandiose Idee totaler Autarkie und absoluter Freiheit von aller Abhängigkeit." (Pohlen, Bautzherr 2001, 368)

In der Depression wirft der Betroffene sich vor, dass er nicht so glücklich sein kann, wie dies in Vorstellungen des Glücks verhießen wird, das jedem zuteil werden könne. Vorausgesetzt ist die Auffassung, die Gesellschaft der kapitalistischen Moderne biete vielfältige Gelegenheiten zum Glück. Der Konsum sorgt für eine Erhöhung des Individuums ("Kunde König"). "Der Konsum ist eine ernste Angelegenheit. Die gesamte Gesellschaft ist in ihrer Nähe, wohlwollend und heilbringend. Aufmerksam. Sie denkt an Sie, persönlich. Für Sie bereitet sie persönlich gehaltene Objekt vor, oder was noch besser ist, Objekte, die als Gebrauchsgegenstände für Ihre personalisierende Freiheit geliefert werden; dieser Sessel, diese Anbaumöbel, diese Betttücher. ... Wie kann dabei ein Unwohlsein bestehen bleiben? Welche Undankbarkeit." (Lefebvre 1972, 151) "Während früher die Befriedigung verbotener Triebe Schuldgefühle hervorrief, schmälert heute das Unvermögen, Spaß zu empfinden, das Selbstwertgefühl." (Martha Wolfenstein, zit. n. Bell 1976, 89) Vorausgesetzt ist weiterhin für die depressive Erfahrungsverarbeitung die Vorstellung, das Leben in der kapitalistischen Moderne sei zwar mitunter hart, schlussendlich aber lohne sich die Anstrengung, sei sie doch das Mittel dafür, das Wohl zu erreichen und nicht umgekehrt das Wohl eine notwendigerweise überkompensatorische Vorstellung.

Das Problem, das in der Depression auf bricht und unabweisbar wird, ist das Nichtzustandekommen von Wohl, von Zufriedenheit, von Zusammenstimmen mit der Wirklichkeit. In der Depression wird nun das Problem, an dem der Depressive leidet, aus der bestimmten Lebensweise heraus, die der Depression vorausgesetzt ist, dem Depressiven aber nicht als abstrakte Orientierung auf das Wohl deutlich. Und das zu dieser depressiven Orientierung zugehörige Problem erscheint als von ihr scheinbar unabhängig und ihr fremd, als extern vor das Wohl tretend, es verunmöglichend und verhindernd.

An der Arbeit wird in der Depression die Mühe und Frustration wahrgenommen und am Konsum auf undeutliche Weise die ausbleibende nachhaltige Befriedigung bzw. der Mangel an menschlicher Entwicklung bemerkt. Die Orientierung an den Werthülsen Leistungsprinzip und Wohl erschwert deren Infragestellung. Der Depressive sitzt in der Zwickmühle, einerseits der zur Depression passenden Orientierung zu folgen, sie nicht infragestellen zu können, andererseits aber an ihrer Leere leiden zu müssen. Er kann seine formelle Orientierung nicht aufgeben, da er keine inhaltlich näher bestimmte Orientierung seines In-der-Welt-Seins hat und da die Werthülsen ihm Einheit mit seinen Lebensbedingungen zu geben scheinen und ihn von eigener Orientierungsarbeit dispensieren.

Das eigene Elend genauer in den Blick zu bekommen wird verstellt durch die pauschal positive Besetzung der Sphären, in denen es sich ereignet. Dadurch, dass der Depressive nur inhaltsarme Werte hat, kann er auch nicht zu anderen Werten kommen, eine andere Orientierung finden. Es wird dem Depressiven nicht klar, dass er nur Werthülsen vertritt, weil er nur Werthülsen hat. Er verwechselt Werthülsen mit Werten. An den Werthülsen hält er fest, weil sie ihm Sicherheit geben und von "Autonomie" und "Identitätsarbeit" entlasten. Der Inhaltsarmut der Ideale des Wohls und des Leistungsprinzips entspricht auch der globale, pauschale und invariante depressive Denkstil (alle, immer, niemand, keiner).

Aus der Diagnose einer immanenten Energiekrise von Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund der Inhaltsarmut ihrer (prädepressiven) Orientierung folgt kein Votum für Werte. Sie reimen sich oft auf Ideologien. Allerdings erleichtern es eigene Anliegen oder Projekte, die inhaltlich reicher sind als die der Prädepressiven, pragmatisch (unter Abstraktion von menschlich-sozialen Inhalten des Lebens), die Depression zu vermeiden, wenn auch nicht andere psychische Probleme.

Unter der Voraussetzung der lähmenden Ambivalenz zwischen Befriedigungserwartung, Frustration über ihr Ausbleiben und Aggression gegen jene, die als vorgesehene Beglückungskoryphäen versagen, und angesichts der gegenseitigen Blockade von Fremd- und Selbstbeschuldigung werden ausgeprägte Mattigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Antriebsarmut, Apathie und Gefühllosigkeit als Symptome der Depression verständlich. Die Depression beinhaltet ein Energiesparprogramm, das Aktivität aufgrund der Annahme ihrer Zwecklosigkeit massiv reduziert.


Literatur

Bell, Daniel: Die Zukunft der westlichen Welt, Frankfurt/Main 1976.

Holzhey-Kunz, Alice: Leiden am Dasein: Die Daseinsanalyse und die Aufgabe einer Hermeneutik psychopathologischer Phänomene, Wien 1994.

Kraus, Alfred: Neuere psychopathologische Konzepte zur Persönlichkeit ManischDepressiver, in: Mundt, Ch; Fiedler, P.; Lang, H. u. a. (Hg.): Depressionskonzepte heute: Psychopathologie oder Pathopsychologie?, Berlin 1991.

Lefebvre, Henri: Das Alltagsleben in der modernen Welt, Frankfurt/Main 1972.

Pohlen, Manfred; Bautz-Holzherr, Margarethe: Eine andere Psychodynamik: Psychotherapie als Programm zur Selbstbemächtigung des Subjekts, Bern 2001.

Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern 1966.

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Lust auf Befreiung

Fünf Bemerkungen. Sprunghaft

von Lorenz Glatz

Dass Lust der Inbegriff des Guten sei, war eine Position schon in der griechischen Philosophie. Eine von der Pflichtenethik heftig als asozial und unmoralisch gescholtene Auffassung, deren Anthropozentrismus und Individualismus mit ihren durchaus gegensätzlichen Folgerungen freilich nie mehr ausgerottet werden konnten.

1.

Die Schule des Epikur und seiner Anhänger war von Anfang an verdächtig. Ihre Philosophie geht mit Herrschaft nicht gut zusammen und deren Darstellung bei Lukrez ist noch bis Jean Paul ein Trostbuch des intellektuellen Fürstenknechts. Sie wollen nicht nur Aberglauben und herrschaftliche Moral mit ihren rächenden Göttern und ihrem Totengericht beseitigen, ihr anthropismós (Menschlichkeit, als Ausdruck wahrscheinlich vom Sokratiker und frühen Hedonisten Aristippos von Kyrene schon Jahrzehnte vor Epikur geprägt) meint auch Frauen und Sklaven und erkennt damit in der Gemeinschaft der Athener Schule die grundlegenden Ausschlüsse der herrschenden Gesellschaft nicht an. Sie suchen und pflegen angesichts der Schlachterei der Potentaten um Macht und Reichtum abseits dieser Öffentlichkeit im "Verborgenen" Freundschaft als die Sozialform der Lust.

Lust / Freude (griechisch hedoné, das zu einer Wortfamilie des süßen Geschmacks und sinnlichen Wohlgefallens gehört) ist für Epikur selbstbestimmt, sie ist sinnliche Wunscherfüllung nicht bloß als Vorgang, sondern vor allem als ein mit Lebenskunst und -weisheit erreichter und wachgehaltener Zustand des Wohlbefindens. Lust ist Genuss, von "grobmaterieller" Sinneslust bis zu "feinstofflicher" Freude des Geists und Intellekts, sie ist Ziel wie Qualität des guten Leben und Glücks.

Diese Auffassung kann insofern unmittelbar als "natürlich" einleuchten, als wie in vielen Sprachen so auch im Griechischen die alltägliche, sinnenfällige Befindlichkeit schlicht mit gut und schlecht bezeichnet und mit Lust, Freude, Wohlbefinden bzw. mit Frust / Schmerz / Leid als deren Gegenteil assoziiert wird. Dementsprechend meint Epikur auch, man müsse nicht erst mit Vernunftsgründen beweisen, warum Lust erstrebenswert, Unlust aber zu vermeiden sei, sondern man brauche daran bloß erinnern, so wie dass Feuer heiß, Schnee weiß und Honig süß ist.

2.

Allerdings ist die dabei schon von Epikur beschworene Natur so natürlich wie kulturell, so individuell wie gesellschaftlich geprägt. Stabilität und gar Unveränderlichkeit sind bis ins Innerste kein Charakteristikum der Welt. Des Lebens schon gar nicht. Das ist entschieden erfreulich, denn nicht erst heutzutage tut das Leben vielen von uns oft gar nicht gut und ist die Natur die dafür noch immer populärste Erklärung. Wer die Gesellschaft, in die wir hineingeboren sind, lustig finden will, braucht jede Menge Indolenz und jede Menge Kraft zur Verdrängung. Wer darüber aber nicht nur sich, sondern die Gesellschaft lustig machen will, sollte die Augen nicht verschließen vor dem, was abläuft:

Denn "natürlich" kennt auch Herrschaft Hedonismus, und Herrenlust fühlt sich nicht minder "natürlich" an, als wie es Epikur argumentiert. Theoretisiert wird hier weniger als schon seit langem weithin praktiziert. Nicht bloß als brachialer Anschlag einer sozialen Klasse von Machthabern, als brutale Unterwerfung und Ausbeutung der Schwächeren. Herrschaftliche Praxis ist längst schon zu Strukturen geronnen, gewöhnlich und unauffällig geworden, zu einer Praxis, an der viele in der einen oder anderen Weise Anteil haben, hier unterdrücken, dort selber unterdrückt werden, in einer Praxis, in der verschiedene Unterdrückungsverhältnisse zugleich prozessieren, soziale, rassistische und sexistische.

Solche Lust ist keine Kommunikation, kein Gemeinsames, hat im Anderen kein Ebenbild, sondern nichts als ein Instrument, das, überwältigt, rechtlich zugesprochen oder schlicht käuflich, nach Belieben zu benutzen, bei Bedarf auch ohne viel Bedenken zu schädigen, ja zu zerstören ist, ob männlich, weiblich oder sächlich, ob Menschen, andere Lebewesen, ob sonst ein Teil der ganzen Welt. Wer dem nur ausgesetzt ist, der bleibt nur selbstvergessene Unterwerfung, Selbstverdinglichung als letztes Mittel noch von Lust.

Derlei Hedonismus gipfelt individuell im Lustmord und sozial im Reichtum schönen Lebens einer kleinen, global verteilten, brutal geschützten, indolenten Minderheit um den Preis von Hässlichkeit und Mangel in Kloakenwelten nebenan. Er ist alt, und er passt perfekt zum, verschmilzt hier und da förmlich mit dem Weltbezug moderner Kapitalverwertung, sie treiben einander an, sind eins ohne das andere nicht machbar.

3.

"Ich schlief und träumte, das Leben wäre Freude. Ich erwachte und sah, das Leben war Pflicht. Ich handelte und siehe, die Pflicht war Freude." Diese einst beliebte Stammbuchweisheit (von Rabindranath Tagore) ist mit der ganzen heutigen Lebensweise in einer tiefen Krise. Die Pflicht hat sich zum Sachzwang verdinglicht und verschärft, von dem kein Handeln mehr so recht einen Weg zu unbeschwerter Freude findet und diese selbst schon in den Träumen verblasst.

Die seit Jahrzehnten schwelende Weltkrise der Verwertung gewinnt an Fahrt und schlägt mit Wucht auf deren Subjekte durch. Leistung und Versagen rücken bedrohlich eng zusammen, die Güter, nach denen eins sich verrenken soll und wirklich giert, werden auf der einen Seite unerreichbar, auf der andern schal. Und für die "Laster", denen ein Mensch so gern verfiele, fehlt mangels "Müßiggang" oft schon der Anfang.

Jegliche Lust dünnt aus, die mythischen Qualen der Götterfeinde in der Unterwelt, ob die des Sisyphos, des Tantalos, des Tityos oder die der Danaiden, dringen - für den Alltag adaptiert - nach hier heroben. Auch die Tätigkeiten, denen die allseits beneideten wie gescholtenen hohen Funktionäre des gegenwärtigen Herrschaftsprinzips ihre Lebenszeit und -energie hingeben, lassen sich von ihnen selbst oft bei bestem Willen als Lust fast nur noch halluzinieren. Und weiter unten in der Pyramide wird es "natürlich" weder sinnvoller noch leichter noch gar lustiger. Die Realität in den "reichen" Metropolen ist so lustfeindlich geworden, dass auch die Freigabe früher mit Ächtung und Tod bedrohter Lüste das Leben nicht mehr lustiger zu machen und am Zunehmen von Burnout und Depression, von Kälte und Aggression nichts mehr zu ändern scheint.

Zugleich freilich verteidigt sich das System gegen seine drohende Auflösung mit greller Affirmation aller seiner Möglichkeiten. Wenn es zwischenmenschlich mit Lust nicht mehr klappt, bleibt noch der "Spaß": Shopping, Party, "Happy hour", "Kampftrinken" und chemisches Design.

4.

Menschliche Empfindungen, Wahrnehmungen, Urteile und Handlungen sind Interaktion von Individuen mit Gesellschaft, anderem Leben und der ganzen Welt. Die Menschen sind nicht "Krone der Schöpfung" und Herren der Welt, sondern deren mitwirkende und mitbewirkte Glieder unter schier unendlich vielen anderen, die in chaotisch-bunter Entwicklung stets neue Gestaltungen und Kombinationen bilden, denen wir ausgesetzt sind, mit denen wir umgehen, die wir hier und da mitgestalten, aber nie schadlos zu beherrschen versuchen können. Franz von Assisi hat erstaunlicherweise in ähnlichen Zusammenhängen gedacht und gelebt, ohne als Ketzer abgestraft zu werden. Was in Europa aber seitdem rechtgläubig nach dem Plot "Macht euch die Erde untertan!" Folge auf Folge "gedreht" worden ist, entpuppt sich in aller Realität als Serial zum Horror.

Herrschaft nämlich ignoriert den angedeuteten Zusammenhang von allem, die Sympátheia tôn hólon, von Anbeginn. Sie hat Scheuklappen, was sie sieht und praktiziert, ist "Machbarkeit" und "Produktivität". Deren Potentiale sind nicht einfach "vernünftig angewendet" gut. Welche Vernunft? Wie produktiv muss sein, was Menschen mit Lust und Liebe tun können? Wer will heute wissen, was das nicht alles ist, wenn wir Gelegenheit dazu bekämen? In Technik, Naturwissenschaft, selbst in der Mathematik weht der Geist der Herrschaft der Verwertung in allen ihren Formen, so wie in der Sprache und wahrscheinlich allem, was sie heute sagen kann.

Die sich akkumulierenden ökologischen, sozialen und individuellen Katastrophen unserer Gegenwart sind die Folge. Menschen agieren in ihren einstudierten Rollen als Herrscher, Manager, Techniker, Ärzte, Lehrer, Handlanger und sonstige "Systemerhalter" wie der Zauberlehrling in der Ballade. Bloß ohne den Meister, der am Ende die Geister bannt und aufräumt.

Alles, was wir tun können und dringend tun sollten, ist: die Scheuklappen ablegen und extemporieren, wie wir miteinander und mit der Welt auf Du und Du in Wohlbefinden, Freude, Lust auskommen können, statt uns ans verrückte Drehbuch zu halten.

5.

Sigmund Freud spricht von Fantasie und Kunst als Bereichen, die der Lust freien Lauf lassen können, freilich um den Preis gesellschaftlicher Ohnmacht. Vom Umgang mit Freunden als dem sozialen Ort der Lust und des Trosts im unvermeidlichen Schmerz ist in Epikurs Fragmenten und über die Jahrhunderte auch bei von ihm inspirierten Dichtern ei- niges zu lesen. Allein auch dieser Ort ist in der schon jahrtausendalten Geschichte gesellschaftlicher Unterdrückung ein stets gefährdetes Refugium und bis heute ein gepriesener Ort der Erholung von den Strapazen, mit denen eins sich schon abgefunden hat.

Warum sollten wir uns aber damit abfinden? Es ist doch zugleich ein Ort der Ahnung von dem, was jenseits des Lebens, das wir uns heute antun, möglich sein könnte. Eine Aufmunterung, die Fantasie der Kunst und die Freude und Sicherheit der Freundschaft nicht länger ein Reservat der Lust sein zu lassen, sondern es als ein Reservoir zu nutzen, zur Subversion der Herrschaft, für ein besseres Leben, als einen Ausgangspunkt für ein Leben in Lust, für ein Zusammenleben "in der gegen die" Herrschaft und über sie hinaus.

Das Hauen und das Stechen, die ultima ratio der Herrschaft und Unterdrückung, sind nicht zu besiegen. Sieger hat die Geschichte schon mehr als genug. Die neuen Sieger sind noch immer zu alten Herren geworden. Gewalt und Kampf hat sie gezeichnet, ihr "Heldentum" hat sie immer ihren Vorgängern und den Verhältnissen, um die es ging, ähnlich gemacht - ob sie diese verteidigt haben oder sie zerstören wollten.

Die Welt wird nicht gut und nicht freundlich, wenn die Bösen und die Feinde geschlachtet werden. Kampf und Gewalt sind Teil der Herrschaft, kein Mittel, sie zu überwinden. Sie sind wie der Schweinezauber der Kirke, sie verwandeln die Kämpfer gegen die Herrschaft zu künftigen Herren, versperren den Weg in ein anderes, "lustigeres" Leben. Es gab, vielleicht gibt es ja noch Kulturen, die wissen, dass, wer kämpft - auch wer kämpfen muss -, "Entsühnung" braucht und Heilung des Traumas braucht, das seine Seele da unweigerlich erlitten hat. Nur keinen Heldenkult!

Das Unerträgliche, die Herrschaft, ist "abzuwickeln", aufzulösen in ein Geflecht der Freundschaft freier "künstlerischer" Menschen. Es gibt kein "Treffen" (ein altes Wort auch für Kampf und Töten) zwischen der Herrschaft und der Freiheit. Deren Reich ist sozusagen nicht von dieser Welt, jedenfalls nicht von dieser Weltordnung. Es wird wohl stimmen: Ein Weg dahin entsteht im Gehen. Und wir können ihn nicht als Kämpfer gehen, sondern weil wir Lust haben. Es geht nicht "ins Treffen", es geht um einen Sprung. Freuden-Sprung - deinen, meinen, Unseren.

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Hörfacetten

Beethovens Waldsteinsonate ist hervorragende Musik, sie nimmt mich ab dem ersten Ton auf eine lustvolle Reise, die im rasanten, aber leisen, ja schleichenden Laufen beginnt, das abrupt durch eine mit Inbrunst in die Klaviatur gedonnerte Akkordfolge unterbrochen und von einem irren leisen Rasen fortgesetzt wird. Das weckt schon alleine beim Darüber-Schreiben feine emotionale Zustände in mir. Ich krieg eine Gänsehaut, wenn sich die Melodie in die impulsiven Ausdrücke im ersten Satz aufschwingt, um im zweiten Satz zu einer fast unheimlichen Ruhe zu finden, die zum Schluss durch eine in einem flotten Rondo aufgebaute stürmische Attacke weggefegt wird.

Nach dem Stück bin ich meist erschöpft, aber gut erschöpft, weil - ich wurde mitgerissen. Die Musik hat mich nicht abgestoßen sondern reingezogen, ich war in aufmerksame Mitschwingung versetzt. Der feine Zustand der Befriedigung verwöhnt im Anschluss meinen Körper und Geist.

Aber nur, wenn der Pianist diese mitreißende Impulsivität übermitteln kann. Wilhelm Klempff haut mich um. Trotz der alten Aufnahme reißt einen sein Wechsel von lauten Akkorden (man möchte meinen, die Klaviatur bricht ab) in ein so rasantes und leise gespieltes Legato vom Hocker. Anders Emil Gilels: der spielt ganz ausgezeichnet mit dem Timbre, er entlockt dem Klavier in den schnellen leisen Passagen eine Klangfarbe, die ihresgleichen sucht. Die Impulsivität kommt nicht so rüber. Und dennoch, er regt zum Hinhören an, er reißt mich in anderer, aber gleich starker Intensivität mit. Er zieht dem Stück ein anderes Gewand an, und es ist auch so ein Hinhörer. Ich bin am Ende anders gestimmt als bei Klempff: nicht so erschöpft, eher interessiert angeregt, der feine Nuancen identifizierende Geist wurde stark beansprucht. Auch das ist schön!

Und noch mal anders interpretieren Rubinstein, Brendel, Pollini, Richter. Jeder dieser Pianisten erkennt in den Noten etwas anderes, hebt es heraus, stellt das Musikstück in einer bestimmten Schattierung dar und lässt die Zuhörer in einer anderen lustvollen Stimmung zurück. Das ist eindeutig eine Vermehrung der Lust an einem Stück. Wie schön!

Wie schön, wenn ich hier auf hören könnte zu schreiben, aber da wären wir ja schon im lustvollen Kommunismus! Sind wir aber nicht, und der Kapitalismus, der tritt hier ganz unsensibel, destruktiv und nervend dazwischen: Er drängt dem Genießer eine Frage auf, die mit dem Genuss von Musik nichts zu tun hat. Und doch beherrscht sie unseren Umgang mit ihr: "Wer interpretiert die Waldsteinsonate am besten?"

Viele stellen diese Frage - vor allem die Tonträger-Produzenten, vielleicht weil sie zu wenig Zeit haben, das Stück in verschiedenen Facetten zu genießen, vielleicht weil ihr Hörempfinden zu wenig ausgebildet ist, um Facetten zu hören. Es mag auch andere Gründe geben.

Ein an der Vermehrung von Lust orientierter Mensch muss diese Frage zurückweisen. Entschieden zurückweisen. Hier eine Reihung vorzunehmen, um dann anderen Menschen großartige Interpretationen vorzuenthalten, weil diese vielleicht nur das angeblich Beste ihren Ohren zumuten wollen, bringt sie auf jeden Fall um die Chance, ein Stück Musik auf verschiedene Weise zu genießen. Und darum geht es.

Martin Scheuringer


Wien aus der Wundertüte

Selbst im blickdichten Wien passieren manchmal wahre Wunder an SchauSpielen. In Wien, wo jeder Streifenpolizist ein Lied zu singen weiß über die "Grundangst des Wieners, Lebenslust zu sehen". Da muss im Gemeindebau immer wieder mal Streit geschlichtet werden zwischen alteingesessenen Griesgrämigen und feiernden "Ausländern". Aber was das Alltagsgesicht in der Öffentlichkeit betrifft, haben sich die meisten "Ausländer" schön brav an die Gegebenheiten der "kühlen", nördlicheren Breiten angepasst. Auch wenn sie das Lockere und Ungezwungene hier vermissen.

Aber an raren Tagen, bei hochsommerlicher Hitze, heißer als am Mittelmeer, beginnt hier nicht nur der Asphalt zu schmelzen. Dann verwandelt sich das weite emotionale Brachland blitzartig wie die afrikanische Steinwüste Namaqualand nach dem Frühlingsregen in ein riesiges farbenprächtiges Blütenmeer. Erstaunlich, welchen Höchststand der Aufmerksamkeitspegel erreichen kann und zur wievielten Potenz der Wahrnehmungsquotient erhoben werden kann. Da fällt einem erst die an den restlichen 359 Tagen im Jahr herrschende Leblosigkeit auf. Wie meinte eine alte Wienerin, die schon lange in südlicheren Gefilden lebt: "Hier sind alle lebendiger. In Österreich geht es so dahin, und man merkt gar nichts davon."

Was sonst nichts und niemand schafft, allein die Sonne erweckt Versteinerte zum Leben und rüttelt ihren Schalk im Nacken wach. Immer wieder tauchen Einzelne wie Leuchtbojen aus dem Meer der Nichtssagenden auf, rollen ihr Strahlen wie einen roten Teppich vor mir aus, und ihre Blicke fallen mir um den Hals. Ich mache noch größere Augen als sonst und tanze auf dem Seil, das zwischen uns mit gleicher Wellenlänge von beiden Enden her vibriert.

Welch eine Atmosphäre! Fast fühle ich mich wie in der historischen dalmatinischen Hafenstadt Zadar, über die Stephan Vajda (geb. 1926) schreibt: "Versäumen Sie den Corso nicht. Er hebt beim Sonnenuntergang an und überflutet flugs die innere Stadt. Ein scheinbar sinnloses Auf- und Abgehen, zwischen unsichtbaren Grenzen und magischen Punkten, eine tagtägliche Demonstration der Freude am Dasein, das hier in der Geschlossenheit der Gemeinschaft weder Vereinsamung noch Kommunikationsschwierigkeiten zu kennen scheint; eine schier kultische Prozession der offenen Blicke, der Neugier und der Freundschaft, ein mitreißendes Manifest der nördlich der Alpen bereits fragwürdig gewordenen Lebensform Stadt, die nicht trennt, sondern zusammenführt, die ihre Berechtigung beglückend unter Beweis stellt..."

Maria Wölflingseder

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"Kapitalismus forever"

Zwei Briefe zu Wolfgang Pohrts Buch

von Peter Klein

1.

Nürnberg, 29.2./1.3.2012

Danke für den Hinweis auf das neue Pohrt-Buch. Wie empfohlen, habe ich inzwischen einen "Blick hinein" getan. Ich schreibe Ihnen, nachdem ich über die Hälfte von "Kapitalismus forever" gelesen habe.

Pohrt liest sich natürlich ganz nett, wie seit jeher. Aber theoretisch, das muss ich leider sagen, kommt mir der Text doch etwas dürftig vor. Ich hatte erwartet, Pohrt außerhalb des bekannten Bittermann-Kreises und also außerhalb der Edition Tiamat wiederzutreffen. Nachdem ich in dieser Hinsicht enttäuscht worden bin, stellt sich bei mir der Reflex ein: Aha, die gibt's also auch noch. Und in diesem Sinne würde ich auch die theoretische Substanz einschätzen: Nach wie vor hängt er am "Urerlebnis" der 68er Bewegung. Es gibt eine ganze Reihe stillschweigender Voraussetzungen aus jener Zeit, die ich keineswegs akzeptiere, sondern längst schon zu hinterfragen gelernt habe.

Die erste wäre schon mal, das "Kapital" wie eine äußere Macht zu denken, ganz im Stil der alten Arbeiterbewegung, für die die "Kapitalistenklasse" offensichtlich so etwas war wie die Fortsetzung des Adels mit industriellen Mitteln. Die Rede vom "Scheitern" der 68er Bewegung verweist auf die andere Unterstellung, die sich bei Pohrt findet. Offensichtlich sah er seinerzeit "die Revolution" unmittelbar vor der Tür stehen. Und dinghaft, als ein einziger großer Akt der Befreiung oder des "Kladderadatsch" tritt bei Pohrt auch jetzt noch die "Revolution" auf. Dem entspricht dann auch ein "Kapital", das man einfach so "beseitigen" oder "enteignen" kann.

Also alles sehr dinglich oder gegenstandsmäßig gedacht. Dem dinghaften Kapitalbegriff entspricht dann auch eine utilitaristische oder instrumentelle Betrachtungsweise der Geschichte. Erst wenn wir "die Revolution" gemacht haben, ist das Leben lebenswert. Jetzt ist alles Hölle, Ekel und Entsetzen. Hoffnung gibt es dementsprechend nur jenseits davon. Adorno: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Ist das nicht die alte Geschichts- und Zukunftsmetaphysik? Für einen Intellektuellen, der das Luxusproblem hat, an einem eleganten und polemisch treffenden Stil feilen zu müssen, kommt mir diese Haltung ein wenig geziert und krampfig vor. Natürlich ist er vor schrecklichen Erlebnissen, vor Depression und Selbstmord nicht gefeit. Aber Herr Merkle, der Milliardär, war das auch nicht.

Herr Pohrt polemisiert zwar gegen den traditionellen linken Glauben an "die Revolution" (er zitiert sich selbst bis S. 23), ist aber theoretisch durchaus noch abhängig davon. Weil sie so nicht gekommen ist, wie er sie sich seinerzeit vorgestellt hat (und wohl immer noch vorstellt), ist sie für ihn ganz gestorben. Und "das Kapital" hat die gleiche Lebenserwartung wie "das Krokodil" auf S. 70. Ausgerechnet jetzt, wo jeder sehen kann, dass das "Wachstum" nur noch virtuell generiert werden kann, im Finanzüberbau, durch das Auflegen von immer neuen Anleihen zur Bedienung und Ablösung der alten. Herr Pohrt hat Recht: Wenn das Geld futsch ist, gibt es immer noch die Häuser und anderen Dinge, die seinerzeit mit der Hoffnung auf Gewinn gebaut worden sind. Aber wozu braucht er den Marktmechanismus, um jemanden dort einziehen zu lassen? Und woher der Glaube, dass dieser Mechanismus auf Dauer funktionieren kann?

Wer freilich so unhistorisch denkt wie Pohrt, hat mit der Frage nach der weiteren Entwicklung der Krise kein Problem: "Auf den kapitalistischen Weltuntergang warten wir jetzt schon geschlagene 150 Jahre." (S. 53) Kein Wunder, dass die Ständegesellschaft und ihre tief eingewurzelten Denk- und Verhaltensweisen keinerlei Rolle in seinem Geschichtsbild spielen. Dabei hat schon Arnold Gehlen den "Klassenkampf" als einen gegen die Ständegesellschaft gerichteten Impuls interpretiert. Die Erste Internationale, das sollte man doch wissen, hat, unterschrieben von Marx, dem tüchtigen Demokraten und Bürger Lincoln eine Glückwunschadresse zum Sieg im Bürgerkrieg gegen den sklavenhalterischen Süden geschickt. Und damals schon soll "der Kommunismus" auf der Tagesordnung gestanden haben?!

Halten Sie sich die Passage aus den Buddenbrooks vor Augen, in der die 1848er Revolution in Lübeck geschildert wird, oder den überaus "revolutionären" Arbeiter Antoine Macquart aus dem ersten Band von Zolas Romanzyklus, wie er zur gleichen Zeit in den Kaffeehäusern von Plassans herumkrakeelt: Laut Pohrt handelte es sich damals um das "Zeitfenster für die proletarische Weltrevolution" (S. 62). Eine unglaubliche Ignoranz in historischen Dingen kommt hier zum Vorschein.

Als dumm empfinde ich auch die Äußerung zur Oktoberrevolution, S. 44: "War gar keine Revolution, sondern Kriegsfolge". Was meint er denn, warum Millionen Menschen der gegebenen Ordnung den Gehorsam auf kündigen? Aus Glaubensgründen? Weil sie die richtigen Bücher gelesen haben? Da hat er mal eine wirklich entsetzliche Situation, aber die lässt er nicht als revolutionäre Situation gelten, weil sie nicht zur Beseitigung des Kapitalismus, noch nicht einmal zur rechtsstaatlichen Demokratie führte. Dass es damals erst um die Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse ging, ist doch keine Schande für die seinerzeitigen Menschen! Nur dann, wenn man den Kapitalismus als ein moralisches Übel betrachtet, mit dem sich einzulassen eine Sünde ist, kann man die Oktoberrevolution als "keine Revolution" bezeichnen. Dann war aber auch die Französische Revolution "keine".

Überhaupt scheint mir das ganze kurzatmige Wendepunkt-Denken noch in die Epoche der bürgerlichen Revolution zu gehören. Das Geltendmachen von Abstraktionen gegen die Wirklichkeit ist ja per se etwas Schroffes, Unvermitteltes, Gewaltsames. Siehe Hegel. Im Kommunistischen Manifest spricht Marx davon, dass die "Bourgoisie" die Produktivkräfte ständig revolutioniert oder umwälzt. Der Kapitalismus ist in diesem Sinne die Revolution in Permanenz. Auch in dem Sinne, dass er sich erst nach und nach der verschiedenen Lebensbereiche und Regionen bemächtigt. Was bei Kant und Hegel noch ein begriffliches System war, musste in der gesellschaftlichen Wirklichkeit erst noch eines werden. An der politischen Oberfläche entspricht dem das immer neue Auftauchen von "ewigen Prinzipien", um die herum sich die entsprechenden Jünger und Parteien scharen, die sich ans "Verwirklichen" begeben.

Ich teile Pohrts Einschätzung, wenn er die Frauenemanzipation (1. WK) und den Prozess der Entkolonialisierung (2. WK) in den Zusammenhang der Weltkriegsepoche (S. 75) stellt. Aber hat sich die traditionelle Linke damit blamiert? War sie deshalb "überflüssig"? Doch nur in dem Sinne, dass sie sich als Moment dieser Entwicklung entpuppt hat. Dass sie sich in ihrem historischen Selbstverständnis täuschte. Pohrt hält an diesem Selbstverständnis fest, an dem typisch voluntaristischen Glauben, dass die Revolutionäre von einst über die Problemstellungen ihrer Zeit hätten springen können, müssen und sollen, und zieht daraus den Schluss, dass, weil die vergangene Entwicklung eine bürgerliche war, sie das auch bis in alle Ewigkeit sein muss. Ausgerechnet jetzt, da wir ein unerhört hohes Maß an systemischer Gleichschaltung der Menschen erreicht haben, kommt er mit der Festellung, dass sich die moderne Welt "systematisch nicht mehr erfassen und darstellen lässt" (S. 61/62). Und gleich darauf, S. 69 ff., folgt ein Kapitel, in dem er zeigt, wie einfach es inzwischen geworden ist, den allgemein herrschenden Systemimperativ "Mach, was Profit abwirft, sonst bist Du weg vom Fenster" in eine griffige Formel zu fassen. Und darauf folgt auch noch der Satz: "So ein System ist unschlagbar." (S. 70) Ich würde eher sagen, dass es für den vorhandenen stofflichen Reichtum und für die vorhandenen Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung allzu einfach, allzu eng, allzu krokodilmäßig geworden ist.

Alles in allem: ein Dokument der Verwirrung (und sicher auch der Verbitterung).

2.

Nürnberg, 3.3.2012

Noch ein kleiner Nachhakler zu Pohrt. Es fuchst mich einfach zu sehr, wie ein hochintelligenter Mensch den Abschied von der alt-linken Gläubigkeit als eine Art letzten Schrei der nüchternen Analyse daherbringen kann. Pohrt bringt es immer fertig, ganz weit vorne zu marschieren. Diesmal befindet er sich an der Spitze der Illusionslosigkeit. S. 91: "... ich habe es nur satt, irgendwie alles irgendwie gut finden zu müssen, was irgendwie sozialistisch oder links aussieht. Ich habe mich immer selbst überreden und zwingen müssen, irgendwelche linken Regime, wenn sie am Ruder waren, gut zu finden."

Unglaublich, so etwas im Jahre 2012 lesen zu müssen! Ich erinnere mich an eine Karikatur aus der Solidarnosc-Zeit, vermutlich Mitte oder Ende der 80er Jahre in unseren Zeitschriften erschienen: Ein abgerissener Landstreicher oder sonst ein Hungerleider eilt fröhlich feixend durch das Bild - an einem Stecken trägt er eine Fahne, auf der steht: Hauptsache, wir haben den Sozialismus! Oder denken Sie an Deng-Hsiao Ping: Mir ist es egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache, sie fängt Mäuse. - Das sind alles Abschiede vom bekennenden Bewusstsein aus der jüngeren Zeit. Tüchtige Schritte Richtung Westen, dem es seit dem 2. Weltkrieg endgültig Wurst war, was die Leute glauben (Meinungs- und Gewissensfreiheit), wenn sie nur irgend eine rechtlich zulässige Funktion im Rahmen der Geldbewegung ausüben. Das Anfertigen aufmüpfiger Essays und Bücher inbegriffen.

Aus dem 19. Jahrhundert ist mir ein gewisser Marx bekannt, der - wohl aus Anlass des Gothaer Programms - sich genau in diesem Sinne vernehmen ließ: Ein Schritt wirklicher Bewegung (oder Entwicklung) ist mir wichtiger als 1000 Programme. Aufs gesellschaftliche Sein, nicht aufs Bewusstsein komme es an, schreibt der gleiche Marx an anderer Stelle. Und er führt damit nur eine theoretische Entwicklung fort, die bereits mit Kant und seiner "reinen Form des Bewusstseins a priori" begonnen hat. Schon von diesem Kant kann man lernen, dass nicht der Inhalt des Bewusstseins, sondern seine Form (individualistisch, selbstverantwortlich, der Allgemeinheit des Gesetzes gemäß) darüber entscheidet, inwieweit die bürgerliche Vernunft von einem Menschen Besitz ergriffen hat oder nicht. Einigermaßen populär ausgeführt in der "Religion in den Grenzen der reinen Vernunft": Darin, dass man etwas glaubt oder sich zu etwas bekennt oder Gebete spricht, liege keinerlei (moralisches) Verdienst. Euer praktisches Verhalten allein zeigt, inwieweit Ihr die Abstraktion (der individuellen Freiheit) verinnerlicht habt.

Das, meine ich, ist das theoretische Niveau, das wir heute zu überwinden haben. Wir müssen endlich lernen, den Inhalt gegen die gesellschaftliche Form in Anschlag zu bringen - aber bitte: keinen Glaubensinhalt! In diesem Sinne sind in meinen Augen die Stuttgart 21-Protestierer, die Anti-Atomkraft- und die Anti-Käfighaltungs-Leute und überhaupt alle an empirisch-stofflichen Entscheidungen interessierten Menschen näher an der zeitgenössischen Problemlage, als etwa Pohrt, der linke Glaubenseiferer, es war bzw. ist.

Die Neue Linke war insofern reaktionär, als sie gegen den nihilistischen Funktionalismus der "Konsumgesellschaft" nur die Sehnsucht nach der moralischen Ernsthaftigkeit vergangener Glaubenserlebnisse ins Feld führen konnte. Insofern ist es wohl kein Zufall, dass nach dem Zusammenbruch der "Partei"-Bewegung Mitte der siebziger Jahre umstandslos der Übergang Richtung Bhagwan und Neue Religiosität erfolgen konnte.

Wenn jetzt die letzten Vertreter des politischen Glaubens an diesem (ver)zweifeln und die Segel streichen, so darf man wohl annehmen, dass es der Kapitalismus endlich zur höchsten Reife des automatischen Funktionierens gebracht hat. Meines Erachtens ist das ein Aspekt seiner Krise. Es gibt jetzt keinen Spielraum mehr, der es erlauben würde, auf die handfesten Probleme, die wir zu gewärtigen haben, bloß ideologisch zu reagieren, nach Art eines Glaubenskampfes. Der Kapitalismus tritt rein als solcher hervor, ist nicht mehr verborgen hinter den verschiedenen Vergesellschaftungsideologien und damit seinerseits als Metaphysik, als das höchste Stadium derselben, das das Glauben und Bekennen nicht mehr nötig hat, zu durchschauen.

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Pauschalausfälle

von Peter Samol

Krankenhäuser werden auf Rentabilität getrimmt -
mit lebensgefährlichen Folgen


Seit 1977 reißt in Deutschland die Kette der "Gesundheitsreformen" nicht ab. Anlass ist jedes Mal die Senkung der so genannten Lohnnebenkosten. Der Löwenanteil des Gesundheitssystems wird nämlich durch Krankenversicherungsbeiträge finanziert, die auf der Grundlage gesetzlich festgelegter Prozentsätze auf die Einkünfte der Beschäftigten erhoben werden. Hinzu kommt der Arbeitgeberanteil, der früher einmal ebenso hoch war wie derjenige der Beschäftigten, im Jahr 2010 jedoch eingefroren wurde, so dass seitdem nur noch der Anteil der Beschäftigten steigen kann. Deren Einkünfte stagnieren allerdings seit über zehn Jahren. Zugleich sinkt die Anzahl der Normalverdiener stetig, weil immer mehr schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse um sich greifen. All das führt zum kontinuierlichen Schrumpfen der Krankenversicherungseinnahmen. Gleichzeitig kommt es im Gesundheitsbereich zu immer neuen Produktinnovationen, die zu einer Ausweitung des Gesundheitsangebotes führen. Während so das Angebot an Gesundheitsleistungen zunimmt, schrumpft zugleich die - über die Krankenversicherungen vermittelte - zahlungskräftige Nachfrage. In dieser Situation muss die Politik entweder die Beiträge erhöhen und immer mehr Lohnanteile in die Krankenversicherung umleiten oder aber die Kosten für Gesundheitsleistungen deckeln. In der Regel wird der zweite Weg beschritten.

Diagnosebezogene Fallpauschalen

Ein besonders markanter Einschnitt erfolgte im Jahr 2003. Seitdem beruhen die Einnahmen der deutschen Krankenhäuser auf der so genannten DRG-Systematik. DRG meint "Diagnosis Related Groups", (dt. etwa: "Diagnosebezogene (Fall-)Gruppen"). Diese Systematik sieht vor, dass jeder Patient aufgrund einer oder mehrerer Diagnosen einer bestimmten Fallgruppe zugeordnet wird, für die das Krankenhaus dann einen festgelegten Geldbetrag erhält. Egal, welche Kosten tatsächlich anfallen! Die Höhe der pauschalen Sätze richtet sich nach dem Gesamtbudget der Krankenkassen, das aufgrund der oben beschriebenen Entwicklung der Einnahmen immer geringer ausfällt.

Seit der Einführung des Fallpauschalensystems musste bereits ein Fünftel aller Häuser aus Geldmangel schließen, ein Drittel der verbleibenden Kliniken steht auf der Kippe (Hontschik 2008:13). Mittlerweile sind die Krankenhäuser "mehr mit dem Überleben am Markt als mit dem Überleben ihrer Patienten befasst" (Schulte-Sasse 2009:554). Medizinische Entscheidungen weichen also der Einhaltung betriebswirtschaftlicher Ziele. Eine der offenkundigsten Erscheinungsformen dieser Entwicklung ist die galoppierende Privatisierung von Krankenhäusern. In den letzten 20 Jahren ist in Deutschland die Anzahl der öffentlichen Krankenhäuser um 40 Prozent gesunken, während die Zahl der privaten Kliniken sich verdoppelt hat und mittlerweile fast genauso hoch ist wie die der öffentlichen. Aber in beiden findet eine wachsende ökonomiekonforme Zurichtung statt. Dabei muss vor allem a) die Verweildauer der Patienten möglichst kurz ausfallen. Im Jahr 2010 war diese im Durchschnitt nur noch halb so lang wie im Jahr 1995 (Bauer und Bittlingmayer 2010:727). Immer öfter fragen Patienten entsetzt, warum sie schon entlassen werden. Etwa wenn sie schwer krebskrank, mit künstlichem Darmausgang und ohne Abschlussgespräch von einem Tag auf den anderen zurück nach Hause sollen (Rippegather 2008:29). Eine weitere Reaktionsform der Kliniken besteht b) in der Schließung unrentabler Abteilungen. Das Fallpauschalensystem fördert somit eine Spezialisierung der Kliniken. Die Folge: Patienten mit bestimmten Diagnosen müssen oft hunderte von Kilometern zurücklegen, bevor sie ein Krankenhaus finden, das ihr Leiden behandeln kann. Die Spezialisierung geht auch zu Lasten der Notfallmedizin, weil sich auch die Zahl der Notarztstandorte verringert. Das wiederum verringert durch längere Anfahrtswege die Überlebenschancen von Unfallopfern und Akutfällen. Nicht zuletzt gibt es auch einen starken Anreiz, c) die Behandlung unrentabler Krankheitsbilder möglichst zu verweigern. Patienten, deren Erkrankungen mit profitablen Diagnosen einhergehen, sind schließlich viel attraktiver als Kranke, für die lediglich geringfügige Fallpauschalen zur Verfügung stehen.

Industrialisierung der Krankenhäuser

Unter der Ägide der Fallpauschalen werden die Patienten immer schneller von immer weniger Personal durch die Behandlungsprogramme geschleust. Der Aufenthalt im Krankenhaus verwandelt sich dabei zusehends in eine Kette fabrikmäßiger Fertigungsschritte: "Eigentlich sind Klinikbetten so zu betrachten wie der Fuhrpark einer Spedition", äußert ein Klinikmitarbeiter; Betten sind in diesem Vergleich die Lastwagen und Patienten die Ladung (Wettig 2011:C188). Zugleich wird massiv beim Personal gespart. Seit die gesetzliche Pflegepersonalregelung Anfang der 1990er Jahre abgeschafft wurde, darf jedes Krankenhaus beliebig wenig Schwestern und Pfleger einsetzen, und tatsächlich wurde die Personaldecke weit über die Grenzen des Vertretbaren hinaus ausgedünnt. Das verbleibende Personal sieht sich zu permanenten Überstunden gezwungen - unbezahlt und häufig ohne Freizeitausgleich. Ferner ufert die Arbeitshetze aus, hinzu kommen unerwartete Dienstplanänderungen und relativ geringe Bezahlung. All das treibt viele engagierte Schwestern und Pfleger in die Verzweiflung. Viele werden selbst krank, andere entwickeln zunehmend eine "Jobmentalität" (Bauer und Bittlingmayer 2010:727) mitsamt einer "Lohnarbeitergleichgültigkeit", wie man sie zuvor nur aus klassischen Industriebetrieben kannte. Auch die Fluktuation nimmt zu. Eine Pflegekraft arbeitet im Durchschnitt nur noch fünf Jahre im erlernten Beruf, dann wechselt sie den Job oder macht Familienpause (Tinnappel 2008:D2). Auch Ärzte leiden unter miserablen Arbeitsbedingungen. Häufig werden gesetzliche Ruhezeitenregelungen umgangen, um Ärzte möglichst rund um die Uhr einzusetzen. So gelten etwa Rufbereitschaften, bei denen die Ärzte nicht vor Ort, sondern lediglich erreichbar sein müssen, als Ruhezeit. Es kommt aber immer häufiger vor, dass Mediziner während dieser Zeit zu "Notfall-Operationen" gerufen werden, die in Wirklichkeit schon lange vorher geplant waren. So sind Arbeitsschichten von bis zu 27, in Extremfällen sogar bis zu 72 Stunden möglich. Alles in allem arbeiten nur fünf Prozent der Krankenhausärzte weniger als 40 Stunden in der Woche. Trotzdem bleibt immer weniger Zeit für die Patienten. Das liegt nicht nur an den wachsenden Fallzahlen, sondern auch an wuchernden Dokumentationspflichten. Die Diagnoseschlüssel mit ihren Fallpauschalen müssen genau festgehalten werden, hinzu kommen noch akribische Dokumentationspflichten für die Behandlungen sowie für Effizienzkontrollen, Qualitätssicherung etc. Viele Ärzte benötigen bis zu 60 Prozent ihrer Arbeitszeit für die Dokumentation (siehe Wettig 2011:C187). Seit vielen Jahren führen unterschiedlichste Befragungen denn auch regelmäßig zu dem Ergebnis, dass jeder dritte Arzt seinen Beruf nicht noch einmal ergreifen würde.

Gesundheitsrisiko Krankenhaus

Wenn das ökonomische Überleben der Gesundheitseinrichtung von Produktionszahlen abhängt, wird die Sicherheit der Patienten zweitrangig. Und da Zeit im Grunde nur noch für Verrichtungen zugestanden wird, die abgerechnet werden können, sinkt die "Kontakthäufigkeit" des Personals mit den Patienten rapide. Letztere bleiben viel zu lange sich selbst überlassen, obwohl jede nicht wahrgenommene Veränderung an ihrem Zustand lebensbedrohliche Konsequenzen haben kann. Bei den Ärzten häufen sich auch die "Kunstfehler". Durch sie sind im Jahr 2010 ca. 2000 Menschen in Deutschland ums Leben gekommen (Sauer 2012:4). Das ist aber weniger auf mangelnde "Kunstfertigkeit" der Ärzte als vielmehr auf unsägliche Arbeitsbedingungen zurückzuführen. So befindet sich z.B. ein Chirurg nach einer 27-Stunden-Schicht im Operationssaal in einem Erschöpfungszustand, der mit einem Alkoholgehalt von etwa 1,0 Promille im Blut zu vergleichen ist (Mitsch 2002:C1723). Ferner werden Patienten aufgrund des Kostendrucks geradezu systematisch höchst gefährlichen Situationen ausgesetzt. Z.B. wenn die Klinikleitungen immer kürzere Wechselzeiten in den Operationssälen vorgeben, um deren Auslastung zu erhöhen: "Eingeschlossen in die zu verkürzende Wechselzeit ist die Zeit der Narkoseeinleitung ('Starten') und Narkoseausleitung ('Landen'). Dabei kann es auch passieren, dass Patienten schwer gehirngeschädigt aus dem Narkosezimmer kommen." (Schulte-Sasse 2009:560) Solche "Behandlungsfehler sind das Ergebnis von Systemfehlern im Krankenhaus, die in ihren gefährlichen Auswirkungen zwar bekannt, aber aufgrund des ökonomischen Drucks beibehalten oder sogar neu eingeführt werden" (ebd. 561).

Noch gravierender ist das Problem abnehmender Hygiene. Je nach Schätzung liegt die Zahl der Toten, die auf eine Infektion durch gefährliche Klinikkeime zurückzuführen sind, zwischen 10.000 und 40.000 pro Jahr. Sie wären vermeidbar, wenn simple Maßnahmen wie fachkundige Raumpflege und gründliches Händewaschen eingehalten würden. Auch für diese Mängel sind die Einsparungen verantwortlich. Die Reinigung wird meist von Firmen wahrgenommen, deren Personal sich nicht mit den Hygienestandards von Krankenhäusern auskennt; auch Lerneffekte gibt es selten, weil die Putzkolonnen zu häufig wechseln. Das zusammengeschrumpfte Klinikpersonal selbst hat kaum noch die Zeit, zwischen zwei Patienten die Hände zu waschen. Und all das vor dem Hintergrund der Zunahme antibiotikaresistenter Keime. Besonders berüchtigt ist der "Methicillin-resistente Staphylococcus aureus" (kurz: MRSA), der Lungenentzündungen und schwere Wundinfektionen erzeugen kann und gegen nahezu alle Antibiotika unempfindlich ist. Aus den beschriebenen Gründen hat er sich in den deutschen Krankenhäusern regelrecht breit gemacht (Karisch 2012:2).

Keine Änderung in Sicht

An all dem wird sich in absehbarer Zeit nichts bessern. "Mitarbeiter abbauen plus Leistung steigern" (Rippegather 2012:D2) bleibt die Devise der Klinikleitungen, und weitere "Anstrengungen zur Stabilisierung des Unternehmensergebnisses" gelten als unverzichtbar (ebd.). Angesichts einer weiteren Schrumpfung der gesellschaftlichen Wertmasse, die sich - vermittelt über stagnierende Löhne, wachsendem Prekariat und daher sinkender Versicherungseinnahmen - letztlich auch in sinkenden Fallpauschalen ausdrückt, befinden sich die Krankenhäuser unter weiter steigendem Kostendruck, den sie nur an das Personal und die Patienten weitergeben können. Daran ändern auch die derzeitigen Überschüsse der Krankenkassen nichts. Denn abgesehen davon, dass sie nur Ausdruck eines vorübergehenden Konjunkturhochs in einigen wenigen bessergestellten EU-Ländern sind, sollen sie abgeschöpft und zur Verringerung des Staatsdefizits herangezogen werden.


Literatur

Bauer, Ullrich; Bittlingmayer, Uwe H.: Ja, das kostet aber Geld, in: Schultheis, Franz; Vogel, Berthold; Gemperle, Michael (Hg.): Ein halbes Leben. Konstanz 2010, S. 664-730.

Hontschik, Bernd: Familienbande, in: Frankfurter Rundschau 15.03.2008, S. 13.

Hontschik, Bernd: Kahlschlag, in: Frankfurter Rundschau 03.03.2012, S. 22.

Karisch, Karl-Heinz: Fluch der Wunderkugeln, in: Frankfurter Rundschau 02.03.2012, S. 2.

Mitsch, Herbert: Themen der Zeit, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 99, Heft 33, 16.07.2002, S. 1723c.

Rippegather, Jutta: Schwerkranke ohne Arztbrief entlassen, in: Frankfurter Rundschau 13.10.2008, S. 29.

Rippegather, Jutta: Sorge um die Patienten, in: Frankfurter Rundschau 29.02.2012, S. D2.

Sauer, Stefan: Wenn Hygiene zu teuer ist, in: Frankfurter Rundschau 17.02.2012, S. 4.

Schulte-Sasse, Uwe: Produktionsdruck im Operationssaal gefährdet Patienten, in: Anästhetische Intensivmedizin, Nr. 50 2009, S. 552-563.

Tinnapel, Friederike: Bloß nicht selber krank werden, in: Frankfurter Rundschau 06.09.2008, S. D2.

Wettig, Jürgen: Die Melancholie des Psy chiaters, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 108, Heft 5, 04.02.2011, S. C187-C188.


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Kritische Bildung

Königsweg zu einem veränderten gesellschaftlichen Sein?

von Erich Ribolits

Der französische Philosoph Michel Foucault hat im Rahmen eines Vortrags vor der "Société française de philosophie" am 27. Mai 1978 erstmals einen Gedanken ausgeführt, der in der Folge zentrale Bedeutung in seinem Werk bekommen hat: Kritik hat ihre Grundlage im Wunsch, "nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert" zu werden (Foucault 1992: S. 12). Seine These, dass Kritik - sofern sie diesen Namen zu Recht führt - im Widerstand gegen das Regiert-Werden kulminiert, fußt in seiner Erkenntnis, dass sich Macht und Herrschaft in nach-antiken, christlichen Gesellschaften in anwachsendem Maß in Form von "Menschenführung" artikulieren - Herrschaft wird mit der Vorstellung des prinzipiell lenkungsbedürftigen Individuums legitimiert. Foucault führte dazu im genannten Vortrag aus: "Die christliche Kirche [...] hat die einzigartige und der antiken Kultur wohl gänzlich fremde Idee entwickelt, dass jedes Individuum unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein ganzes Leben hindurch und bis ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden müsse und sich regieren lassen müsse: dass es sich zu seinem Heil lenken lassen müsse und zwar von jemandem, mit dem es in einem umfassenden und zugleich peniblen Gehorsamsverhältnis verbunden sei." (ebd.: S. 9f )

Kritik befragt Macht und Wahrheit nach ihrem Verhältnis

Foucault argumentiert, dass sich die "Kunst, Menschen zu regieren" bis in die mittelalterlichen Gesellschaften nur auf das relativ eingeschränkte Gebiet der Führung geistlicher Gruppen bezog, beginnend mit dem 15. Jahrhundert aber eine massive Ausweitung erfahren hat. Die Menschenregierungskunst verließ zunehmend die Sphäre ihrer religiösen Herkunft und wurde quasi zum gesellschaftlichen "Megathema", das in nahezu jedem gesellschaftlichen Bereich seinen Ausdruck fand. Die nunmehr auftauchenden Fragen lauteten: "Wie regiert man die Kinder, wie regiert man die Armen und die Bettler, wie regiert man eine Familie, ein Haus, wie regiert man die Heere, wie regiert man verschiedene Gruppen, die Städte, die Staaten, wie regiert man seinen eigenen Körper, wie regiert man seinen eigenen Geist?" (ebd.: S. 11) Parallel und in Opposition zur Totalisierung des Regierungsanspruchs entstand im Sinne einer Antithese zur Vorstellung des führungsbedürftigen Individuums der Wunsch, sich dem Regiert-Werden zumindest partiell zu entziehen. Dabei stand allerdings gar nicht so sehr der Widerstand gegen den allumfassenden Regierungsanspruch als solchem im Vordergrund, sondern viel mehr der Wunsch, nicht in der aktuell gegebenen Form, nicht im Namen spezifisch angewandter Prinzipien und nicht von den jeweils wirkenden Exponenten der Macht regiert zu werden. Der sich herausbildende Widerstand gegen die Regierungsentfaltung entzündete sich - wie Foucault es ausdrückt - am Anspruch, "nicht auf diese Weise" bzw. "nicht dermaßen regiert zu werden" (ebd.: S. 12).

Der Widerstand gegen das Regiert-Werden zeigt sich in der Folge im Anspruch, das was die Macht als wahr erklärt, zu hinterfragen, bzw. etwas zumindest nicht bloß deshalb schon als wahr anzunehmen, "weil eine Autorität es als wahr vorschreibt". Kritik heißt, dem durch die Autorität verlangten Gehorsam eine universale und unverjährbare, dem aktuell als richtig Geltenden eine übergeordnete Wahrheit entgegenzusetzen, der sich jede Regierung beugen müsse. Widerstand gegen das Regiert-Werden artikuliert sich demgemäß in der Haltung, "etwas nur an[zu]nehmen, wenn man die Gründe es anzunehmen selber für gut befindet" (ebd.: S. 14). Der Wunsch, nicht regiert werden zu wollen, ist somit auf's Engste mit der Erkenntnis verknüpft, dass Macht und das aktuell als wahr Geltende zwei Seiten derselben Medaille sind, dass Wahrheit und Macht also in einem untrennbaren Wechselverhältnis stehen. Dementsprechend gipfelt die Argumentation von Foucault in der Aussage: "Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen - und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen - dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In einem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung." (ebd.: S. 15)

Wie Kant Kritik und Selbstunterwerfung unter einen Hut bringt

An diesem Punkt seiner Argumentation schlägt Foucault explizit eine Brücke zum Text "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" von Immanuel Kant. Tatsächlich scheint die Begriffsbestimmung von Kritik als Widerstand gegen das Regiert-Werden in hohem Maß mit der Kant'schen Vorstellung des selbständig seinen Verstand gebrauchenden Individuums zu korrelieren. Kant hat in seinem berühmten Text Auf klärung ja als das selbstbewusste und mutige Heraustreten aus dem Zustand der Unmündigkeit definiert; einer Unmündigkeit, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Wahrheiten, auf die sich die Autorität der Macht stützt, unhinterfragt akzeptiert werden. Unmündigkeit wird von ihm als das durch einen Mangel an Mut bedingte - und somit selbstverschuldete - Unvermögen definiert, sich seines Verstandes autonom, ohne Anleitung durch andere, zu bedienen. In diesem Sinn besteht der Wahlspruch der Auf klärung für Kant in der unendlich oft zitierten Aufforderung: Sapere aude - Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! (Kant 1784, S. 481, Hervorhebung im Original) Ein Satz, der fast ausschließlich als Freiheitsappell interpretiert wird, kaum je allerdings im Sinne der von Kant an anderer Stelle im gegenständlichen Text und auch in anderen Teilen seines Werkes ausdrücklich hervorgestrichenen Einschränkung der kritischen Haltung gesehen wird. Nicht zufällig erscheint es Foucault wichtig, in seiner Bezugnahme auf den Kant'schen Text darauf hinzuweisen, dass der Freiheitsappell in diesem eine spezifische Relativierung erfährt, indem für Kant "Autonomie keineswegs dem Gehorsam gegenüber dem Souverän entgegensteht" (Foucault 1992: S. 18).

Die vehement eingeforderte Mündigkeit birgt nach der Meinung von Kant in sich nämlich keineswegs einen selbstverständlichen Konnex zu unbotmäßigem Verhalten gegenüber der Macht. Dadurch ist es für ihn möglich, den autonomen Vernunftgebrauch zu idealisieren und im gleichen Atemzug völlige Loyalität gegenüber dem herrschenden System und seinen Vertretern zu fordern. Er wendet gewissermaßen einen argumentativen Trick an, um die zwei diametral entgegengesetzten Positionierungen gegenüber Macht und Herrschaft - Kritik und Unterordnung - unter einen Hut zu bringen. Er spaltet das bürgerliche Individuum in zwei Aspekte auf; einerseits einen seinen Verstand mündig unter dem Aspekt einer Teilhabe an der res publica gebrauchenden gemeinwohlorientierten Citoyen und andererseits einen an den materiellen Bedingungen seines Überlebens orientierten und demgemäß im Sinne des Systems funktionierenden Bourgeois. Sein Appell zum Hinterfragen der die Macht in ihrem Bestand absichernden Wahrheiten richtet sich ausschließlich an den Citoyen-Anteil des bürgerlichen Individuums, vom Lust Bourgeois-Anteil fordert er nämlich ausdrücklich die bedingungslose Unterordnung unter die real gegebenen Machtverhältnisse. Ein wenig sarkastisch lässt sich argumentieren, dass Kant wohl ein früher Anhänger der Vorstellung einer "Multiplizität der Psyche" war. Er ging allerdings nicht bloß davon aus, dass im aufgeklärten Individuum wohl häufig "zwei Seelen" - eine kritische und eine angepasste - um die Vormachtstellung kämpfen, die Annahme zweier einander diametral entgegengesetzter Persönlichkeitsanteile war nachgerade die Grundbedingung seiner Theorie des aufgeklärten Individuums.

Tatsächlich kommen die Begriffe Citoyen und Bourgeois im Text "Beantwortung der Frage: Was ist Auf klärung?" nicht vor, allerdings verwendet Kant diese Termini sehr wohl an anderer Stelle seines Werks (Kant 1984: S. 151). Im gegenständlichen Text artikuliert er das in diesen Begrifflichkeiten zum Ausdruck kommende Prinzip stattdessen durch eine Differenzierung zwischen öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft. Dabei bezeichnet er "unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht" (Kant 1784, S. 485). Den privaten Gebrauch derselben dagegen nennt er denjenigen, den jemand "in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf" [sic!] (ebd.). Mit öffentlichem Vernunftgebrauch wird der um das Allgemeinwohl besorgte Staatsbürger - also der Citoyen - angesprochen. Dieser ist aufgerufen, sich seiner kritischen Vernunft zu bedienen und jene Wahrheiten zu hinterfragen, die von den Autoritäten vorgegeben werden und deren Macht legitimieren. Die sich aus dem Hinterfragen der machtlegitimierenden Wahrheiten möglicherweise ergebende Kritik hat nach Kant allerdings strikt auf der Ebene der "Freiheit der Feder" zu bleiben. Gefordert ist bloß ein "intellektuelles Appellieren" an die Träger der Macht, keinesfalls aber eine darüber hinausgehende, diese tatsächlich in ihrem Bestand gefährdende Aktion. Dem unter der Not des systemadäquaten Überlebens stehenden Privatbürger - dem Bourgeois - ist in Erfüllung seiner Funktion im bürgerlichen Staat nach Kant dagegen nicht einmal ein derartiges - wie er es nennt - "Vernünfteln" gestattet. Ihm ist bloß der funktionale Gebrauch der Vernunft erlaubt, sein Denken hat strikt im Rahmen der Vorgaben des Systems zu bleiben. Wie Kant in aller Deutlichkeit ausführt, hat sich der mit einer Funktion an das System gebundene Bürger den Vorgaben der Macht auch dann bedingungslos unterzuordnen, wenn diese aus Wahrheiten abgeleitet sind, die er als ein sich seiner Vernunft selbständig bedienender (Staats)Bürger möglicherweise als falsch erkannt hat (vgl. dazu: Ribolits 2011, S. 34ff).

"Bildung" meint Selbstbeherrschung, nicht Widerstand gegen Herrschaft

Korrelierend zu seiner Aufspaltung des bürgerlichen Individuums in den selbständig seinen Verstand gebrauchenden Citoyen und den den Vorgaben der Macht verpflichteten Bourgeois unterscheidet Kant ausdrücklich auch zwischen zwei Formen der Freiheit: einer "inneren" und einer "äußeren". Äußere Freiheit hat für ihn mit den konkreten gesellschaftlich definierten Daseinsbedingungen zu tun, da geht es um vorgegebene rechtliche, soziale oder politische Umstände, durch die das Leben von Menschen bedingt ist. Innere Freiheit dagegen ist für ihn ein Zustand, in dem ein Mensch jene Zwänge überwindet, mit denen er sich selbst in bestimmte Verhaltensweisen zwingt, da geht es um Triebe, Erwartungen, Gewohnheiten oder Konventionen. Mit Bildung - als jenem Begriff, mit dem die Herausbildung des selbständigen Vernunftgebrauchs umschrieben wird - wird nach Kant bloß innere Freiheit angestrebt. Äußere Freiheit dagegen ist für ihn dezidiert nicht das Ziel von Bildung! Diesbezüglich formuliert er unmissverständlich, dass der Mensch im, wie er es bezeichnet, "bürgerlichen Amte", also in Ausübung einer Funktion in der Gesellschaft, bloß Werkzeug sei und deshalb gehorchen müsse (Kant 1784: S. 485f ). Mit dieser Dichotomisierung von Freiheit definiert Kant das wohl wesentlichste und gleichzeitig am häufigsten verdrängte Bestimmungsmerkmal jener Idee menschlicher Weiterentwicklung, die unter dem Begriff Bildung in der Folge Furore gemacht hat und die das Umgehen mit Lernen in den deutschsprachigen Ländern Europas bis heute massiv prägt: Bildung meint Selbstbeherrschung, nicht jedoch Widerstand gegen politisch auferlegte Herrschaft!

In letzter Konsequenz überschreitet Kant mit seiner Theorie des Erlangens von Mündigkeit durch den autonomen Vernunftgebrauch die Vorstellung des regierungsbedürftigen Individuums somit nicht wirklich. Trotz seiner Aufforderung, Mut zum autonomen Gebrauch des Verstandes zu entwickeln, bleibt er im Prinzip der von Foucault aufgezeigten, sich seit Beginn der Neuzeit herausbildenden Auffassung verhaftet, dass jedes Individuum sein ganzes Leben hindurch "von jemandem, mit dem es in einem umfassenden und zugleich peniblen Gehorsamsverhältnis verbunden sei," gelenkt werden müsse. Kant fordert bloß neben dem Recht auch noch die Verpflichtung zur freien Meinungsäußerung ein - konterkariert allerdings um die Dimension, dass sich diese nur in jenen Bahnen bewegen darf, die den geordneten Ablauf der Machtausübung nicht stört. Die geltenden und - das ist ganz wesentlich - mit den aktuellen Machtstrukturen untrennbar verbundenen Wahrheiten seien zwar durch den selbstbewussten Gebrauch des eigenen Verstandes kritisch zu hinterfragen, letztendlich allerdings nur, um die gewonnenen Erkenntnisse den Regierenden quasi untertänigst zur Beurteilung zu unterbreiten. Denn auch wenn Kant den öffentlichen Vernunftgebrauch damit definiert, dass jemand als Gelehrter dem - wie er schreibt - "eigentlichen Publikum, nämlich der Welt" (ebd.: S. 487) seine Erkenntnisse zur Beurteilung vorlegt, fordert er dabei stets absoluten Gehorsam gegenüber den Machthabern. Es würde somit herzlich wenig helfen, wenn derart unters Volk gebrachte, die geltenden Wahrheiten aushebelnden Erkenntnisse massenhaft Befürworter fänden. Denn unabhängig von der Kraft der Überzeugung, die von ihnen ausgehen mag, hätten die Menschen nach Kant nämlich weiterhin solange im Sinne der "offiziellen Wahrheiten" zu funktionieren, als die "neuen Wahrheiten" nicht in die Strukturen der Macht integriert wären.

Links - Rechts, Citoyen - Bourgeois. Das Terrain des bürgerlichen Staats

Im Kant'schen Ideal des bürgerlichen Individuums, das sich durch eine schizophrene Gleichzeitigkeit von Untertänigkeit und Freiheit bestimmt, spiegelt eine Widersprüchlichkeit, die die bürgerliche Gesellschaft insgesamt durchzieht. Als Repräsentant der Macht tritt der Staat als Träger der Verantwortung für das Allgemeine, für das Gemeinwohl, für das Gattungsleben der Menschen auf und ist zugleich Garant der Möglichkeit der Staatsbürger, ihre egoistischen Individualinteressen verfolgen zu können. In derselben Form, wie das bürgerliche Individuum in zwei dichotome Aspekte zerrissen ist, verkörpert auch der bürgerliche Staat zwei widersprüchliche Prinzipien und ist gleichermaßen Adressat des Citoyens als auch des Bourgeois. Daraus folgt die im bürgerlichen Staat von allem Anfang an strukturell angelegte Diskrepanz zwischen zwei großen - in der Regel mit der Bezeichnung "links" und "rechts" versehenen Fraktionen: Die eine, die den Staat in seinen Gemeinwohlansprüchen möglichst einschränken will, weil ihre Angehörigen - aufgrund ihrer entsprechenden Möglichkeiten - möglichst uneingeschränkt über Güter, Einkünfte und Macht verfügen wollen, und die andere, die den Staat - aus der konträren Form der Betroffenheit - in seinen Gemeinwohlansprüchen möglichst ausdehnen will. Im Sinne der vorher skizzierten grundsätzlichen Akzeptanz der Macht appellieren beide Fraktionen an den Staat und versuchen mit den Mitteln bürgerlich-demokratischer Einflussnahme: Appelle, Proteste, Parteien, Gewerkschaften, Streiks oder ähnlichem, die Zustände im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen. Diese Ausdrucksformen politischer Einflussnahme gehen zwar ein gewaltiges Stück über das hinaus, was sich Kant als "erlaubte Formen des Appellierens an die Regierenden" vorstellen mochte, beruhen aber letztendlich dennoch alle auf einem grundsätzlichen Akzeptieren der sich in Form von Eigentum, Ware und Staat artikulierenden Macht.

Schule und Bildung bleiben stets im Rahmen des Systems

Öffentlich organisiertes Lernen war stets in diesem Spiel divergierender Interessen eingebunden. Seit der Besuch von Bildungseinrichtungen für alle verpflichtend ist, wurde dort stets sowohl das Gemeinwohldenken des Citoyens beschworen, als auch der um seinen egoistischen Vorteil bedachte Bourgeois angesprochen, der unter dem Druck steht, sich auf Basis seiner mehr oder weniger gut ausgebildeten Arbeitskraft dem Konkurrenzkampf um gesellschaftliche Positionen stellen zu müssen. Was hierzulande unter dem wohlklingenden Titel Bildung firmiert, war stets der Dichotomie von egoistischem Eigennutz und Mitverantwortung für das Gesellschaftsganze unterworfen. Schule, Berufsausbildung und Universität dienten - selbstverständlich mit unterschiedlicher Gewichtung und auf unterschiedlichem Niveau - immer dem Ziel, einerseits Arbeitskräfte heranzuziehen, die für die ökonomische Verwertung brauchbar sind, und vermittelten andererseits immer den bildungsideologischen Überbau des kritisch-mündigen Individuums, jenen ideologischen Kitt, durch den die bürgerlich-demokratische Gesellschaft im Innersten zusammengehalten wird. Zum einen war es immer das erklärte Ziel organisierten Lernens, Individuen für den Konkurrenzkampf des Verwertungssystems fit zu machen, sie also zu befähigen, die eigene gesellschaftliche Position unter Inkaufnahme der Verschlechterung der Position von anderen zu verbessern. Zum anderen wurde im Bildungssystem stets das mündige Subjekt beschworen, das seinen Verstand autonom einsetzt und im Rahmen demokratischer Möglichkeiten gerechte Bedingungen des sozialen Lebens für alle einfordert.

Das gilt, trotzdem pädagogische Theoretiker und Praktiker zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlicher Sichtweise der Dinge durchaus einen der beiden Aspekte mehr oder weniger betont haben. Auch den Vertretern der kritisch-emanzipatorischen Strömungen im Erziehungs- und Bildungsgeschehen, die ab Ende der 60er des vorigen Jahrhunderts eine Zeit lang von sich reden machten, war klar, dass ein Lernen, das im Kontext von Staat und der Notwendigkeit von Menschen stattfindet, früher oder später qua einer entsprechend qualifizierten Arbeitskraft ihr wirtschaftliches Überleben sichern zu müssen, dazu dient, Menschen dem politisch-ökonomischen System zu unterwerfen. Allerdings hatte man die Hoffnung, dass spezifische äußere und innere Bedingungen der Organisation des Lernens sowie ein spezifisches Verhalten der Lehrenden bei den Lernenden die Erkenntnis ihrer gesellschaftlich bedingten Unfreiheit fördern und den Wunsch auslösen würde, sich von den einschränkenden Bedingungen ihrer Existenz zu befreien. Pointiert ausgedrückt, war es somit das Ziel der emanzipatorischen Pädagogik, Menschen zu helfen, ihr "falsches Bewusstsein" im Rahmen einer Einrichtung zu überwinden, die dafür da ist, genau dieses hervorzurufen. Die Ursache dieser einigermaßen absurden Annahme kann darin gefunden werden, dass auch die kritisch-emanzipatorische Pädagogik nie den Boden des mit dem demokratisch-politischen System verknüpften bürgerlichen Menschen- und Gesellschaftsbildes verlassen hat. Dieses System baut aber sowohl auf der am Beispiel des Textes "Was ist Aufklärung" von Immanuel Kant skizzierten, in einen Citoyen- und einen Bourgeois-Anteil aufgespaltenen Persönlichkeit als auch auf der Vorstellung auf, dass es zwar Aufgabe des Citoyen-Anteils sei, die dem Status quo zugrundeliegenden Wahrheiten zu hinterfragen, dass aber die aus dem Hinterfragen gewonnenen Erkenntnisse nur im Rahmen der durch die Macht gewährten - demokratischen - Möglichkeiten zum Ausdruck gebracht werden dürfen. Das mündige Individuum ist damit letztendlich gefangen in den Fesseln der Loyalität gegenüber dem bürgerlich-demokratischen System.

Fundamentalkrise der Verwertung, Ende der demokratischen Kritik - It's the system, stupid!

Solange die Verwertungsökonomie anwachsenden Wohlstand für alle zu suggerieren imstande war, ließ sich die Illusion aufrecht erhalten, dass das im Mündigkeitsbegriff mitschwingende Freiheitsversprechen tatsächlich die Möglichkeit in sich bergen würde, innerhalb des gegebenen politisch-ökonomischen Systems humane Lebensbedingungen für alle erreichen zu können. Es war dadurch möglich, zumindest in den industriellen Kernzonen die vordergründigsten inhumanen Effekte des Systems, das alles und jeden nur in der Dimension des Werts in den Blick zu nehmen imstande ist, zu übertünchen. Die für verschiedene gesellschaftliche Gruppen durchaus unterschiedlich hohen Steigerungen des materiellen Wohlstands wurden zwar primär durch die rasante Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, erbärmliche Lebensbedingungen in der sogenannten 3. Welt und dem Vorwegnehmen zukünftig erhoffter Wertschöpfung erkauft. Dennoch ließ sich damit die Hoffnung am Leben halten, dass (auch) unter Aufrechterhaltung der Verwertungsökonomie irgendwann ein menschenwürdiges Dasein für alle möglich werden könnte. Derzeit untergräbt die durch technologisch bedingte Produktivitätsfortschritte und globale Wirtschaftsmöglichkeiten seit einigen Jahren immer deutlicher zutage tretende Verwertungskrise diese Hoffnung allerdings nachhaltig.

Durch die Informations- und Kommunikationstechnologie ist das System des Erzielens von Profit auf Basis der Verwertung menschlicher Arbeitskraft in eine nachhaltige Krise geraten. Die unmittelbare Folge dieser Krise ist ein massives Ansteigen der Konkurrenz auf allen Ebenen der Gesellschaft. Konkurrenz war zwar von allem Anfang ein bestimmendes Merkmal der Verwertungsökonomie, allerdings wird diese durch die aktuelle Entwicklung ins Hypertrophe gesteigert. Konkurrenz wird zur alles überstrahlenden Größe im sozialen Verhalten der Menschen und im politischen Vorgehen von Regionen, Staaten und Staatenverbünden. Diese Dominanz des Konkurrenzdenkens steht in direktem Gegensatz zur Idee des um das Gemeinwohl besorgten Citoyen-Anteils des bürgerlichen Individuums. Dagegen erfährt der Bourgeois-Anteil - das Denken in den Dimensionen egoistischen Eigeninteresses - einen massiven Auftrieb. Der bürgerliche Kapitalismus, der sich über die Ideologie des mündigen Staatsbürgers und der demokratischen Einflussnahme auf das System stets so etwas wie einen menschlichen Anstrich verliehen hatte, verliert rasant sein bürgerlich-humanes Mäntelchen. In Reflexion dieser Tatsache erscheint auch die Vorstellung, dass im Bildungswesen so etwas wie das mündige an Humanität orientierte Individuum gefördert werden soll, zunehmend anachronistisch. Bildung wird immer vordergründiger zur Zurichtung von Menschen im Sinne des Verwertungssystems, der Bourgeois triumphiert endgültig über den Citoyen!

Dazu kommt, dass es für jemanden, der die gesellschaftlichen Bedingungen tatsächlich kritisch hinterfragt, immer weniger möglich wird, sich selbst vom Verwertungssystem zu abstrahieren. Welche Vorgangsweise, die zwischen dem Ziel eines menschenwürdigen Lebens für alle und dem Wunsch des individuellen Überlebens auf Basis der Konkurrenz jedes gegen jede vermittelt, erscheint heute noch machbar? Zunehmend wird offensichtlich, dass individuelles Überleben nur möglich ist um den Preis der Teilnahme am kollektiven Selbstmord. Und an welchen Repräsentanten der Macht soll sich der Citoyen heute noch wenden? Nationalstaaten und selbst Staatenverbünde verlieren angesichts des globalisierten wirtschaftlichen Geschehens und des damit verbundenen grenzüberschreitenden Konkurrenzkampfes zunehmend ihre Autonomie. Der Spielraum für die sogenannten Staatenlenker wird immer enger - letztendlich bedeutet Politik nur mehr, optimale Bedingungen der Förderung für das zu schaffen, was euphemistisch als "Standortwettbewerb" bezeichnet wird, sich aber immer deutlicher als ein Rennen um das nackte Überleben entpuppt. Was sich nicht ökonomisch argumentieren lässt, also damit, dass die jeweiligen Maßnahme einen Vorteil im globalen Konkurrenzkampf darstellt, verliert in dieser Situation jedwede Bedeutung. Die Logik der Verwertung und der Konkurrenz wird zunehmend totalitär.

Immer weniger können Staat und (nationalstaatliche) Politik als Verkörperungen der Regierungsmacht bezeichnet werden, die Rolle des Souveräns erfüllt stattdessen ein weltökonomisches Verwertungsdiktat (vgl.: Fach, 2000, S. 110ff). Letztendlich bedeutet das, dass dem Citoyen sein Ansprechpartner abhanden kommt. Genau der ist aber erforderlich, um die von Kant so vehement eingeforderte Mündigkeit überhaupt zur Geltung kommen zu lassen. Jener Repräsentant der Macht, an den der kritische Citoyen gelernt hat mit demokratischen Mitteln zu appellieren, verflüchtigt sich zu einer anonymen Größe. Wer sich dem zunehmend frustrierenden Unterfangen unterzieht, die geltenden Wahrheiten - die da Wertschöpfung, Konkurrenz, Wachstum oder technische Machbarkeit heißen - kritisch zu hinterfragen und dabei möglicherweise ihre längst offensichtliche Absurdität erkennt, findet keinen Träger der Macht mehr, dem er seine Erkenntnis zur gnädigen Prüfung vorlegen könnte. Und somit auch keinen, von dem er sich erhoffen könnte, dass er die Dinge zum Guten wendet. Denn auch wenn vielfach noch krampf haft daran festgehalten wird, dass es irgendwelche Akteure gäbe, die an der sich immer deutlicher entfaltenden Misere schuld wären - korrupte Politiker, gierige Banker oder unfähige Manager - es wird immer schwerer, sich der Erkenntnis zu entziehen: "It's the system, stupid!" In überwiegend wohl unbewusster Anerkenntnis dieser Tatsache beteiligen sich heute auch zunehmend weniger Menschen am "Demokratiespiel". Menschen "glauben" in anwachsendem Maß schlichtweg nicht mehr an die Politik - entweder sie nehmen an Wahlen gar nicht mehr teil, oder ihr Wahlverhalten nimmt eine von Stimmungsschwankungen gesteuerte Sprunghaftigkeit an, was sich unter anderem auch in der Tendenz zu populistischen Gruppierungen widerspiegelt. Immer weniger können sie auch für die diversen Formen des demokratischen Protests mobilisiert werden - sie haben den Citoyen in den Ruhestand geschickt!

Kritik: Legitimation des Status quo oder Übergang zur systemunterlaufenden Tat

Was bedeutet es nun, wenn man die anfangs von mir wiedergegebene Aussage von Michel Foucault, dass Kritik Widerstand gegen das Regiert-Werden bedeutet, auf die skizzierte Situation der fortgeschrittenen Konkurrenzökonomie anwendet?

Letztendlich heißt es, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, dass Widerstand gegen das Regiert-Werden mit der von Kant grundgelegten bildungsbürgerlichen Vorstellung des selbständig seinen Verstand gebrauchenden mündigen Individuum korreliert. Was von Kant seinerzeit pointiert formuliert wurde und seitdem im Bildungsbegriff fortlebt, ist genau das Gegenteil von Widerstand gegen das Regiert-Werden, letztendlich ist das die Regierungstechnik der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft! "Genau genommen redet Kant, wenn er über Auf klärung, Meinungsfreiheit, Verstand, über Mut oder Bequemlichkeit beim Einsatz desselben doziert, über [...] eine moderne Herrschaftstechnik; aber nicht ehrlich und offen. Er redet über die Herrschaftstechnik am und im Bild des ihr entsprechenden Objekts, dem mündigen Bürger. [...] Mit seiner konstruktiven Leistung tat Kant das wenigste, was er sich als Aufklärer schuldig war: er erfand zur modernen Form der Herrschaft das widersprüchliche Menschenbild hinzu [...]." (Gegenstandpunkt, 2004) Kant hat in seinem Text zur Frage, was Auf klärung sei, nichts anderes dargestellt, als das der bürgerlichen Form von Herrschaft entsprechende Ideal des Menschen - den Bildungsbürger. Diesem Konstrukt entspricht es wesensmäßig zu gehorchen, seiner Meinung in den erlaubten Bahnen Ausdruck zu verleihen und Verantwortung für das zu übernehmen, was er sowieso tun muss.

Bei Kritik, im Verständnis der demokratisch-bürgerlichen Moderne, handelt es sich um eine spezifische Form der Affirmation des Status quo. Kritisch zu sein heißt in der Regel bloß, "es sich leisten zu können", gegebene Strukturen der Macht und sie stützende Verhältnisse zu hinterfragen. Dabei stellt sich der/die Kritiker/in zwar intellektuell in Opposition zu den Verhältnissen, verlässt diese allerdings selbst nicht. Ganz im Gegenteil, in der Regel gewinnt der Kritiker die Kraft bzw., wie es bei Kant heißt, den Mut zur Kritik genau aus der Tatsache, in den kritisierten Verhältnissen soweit verankert zu sein, dass er die Kritik ohne Gef ährdung seiner eigenen mehr oder weniger guten Position vorbringen kann. Kritik entpuppt sich dergestalt letztendlich als eine Legitimation des Status quo. Sie lebt von der Vorstellung, andere überzeugen zu können und mit diesen dann innerhalb der gegebenen Möglichkeiten gesellschaftlicher Einflussnahme Änderungen herbeiführen zu können.

Erst wenn Kritik die Grenzen des eloquent-larmoyanten Gejammers, in denen sie sich üblicherweise bewegt, überschreitet und sich in einem veränderten Sein niederschlägt - also darin, dass jemand die kritisierten Verhältnisse tatsächlich verlässt, boykottiert oder anderswie aktiv in einer Form unterläuft, die ihn zumindest in Teilaspekten aus dem System herauskatapultiert - somit also erst, wenn Kritik die Ebene der Reflexion verlässt und zur systemunterlaufenden Tat übergeht, bedroht sie die Strukturen der Macht tatsächlich und wird dann in der Regel ja auch entsprechend sanktioniert. Erst wenn Kritiker sich somit nicht mehr auf die erlaubten - systemimmanenten - Mittel der Kritik beschränken, hat Kritik die Chance, das zu verwirklichen, was sie permanent vorgibt - ein tatsächlicher Ansatz dagegen zu sein, "nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert" zu werden.


Literatur

Aufklärung erledigt - Räsoniert, aber gehorcht!, in: Gegenstandpunkt, Online-Version, GegenStandpunkt Verlag 2004, www.gegenstandpunkt.com/mszarx/phil/kant/aufklar.htm (14.5.2012).

Fach, Wolfgang (2000): Staatskörperkultur. Ein Traktat über den "schlanken Staat", in: Bröckling/ Krasmann/ Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik?, Merve Verlag, Berlin.

Kant, Immanuel (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Biester, Johann Erich / Gedicke, Friedrich (Hg.): Berlinische Monatsschrift, Zwölftes Stück, Dezember 1784 (de.wikisource.org/wiki/Beantwortung_der_Frage:_Was_ist_Aufklärung).

Kant, Immanuel (1793): Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Immanuel Kant, Werke in zwölf Bänden, ed. Wilhelm Weischedel, Band 11, Frankfurt a.M. 1977, S. 127-130.

Ribolits, Erich (2011): Bildung - Kampfbegriff oder Pathosformel. Über die revolutionären Wurzeln und die bürgerliche Geschichte des Bildungsbegriffs, Löcker Verlag, Wien.

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2000 Zeichen abwärts

Immun gegen Zecken

Ein Freund hat meiner Frau erzählt, dass er seine Zecken-FSME-Immunität oder so hat überprüfen lassen, als die "Auffrischung" seiner Impfung angestanden ist. Das kostet die Hälfte der Impfung. Es hat sich rentiert, er ist noch ein paar Jahre immun. Meine Frau ist in Sachen Vorsorgemedizin sehr gewissenhaft. Aber sie hat es so gemacht wie der Freund. Gleichzeitig mit der jährlichen Gesundenuntersuchung. Als sie zur Besprechung der Befunde beim Hausarzt war, hat der wegen des noch fehlenden Immunitätsbefunds im Labor angerufen und meine Frau dann gleich geimpft. Am nächsten Tag kam der Befund mit der Post - sie ist mindestens noch weitere fünf Jahre immun. Ein Irrtum? Die Vorzimmerdame jedenfalls hat das Geld für die Impfung umgehend retourniert. Nach ein paar Tagen kam ein Brief vom Doktor. Er will das Geld zurück, die Impfung sei zur Sicherheit notwendig.

Ich bin ein Medizinmuffel. Aber weil ich meinem Tod um mindestens dreißig Jahre näher bin als meiner Geburt, folge ich meiner Frau zum Jahrescheck. Auch meine Zeckenempfindlichkeit hab ich da gleich überprüfen lassen. Schließlich hab ich lediglich einmal vor so zwanzig Jahren die erste Teilimpfung bekommen. Damit sie mich nicht für blöd oder grob fahrlässig halten, sag ich: ich bin vor acht Jahren geimpft worden. Der Befund sagt: Ich bin immun. Einfach so. Die Hausärztin (wir haben gewechselt) sagt: Aber nächstes Jahr wird es doch Zeit zu impfen. Hab ich Recht, wenn ich das Gefühl hab, da geht es nicht bloß um meine Gesundheit, da sind auch höhere Werte mit im Spiel?

A.W.

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Rückkopplungen

I feel Love

von Roger Behrens

Haare. - Der Protest gegen das Establishment muss sich gegen dieses als Ganzes richten. Das ist auch schon in den Sechzigern keine leichte Aufgabe. Der korporative Kapitalismus ist bis in die äußersten Innervationen der menschlichen Lebenszusammenhänge eingedrungen. Widerstand braucht deshalb, so Herbert Marcuse 1969 in seinem "Essay on Liberation", eine biologische Grundlage; er nennt sie "Neue Sensibilität". Sie formiert sich zunächst diffus, in ihren Anfängen jenseits der Dialektik der Auf klärung. Nichtstun, lange Haare, Singen und Tanzen im Central Park; die jungen Leute feiern das Zeitalter des Wassermanns - was immer das auch sein soll. Es ist jedenfalls nicht der Vietnam-Krieg und auch nicht die Hölle der Normalität. Seine größte Wirkung hat der Protest auf der Bühne. "Hair" gilt als eines der erfolgreichsten Musicals überhaupt. Die über dreißig Songs sind zum Mitsingen; der Applaus lässt für einen Moment die Schrecken der Welt vergessen. Bei der deutschen Erstaufführung des Musicals im Oktober 1968 in München spielt auch die neunzehnjährige Donna Summer mit.

In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts diversifizierte und differenzierte sich endgültig die Massenkultur bis zu ihrer Auf hebung: Die Extreme von Rock und Pop konvergierten, das starre Schema der Genres löste sich auf, eine Vielzahl neuer Genres entstand. Popmusik war nun nicht mehr bloß das, was sie als Abkürzung für einen Mainstream bedeuten sollte, nämlich populäre Musik, sondern Kunst, ästhetische Form, Pop-Art. Die von Adorno bereits in den sechziger Jahren diagnostizierte Verfransung der Künste - "ein falscher Untergang der Kunst" - setzt sich hier fort: in einer als Freizeit und Alltag realisierten Kultur wird in verkehrter Weise das Programm der revolutionären Avantgarden eingelöst, Kunst in Lebenspraxis zu überführen. Die Rede von der postindustriellen Gesellschaft, die damals auf kapitalistische Schwer- und Schlüsselindustrie bezogen war, auf Stahl und Chemie, ist durchaus auch für die Kulturindustrie signifikant; in der von der Krise der politischen Ökonomie (Ölkrise, Arbeitslosigkeit, Krise des Wohlfahrtsstaates, Neue soziale Bewegungen etc.) erschütterten Gesellschaft wird nun die "Kultur" nicht allein nur "industriell" implementiert: die Ästhetisierung des eigenen Lebens vollzieht sich nach der Ideologie der Selbstverwirklichung, der Selbstregierung, der Selbsterfindung als Individuum: "Let The People Rule" propagierten nicht nur die Subkulturen als D.I.Y. [Do it yourself]-Strategie, sondern ebenso die Politik des Neoliberalismus, Reagan und Thatcher.

Das nicht mehr ungeheure Spektakel. - Karl Marx eröffnet 1867 den ersten Band des "Kapitals" programmatisch mit den berühmten Worten: "Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine 'ungeheure Warensammlung'." Guy Debord modifiziert einhundert Jahre später, am Vorabend des Mai 68: "Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln." Mit den in den siebziger Jahren sich durchsetzenden Entwicklungen brauchen diese Diagnosen eine entscheidende Korrektur: weder die Warensammlung noch ihr Ausdruck in Spektakeln ist ungeheuer. Die Warensammlung wird zum gewöhnlichen, selbstverständlichen, allseits und immer verfügbaren Angebot einer permanenten Zirkulation: alles ist lieferbar, die ganze Welt steht als Ware zur Verfügung. Der Konsum ist tendenziell nicht mehr ein ritueller Verzehr eines besonderen Gegenstandes, sondern ein quasi autopoetischer Mechanismus, aus dem heraus sich die Waren selbst zu erneuern scheinen: die Dinge verschwinden nicht aus dem Regalen, weil und wenn sie "alle" oder "aus" sind, restlos verkauft (die Konsumptionssphäre im Realsozialismus), sondern weil und wenn sie aus der Mode sind, weil und wenn sie ersetzt werden durch Neuware.

"Ooh!" - Es gilt das Prinzip, dass die neue Ware im Angebot nicht zu neu sein darf. Sie muss an das Bekannte, Bewährte anschließen, ohne damit identisch zu sein. In den Siebzigern gab es hier einen größeren Spielraum. Auch in der Musik wurde mit einigem Erfolg das banal-postmoderne "Anything goes" ausprobiert. Nicht zuletzt ermöglichte die technologische Entwicklung - Synthesizer, Effektgeräte, Hi-Fi, Sound-Systems - neue Klänge. Mit ihnen wurde die Gegenwart nicht nur in einer noch nie gehörten Weise hörbar, sondern auch tanzbar. Die bunten Lichter, die vorher höchstens als Ampeln den Verkehr regelten oder bieder das Gartenfest beleuchteten, schufen einen neuen Sternenhimmel, ließen das Leben buchstäblich als Spektakel erstrahlen, Scheinwerfer in Regenbogenfarben oder zuckend als Stroboskoplicht. Muffige Keller wurden zu Hobbyräumen mit Hausbar vor der Fototapete mit dem Südsee- oder Waldmotiv; der Individualismus eroberte die Massenkultur, die Pauschalreisen hießen jetzt Club-Urlaub, der Alltag verwandelte sich zu einer Dauer-Party, alles war sportlich, alles versprach Spaß. Unablässig wurde geraucht und getrunken, aber alles in Maßen, Konformismus des Rausches. Das Leistungsprinzip konvergierte endgültig mit dem Lustprinzip. Das authentische Leben gab es am Wochenende, in der Diskothek; das Elend der Arbeit wurde zwar als freudlos durchschaut, aber als notwendiges Übel akzeptiert: "I don't like Mondays" singen 1979 die Boomtown Rats. Und "Thank God it's Friday" heißt die Devise, um sich dem "Saturday Night Fever" hinzugeben. Die Lokale werden üppig ausstaffiert, die Verhältnisse wünscht man sich feudal. Die Freizeit wird vom Adel regiert, die Popkultur von Königen beherrscht. Und das Volk jubelt ihnen zu. Donna Summer ist die Disco Queen. Sie setzt die Körper zum Rhythmus der Maschine in Bewegung: "I Feel Love". Der Text: "it's so good", "heaven knows", "falling free", "you and me", "I got you", "what you do" und dazu immer wieder ein gehauchtes, langes "Ooh!". Die Musik: eine modulierte Synthesizer-Klangfläche in arpeggio-hafter Wiederholung, schnell, treibend, tief - Antizipation von Techno. Giorgio Moroder, Pionier elektronischer Popmusik, hat das Stück arrangiert.

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Auslauf

von Petra Ziegler

Kein Zustand

Nicht genug könnten wir bekommen, jetzt haben wir die Krise, und recht geschieht uns. Dabei lassen wir uns bereitwillig mit Krümeln abspeisen. Wir reduzieren unsere Ansprüche, noch bevor wir Bedürftigkeit eingestehen. Eins schleppt sich, und die Aussichten werden kaum besser. Mit allerlei konsumindustriellen Leckerlis auf halbsatt trainiert, erahnen wir, woran uns mangelt nur schemenhaft. Die leise Verheißung lebendiger Fülle, ein vages Gefühl, eher latent denn akut. Dazu irgendwie unerlaubt. Immerhin schmeckt Sehnsucht bittersüß.

Es geht auch übler: Angst, Missgunst, Rachegefühle, Abwehr, Wut und Ressentiment. Lust auf Abwegen. Unlust. Trübsinnige Leidenschaft nannte es Spinoza, den bekanntlich auch schon die Frage umtrieb, weshalb gar nicht wenige "für ihre Sklaverei, als wäre es ihr Glück", kämpfen. Galliger Genuss, aus (Selbst-)Unterwerfung gezogen. Die Zumutung, sich den Zumutungen zu entziehen, ist dann nur eine Kränkung mehr. Sieht eins bloße Willkür, persönliche Maßlosigkeit, lasterhaften Schlendrian, erscheint das Verlangen, die systemische Zwangsjacke abzuwerfen, gänzlich unverständlich. Gut geübte Anpassung will mit Vehemenz verteidigt sein. "Weil sie das Glück selbst zu hassen begonnen haben und es in diesem Hass verkleidet genießen, brauchen sie die Fiktion des anderen als eines echten Besitzers des Glücks, den sie dann genauso hassen wie dieses Glück. Denn sie dürfen sich ja nicht eingestehen, dass sie selbst den Hass auf das Glück dem Glück vorgezogen haben." (R. Pfaller) Zur Zielscheibe wird, wer sich - wenn auch nur scheinbar - nimmt, was eins sich selbst verbietet. Mindestens simulierte Leistungsbereitschaft darf doch erwartet werden. Wenigstens so tun als ob. Beschissen wird sowieso. Gaukelei bis hin zum Betrug stört den Betrieb wenig, solange sich nicht irgendein Rotzlöffel ganz offen frech am Eigentum vergreift. (Wer sich derart ins gesellschaftliche Out stellt, braucht sich hinterher nicht zu wundern.)

Einem nimmersatten Götzen gedient, einem verrückten Diktat unterstellt, dafür gerackert haben? Es wäre mehr, als eins ertragen könnte. Und nichts, wovon eins wissen wollte. Das Unglück nur beim Namen zu nennen, fordert vorauseilend Denkverbot. Herr und Herrin sein, darauf besteht so ein Ego. Schließlich kann eins heutzutage tun und machen oder auch lassen, was es will und wenn es nur will. Warum wir sollen, ist hier auch gar nicht die Frage. Zugestanden, die Dinge laufen falsch, das schon, es lässt sich schwerlich übersehen. Eins hat ja kritischen Verstand und scheinbar alle Zeit der Welt: Eine gesellschaftliche Alternative mit Rückgabegarantie und Last-minute-Rabatt, zahlbar in monatlichen Raten, derart erschiene adäquat; gibt es nur leider nicht am Markt.

Unsere Spezies scheut kaum ein Risiko, geht es darum, den prekären Status quo zu erhalten. Verlustängste trüben die Sicht. Die Verwerfungen, mit denen uns der Verwertungszwang (bereits handgreiflich) konfrontiert, verschwimmen zum geringeren Übel. Wir halten uns an dem was wir zu haben glauben. werch ein illtum! Der Fetischismus von Ware und Geld hat uns - fest im Griff und lässt nicht locker.

Unsere Realität ist die Konsequenz einer blinden Dynamik, ein Extremfall sachlicher Fremdherrschaft. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Anstatt unser Potential zu verwirklichen, schlagen wir uns um die mickrigen Reste, die bei der Produktion abstrakten Reichtums für uns abfallen. Ein schlichtweg unannehmbarer Zustand. (Selbst wenn die Reste - rein rechnerisch - für alle reichen würden.) Unvereinbar mit der Lust am Leben und dem Leben selbst. Lust, noch einmal Spinoza, "ist der Übergang des Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit", geht Hand in Hand mit Entfaltung. Unlust lässt uns und unser geistiges, sinnliches, kreatives Vermögen verkümmern. Ein Vergehen an unseren Möglichkeiten. Letztlich unverzeihlich.

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AutorInnen

Roger Behrens, 1967. Lebt in Hamburg, Weimar und Belo Horizonte. Philosoph und Sozialwissenschaftler. An Universitäten, bei testcard und Zeitschrift für kritische Theorie tätig.

Meinhard Creydt, 1957. Soziologe und Psychologe, lebt in Berlin. www.meinhard-creydt.de

Lorenz Glatz, 1948. Streifzüge-Redakteur.

Severin Heilmann, 1976. Streifzüge-Redakteur.

Lukas Michael Hengl, seit 31 Jahren Betreiber eines Selbst. Lebt in Klosterneuburg und Wien und ist als Barkeeper, Yogalehrer, Künstler und Kunstvermittler tätig.

Peter Klein, 1947. Lebt in Nürnberg; seit 1970 politisch aktiv. Autor von "Die Illusion von 1917". Verheiratet, eine Tochter, Brotberuf Arzt. "Traforat" der Streifzüge.

Ernst Lohoff, 1960. Lebt in Nürnberg. Mitgründer von krisis, (vogel)freier Publizist. Zuletzt Mitautor von "Die große Entwertung", Münster 2012. Hat einen erwachsenen Sohn.

Dominika Meindl, 1978. Studium der Philosophie. Lebt als freibeutende Schreibmaschine von Texten aller Art, Bloggerin und Poetry Slammerin in Linz. minkasia.blogspot.com

Stefan Meretz, 1962. Lebt in Berlin. Informatiker. Schwerpunkte: Freie Software und Technikentwicklung. Aktiv u.a. bei Oekonux und keimform.de, "Traforat" der Streifzüge.

Peter Mitmasser, 1939. Verheiratet, zwei Kinder. Einkaufleiter, 1991 Einkäufer des Jahres, seit 2002 in Pension. Studium der Kommunikations- und Politikwissenschaften.

Elisabeth Pein, 1948. Lebt in Wien. Psychologin, Theater-, Film- und Medienwissenschafterin sowie Sozialtherapeutin. 2008 gründete sie die Friederike Mayröcker Gesellschaft.

Peter Pott, 1937. Bis 2002 Prof. für Politik und Philosophie an der FHS Bielefeld. Lebt in der Kommune Kleekamp in Westfalen. www.peter-pott.de, www.kommune-kleekamp.de

Erich Ribolits, 1947. lebt in Wien. Bildungswissenschafter an mehreren Unis. Zuletzt "Bildung - Kampfbegriff oder Pathosformel", Wien 2011. "Traforat" der Streifzüge.

Peter Samol, 1963. Lebt in Herford. Studium der Philosophie und der Soziologie. Freier Journalist und "hauptberuflicher" Vater eines Sohnes.

Franz Schandl, 1960. Streifzüge-Redakteur.

Martin Scheuringer, 1980. Streifzüge-Redakteur.

Ricky Trang, Streifzüge-Redakteur.

Norbert Trenkle, 1959. Lebt in Nürnberg. Von der Betriebswirtschaft in die Ökonomiekritik getrieben. Freier Publizist; Redakteur der krisis. Zuletzt Mitautor von "Die große Entwertung", Münster 2012.

Andreas Wally, Gelegenheitsautor von 2000 Zeichen abwärts - wenn ihm was bis auf die Lippen aufstößt.

Maria Wölflingseder, 1958. Streifzüge-Redakteurin.

Petra Ziegler, 1969. Streifzüge-Redakteurin.

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Quelle:
Streifzüge Nr. 55, Sommer 2012
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2012