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STREIFZÜGE/027: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 54, Frühling 2012


Streifzüge Nummer 54 / Frühling 2012

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde


INHALT

Tomasz Konicz: Wohin treiben wir?

Franz Schandl: Without money!
Für die Abschaffung eines substituierten Gewaltverhältnisses

Julian Bierwirth: Kritik und Affirmation.
Zur Auseinandersetzung mit der Geldpfuscherei

Lorenz Glatz: Bei der Freundschaft hört sich das Geld auf.
Anläufe zu einem Verständnis

Andreas Exner: Mythos Geld. Ein Diskussionsanstoß in 5 Akten

Alfred Fresin: Produktionsverhältnis weg, Staat weg - Geld passé!

Stefan Meretz: Peer-Produktion und gesellschaftliche Transformation.
Zehn Diskursfiguren aus dem Oekonux-Projekt

Jan-Hendrik Cropp: Landnutzung ein Stück weit demonetarisieren

Bernd Mullet: Weg mit dem Handel

Home Stories: mit Beiträgen von Severin Heilmann und Franz Schandl

Peter Klein: Der Terror der Positivität.
Anmerkungen zu Byung-Chul Hans "Müdigkeitsgesellschaft"

Petra Ziegler: Terra incognita. Stichworte zur Kritik

Kolumnen
Dead Men Working: Maria Wölflingseder
Immaterial World: Stefan Meretz

Rubrik 2000 abwärts
Julian Bierwirth (J.B.)

Rezension
Lorenz Glatz (L.G.) zu Raúl Zibechi: Territorien des Widerstands
Lorenz Glatz (L.G.) zu W. Rätz, T. von Egan-Krieger (Hrsg.):
Ausgewachsen! Ökologische Gerechtigkeit. Soziale Rechte

Raute

Einlauf

von Petra Ziegler

Die Liebe selbst habe nicht mehr Menschen zu Narren gemacht als das Grübeln über das Wesen des Geldes, zitiert Marx einen Zeitgenossen und beginnt damit seine eigenen Ausführungen zum Thema. Das Problem ist also nicht neu, eine Annäherung nicht ohne Risiko.

Den einen erscheint das Geld als bloßer Schleier, zweckneutral (es kommt nur darauf an, was eins daraus macht), die anderen wollen die Übel des Kapitalismus alleine in der Gier nach dem schnöden Mammon festmachen und zu schlechter Letzt reduziert sich die Missbilligung einer offenbar wachsenden Zahl (mal wieder) auf die Ablehnung zinstragenden Kapitals. Rette es, wer kann - das Geld.

Mitten aus den Zerfallserscheinungen warenvermittelter Geldzirkulation träumt sich die gelernte Geldmonade in eine kleine, scheinbar heile Welt geldvermittelter Warenzirkulation. Geldkritik, losgelöst von gesellschaftlicher Formkritik, spart (nicht nur) die Marktwirtschaft aus, sie fragt nicht nach ihren eigenen Bedingungen und erkennt darin auch kein Versäumnis.

Am Geldsystem ist nichts zu retten. Statt aus dem Vollen zu schöpfen, erschöpfen wir uns tagtäglich an den Beschränktheiten der Waren- und Geldform. Das Denken in Geld und Finanzierbarkeit unterwirft uns den Regeln eines absurden Selbstzwecks, gegen den alles andere zurückstehen muss. Was es braucht, sind nicht Vorschläge einer Verbesserung, sondern Verweigerung. Demonetize it!

Zur Geldpfuscherei, zu den Mythen rund ums Geld und die Gewalt, die seinem innersten Wesen zugrunde liegt, über unser Leben als "Tauschgegner" und wie es sich mit dem Geld aufhört, darüber ist in dieser Ausgabe zu lesen. Wir wünschen eine gute Zeit damit, Frühling wird's auch.

PS: Unzweifelhaft, die Zumutungen des Geldes, erst recht, ist kaum welches vorhanden, fressen Lebenszeit und -energie. Was sollen wir sagen? Allein hier zu schreiben, dass wir ein Leben ohne Geld wollen, kostet welches. Wer unsere Texte mag, möge dazu beitragen, dass sie hier (ent)stehen können. Wenn wer sich's leisten kann. Eh klar. Dann aber seid so lieb!

Raute

Wohin treiben wir?

von Tomasz Konicz

Der inneren Logik seiner Krisendynamik überlassen, wird das in Agonie liegende kapitalistische System in Barbarei umschlagen.

Deutschlands Managerkaste reißt beim Thema Griechenland langsam der Geduldsfaden. Inzwischen sprechen sich auch Spitzenvertreter der deutschen Kapitalverbände dafür aus, Hellas aus der Eurozone auszuschließen. Dies forderte etwa der Bosch-Chef Franz Fehrenbach gegenüber dem Manager Magazin Mitte Februar. Griechenland sei "marode und in einer Solidargemeinschaft eine untragbare Belastung", polterte der Kapitalfunktionär in dem Interview. Fehrenbach steht mit seiner Meinung wahrlich nicht allein dar. Einer Umfrage des Manager Magazin zufolge wünschen sich inzwischen 57 Prozent von 300 befragten Funktionsträgern aus dem deutschen Spitzenmanagement, dass Griechenland aus der Eurozone ausscheidet. In Deutschland gewinnen somit Bemühungen Oberhand, Griechenland möglichst günstig zu "entsorgen", nachdem das Land aufgrund der kollabierenden Wirtschaft nicht mehr als Absatzmarkt deutscher Exporte fungieren kann.

Ein ganzes Land wird hier von der deutschen Managerkaste "abgeschrieben", zur Desintegration freigegeben, die den sozioökonomischen Zusammenbruch Griechenlands vollenden wird, der durch den von Berlin und Brüssel oktroyierten Sparterror eingeleitet wurde - und wir können uns sicher sein, dass dieser Reflex des Ausschlusses ganzer Volkswirtschaften auch in Bezug auf die anderen südeuropäischen EU-Staaten in der deutschen Öffentlichkeit überhandnehmen wird, sobald der Krisenprozess auch bei diesen Ländern weiter voranschreitet und sie sich am Rande des Zusammenbruchs wiederfinden.

Eigentlich würde bei der Exklusion Griechenlands aus der Eurozone nur eine ökonomische Krisentendenz auch politisch und institutionell exekutiert. Die gegenwärtige Krise ist letztendlich eine Krise kapitalistischer Lohnarbeit, die zwar die Substanz des Kapitals bildet, aber aufgrund der gigantischen Produktivitätsschübe der mikroelektronischen Revolution immer schneller aus der Warenproduktion verschwindet. Dieser nüchtern betrachtet absurde Charakter der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus, der unter einer selbst hervorgebrachten Produktivität erstickt, brachte eine mörderische Verdrängungs- und letztendlich Vernichtungskonkurrenz mit sich, in der sich die hoch entwickelte und produktive deutsche Industrie - auch dank des Lohnkahlschlags hierzulande - durchsetzen konnte. Die deutschen Wirtschafts- und Exporterfolge sind nur aufgrund der Verschuldung und Deindustrialisierung in anderen Ländern Europas möglich gewesen. Tatsächlich sind insbesondere die Länder Südeuropas und auch Großbritannien in den vergangenen Jahren weitgehend deindustrialisiert worden; eine Kapitalverwertung im nennenswerten Maßstab, die die Reproduktion der gesamten Gesellschaft ermöglichte, ist dort kaum noch drin. Dieser Deindustrialisierungsprozess in vielen Ländern Europas und der Welt wurde nur durch die Verschuldungsprozesse - und die damit einhergehenden Defizitkonjunkturen - der vergangenen Jahrzehnte verschleiert.

Nach dem Platzen der Schuldenblasen schlägt nun die Krise voll durch, und die kapitalistischen Arbeitsgesellschaften der südlichen Peripherie der Eurozone zerbrechen an einem Mangel von Lohnarbeit und dem Verschwinden der industriellen Warenproduktion. In Griechenland, Portugal, Italien oder Spanien liegt die Industrieproduktion immer noch 20 bis 40 Prozent unter dem Vorkrisenstand. Der Wirtschaftseinbruch in Südeuropa wird nicht mehr von einem späteren Aufschwung abgelöst werden. Diese Einbrüche deuten vielmehr auf eine permanente Deindustrialisierung in diesen Ländern hin. In der Peripherie der EU findet somit ein dauerhafter wirtschaftlicher und sozialer Abstieg statt. Es ist, als ob die "Dritte Welt" sich von Nordafrika über das Mittelmeer bis nach Südeuropa ausbreiten würde. Es findet derzeit ein neuer Schub des Prozesses des "Abschmelzens" der relativen Wohlstandsinseln der "Ersten Welt" im globalen Maßstab statt - und Südeuropa ist hiervon besonders stark betroffen.


Drängelei auf der Titanic

Letztendlich verwandelt sich die Peripherie der Eurozone in eine Region, die für das Kapital "verbrannte Erde" darstellt, bei der kaum noch Akkumulationsprozesse ablaufen. Dies ist aber auch nur die neueste Phase eines langfristigen, dekadenlangen Prozesses. Die Krise frisst sich von der Peripherie ins Zentrum des kapitalistischen Weltsystems durch. In den späten 70er Jahren waren es die Entwicklungsdiktaturen der "Dritten Welt", die mit ihren Modernisierungsversuchen scheiterten. Diese Regionen - etwa das subsaharische Afrika - spielen in der hiesigen Öffentlichkeit nur noch in puncto Flüchtlingsabwehr eine Rolle. Der ökonomische Zusammenbruch dort ist längst im öffentlichen Diskurs zur - oftmals mit rassistischen Stereotypen angereicherten - "Normalität" geronnen. Ab den 90ern desintegrierte sich der Staatskapitalismus des Ostblocks, wo etliche Regionen den totalen Absturz mitsamt brutalen Bürgerkriegen erlebten (wie etwa im ehemaligen Jugoslawien), und einige Länder zur Peripherie westlichen Kapitals - hier insbesondere Deutschlands - zugerichtet wurden.

Beim gegenwärtigen Krisenschub greift die Krise auf die Zentren über, und die europäische Krisenpolitik besteht im Grunde darin, diejenigen Staaten mit der vollen Last der Krisenfolgen zu konfrontieren, die von der Krisendynamik voll erfasst wurden. Für diese Politik kann die Allegorie der sinkenden Titanic gewählt werden, bei der die Passagiere der ersten Klasse diejenigen der zweiten und dritten über Bord werfen, um noch etwas Zeit zu gewinnen - bis sie selbst an die Reihe kommen. Es handelt sich hierbei schlicht um das berüchtigte "Rette sich, wer kann", das vom Zentrum auf Kosten der Peripherie der Eurozone durchgesetzt wird.

Die objektiv aus dem Krisenprozess resultierende Exklusion immer größerer "überflüssiger" Teile der Menschheit aus der Kapitalverwertung findet ihre ideologische Legitimierung in den entsprechenden rechtsextremen Diskursen, die den Bewohnern der betroffenen Länder eine rassisch oder kulturalistisch grundierte Minderwertigkeit andichten. An Deutschlands Stammtischen will man ja wissen, dass die "Südländer" schlicht zu anständiger Arbeit unfähig sind und sich deswegen verschuldet hätten, um auf Kosten der hart arbeitenden Deutschen ein Lotterleben zu führen. Die Opfer des Krisenprozesses werden so zu den Verursachern der Krise ideologisiert, indem die Krisenursachen zu Eigenschaften einer bestimmten Personengruppe halluziniert werden.


"Es reicht nicht mehr für alle"

Dieser verheerende ideologische Mechanismus der Personifizierung oder Verdinglichung von Krisenursachen baut nicht nur die "faulen Südländer" zu Feindbildern auf. Einer soziologischen Studie der Uni Jena (Dörre, Klaus u.a.: Guter Betrieb, schlechte Gesellschaft? Arbeits- und Gesellschaftsbewusstsein im Prozess kapitalistischer Landnahme. In: Koppetsch, Cornelia (Hrsg.): Nachrichten aus den Innenwelten des Kapitalismus. VS Verlag, Wiesbaden 2011, S. 21-50) zufolge, sind ähnliche Haltungen auch innerhalb der abschmelzenden Arbeiterklasse verbreitet. Insbesondere innerhalb der Stammbelegschaften entwickle sich eine Art Wagenburgmentalität: "Die eigenen Chancen auf Beschäftigungssicherheit steigen, wenn man den Club der Festangestellten einigermaßen exklusiv hält." Als Feindbilder sind innerhalb dieser Schicht die Arbeitslosen beliebt. Rund 50 Prozent der befragen westdeutschen Facharbeiter stimmten der Aussage zu, "auf Arbeitslose solle größerer Druck ausgeübt" werden, ein weiteres Drittel stimmte der Intensivierung der Schikanen gegen Erwerbslose "teilweise" zu. Nahezu die Hälfte der westdeutschen Arbeiter bekannte sich auch zum unverblümten Sozialdarwinismus, indem sie folgende Aussage unterstützten: "Eine Gesellschaft, in der jedermann aufgefangen wird, ist nicht überlebensfähig." Es herrsche innerhalb der Belegschaften das Gefühl vor, dass "es nicht mehr für alle reichen" würde, so die Interpretation der Umfrageergebnisse durch die Autoren der Studie. Generell können also alle, die aus dem Prozess der Kapitalverwertung herausfallen, für die Krise verantwortlich gemacht werden. Wobei die reaktionäre Krisenideologie der Personifizierung von Krisenursachen inzwischen sehr weit verbreitet, nahezu mehrheitsfähig ist.

Doch zugleich scheinen viele Menschen tief in den Eingeweiden zu ahnen, dass dieses Gerede von den "faulen Südländern und Arbeitslosen" nur zur Legitimierung der Marginalisierung dieser Bevölkerungsgruppen dient. Die Ahnung, dass irgendwas fundamental schief läuft, ist durchaus weit verbreitet - doch daraus folgt keineswegs der Impuls zur Überwindung des bestehenden Systems. Stattdessen werden die Ideologeme des in Auflösung übergehenden kapitalistischen Systems in einer Art Abwehr- und Beißreflex ins Extrem getrieben. Es soll mehr Druck auf Arbeitslose, mehr Druck auf Griechenland ausgeübt werden. Die Exklusion als zentrales Mittel der kapitalistischen Krisenpolitik wird so zementiert.

Dabei wird die massive Zustimmung vor allem in der BRD zu solchen letztendlich sadistischen Terrormaßnahmen gegen die Opfer der Krise in erster Linie nicht durch den ideologisch verblendeten Glauben an die Wirksamkeit solcher Maßnahmen motiviert. Es geht hier eher um einen unbewussten psychischen Mechanismus, der dem deutschen Untertanencharakter eigen ist. Der Ruf nach Bestrafung, nach knallhartem Sparterror gegenüber den südeuropäischen "Schuldenländern" ist vor allem deshalb so laut vernehmbar, weil die Lohnabhängigen in Deutschland spätestens mit den Hartz-IV-Gesetzen zu Lohnverzicht und umfassender Prekarisierung des Berufslebens genötigt wurden, was ja erfolgreich als ein notwendiges Opfer auf dem Altar des "Wirtschaftsstandorts Deutschland" legitimiert wurde. Im Zuge dessen ist die Ökonomie zur zentralen Legitimationsinstanz des öffentlichen Diskurses erhoben wurden. Dieser dominante Ökonomismus lässt den Hass auf alle hochkochen, die das unter großen Opfern aufrecht gehaltene Funktionieren der Wirtschaftsmaschinerie scheinbar behindern, was die Studie "Die Mitte in der Krise" so formulierte: "Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele - präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen - verstärkt einen autoritären Kreislauf. Sie führt zu einer Identifikation mit der Ökonomie, wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht." (http://library.fes.de/pdf-files/do/07504.pdf)

Es handelt sich hierbei um schlichtes Untertanendenken, bei dem die Wut sich gegen alle Menschen richtet, die sich den Prämissen der gerade Amok laufenden "Ökonomie" nicht beugen wollen oder können - und etwa in Griechenland Generalstreiks durchführen, anstatt sich duckmäuserisch in Lohnraub und Hartz-IV-Zwangsarbeit zu fügen. Für alle Menschen, die die Prämissen der Ökonomie verinnerlicht haben und deswegen Verzicht üben, muss die Rebellion gegen die wirtschaftlichen "Sachzwänge" unerträglich scheinen. Es ist der Hass auf das halluzinierte Glück der imaginierten "Leistungs- und Arbeitsverweigerer", angetrieben durch ungeheuren Triebverzicht, der aus der Unterordnung unter das eiserne und beständig sich verhärtende Regime der kontrahierenden Kapitalverwertung resultiert, der die übriggebliebenen Monaden vor Wut schäumen lässt. Der beständig zunehmende Druck von oben auf die im Dauerstress irregehenden Einzelnen in der Burnout-Republik Deutschland sucht sich beständig neue Hassventile, Sündenböcke und Opfer.


Die deutsche Leistungsgemeinschaft

Das zentrale Transmissionsband, das die herrschende kapitalistische Ideologie ins Extrem treibt und den Prozess der Exklusion legitimiert, bildet der totalitäre Ökonomismus, die "Identiion mit der Ökonomie", der längst einen konsensartigen Charakter im öffentlichen Krisendiskurs errungen hat. In der Epoche des Zusammenbruchs der kapitalistischen Ökonomie ist die korrespondierende Ideologie ein letztes Mal bestrebt, die gesamte sich desintegrierende Gesellschaft in ihren eisernen Griff zu pressen. Die gesamte Gesellschaft, die menschliche Geschichte, ja die Existenz als solche wird durch den Wahnblick der betriebswirtschaftlichen Logik wahrgenommen. Die Krise soll dadurch überwunden werden, dass die der Kapitalverwertung entstammende betriebswirtschaftliche Logik der maximalen Effizienz und Kostenreduzierung ins Extrem gesteigert und auf die Gesamtheit der Existenz angewendet wird. Alles und jeder wird auf seine Verwertbarkeit und Nützlichkeit geprüft, überall wird nach "Schmarotzern" und "Parasiten", nach Kostenfaktoren Ausschau gehalten, alle haben unter Beweis zu stellen, der Deutschland-AG nicht zur Last zu fallen und eine produktive Funktion im Wirtschaftsstandort Deutschland einzunehmen.

Die Nation wird zusehends als eine "Leistungsgemeinschaft" wahrgenommen, die gegen "unproduktive" Elemente und "Kostenfaktoren" vorgehen müsse: von den renitenten Griechen über faule Arbeitslose bis zu den arabischen Migranten, denen ein Thilo Sarrazin genetisch bedingte Leistungsunfähigkeit andichtete. An der Sarrazin-Debatte, die einem zivilisatorischen Dammbruch in Deutschland gleichkam, lässt sich sehr gut diese zunehmende Dominanz des Ökonomismus auch innerhalb rechtsextremer Ressentiments belegen. Die rassistische Hetze gegen Migranten aus dem arabischen Raum, die Sarrazin entfaltete, diente ja vor allem dazu, diese Gesellschaftsgruppe als einen ökonomisch unproduktiven Kostenfaktor zu brandmarken. Während der Sarrazin-Debatte verschmolzen die rechtsextremen Feindbilder des Ausländers und des Sozialschmarotzers, wie anhand der folgenden Zitate Sarrazins offenbar wird: "In Berlin leben zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, von Hartz-IV und Transfereinkommen. ­... Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. ... Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln. Das gilt auch für einen Teil der deutschen Unterschicht."

An diesen Zitaten wird eine "Rationalisierung" des Ressentiments deutlich, das die Imperative der Kapitalverwertung zu seiner Maxime hat. Bei dem korrespondierenden Ökonomismus wird also die gesamte Gesellschaft konsequent den kapitalistischen Rentabilitätskriterien unterworfen. Hier wird also tatsächlich das liberal-kapitalistische Rentabilitätsdenken aus der "Mitte" der Gesellschaft von Sarrazin konkret ins Extrem getrieben. Eine Existenzberechtigung hat nur das, was zur Kapitalverwertung beiträgt. Hier kommt der Begriff des Rechtsextremismus ganz zu sich: Es ist die Ideologie der "Mitte", die in ihrer mörderischen Konsequenz zu Ende gedacht wird. Der demokratische Lack blättert ab, und der barbarische Kern kapitalistischer Vergesellschaftung - Konkurrenz und Selektion - kommt offen zum Vorschein.

Im Endeffekt erkennt Sarrazin die "Überflüssigen" des Kapitalismus nicht mehr als Menschen an - und ihm tuen es Millionen anderer Monaden gleich, die sich in der zerfallenden Tretmühle der Lohnarbeit einem immer stärkeren Druck ausgesetzt sehen. Gerade hierin liegt das implizit mitschwingende massenmörderische Potenzial dieser an Kontur gewinnenden Ideologie. Und selbstverständlich trifft diese Krise der Arbeitsgesellschaft zuerst die Arbeitsmigranten, die ja in die BRD angeworben wurden, um die einfachen Dreckarbeiten zu erledigen, die während des Booms der 50er und 60er Jahre kaum ein Deutscher mehr verrichten wollte. Es sind aber gerade diese einfachen Tätigkeitsfelder, die in den letzten Dekaden von den Rationalisierungsprozessen besonders stark erfasst wurden. Jetzt, da die billigen Arbeitskräfte aus der Türkei nicht mehr gebraucht werden, erklärt ein Sarrazin diese Menschen für genetisch minderwertig und leistungsunwillig - sie sollen verschwinden.

Dieser Amok laufende Ökonomismus kann perspektivisch alle "unproduktiven" Gesellschaftsgruppen treffen. Was da in vielen Mördergruben in der Mitte der Gesellschaft heranreift, offenbarte beispielsweise ein Skandal um Jan Dittrich, den ehemaligen Bundesvorsitzenden der FDP-Jugendorganisation Junge Liberale, der Rentner aufforderte, endlich "den Löffel abzugeben". Solche Tendenzen zur Exklusion von Opfern des Krisenprozesses sind vielfach bereits mehrheitsfähig, wie die Umfragen über weitere "Hilfspakete" für Griechenland unter Beweis stellten, die von der überwiegenden Mehrheit abgelehnt werden. Ob nun auf nationaler Ebene, im Betrieb oder in der Reihenhaussiedlung: Eine Art "Bunkermentalität" greift um sich, bei der die eigene soziale Stellung dadurch behauptet werden soll, dass die Krisenopfer für die Krise verantwortlich gemacht werden, um vermittels dieser Personifizierung der Krisenursachen die daraus folgenden Maßnahmen der Marginalisierung und Abstrafung zu legitimieren. Die unproduktiven Kostenfaktoren (wie Griechen, Arbeitslose, Alte), deren bloße Existenz die nationale Leistungsgemeinschaft belastet, sollen weg.

Dies ist letztendlich ein absurdes, aus dem Warenfetischismus entspringendes und ins Magische tendierendes Denken, das die Krisenursachen zu Eigenschaften von Menschen halluziniert. Diese irre Krisenideologie reflektiert dabei nur den irren Charakter der Krise. Die Ausgrenzung und Marginalisierung immer größerer Menschengruppen vollzieht sich gerade deshalb, weil das System an seiner Produktivität erstickt, die kaum mehr in das Korsett der Kapitalverwertung gezwungen werden kann. Das Elend breitet sich also gerade deswegen aus, weil die Produktionspotenzen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen immer weiter anwachsen. Die Wahnvorstellung "Es reicht nicht für alle" kann nur deshalb um sich greifen, weil die absurden fetischisierten Reproduktionsformen des Kapitalismus - bei denen die ganze Gesellschaft nur als eine Voraussetzung der selbstzweckhaften Kapitalreproduktion ihre Daseinsberechtigung hat - nicht mental durchbrochen werden. Das "Es", dass da nicht mehr für "alle" reicht, ist der kollabierende Prozess der Kapitalverwertung, die materiellen und technologischen Voraussetzungen eines guten Lebens für alle Erdenbewohner sind aber gegeben - und sie verbessern sich permanent mit dem Fortschritt der Produktivkräfte, der gegenwärtig die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengt.

Raute

2000‍ ‍Zeichen abwärts

Das Nadelöhr

Das Bild des Jahres 2008 zeigt einen Polizisten, der mit gezogener Waffe eine zu räumende Wohnung durchschreitet. Durch die Immobilienkrise konnten viele Wohnungsbesitzer*Innen die Raten an die Bank nicht mehr zahlen - und dann kam die Polizei. Aber was ist mit den Menschen geschehen, die noch kurz zuvor diese Wohnung als ihr zu Hause bezeichnen konnten? Viele der Betroffenen konnten kurzfristig bei Freund*Innen und Verwandten unterschlüpfen. Nicht wenige von ihnen landeten jedoch früher oder später in einer der riesigen Zeltstädte, die an den Rändern vieler US-Städte für einige Zeit neben der Staatsverschuldung das einzige waren, was noch ein veritables Wachstums aufweisen konnte. Während die Wohnungen ungenutzt leerstehen, sind ihre ehemaligen Bewohner*Innen hier ungeschützt den neugierigen Blicken von Passant*Innen, Journalist*Innen, wie dem Ordnungswahn des örtlichen Polizeidepartements ausgesetzt.

Dass die Menschen nicht mehr ihre bisherigen Wohnungen bewohnen dürfen und diese nun ungenutzt vermodern, liegt nicht an ihrer mangelnden Nützlichkeit. Sie stehen leer, weil es im Kapitalismus nur bedingt darauf ankommt, dass Dinge nützlich sind und benutzt werden. Als fundamentales Problem entpuppt sich vielmehr die Vermittlung von Wohnungsbedürfnis und Wohnung. Nur wenn hinter dem Wunsch zu wohnen auch eine zahlungskräftige Nachfrage steht, wird - wirtschaftswissenschaftlich gesprochen - aus dem Bedürfnis ein Bedarf. Und nur der taucht am Markt auf und nur der ist relevant für die Ökonomie. Nachdem noch jedes Einführungswerk in die Volkswirtschaftslehre zunächst stolz verkündet, in der Wirtschaft ginge es darum, Menschen mit notwendigen Gütern zu versorgen, wird diese Annahme bereits ein paar Zeilen später dahingehend relativiert, dass es eben doch nicht um nutzbare Dinge, sondern um bezahlbare Waren geht.

J.B.

Raute

Without money!
Für die Abschaffung eines substituierten Gewaltverhältnisses

von Franz Schandl

"Wer sollte nicht Reichtümer ganz entbehren, die doch nur elend machen und entehren?"
(William Shakespeare, Timon von Athen, Akt IV Szene 3, übersetzt von Erich Fried, Band 3, S. 339)

Gemeinhin gilt Geld als zivilisatorische Errungenschaft schlechthin. Einmal geschaffen kann es nie wieder abgeschafft werden. "Geld ist instituierte Selbstreferenz", schreibt Niklas Luhmann (Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, S. 16). Via Geld bestätigt sich das System seine Läufigkeit. "In diesem System ermöglichen Zahlungen Zahlungen. Dadurch ist eine im Prinzip unbegrenzte Zukunft eingebaut. Alle Dispositionen im System sichern zugleich die Zukunft des Systems. Jenseits aller Ziele, aller Gewinne, aller Befriedigung geht es immer weiter. Das System kann sich nicht beenden, da der Sinn des Geldes im Ausgeben des Geldes liegt." (S. 65) Wir leben also in einem System, das "Zukunftssicherheit in der Form der Zahlungsfähigkeit garantiert" (S. 66).

In der Zahlung vermittelt sich Geld als abstrakter Reichtum (vgl. MEW 42:160), "das Individuum kann das Geld nur brauchen, wenn es sich seiner entäußert, es als Sein für andres setzt" (MEW 42:154). "Die besondere Ware, die so das adäquate Dasein des Tauschwerts aller Waren darstellt, oder der Tauschwert der Waren als besondere, ausschließliche Ware ist - Geld." (MEW 13:34) Es hat nur Realität in der Zirkulationssphäre, aber eben durch diese Sphäre muss der ganze Warenpöbel gejagt werden.

Geld ist lediglich durch Weggabe (Entäußerung, Verleih) zu gebrauchen. Es kann eigenartigerweise nur konsumiert werden, wenn es seinen Besitzer verlässt. Problematisch ist bloß, wenn die Zahlungsketten stetig unterbrochen werden. Das weiß auch Luhmann: "Ein System, das auf der Basis von Zahlungen als letzten, nicht weiter auflösbaren Elementen errichtet ist, muss daher vor allem für immer neue Zahlungen sorgen. Es würde sonst von einem Moment zum anderen schlicht aufhören zu existieren." (S. 17) Den Zusammenbruch im Großen kann, weil darf es nicht geben, obwohl die Zusammenbrüche im Kleinen zu den alltäglichen Schönheiten des Kapitals gehören. "Wer nicht zahlen und was nicht bezahlt werden kann, wird vergessen." (S. 19) So weit, so obligat, so zynisch.


Geld als Gewalt

Geld trägt Knappheit Rechnung. Es sagt aber weniger, dass etwas knapp ist, als vielmehr, dass etwas knapp zu sein hat. Ist etwas nicht knapp, dann muss Knappheit hergestellt oder simuliert werden. Da der Zugriff auf Ware nur exklusiv durch Geld möglich ist, müssen notfalls auch ganze Gebrauchswertkontingente vernichtet werden, da sie sonst den Preis glattweg ruinieren und das Geschäft empfindlich stören. Stefan Meretz schreibt: "Eine Ware darf nicht frei verfügbar sein, sonst ist sie keine, sie muss knapp sein. Ist sie nicht knapp, wird sie knapp gemacht: weggeschlossen, verschlechtert, vernichtet. Knappheit ist eine geschaffene soziale Form der Warenproduktion, eine Realabstraktion. Sie abstrahiert von wirklichen Begrenztheiten und Vorkommen, um daraus die real wirksame 'Form Knappheit' zu machen. Die soziale 'Form Knappheit' produziert die Paradoxie des Mangels im Überfluss." (Streifzüge 32/2004)

"Geld ist der Triumph der Knappheit über die Gewalt", sagt Luhmann (S. 253). Er behauptet sogar, dass Geld Gewalt ausschließt (S. 259), und auf einer oberflächlichen Ebene hat das auch was für sich. Geld schließt aber Gewalt nur insofern aus, als es diese bereits integriert hat. Sprich: Geld ist ein kristallisiertes Gewaltverhältnis. Es gibt per Einsatz Verfügung und Fügung vor. Wir erbleichen vor keinem Argument so wie vor diesem. Gewalt ist ausgeschlossen, weil sie eingeschlossen ist. Das heißt aber auch, dass dort, wo diese Integration nicht hält, weil etwa eine Seite sie nicht (mehr) akzeptieren will oder kann, das Gewaltverhältnis wieder unmittelbar aus dem Geld hervorbricht. Geld ist also nicht Überwindung der Gewalt, sondern Kanalisierung. So ist Gewalt nicht etwas, das dem Geld fremd ist, sondern im Gegenteil, es ist das, was seinem innersten Wesen zugrundeliegt. Im Geld wird Gewalt substituiert, keineswegs überwunden. Sie ist aus ihm jederzeit restituierbar. Vor allem dort, wo eins das Privateigentum nicht akzeptieren möchte, wehrt das Geldsystem sich mit dem, was es ist und hat: Gewalt. Dazu hat es ein Monopol herausgebildet, das es seinen jeweiligen Staaten zugeeignet hat.

Gerade Ideologen des Geldes heben den befriedenden Charakter des Geldsystems hervor. Hier scheint sich tatsächlich eine Struktur aufgetan zu haben, die das Kriegen ohne das Bekriegen erlaubt. Doch dieser Schein trügt, und zwar deswegen, weil er nur das Produkt anschauen will und dessen Produktion nicht hinterfragt. Das Werden verschwindet im Resultat. Die Genese hat im Dunkeln zu bleiben. So wird der gesellschaftliche Zwang (Handeln) als ein freies Verhältnis definiert und dessen Vollzug (Kaufen) als freie Entscheidung. Das ist nur möglich, wenn an die Form, in der alles geschieht, kein Gedanke verschwendet werden soll. Denn bloß in der Formierung der Form sind wir frei, die Form selbst ist nicht hintergehbar.

Das Befriedende ist das Unterwerfende. Geld ist also keine Alternative zur Gewalt, sondern deren subtilste Form, dessen gefinkeltstes Substitut, oder in Robert Musils Worten: Das Geld "ist vergeistigte Gewalt, eine geschmeidige, hochentwickelte und schöpferische Spezialform der Gewalt. Beruht nicht das Geschäft auf List und Zwang, auf Übervorteilung und Ausnutzung, nur sind diese zivilisiert, ganz in das Innere des Menschen verlegt, ja geradezu in das Aussehen einer Freiheit gekleidet?" (Der Mann ohne Eigenschaften I, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 508.)


Geld ohne Mensch

"Geld ist aber die selbständige handgreifliche Existenzform des Werts, der Wert des Produkts in seiner selbständigen Wertform, worin alle Spur des Gebrauchswerts der Waren ausgelöscht ist." (MEW 24:63) Man sieht dem Geld nie an, woher es stammt, noch, was aus ihm noch wird. Es kann alle möglichen Metamorphosen durchlaufen. "Dem Geld ist es durchaus gleichgültig, in welche Sorte von Waren es verwandelt wird." (MEW 24:36) Genau diese demokratische Gleichgültigkeit des Geldes ist unmenschlich, sie entpflichtet uns, sich mit den Anliegen und Wünschen, Zuständen und Leiden der anderen zu konfrontieren, sofern diese nicht vermarktet werden können. Geld lehrt, dass die anderen uns egal sein können. Beim Geld hört bekanntlich auch die Freundschaft auf. Geld ist organisierte Verantwortungslosigkeit. Empathie ist außerhalb und hat daher einen schweren Stand.

"Geld entlastet die Gesellschaft von Menschlichkeiten wie Hass und Gewalt", schreibt Norbert Bolz (Wo Geld fließt, fließt kein Blut, Der Standard, 20. September 2008, S. 47). Abgesehen davon, dass gerade das Geld permanent Neid und Gier, Geiz und Missgunst hervorbringt, ja vor keinem Verbrechen zurückschreckt, ist die Rendite hoch genug, ist es schon interessant, was so einem Medientheoretiker einfällt, wenn er an Menschlichkeiten denkt. Aber der erste Halbsatz stimmt, Geld will tatsächlich von allen Menschlichkeiten entlasten. Bolz führt das auch aus: "Der Kosmos der modernen Wirtschaft besteht also nur aus Ereignissen der Zahlung - nicht mehr aus Menschen."

Zweifellos, Menschen sind Störfaktoren, vor allem, wenn sie nicht zahlen können, weiß man gar nicht so recht, was man mit ihnen anfangen soll. Da schnürt man etwa ein Sparpaket, und dann hungern diese Leute. Da senkt man die Sozialleistungen, und auf einmal sitzen diese Undankbaren auf der Straße. Der Vorwurf des Schädlings oder des Parasiten ist da nicht weit. Wer nicht zahlungsfähig ist, ist nicht geschäftsfähig. Das Luhmannsche Modell denkt die bürgerliche Gesellschaft als einen formalistischen Zirkel. Der Inhalt besteht in der Funktion. Zahlen oder nicht zahlen, krächzt der Code. Und immerfort. "Um sich in der Wirtschaft zu orientieren, genügt es ja, die Preise zu kennen", schreibt ein Pseudoprovokateur wie Bolz. Was ist schon so ein Exemplar von einem Menschen gegen das Ereignis einer Zahlung?

Bei Bolz finden sich überhaupt geile Sätze, denn der "Ressentimentlinken" muss man es gehörig geigen: "Die sozialistische Politik hat lediglich die Menschen von der Regierung abhängig gemacht. Das macht zwar die Sozialhilfeempfänger nicht lebenstüchtiger, hält aber den Sozialstaat in Gang." (Wer hat Angst vor der Freiheit?, Die Presse, 15. November 2009). Hier plaudert wirklich einer in einer Terminologie, die ihm gar nicht mehr auffällt, aber die Aversion gegen die Minderleister, die ist offensichtlich: Lebensuntüchtig sind die. Doch damit ist durchaus eine kapitalistische Wahrheit ausgesprochen: Die Wirtschaft ist nicht für die Menschen da. Und wir sind die verrückte Gattung, die sich das gefallen lässt.


Fairy Tales

Eine alte Geschichte geht so: Das Grundproblem der bürgerlichen Gesellschaften ist die Verteilung der Reichtümer. Die herrschenden Klassen haben zu viel und die beherrschten zu wenig. Geld ist ganz super, wenn alle nur genug davon bekommen. Schließlich gilt es, Kaufkraft zu erhalten, Standorte zu sichern und Wachstum zu ermöglichen. Zentrale Losungen dieser Emanzipation sind Gleichheit und Gerechtigkeit, ihre Mittel sind die ökonomische Umverteilung und die politische Gleichstellung. Es geht um Sozialstaat und Rechtsstaat.

Dieser Kampf war vielfach von Erfolg gekennzeichnet, von der Arbeiterbewegung bis zur Frauenbewegung. Man erstritt sich Zugehörigkeit, und was ist da wichtiger als das Geld, das man dazu benötigt: Es ging darum, mehr zu konsumieren und rechtlich nicht diskriminiert zu werden. Alle anderen gesellschaftlichen Fragen, von der repressiven Produktion und ihren irren Produkten, den schwer belasteten emotionalen Beziehungen bis hin zur Ökologie und ihren Katastrophen waren höchstens Nebenwidersprüche und Nebensächlichkeiten. Die herrschenden Normen waren vorgegeben und wurden nicht angetastet. Alle gesellschaftlichen Bewegungen der Neuzeit blieben letztlich dieser basalen Programmatik verhaftet. Mit Erreichen der Politikfähigkeit wurden überschießende und radikalere Momente und Elemente rechtzeitig gekappt.

Diese alte Geschichte ist brüchig geworden. So richtig begeistern tut sie, sieht man von unentwegten Klassenkämpfern ab, niemanden mehr. Dafür grassiert eine "neue", die zwar auch nicht so neu ist, aber doch so erscheinen will. Während unsere alte Geschichte das Geld als weitgehend unproblematisch voraussetzte, möchte die neue sich direkt in den Geldprozess einschalten. Geld ist ihr nicht bloß eine Frage von Quantität, sondern auch eine von Qualität. Aber aufgepasst: Die Funktion des Geldes in der Gesellschaft wird in dieser Erzählung dezidiert nicht in Frage gestellt, ja dessen Notwendigkeit wird durch alle Vorschläge frenetisch bejaht. "Über echtes und falsches Geld", lautet etwa ein prototypischer Artikel unseres Wutbürgers Eugen Maria Schulak in der Wiener Zeitung vom 4. März 2009.


Geldpfuscherei

Wenig hat heute so Konjunktur wie die Geldpfuscherei. Einerseits ist diese objektiver Ausdruck, dass es eben mit der Geldwirtschaft so nicht mehr weitergeht, andererseits aber der subjektive Wunsch, ja geradezu die Besessenheit, dass es nur mit ihr weitergehen kann: Ohne Geld können die Menschen nicht existieren, das ist ein unhintergehbares Dogma. Offensichtlich. Man ist überzeugt, dass die Geldbewirtschaftung die finale Antwort, ja der letzte Heuler der Geschichte sei und bloß einige Fehlkonstruktionen im Finanzsystem beseitigt werden müssten. Dann werde alles wieder gut, und alles kann beim Alten bleiben. Getauscht und gekauft, gearbeitet und verwertet wird nach wie vor. Das steht bei den Geldpfuschern auch nie zur Debatte. Der Kapitalismus, das sei kein übles Spiel, wohl aber gebe es üble Mitspieler: die Banken, die 1 Prozent, Spekulanten, Rating-Agenturen, Politiker, Juden.

Die Geldpfuscher setzen in allen ihren Überlegungen und Vorschlägen Geld unhinterfragt voraus, um dann an bestimmten Punkten, meist am Zins oder an Steuern herumzudoktern. Die fanatische Anbetung des Geldes erfährt darin eine neue Sequenz. Die Geldpfuscherei setzt auf eine umfassende Remonetarisierung und nicht auf eine Demonetarisierung der Gesellschaft. Die Frage nach dem Geld gerät auch hier sofort zu einer Frage nach der richtigen Geldpolitik. Sie dringt nicht nur nicht zum Kern vor, sie will entschieden bewerkstelligen, was abzuschaffen wäre.

Falsches Geld muss durch richtiges ersetzt werden. Darauf scheinen sich viele einigen zu können. "Neue Geldsysteme umsetzen", heißt es in einem Grundsatzpapier des Konsensfindungsprozesses der austriakischen Occupy-Abteilung, was meint: "Überwindung des zinsbasierten Schuldgeldsystems". Da ist es wirklich nur noch ein Schritt bis zum Schrei: "Befreit uns aus der Zinsknechtschaft!". Dazu passt gleich die Buchempfehlung "Neues Geld, neue Welt". Wenn man etwa die heimischen Occupy-Texte, die da durchs Internet geistern, so ansieht, erinnern diese an Ökonomie-Papiere aus der Frühzeit der Grünen, bloß schlechter. Teilweise tauchen sogar die gleichen Protagonisten wieder auf, etwa Joseph Huber, nun Propagandist der "Monetative", d.h. dass Geldmengensteuerung und Geldschöpfung ausschließlich beim Staat anzusiedeln wären. Occupy erscheint ziemlich occupied.

Nicht um eine Welt ohne Geld geht es, sondern um die Bedienung eines auf ewig angelegten Kreislaufs des Kaufens und Verkaufens. Man meldet sich zum Dienst: Jetzt übernehmen wir das Werkel. Das Leben hat ganz luhmannisch eine unaufhörliche Kette von Zahlungen zu bleiben. Das scheint gegenwärtig überhaupt die alles entscheidende Frage: Wie bleiben wir zahlungsfähig? Wie halten wir den Zahlungsverkehr aufrecht? Die Geldpfuscherei agiert ausschließlich auf der Ebene des Zahlungsmittels, will einen konstruktiven Beitrag leisten.


Regiogeld

Der größte Hit ist aktuell das Regionalgeld. Dort ein Ulmentaler, da ein Vöslauer, hier ein Chiemgauer, da ein Waldviertler. Wenn das mit dem offiziellen Geld nicht richtig funktioniert, schaffen wir doch unser eigenes. Die Gründungen reißen nicht ab, und selbst wenn einige Versuche scheitern, entstehen stets mehr neue. Die Vertreter des Regionalgeldes wollen das Geld durch ihr Gutscheinsystem (und nichts anderes ist es) sogar noch multiplizieren und nehmen für die beschworenen Vorteile ihrer Region gar einigen bürokratischen Aufwand auf sich. Durch die Negativzinsen im Schwundgeld wird die Kauflust noch einmal um einige Promille gesteigert. Konsumismus, der hier als unproblematisch erscheinen muss, wird geradezu vorausgesetzt und angestachelt. Schwund soll dieses Geld in Schwung halten, der Kaufzwang, bisher implizit gegeben, wird explizit formalisiert. Regionalgeld ist in, von der Krone bis zu Die Zeit finden wir prominent platzierte Artikel. Die Gutscheinerei passt in den Mainstream von rechtspopulistisch bis linksliberal.

"Eine wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern ist dabei, das Geld neu zu erfinden", freut sich etwa ein Kommentar in der Zeitschrift Oya (08, Mai/Juni 2011, S. 12). Im Heft geht es dann auch fast ausschließlich um Geld zum Selbermachen, das Zukunftsmodell Regionalgeld, demokratische Banken mit leistungsgedeckten Einlagen und natürlich eine Vielfalt von Währungen. "In der Zeit des demokratischen Geldes bestimmen die Geldnutzer die Geldregeln" (S. 14), heißt es da ganz euphorisch. "Der Selbstzweck muss dem Geld genommen werden, es soll ein Werkzeug werden." (S. 15.) Christoph Pflugers neues Buch nennt sich "Das nächste Geld" (S. 60). Und im Juni 2012 ist in Leipzig ein Kongress geplant unter dem Titel "Lust aufs neue Geld". Alles natürlich unter der Prämisse "Retten wir unser Geld". Auch Christian Felber will inzwischen den Euro retten und setzt daher die good banks auf die Tagesordnung. Die alte Sparkasse soll rehabilitiert werden: "Banken haben ihre ursprüngliche Funktion - die kostengünstige Umwandlung von Spar- und Kreditgeld sowie die serviceorientierte Abwicklung des Zahlungsverkehrs - verlassen." (S.26) Geld soll nicht zur Ware werden, dafür möchte die Gemeinwohlökonomie fortan sorgen.

Margrit Kennedy rehabilitiert schließlich sogar Leistung und Profit: "Ich halte Gewinnstreben nur dann für schädlich, wenn dem Gewinn keine Leistung gegenübersteht, wie auf dem Kapitalmarkt, der wie Raubrittertum funktioniert." (S. 16) Für edle Ritter, gegen böse Raubritter, für ehrliche Arbeit, gegen unehrliche Abzocke, für gute Leistung, gegen böse Schmarotzer - geht's noch übler? Da ist wirklich wieder einmal eine Kronzeugin des gesunden Menschenverstandes ausgeritten, da spukts dann auch von "Zeitbanken" und "Pflegewährung" - wahrlich die menschlichen Bedürfnisse, die sind allesamt in Geldkategorien zu denken. Sind sie nur so zu denken?, oder: Müssen sie so gedacht werden? Wahrlich, wir leben im Zeitalter der großen Befangenheit.


Scheinwerfer

Während die Lichter des Marktes verlöschen, drehen die Leuchten noch einmal alle Scheinwerfer auf. Die Geldpfuscher suchen den Resetknopf wie die Ritter der Tafelrunde den Heiligen Gral. Gerade die bornierten Kritteleien, also die Ressentiments, neigen zur schärfsten Affirmation, sodass wir da mehr Glaubensbekenntnisse finden als auf den bürgerlichen Wirtschaftsseiten. Dort herrscht eher Verunsicherung. Wenn heute noch jemand restlos von Wert und Geld überzeugt ist, dann diese Scheinalternative, sie trägt tatsächlich in schierer Akklamation bürgerliche Dogmen wie eine Monstranz vor sich her. Dieser neueste Cocktail aller Abgeschmacktheiten erscheint als das In-Getränk in einer gut frequentierten Bar jeden Gedankens. Es ist wie in einem Saloon, wo Unbedarfte auf Glücksritter treffen und permanent Obskuranten auftreten. Versprochen wird, was nicht gehalten hat. Was aber bedeutet, dass das Versprechen noch immer lebendig ist, bloß seine Fürsprecher abgelöst werden sollen. Der ökonomische Wert mag verfallen, aber die bürgerlichen Werte sind hoch im Kurs.

Wer sich das obskurantistische Panoptikum der Geldkritik anschauen will, der werfe einen Blick auf www.geldmitsystem.org. Dort hat Manfred Gotthalmseder versucht, alle Geldpfuscher aufzusammeln, Kernaussagen zu destillieren und wildesten Rechenbeispielen zu frönen. Schuld sei selbstverständlich das Zinseszinssystem. Und natürlich gehe es um ein nachhaltiges Geld- und Finanzsystem, dessen Rahmenbedingungen die Politik zu schaffen habe. Da ist man ultrakonventionell. Auf dieser Website treffen sich alle, von den Geldausbesserern bis zu den Verschwörungstheoretikern, von den Zinsgesellen bis hin zu versprengten Nazis. Gotthalmseder hat alles aufgeboten.

Die Geldretter, die da auftreten, sind fast ausschließlich Männer, total darauf erpicht und versessen, dem Geld einen Sinn zu stiften. Wie die bürgerlichen Erlöser stellen sie sich an, um dem Geld ja wieder seine angestammte Rolle zu geben. Die sich aufdrängende Frage "Warum Geld?" haben die Geldpfuscher durch die anschlussfähigere "Welches Geld?" ersetzt. Was das Geld ist, interessiert vor dem Hintergrund, was denn das gute Geld alles sein und ausrichten könnte, wenig. Geld wie hat Geld warum erschlagen. Mit Geld jedoch lässt sich nur eine Wirtschaft erfinden, die bereits erfunden worden ist.

So gibt es ein unheimlich großes Bedürfnis an obskurer Literatur, sehen wir uns die Auflagen diverser Publikationen an oder folgen wir den Empfehlungen von Amazon. Der Fundus ist unendlich und das Geschäft blüht. Da und dort vermögen die Geldpfuscher schon ins Schwarze zu treffen, aber meist verdunkeln sie die Szenerie, sind Diagnose und Therapie durch und durch esoterisches Geschwätz.


Geldknechtschaft

Abhängigkeit von Geld ist allgemein. Abhängigkeit vom Zins ist eine besondere Ausprägung dieses Umstands. So ist auch die Behauptung einer Zinsknechtschaft nicht einfach nur Lüge oder abgefeimte Projektion. Allerdings versteigt sich diese in penetranter Weise zur ganzen und einzigen Wahrheit. So wird ein Element aus seinen Zusammenhängen gerissen und als abartig punziert, eine "natürliche Wirtschaftsordnung" verhindernd. Die Zinskumpane verwechseln die Konsequenz des Kapitals mit seinem Ursprung. Zins erscheint nicht mehr als dem Kapital untergeordnet, sondern als jenem übergeordnet, ja es usurpierend. Der gute Markt müsste also von ihm und seinen Nutznießern befreit werden. Gemeingefährlich wird es, wenn man spezifischen Exponaten dann eine außergewöhnliche, sprich: kriminelle Energie unterstellt.

Diese Sicht ist aber auch deswegen anschlussfähig, weil sie zumindest Antworten auf empirische Alltagserfahrungen zu geben scheint. Jeder weiß, wie mühsam es ist, Kredite zurückzuzahlen, Schulden wie Zinsen zu tilgen. Und dass die Schuldenfalle schnell zuschnappen kann. Und dass Schulden Angst erzeugen. Und dass sie nicht bloß die Bonität senken, sondern auch Würde und Ansehen. Das sollte man nicht übersehen. Der bürgerliche Alltag ist voll von verunglückten Geldgeschichten. Man höre den Leuten nur zu, was sie alles bereden, aber auch beschweigen.

Das Problem des ewigen Schuldners ist eines, das realen Abläufen entspricht. Selbst wenn deren Verarbeitung schwer ideologisch sein mag, sind Bedrohung und Furcht doch reale Größen und keine Halluzinationen. Schulden können von den Schuldnern nie locker genommen werden. Sie führen tatsächlich zu schmerzhaften Abhängigkeiten, die man allzuoft nicht mehr los wird. Wie bei der Abpressung des Mehrwerts (und der Zins ist in letzter Instanz nichts anderes, auch wenn in Zeiten des fiktiven Kapitals sich auch hier die Dimensionen verschieben und ins schier Unendliche weiten) handelt es sich beim Zins um ein Verwertungsverhältnis, das dem Kapitalismus immanent ist.

Die Finanzabteilung des Kapitals ist nicht schlimmer als dieses selbst, sie erscheint aber zweifellos irrer, weil an ihr die ganze Verrücktheit der Form sich offener und wuchtiger präsentiert: "Als zinstragendes Kapital, und zwar in seiner unmittelbaren Form als zinstragendes Geldkapital (...) erhält das Kapital seine reine Fetischform G-G' als Subjekt, verkaufbares Ding." "Wie das Wachsen den Bäumen, so scheint das Geldzeugen (dem Kapital in dieser Form als Geldkapital eigen." (MEW 25:406)

Geldherrschaft meint Geldknechtschaft. Die strikte Zurückweisung der obligaten Zinsschelte darf so nicht mit einer Verteidigung des Zinses oder der Zirkulationssphäre einhergehen. Kritik des Zinses ist eine Teilkritik der Kapitalkritik und macht in sie integriert durchaus Sinn. Man sollte sich darauf einigen können, dass der Zins zwar nicht die Ursache des gesellschaftlichen Übels, sehr wohl aber einen Ausdruck des gesellschaftlichen Übels darstellt. Diesem Umstand ist Aufmerksamkeit zu schenken, es darf nicht so wirken, als rede man der kapitalistischen Rationalität das Wort, nur weil man die Zinshuberei zurückweist. Die ideologiekritische Beschränkung wäre demnach selbst zu durchbrechen. Augenscheinlich liegt da eine theoretische Leerstelle vor, die es gerade diversen Glücksrittern ermöglicht, ihren Geldacker zu bestellen.

Denn das Schuldverhältnis ist allgemein, jeder Kauf baut auf einer Schuld auf, die beglichen werden muss. Der Tilgungszwang von Krediten etwa ist wiederum nur eine Sparte des konventionellen Zahlungszwanges, eine besondere Form, in der durch zeitliche Streckung auch der Preis der Geldware via Zinsen zu zahlen ist. In Wirklichkeit werden wir auch stets übervorteilt, aber nicht weil die anderen böse sind, sondern ganz konventionell, weil wir nicht auf Kooperieren, sondern auf Konkurrieren, also auf Opfer und Täter programmiert sind. In allen wirtschaftlichen Belangen herrscht Krieg, man höre seine Sprache. Und wir verlieren in ihm mehr, als wir gewinnen. Auch die Sieger.


Money?

Alle wollen ins Plus, doch die meisten landen im Minus. Das ist blöd. Sagt doch das bürgerliche Versprechen, dass alle könnten, was nur wenigen gelingt. Das gemeine Finanzprogramm der vereinigten Bürgerschaft lautet: Mehr Einnahmen als Ausgaben! So möchte der gesunde Menschenverstand auf der Ausgabenseite nicht überfordert werden, auf der Einnahmenseite aber durchaus Nutznießer dieses Systems sein, etwa beim Sparen und all seinen Sonderformen, bei den Lebensversicherungen und Bausparverträgen, bei den Pensions- und Fondskassen, ja bis hin zu hochspekulativen Aktiendeals, auf die er freilich eher hineinfällt, als dass er sie bewusst anstrebt. Aber wenn er abstauben kann, ist er dabei, der gesunde Menschenverstand. Und wenn's ihn erwischt, fühlt er sich betrogen. Aber im Prinzip macht er nichts anders als die andern, und darin liegt auch die große ideelle Entschuldigung für alle Gemeinheiten, die er erleidet wie austeilt.

Er ist ein hausbackener Geselle, in dessen Brust zwei Seelen schlagen. Auf "Dark side of the Moon" von Pink Floyd (1973) wird diese Haltung besungen. Dort heißt es in der zweiten Strophe von "Money":

"Money, it's a crime
Share it fairly
But don't take a slice of my pie."

Der Kuchen ist immer ungerecht verteilt. Alle einigen sich darauf, zu wenig davon zu bekommen, weil die anderen zu viel abbekommen haben. Angerufen wird unisono, aber gegeneinander die Gerechtigkeit. Von der sind alle begeistert, ist sie doch multipel interpretierbar, sodass sich an ihr alle Gemüter wärmen können. Gerechtigkeit besteht darin, dass den Nehmern nichts genommen wird, und Ungerechtigkeit darin, dass die Nehmer stets ausgenommen werden. Alle wollen melken, aber nicht gemolken werden. Sinnliche Gewissheit brilliert in bestechenden Schlüssen, ohne ihre Gemeinheit auch nur in Ansätzen zu begreifen.

Geld. Alle wollen es erhalten, auf dass sie es wieder ausgeben können. Moneten, Konten, Kreditkarten, sie haben uns fest im Griff. Obwohl eigentlich niemand es benötigt, brauchen es alle, das Geld. Man kann nichts damit tun, aber alles damit anstellen. Alleine der Umstand, etwas unbedingt einnehmen zu müssen, das wir wiederum unbedingt ausgeben müssen, ist eine Absurdität sondergleichen. Aber darauf sind wir formatiert und fixiert. Das ist unsere Synthese. Geld wurde ja nicht einfach beschlossen und eingeführt, es stellt ein gesellschaftliches Verhältnis her, das über die Menschen und ihre Handlungen verfügt, indem jene diese, ihre gesellschaftliche Funktion erfüllend, ausüben.

Die beiden vorher angeführten Geschichten sind blind für Tragweite und Dimension unserer Aufgaben. Beide meinen, dass mit politischen Regelungen (sei es Umverteilung oder Umoperation) die gesellschaftlichen Probleme gelöst werden könnten. Beide doktern herum, suchen Antworten auf vorgefundenem Boden. Nicht "Geld ist falsch", sondern "Die Falschen haben es", lautet das Credo. Sowohl die neue Erzählung wie auch die alte stellen eigentlich nichts in Frage, wollen vielmehr etwas in Gang halten. Um uns nicht misszuverstehen: Wir sind weder gegen Umverteilung und schon gar nicht für den Zins. Aber als Perspektive ist das zu dünn und zu dürftig, arbeitet sich allein an Phänomenen ab. Dafür sind wir uns zu schade. Alle selbst auferlegten Beschränkungen, die den Geldfetisch unangetastet lassen, enden in der Hölle der Immanenz.

Solange Geld Menschen bestimmt, sie subordiniert, sie zu Geldmonaden macht, werden sie nie selbstbestimmt sein können. Geld ist lediglich eine Krücke der Anerkennung. Wenn man darüber nicht verfügt, ist Existenz und Akzeptanz auf Almosen und Barmherzigkeit angewiesen. Geld ersetzt in unserer Zwischenkunft das Ich und das Du durch den Käufer und den Verkäufer. "Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d.h., was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine - seines Besitzers - Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt." (MEW, Ergänzungsband 1, S. 564)

Das Ich soll kein Vorhaben, kein Anliegen, keinen Wunsch ohne den entsprechenden Preis denken können. Alles tendiert zur Kostenfrage: "Können wir uns das leisten?" Wenn heute etwas gemessen wird, dann wird es in Geld gemessen: Preise und Gebühren, Löhne und Ablösen, Mieten und Renten, Spitalskosten, Alimente, Werbeausgaben, Strafmandate, Anwaltshonorare, Steuern und Abgaben, und selbstverständlich das Bruttonationalprodukt. Fast könnte man meinen: Leben ist Geld! Aber es wird wohl so sein, denn es geht darum "für Leistungen zu zahlen" (Luhmann, S. 47). Egal, wovon wir reden, was wir wollen oder auch los werden wollen, immer geht es um Kohle.

Die elenden Fragen, was was kostet und was was einbringt, sind daher zentral. Bedürfnis und Nutzen werden stets daran gebrochen. Solange es Geld gibt, kann das auch gar nicht anders sein. Dieser Zweck frisst alle anderen Zwecke auf. Gemacht wird nicht, was gemacht werden könnte, und getan wird nicht, was getan werden sollte, sondern gemacht und getan wird, was sich verkaufen lässt. Das kommerzielle Gebot steht über allen anderen. Das Kriterium ist eines, dass außerhalb seines Gegenstandes liegt.

Geld ist eine menschenfeindliche Kommunikationsform, da sie den Zugang zu den Produkten und Leistungen über der Leute Habe bestimmt und somit solche ohne Geld ausschließt. Die sozialstaatliche Korrektur ist das Eingeständnis dieses Missstands, keineswegs Abhilfe, sondern bloß Linderung. Außerdem sowieso immer bedroht. Alleine, dass man das Geld entweder ausgeben oder veranlagen muss, stellt die Mitglieder der Gesellschaft vor absurde Aufgaben. Wie kommen diese mündigen Leute alle dazu, das zu müssen? Oder besser noch: zu wollen? Aber es nicht zu wollen, geht nicht. Geld organisiert Misstrauen und Missgunst, es schneidet uns von unseren Möglichkeiten ab, erlaubt nur Dispositionen, die sich marktwirtschaftlich auszahlen. Wir sind alle auf dem kommerziellen Trip. "We want money", ist der Kassenschlager aller Konkurrenten.

Geld ist ein gesellschaftliches Verhältnis und kein modellierbares Werkzeug. Eine Kraft, die uns ständig zum Berechnen, zum Kalkulieren, zum Ausgeben, zum Eintreiben, zum Sparen, zum Spekulieren, zum Verschulden und zum Kreditieren zwingt. Vor allem der Zwang zum Kaufen und Verkaufen steht jeder Befreiung und Selbstbestimmung im Weg. Die Organisierung unserer Kommunikation über Geld macht uns zu Tauschgegnern, wie Max Weber die falsch bezeichneten Tauschpartner richtig charakterisierte.

Das wollen wir schlicht nicht sein, und das wollen wir auch nicht reformieren. Unsere Rechnungen gehen nicht so. Leben ist etwas anderes. Wir stehen allen Remonetarisierungsgelüsten (Regiogeld, Demokratische Banken, Zinsabschaffung) ablehnend gegenüber. Geld ohne Geldkapital erscheint uns als eine irrwitzige Vorstellung. Solange man sich aufs Geld als zentralen Gegenstand der sozialen Auseinandersetzung kapriziert, ist keine gesellschaftliche Transformation möglich. Im Gegenteil, das Denken in Geld führt sofort in den Kampf um dieses und nicht gegen dieses.


Mit Sophokles
"Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als
Das Geld! Es äschert ganze Städte ein,
Es treibt die Männer weg von Haus und Hof,
Ja, es verführt auch unverdorbne Herzen,
Sich schändlichen Geschäften hinzugeben,
Es weist den Sterblichen zur Schurkerei
Den Weg, zu jeder gottvergessnen Tat!"

Das hat uns Genosse Sophokles vor fast 2500 Jahren in unser Stammbuch geschrieben (Antigone, Vers 295-301, übers. von Wilhelm Kuchenmüller, Stuttgart 1955, S. 16). Das gilt es zu beherzigen. Wir sind also Vertreter einer Spezies, die dezidiert NEIN zum Geld sagt. Eine andere Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die ihre Wirklichkeiten ohne Geld entfaltet. Eine solidarische Assoziation ist eine, die von Markt und Kapital, Geld und Wert befreit ist. Hinter diese Perspektive gibt es kein Zurück. Und eigentlich gibt es auch keine Minimalforderungen mehr, die nicht einfach falsch sind. Mit falsch ist gemeint, dass sie das System mehr stützen als es herausfordern. Selbst dort, wo man sich dem Falschen hingeben muss, sollen entsprechende Handlungen nicht als Schritte in die richtige Richtung interpretiert werden. Das, was wir als bürgerliche Subjekte anstellen, ist falsch, so logisch es unmittelbar auch ist.

Handhabung von Geld ist das entscheidende Kriterium, um in der kapitalistischen Gesellschaft als lebenstüchtig zu gelten. Freude und Freundschaft, Liebe und Lust, Sorge und Bereitschaft, vor allem gegenseitiges Wohlwollen und individueller Genuss, sie alle verunglücken, ja verpuffen an dem von uns praktizierten Imperativen. Nichts kann vorrangiger und dringender sein, als sie daher zu beseitigen. Aber die Menschen sind nicht so!, schreit der gesunde Menschenverstand unentwegt, seine Beschränktheit ausdrückend. Das mag jetzt so sein! Aber ist deswegen Rücksicht zu nehmen? Ist nicht eher die ständige Denunziation dieser Zurichtung angesagt? Allerorts und jederzeit!

Die Geschichte der potenziellen Menschwerdung (nicht zu verwechseln mit einer Apologie des Fortschritts) ist ein unabgeschlossenes und unabschließbares Kapitel. Die Behauptung, dass irgendein Zeitalter der menschlichen Natur entspreche, ist stets die zentrale Ideologie jeder Epoche gewesen. Es gibt keine menschliche Natur außer der, dass Menschen durch Theorie und Praxis sich aus der Natur emporheben, dass sie letztlich ihr eigenes Kunstwerk (aber auch Barbareiwerk) darstellen und herstellen. So wie es gewesen ist, ist es nicht geblieben. Und so wie es ist, wird es nicht bleiben.

Und man erzähle nicht davon, dass die Zeiten noch nicht reif, Übergänge konzipiert oder kleine Schritte angesagt wären, ja die Leute überhaupt abzuholen sind, wo sie stehen. - Nur das nicht! Die Menschen haben ihren Standpunkt in Frage zu stellen, nicht ihn zu erfüllen. Es geht nicht darum, am Charaktermaskenball gute Figur zu machen. Mit diesem Realismus wird Perspektive zerschlagen. Umgekehrt, es gilt dezidiert in den Mittelpunkt zu stellen, was man will. Reife ist auch eine Form der Konsequenz und des Wollens. Die aktuellen Bewusstseinsstände sind hingegen Ausgangspunkte, von denen nichts ausgeht, sie müssen im wahrsten Sinne des Wortes obsolet werden. Hier ist nicht der Ort einer apriorischen Konzession. Introspektion wäre angesagt: Was bin ich? und Was tue ich?, das sind Fragen, die man niemandem ersparen darf. Man muss sich und einander deswegen nicht verurteilen oder gar öffentlich beichten, aber kennenlernen sollte man sich schon. Es ist besser, sich zu kennen als sich zu bekennen. Ohne das keine Entsynthetisierung.

Entsynthetisierung, das klingt etwas schräg. Trotzdem: Sich den Zumutungen des Kaufens und Verkaufens nicht mehr ausliefern zu wollen, das steht an. Wir müssen aufhören, uns in Wert zu setzen. Geld hört nur auf, wenn die Waren verschwinden, Produkte und Dienste einfach als Güter verschenkt und angenommen werden. Der letzte Begriff des Geldes liegt in seiner Abschaffung.

Raute

2000‍ ‍Zeichen abwärts

Obsoleszenz als Modetrend

Die Linke hat ein neues Modewort entdeckt: geplante Obsoleszenz. Der Begriff ist eine Adaption aus dem englischen Sprachraum, wo von planned obsolescence die Rede ist. Der Begriff kommt von dem Adjektiv obsolet, das so viel bedeutet wie "nicht mehr gebräuchlich" oder "hinfällig sein". Gemeint ist "geplanter Verschleiß".

Um mehr Produkte verkaufen zu können und damit den Umsatz und den Gewinn der Unternehmen steigern zu können, sind sie stets auf der Suche nach Ideen, die Kund*Innen dazu zu bringen, ein bereits erworbenes Produkt möglichst bald durch ein neues zu ersetzen. Eine Möglichkeit hierfür sind Modetrends: wer einen neuen iPod, eine neue Hose oder ein neues Auto braucht, weil es für sein Wohlbefinden oder die angestrebte gesellschaftliche Akzeptanz wichtig ist, wird den fraglichen Gegenstand schon lange vor dem Ende von dessen physischer Nutzbarkeit zu erneuern trachten. Die Geschichte der konsumorientierten Variante von moralischem Verschleiß ist nicht neu und geht bis in die USA der 20er Jahre zurück, als Henry Fords Tin Lizzie gerade den Höhepunkt seiner Marktverbreitung erreicht hatte. Die Konkurrenz schlief nicht und so platzierte General Motors ein Auto auf dem Markt, das zwar nicht besser, dafür aber schöner sein sollte. Es ließ die klobige Tin Lizzie im wahrsten Sinne des Wortes alt aussehen und wurde mit jährlich neuen Farben und neuen Modellen zu einem wahren Verkaufsschlager. So brachte General Motors die Leute dazu, sich schneller als es eigentlich nötig gewesen wäre, ein neues Auto zuzulegen.

Auf diese Weise entpuppt sich der Modetrend als geplanter Verschleiß. Doch was damals ein Novum war, ist heute das tragende ökonomische Prinzip. Nur die wenigsten Menschen ersetzen vorhandene Gebrauchsgegenstände, weil diese tatsächlich unbrauchbar geworden wären.

Der moralische Verschleiß hat den Alltag erobert.

J.B.

Raute

Kritik und Affirmation
Zur Auseinandersetzung mit der Geldpfuscherei

von Julian Bierwirth

In einer alten indischen Legende über die Erfindung des Schachspiels wird berichtet, der Erfinder des Spiels habe von seinem König für diese Erfindung nicht mehr verlangt als Weizenkörner. Ein Korn auf das erste Feld des Schachbrettes, die doppelte Menge auf das zweite Feld, wiederum die doppelte Menge auf das dritte Feld und so weiter. Der König, der zunächst erbost war ob der vermeintlichen Bescheidenheit des weisen Brahmanen, musste schnell einsehen, dass er sich auf einen für ihn ziemlich ruinösen Deal eingelassen hatte, da die Zahl der Weizenkörner auf den letzten Feldern des Schachbrettes astronomische Ausmaße angenommen hatte.

In leicht veränderter Fassung ist diese Geschichte auch heute noch sehr beliebt. Die Weizenkörner werden dann zumeist durch Geld ersetzt, und so verändert soll die Geschichte als Beispiel für die verheerende Wirkung von Zinseszins und nicht selten als vermeintlicher Grund allen Übels im Kapitalismus herhalten. Zins und Zinseszins sind demnach die Ursache nicht nur für die Verschuldungsspiralen der öffentlichen und privaten Haushalte, sondern haben zudem Wirtschaftswachstum und Ausbeutung zur Folge: um die Zinsen bedienen zu können, seien Unternehmen darauf angewiesen, sich dem Willen des Geldes zu beugen und ihre Unternehmenspraxis auf Profiterwirtschaftung umzustellen. Als Ausweg wird dann zumeist eine Geldreform anvisiert, durch die das Geld mittels negativer Zinsen entwertet werden soll.

In diesen Ansätzen wird von einer nicht bestreitbaren Beobachtung (der Existenz von Zins und Zinseszins und ihrer exponentiellen Vermehrung im angeführten Beispiel) begründungslos darauf kurzgeschlossen, dass dieser Mechanismus nicht nur ein Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse, sondern vielmehr die Ursache für diese Prozesse sein soll. Im Folgenden sollen die sozio-ökonomischen Grundannahmen dieser Theorien kritisiert werden. Anhand der methodologischen und kategorialen Basisannahmen der Gesell'schen Zinskritik und der Marx'schen Kritik der Politischen Ökonomie soll dargestellt werden, wie erstere die kritische Fragestellung der letzteren nicht einmal wahrnimmt.


Der sogenannte Wert

In dem so überschriebenen Kapitel aus Gesells Klassiker "Die Natürliche Wirtschaftsordnung" macht Gesell den prinzipiellen Unterschied zwischen seinem Vorgehen und dem von Marx deutlich. Seine Argumentation und die Selbstverständlichkeit, mit der sie vorgetragen wird, sind derart bezeichnend, dass sie hier ausführlich zitiert seien:

"Übrigens sagt es ja auch Marx, dessen Betrachtung der Volkswirtschaft von einer Werttheorie ausgeht: 'der Wert ist ein Gespenst'. - Was ihn aber nicht von dem Versuch abhält, das Gespenst in drei dicken Büchern zu bannen. 'Man abstrahiere', so sagt Marx, 'von den bearbeiteten Substanzen alle körperlichen Eigenschaften, dann bleibt nur noch eine Eigenschaft, nämlich der Wert.'

Wer diese Worte, die gleich zu Anfang des 'Kapitals' zu lesen sind, hat durchgehen lassen und nichts Verdächtiges in ihnen entdeckt hat, darf ruhig weiterlesen. Er kann nicht mehr verdorben werden. Wer sich aber die Frage vorlegt: 'Was ist eine Eigenschaft, getrennt von der Materie?' - wer also diesen grundlegenden Satz im 'Kapital' zu begreifen, materialistisch aufzufassen versucht, der wird entweder irre, oder er wird den Satz für Wahnsinn, seinen Ausgangspunkt für ein Gespenst erklären. (...) Die Abstraktion Marx' ist in keinem Schmelztiegel darstellbar. Wie sie sich völlig von unserem Verstande loslöst, so auch von allem Stofflichen." (Gesell 1916)

Es soll hier keine Rolle spielen, dass die vermeintlichen Zitate, die Gesell seinem Gegenüber unterstellt, hier wie auch zumeist sonst eher eigenwillige Zusammenfassungen denn tatsächliche Zitate sind. Wesentlicher ist die Tatsache, dass Gesell hier darauf beharrt, dass es möglich sein müsse, die Dinge bloß aufgrund ihrer stofflichen Körperlichkeit zu betrachten. Ganz in diesem Sinne wird von ihm das Geld unabhängig von der Gesellschaftsform, in der es existiert, als technischer Gegenstand mit "natürlichen" Eigenschaften angesehen, die ihm als bloßem Ding zukommen sollen.

Dies wird auch deutlich in der berühmten Gesell'schen Robinsonade, in der Gesell seinen Robinson mit einem ausgebildeten Zinskritiker konfrontiert, den es zufällig auf Robinsons einsame Insel verschlagen hat. Da Robinson gerade im Begriff war, ein größeres Bauprojekt zu realisieren und dafür seine gesamte Arbeitskraft aufzuwenden gedachte, hatte er für seine tägliche Reproduktion vorgesorgt und für mehrere Jahre Kleidung und Nahrungsmittel angehäuft. Der Fremde möchte sich nun Nahrungsmittel und Kleidung von Robinson leihen, solange bis er in der Lage wäre, sich selbst zu versorgen. Obwohl Robinson zunächst Zinsen auf die verliehenen Gebrauchsgüter haben möchte, überlegt er es sich am Ende noch einmal anders. Denn der Fremde zeigt ihm, dass es auch ohne Zins für ihn besser ist, die Dinge zu verleihen statt einfach herumliegen zu lassen: Da Fleisch irgendwann vergammele und Kleidungsstücke früher oder später mit Motten zu kämpfen hätten, würde sich Robinson alleine schon dadurch besser stellen, dass er genau das wiederbekäme, was er verliehen hat - und somit keinen Verlust erleide.

Das Problem am Geld ist nun für Gesell, dass es keine Ware wie die anderen Waren ist. Geld wird im Unterschied zu ihnen nicht schlecht. Ganz im Gegenteil: da es nicht schlecht werden kann, ergibt sich für die GeldbesitzerInnen ein struktureller Vorteil: sie können das Geld "horten", dadurch knapp machen und so günstige Vertragsbedingungen erzielen.

Auch hier ist deutlich, dass Gesell nicht nur von den stofflich-körperlichen Eigenschaften des Geldes im Unterschied zu den Waren ausgeht, sondern dass er zudem ganz grundsätzlich keinen Unterschied zwischen den sinnlichen Eigenschaften der Waren und ihren gesellschaftlichen Eigenschaften sehen will. Diese monokausale Betrachtung der Dinge kommt dabei nicht nur ohne eine theoretische Erklärung aus, sondern bildet vielmehr den stillen Hintergrund der gesamten Argumentation. Während Marx sich über viele Seiten hinweg abmüht, den von ihm behaupteten Doppelcharakter der Warenwelt zu plausibilisieren, hält Gesell dergleichen nicht für notwendig. Zu selbstverständlich und normal erscheinen ihm die Verhältnisse, die er als natürlich und unabänderlich voraussetzt.


Fetischismus der Natürlichkeit

Wie aber begründet Marx den Doppelcharakter der Waren als stofflich-sinnlich und zugleich abstrakt-gesellschaftlich? Er tut dies, indem er auf den spezifisch gesellschaftlichen Charakter der Warenproduktion und damit auf den spezifischen Charakter des Kapitalismus verweist. Sie hat zur Voraussetzung, dass die Menschen als "vereinzelte Einzelne" existieren und als solche keinerlei Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum haben. Sie haben lediglich die Möglichkeit, Waren zu produzieren und zu verkaufen (und sei es nur ihre eigene Arbeitskraft), um auf den von ihnen erhofften Teil am gesellschaftlichen Reichtum zugreifen zu können. Die Einzelnen produzieren dabei keine Gebrauchsgegenstände zum Zwecke der eigenen Nutzung, sondern lediglich um über ihren Verkauf in den Genuss anderer, auf demselben Wege produzierter Güter zu gelangen. So entsteht durch das Handeln der Menschen selbst eine historisch einmalige Abhängigkeit aller voneinander und mit ihr eine strukturelle, allseitige Konkurrenz gegeneinander. In dieser allseitigen Abhängigkeits- und Konkurrenzsituation spielt nun das Geld die Rolle des Vermittlers zwischen den isolierten PrivatproduzentInnen.

Diese Situation unterscheidet sich fundamental von der Bedeutung des Geldes in vormodernen Gesellschaften. Wenn also in Debatten um Zinskritik und eine vermeintlich "natürliche" Wirtschaftsordnung beständig auf Beispiele aus dem Mittelalter (etwa in der Debatte um die sog. Brakteaten) oder aus Bibel und Koran verwiesen wird, so sind diese schlichtweg irreführend: In den entsprechenden Sozialwesen hat das Geld keineswegs die Bedeutung, die ihm heutzutage zukommt - sondern ist in ein vielfältiges System sozialer Normen eingebunden.

Die Besonderheit des Geldes im modernen Sozialwesen entgeht Gesell jedoch, wenn er sich allein auf das Geld als Ding stürzt. Das gilt auch für seinen Versuch, die Marx'sche Abstraktion von der konkreten Gegenständlichkeit der Dinge zu kritisieren. Jenseits der konkretwahrnehmbaren Einzelphänomene steht für Gesell (ganz im Sinne einer positivistischen Sozialwissenschaft) lediglich die Metaphysik. Marx hingegen hebt mit seiner Analyse auf den oben skizzierten gesellschaftlichen Charakter der Dinge ab - der eben über ihre konkrete Anschaulichkeit hinausgeht.

Damit ist dann auch klar, dass in einer Gesellschaft, deren Zusammenhang ihrem Wesen nach darin besteht, dass vereinzelte Individuen Arbeitszeit verausgaben und die Produkte ihrer Arbeit sodann miteinander in Beziehung setzen, das Maß dieser Tauschvermittlung die (gesellschaftlich notwendige) Zeit ihrer Arbeitsverausgabung ist - und Arbeit entsprechend das Maß des Wertes.

Diese Bestimmung ist dann im weiteren Verlauf von Marxens Argumentation zum einen die Grundlage für seine Behauptung, dass die Zahlung von Zinsen auf diesen Prozess bezogen sei: da einzelne GeldbesitzerInnen ihr Geld gerade nicht in produktive Verwertungsprozesse anlegen können, stellen sie es Leuten zur Verfügung, die es eben dafür brauchen können. Die im Rahmen dieser Verwertungsprozesse verausgabte Arbeitszeit schafft ökonomischen Wert - der dann zu einem Teil in Form des Zinses an die KreditgeberInnen weitergereicht wird. (Vgl. Kapital III, 496ff.)

Marx führt damit eine Unterscheidung ein zwischen realem Kapital und fiktivem Kapital, das nur in seinem Bezug auf das reale Kapital gedacht werden kann. Diese Unterscheidung ist die notwendige Voraussetzung, um überhaupt von Finanzblasen sprechen zu können. Denn wenn Wert nicht auf Arbeit zurückführbar sein soll, dann bleibt völlig unklar, was genau den Charakter dieser Blase ausmachen soll und wie sie sich von anderen Preisen, die an anderen Märkten erzielt werden, unterscheiden soll. Dass es Finanzblasen gebe, wird nun zwar auch in zinskritischen Zusammenhängen behauptet (etwa auf der Homepage der Initiative für eine Natürliche Wirtschaftsordnung, INWO), allerdings ohne dass hier klar werden würde, was genau damit kategorial gemeint ist.


Anspruch und Wirklichkeit

Das Gegenteil von gut, das wusste schon Kurt Tucholsky, ist gut gemeint. Das gilt nicht zuletzt auch für die Zinskritik. Ihre heutigen ProtagonistInnen sind zumeist von dem Willen beseelt, die Finanzmärkte in ihrer Aktivität und Bedeutung zurückdrängen zu wollen - und präsentieren dafür Lösungsvorschläge, die auf das genaue Gegenteil hinauslaufen.

Ganz grundsätzlich beruhen alle in diesem Bereich verfochtenen Konzepte darauf, durch eine Art Gebühr einen bestimmten Teil des gehorteten Geldes verfallen zu lassen - und so einen Anreiz dafür zu bieten, Geld stets im Wirtschaftskreislauf zu halten - und sei es nur durch die zur Verfügungstellung an andere, also als Kredit. Im Konzept der "Fairconomy", das die INWO präsentiert, sind daher auch langfristige Anlagen auf dem Kapitalmarkt explizit von der zu erhebenden Gebühr ausgenommen. Damit wäre die Bedeutung des Finanzsektors jedoch keinesfalls geschwächt. Die Gelder würden weiterhin in rentable Investitionen oder wahlweise auch in innovative Spekulationsgeschäfte fließen.

Den Hintergrund der Annahme, ihre Vorschläge würden der Macht des Geldes Einhalt gebieten, bildet ein von der Zinskritik in den Mittelpunkt gerückter Widerspruch innerhalb des Geldmediums, das einerseits Tauschmittel und andererseits Vermögensgegenstand sei. Seine Funktion als Vermögensgegenstand verleite die GeldbesitzerInnen dazu, das Geld nicht auszugeben, sondern knapp zu halten. Die Funktion des Tauschmittels hingegen sei unabdingbar für eine arbeitsteilige Gesellschaft, weshalb sie geschützt werden müsse gegen die vermögensbildende Wirkung des Geldes.

Interessanterweise nimmt auch Marx den Widerspruch von Schatzbildung und Geld als Zahlungsmittel in den Blick. Er folgert daraus jedoch, im Unterschied zur Zinskritik, nicht den Zins, sondern den Mehrwert. Er argumentiert, Schatzbildung sei, als kapitalistisches Formprinzip, quantitativ grenzenlos. Ein Schatz könne nie groß genug sein, da Wert ja gerade für abstrakten, nur quantitativ unterscheidbaren Reichtum stehe. Jede real vorhandene Geldsumme hingegen sei beschränkt, also kleiner als grenzenlos. Dies treibe den Geldbesitzer "stets zurück zur Sisyphusarbeit der Akkumulation" (Kapital I, 147) und damit zur Produktion von Mehrwert. Fehlt es ihm dafür an Kapital, so kann er es sich leihen - und beteiligt als Dank die KreditgeberInnen am Unternehmensgewinn. Den Hintergrund für diese Betrachtung bildet jedoch der oben bereits skizzierte gesamtgesellschaftliche Blick, der das Geld vor dem Hintergrund seiner systemischen Funktion innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung betrachtet - und nicht als dinghafte, ungesellschaftliche Eigentumschiffre in den Händen beliebiger GeldbesitzerInnen.

Aus handlungstheoretischer Perspektive scheint es jedoch zunächst einleuchtend zu sein, auf die (von realer Gesellschaftlichkeit abstrahierenden) Handlungsoptionen der GeldbesitzerInnen zu schauen. Da das Geld der Zirkulation entzogen werden und somit der Warenaustausch ver- und behindert werden kann, wird das Geld dinghaft als Ursache für alle erdenklichen Übel angesehen. Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Elend, Wirtschaftskrisen, ja selbst Krieg und Umweltzerstörung sollen Phänomene sein, die mit die mit falschem Handling des Geldes, aber nichts mit Warenproduktion zu tun haben. Warenproduktion (die hier zumeist Marktwirtschaft genannt wird) soll unterschieden werden vom Kapitalismus. Der Kapitalismus gilt dabei gewissermaßen als eine Verfremdung der friedlichen einfachen Warenproduktion. Diese wäre möglich, verfügte das Geld nicht über die bedauerliche physikalische Eigenschaft, im Unterschied zu den anderen Waren nicht schlecht zu werden. Denn diese Eigenschaft habe zur Folge, dass über ein Geldmonopol andere MarktteilnehmerInnen gezwungen werden können, Dinge zu tun, auf die sie von alleine niemals kämen.

Die mit der Produktion von Waren für den Markt einhergehenden Phänomene wie der freie Markt mit seiner gegenseitigen Konkurrenz und dem steten Bedachtsein auf den eigenen Nutzen sind in dieser Konzeption nicht Gegenstand der Kritik, sondern der offenen Affirmation. Diese Sichtweise ignoriert, dass hier anonyme und "gegeneinander gleichgültige" (Marx) KonkurrentInnen aufeinandertreffen. Da die Zinskritik auf Vergesellschaftungsformen baut, die sich hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzen, zielt sie im Ergebnis auf eine Praxis, die doch zunächst der Ausgangspunkt für ihr Auf begehren war. Wir sehen also, dass Tucholsky mit seiner Behauptung durchaus nicht im Unrecht war.


Feindliche Brüder

Die Auseinandersetzung zwischen GesellianerInnen und MarxistInnen füllt mittlerweile einige Regalmeter in Bibliotheken und zudem diverse Webseiten. In gewisser Weise dreht sich die Kontroverse jedoch seit ihrem Anbeginn im Kreis. Beide Fraktionen beharren auf ihrer Sicht der Dinge und kritisieren am Gegenüber vornehmlich, dass dieses jene nicht teilt. Die Unhaltbarkeit der Gesell'schen Lehre wird dann etwa mit dem Hinweis darauf nachgewiesen, dass deren Thesen denen von Marx widersprechen. Das mag als Anhaltspunkt für MarxistInnen hilfreich sein, um die kritisierte Theorie besser einordnen zu können - über diese Selbstvergewisserung hinaus sagt dieses Vorgehen jedoch nicht viel aus.

Beide Theoreme beruhen auf der Ideologie der einfachen Warenproduktion; nach ihr ist eine friedliche, nicht auf Kapitalvermehrung und Ausbeutung beruhende Arbeits- respektive Tauschgesellschaft möglich. Diese Ansicht teilen die GesellianerInnen - bei aller Feindschaft - mit dem traditionellen Marxismus. Auch hier wurde zumeist davon ausgegangen, mit einer Überwindung der Klassenherrschaft sei auch schon der nötige Grundstein für eine sozialistische Gesellschaft gelegt. In dieser Sichtweise müssen die systemischen Zwänge, an denen etwa die realsozialistischen Planökonomien gescheitert sind, ausgeblendet bleiben. Jedoch wird sowohl von den TraditionsmarxistInnen als auch den ZinskritikerInnen übersehen, dass bereits auf der Ebene einer Konkurrenz einfacher WarenproduzentInnen logisch gezeigt werden kann, dass hier aufgrund der Zwangsgesetze der Konkurrenz die je Einzelnen gezwungen sind, ihre eigene wirtschaftliche Tätigkeit so rational und produktiv wie möglich zu gestalten. Es ist eben diese betriebswirtschaftliche Rationalität, die im Ergebnis in gesellschaftliche Irrationalität umschlägt, die nicht nur den kapitalistischen Wachstumszwang, sondern auch den strukturellen Ausschluss weiter Teile der Menschheit von den Ergebnissen der Produktion mit sich bringt.

Der Marxismus konnte diesen Punkt entsprechend nicht aufgreifen und hat stattdessen auf dem entgegengesetzten Dogma beharrt: er hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass alleine die Arbeit wertschaffend ist, konnte diese Behauptung jedoch nicht mit einer Begründung versehen. Zins und Bodenrente gelten hier zwar als abgeleitete Folgen der Ausbeutung im Betrieb, diese durchaus richtige Erkenntnis konnte jedoch nicht substantiell begründet werden. Und das ist kein Zufall. Beide Strömungen streiten darum, nach welchen Kriterien der einmal geschaffene Reichtum tatsächlich verteilt wird. Die Form der Produktion gerät ihnen dabei nicht einmal mehr in den Blick. Entsprechend konnte für den traditionellen Marxismus die geplante (vermeintlich nicht-ausbeuterische) Warenproduktion ebenso als positiver Ausweg aus dem Kapitalismus gelten wie für die Zinskritik eine Ökonomie mit Geld, das stetig an Kaufkraft verliert und mithin "schlecht wird". Das jedoch ist, wie Bini Adamczak zurecht bemerkt hat, "nicht der Kommunismus".

Raute

Die große Entwertung

Ernst Lohoff / Norbert Trenkle (Gruppe Krisis): Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind.
UNRAST Verlag, Münster 2012, br., ca. 250 Seiten, ca. 16 Euro

Im globalen Finanzmarktcrash entladen sich die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft. Der akute Krisenschub nimmt zwar von den Finanzmärkten seinen Ausgang, die Ursachen liegen aber tiefer. Was Marx anhand der Krisen des 19. Jahrhunderts nachgewiesen hat, gilt erst recht für das Weltwirtschaftsbeben unserer Tage. Nichts ist analytisch so naiv und ideologisch so gemeingefährlich wie die Dolchstoßlegende, eine gesunde Realwirtschaft sei der grenzenlosen Habgier einer Handvoll Banker und Spekulanten zum Opfer gefallen. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Das historisch beispiellose Abheben des Finanzüberbaus in den letzten 35 Jahren war selber schon das Ergebnis und zugleich die provisorische Überwindung einer fundamentalen Krise der kapitalistischen Gesellschaft. Eine Produktionsweise, die auf der Vernutzung lebendiger Arbeitskraft beruht, muss angesichts des ungeheuren Produktivkraftschubs der mikroelektronischen Revolution an ihre strukturellen Grenzen stoßen.

Ernst Lohoff und Norbert Trenkle zeichnen die Geschichte und das Ende des finanzkapitalistischen Krisenaufschubs nach und zeigen, warum die Weltgesellschaft für die armselige kapitalistische Produktionsweise längst zu reich ist und warum sie auseinanderbrechen und in Elend, Gewalt und Irrationalismus versinken muss, wenn sie diese nicht überwindet.

Raute

Dead Men Working

Rechenkünste unlimited

von Maria Wölflingseder

Money makes the world go round, go round...!" - Genau so ist es. So lange es Geld gibt, wird das Geld die Welt beherrschen. Die Aufgabe der Marktwirtschaft ist es, aus Geld mehr Geld zu machen. Ohne Gewinnmaximierung kein Überleben. Das ist der Zweck aller Übungen. Geld ist mitnichten ein unschuldiges Mittelchen zu schönen Zwecken, sondern durchdringt unser Leben bis in die intimsten Regungen. Alles - immer mehr auch jenes, das bis dato nicht für vermarktbar gehalten wurde - wird kommerzialisiert. Warum muss immer mehr in die Warenform gepresst werden? Weil dieses Wirtschaftssystem nur bei ständigem Wachstum funktionieren kann - auch wenn die Umwelt und die Menschen dabei zugrunde gehen. Die versuchten Reparaturen schlagen dann auch ordentlich zu BIP-Buche. Aber in einer endlichen Welt ist unendliches Wachstum unmöglich. Schließlich ist da noch die Konkurrenz, ebenfalls eine "natürliche" Zutat unserer Gesellschaft. Sie gebärdet sich einmal lockerer, dann wieder kaltblütig.

Das Geld bzw. der Markt haben sukzessive Gott abgelöst und sind zu unserer neuen Religion geworden. Eine noch nie da gewesene universelle, totalitäre Religion. Wir können uns ihrem Zwang nicht entziehen. Die Anhänger von herkömmlichen Religionen wissen um ihre eigene Religiosität. Sie bekennen sich zu ihr. Nicht so die Mitglieder der Waren- und Geldkirche. Ihr tägliches Handeln ist so sehr theokratisch durchdrungen, dass die Religiosität als quasi-natürlich wahrgenommen wird und Reflexion kaum zulässt. Offenbar umso weniger, je härter die Zeiten sind. - Ein kurios anmutendes, aber durchaus verräterisches Ritual: Anstatt mit Weihwasser besprengt sich der heutige Gläubige mit "Liquid Money". Dieses neue Parfum, dieser "Fragrance of Success" ist als "His Money" und "Her Money" erhältlich und duftet nach frischen Dollarnoten.

All die aktuellen unerfreulichen Erscheinungen und Entwicklungen sind systemlogisch nichts Abnormes, sondern die immanente Fortsetzung des blinden Zwangs zur gnadenlosen Verwertung. Eine Wirtschaftsform, die auf Lohnarbeit beruht, muss jedoch aufgrund der exorbitant gestiegenen Produktivität im Zuge der mikroelektronischen Revolution an ihre strukturellen Grenzen stoßen. Über all die negativen Auswirkungen pflegt man sich heute allerorten eifrig zu empören, aber ihre tatsächlichen Ursachen zu erkennen, scheint das größte Tabu zu sein. So bewegt sich alle Kritik nur innerhalb der Mauern des Hochsicherheitstrakts (sicher für wen?). Sie ist lediglich bemüht, die "Auswüchse" zurechtzustutzen. Hat das alles nicht längst die Lächerlichkeit von Botox-Spritzen für den Todeskandidaten Kapitalismus?

Aber nicht nur die Herrn und Damen Vertreter und Vertreterinnen der herrschenden Weltunordnung rechnen sich die Köpfe heiß, sondern auch die meisten Kritiker dieser Verhältnisse. Die besseren Rechenkünstler wollen sie sein. Die Geldreligion wird aber nicht infrage gestellt, sondern ihre Sakramente Arbeit, Geld und ökonomischer Wert werden nur erneuert. Die Nachfrage nach dieser Art von Reformation ist groß. Während die, die tiefer schürfen, zurzeit nur auf Granit beißen.

So sehr die Bemühungen jedes Einzelnen, die Verhältnisse zu verbessern, zu schätzen sind, sowenig kommen wir umhin, auf ihre Hilflosigkeit und letztlich auf ihre Wirkungslosigkeit hinzuweisen.

Ein kurzer Rundblick: "OikoCredit - in Menschen investieren." Diese Aufforderung einer Bank, die Mikrokredite vergibt, prangte kürzlich von Wiener Werbeplakaten. Muhammad Yunus hat diese Art von Kredit für mittellose Frauen in Bangladesch mit seiner Grameen-Bank forciert und bekam dafür 2006 den Friedensnobelpreis. Als entscheidender Beitrag zur Armutsbekämpfung wurden diese Kredite gefeiert und fanden viele Nachahmer. Heute wird die Kritik daran lauter. Gerhard Klas hat das Buch "Die große Illusion oder das Geschäft mit der Armut" (Assoziation A, Berlin/Hamburg 2011) vorgelegt, in dem die Mikrofinanz-Industrie durchleuchtet wird. Mit dem Ergebnis: Das Kreditgeschäft funktioniert auf Kosten und nicht zum Nutzen der Armen. - Daran zeigt sich einmal mehr, dass die Marktwirtschaft samt und sonders nicht mehr funktioniert, auch nicht, wenn man Arme, egal ob in Europa oder in Asien, zu Ich-AGs macht.

Das Geld erfolgreich zu drehen und zu wenden, versuchen auch die Experten der Österreichischen Armutskonferenz, der Psychologe Martin Schenk und die Theologin und Philosophin Michaela Moser, in ihrem Buch "Es reicht! Für alle! Wege aus der Armut". Ihr Credo: Geld ist genug da, man braucht es nur anders verteilen. Alles sei nur eine Frage des politischen Willens! Der Rechtspolitologe und Rechtssoziologe Nikolaus Dimmel bläst ins selbe Horn und stellt seine Rechenkünste unter - universitären - Beweis: Wenn Sie einem Börsenmakler und einem Sozialarbeiter jeweils 20 Euro geben - wer legt das Geld besser an, wer macht mehr Gewinn? Natürlich Letzterer.

Besonders bemüht um die Runderneuerung des Kapitals ist auch die Multifachfrau und Coach Angelika Hagen. Einfach, aber wirksam setzt sie ein "Sozial" vor das Kapital. Wie in jedes Kapital müsse man auch in Sozialkapital, also in soziale Beziehungen investieren, um einen entsprechenden Ertrag zu erzielen. Und wenn wir einsehen, dass nicht Konkurrenz, sondern Zusammenarbeit der bessere ökonomische Wert sei, wären wir schon in einer neuen Ära! In ihrem "Lehrgang zum Sozialkapital-Manager" an der Sigmund Freund Privat Universität (2009) und mit dem Baustein-Buch "Lernen ist Beziehung - Ein Spiel- und Übungsbuch zum Begreifen von Sozialkapital", herausgegeben von Unterrichtsministerium (2011) reüssiert sie mit ihrem Konzept. Dazu gehören auch Ideen zu "Vermögenskultur und Sozialkapital" oder "Lust auf Arbeit - Wie Arbeit aus freiem Willen Menschen beflügelt".

Auch in der Esoterik-Bewegung - genauer im Esoterik-Business - tummeln sich nach wie vor Beflissene, die sich um die im Konkurrenzkampf erlittenen körperlichen und seelischen Beulen und Wunden in vielerlei Art kümmern. Etwa mit einem Wochenend-Angebot: "Ich-Marke. Werde zu dem Genie, das du bist!" Auf dass die "Geldmagie" ihre Wirkung entfalte. Das Wort "Kursgebühr" oder "Kosten" wird dabei gerne durch "Energieausgleich" und ähnliche Euphemismen ersetzt.

Wie wäre es, anstatt all den Rechenkünsten und all der Sakrosanktifizierung von Geld, Markt und Wirtschaftswachstum der Phantasie freien Lauf zu lassen? Schon Albert Einstein hielt sie für wichtiger als Wissen. Denn Wissen ist beschränkt, Phantasie nicht.

Raute

Bei der Freundschaft hört sich das Geld auf
Anläufe zu einem Verständnis

von Lorenz Glatz

Entweder mit Geld...

1. Geld ist eine bestimmte Form von Beziehung zwischen Menschen. Es vermittelt gleichwertigen Tausch von eigentlich unvergleichbaren Dingen, Kauf und Verkauf. Es bringt den Markt in Schwung und hält ihn am Laufen. Geldverkehr und Marktgeschehen bringen aber im Grund nicht Menschen in Kontakt, sondern ihnen gehörende Dinge. Die Menschen erscheinen nur als deren Träger, der eine, um teuer zu verkaufen, die andere, um billig zu erwerben. Entsprechend dem sachlichen Charakter des Kontakts treten sich die Kontrahenten mit Interesse am Angebot, aber mit Desinteresse, ja mit dem gebotenen Misstrauen am Anbieter gegenüber. Sie sind "Tauschgegner", wie sie Max Weber treffend bezeichnet hat. Sie sind nicht allein, sie haben zugleich alle anderen im Kopf, mit denen vielleicht das Geschäft vorteilhafter wäre. Es ist eine Beziehung der Konkurrenz zwischen "Ungenossen" (auch von Max Weber), ja Feinden, die nur durch ein Gleichgewicht der Stärke oder eine übergeordnete Gewalt, jedenfalls nicht durch Sympathie und Mitgefühl, sondern durch blankes Kalkül an Hinterlist und Übergriff gehindert werden.

Kapern und Kaufen hängen etymologisch vielleicht bis wahrscheinlich zusammen, in der sozialen Wirklichkeit aber ganz real. Ziel bleibt immer der eigene Vorteil, Sieg gegen und Kontrolle über die anderen. Hier führt vom konkurrierenden sachlichen Interesse der "Tauschgegner" ein breiter Weg über ihr gegenseitiges persönliches Desinteresse und Misstrauen zu Betrug, Gewalt und Unterdrückung, wenn sich die Gelegenheit bietet.

Markt und Geld sind "die unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können". Solidarität ist ihr fremd, sie kennt "keine Brüderlichkeits- und Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen" (Max Weber). Sie kennt bloß Eigeninteresse ohne Rücksicht auf Dritte, schon gar nicht auf die Mitwelt. Und mehr noch: Essen, Trinken, Sex gehen bei größter Lust drauf doch nur mit Maßen, Geld aber ist grenzenlose Zahl, wer sich auf Geld einlässt, kann es doch nie haben, wird nicht satt, sein Wollen wird zur Gier ohne Ende. So rücksichtslos wie immer möglich - das ist das Beste fürs Geschäft. Betrug, Vergewaltigung, Überwältigung und Herrschaft, Schädigung und Zerstörung von Mensch und Natur sind in Markt und Geld von Geburt an eingeschrieben.

2. Geld zu lieben ist die Wurzel aller Übel und nicht wenige, die sich drauf eingelassen haben, sind abgeirrt von Vertrauen, Redlichkeit und Glauben, steht in einem biblischen Apostelbrief. Das passt recht gut schon auf den ersten Take off der Geldwirtschaft im europäischen Mittelalter, im Vorlauf und in der Brutstätte der Moderne. Erstmals geriet eine große und anwachsende Zahl von Menschen in den Bann von Geld und Profit: Condottieri und ähnliche Kriegsunternehmer in Italien und Frankreich mit ihren Söldnern, die sie auf Kredit anwarben und in den Machtkämpfen der Städte und noblen Herren für den Meistbietenden zum Schlachten und Plündern führten, jederzeit bereit, für ein paar Taler mehr die Seiten auch zu wechseln. Sozial am Rand stehende, mittellose junge Männer aus reichen Städten und dem weiten Land, trugen nun in großer Zahl ihre "Haut zu Markte" und bestritten ihren Lebensunterhalt je nach Lage mit Geld oder Raub, mit Kaufen oder Kapern. Sie wurden Waren und Verkäufer in Personalunion, Dinge, die sich selbst vermarkten.

Die Entwicklung der Feuerwaffen und die tiefe Erschütterung der sozialen Bindungen in der katastrophalen Pestpandemie im 14. Jahrhundert ebneten dieser Industrie und diesem Arbeitsmarkt den Weg in eine sich in alle Gebiete des Lebens verzweigende, bis heute anhaltende große Zukunft, von den Söldnern zu den Industriesoldaten bis zu den Legionen der Einzelkämpfer im modernen Prekariat. Sich zur Arbeit, Hauptsache Arbeit, ob schädlich, nützlich oder tödlich, für Geld ver-"dingen" machte eine Karriere vom Unglück eines Lebens zu seiner Grundlage, ja zur festen Struktur der Gesellschaft.

Auch ins erste große Industriesystem Mitteleuropas flossen Bankengeld und Steuern für Mord und Krieg: Es waren des Generalissimus Wallensteins Betriebe. Hier wurde Ausrüstung und jede Sorte Nachschub für seine Söldner hergestellt, die für sich, den Feldherrn und seinen kaiserlichen Kunden das Land verheerten, Steuern erpressten und Beute produzierten. Der Vorrang des staatlichen Gewaltapparats bei Geldausgaben für innovative Technik und Forschung ist eine Konstante bis heute, zivile Anwendungen sind regelmäßig davon Abfall, sei es das Fabrikregime oder die Kunststoffproduktion, das Dynamit, die Atomtechnik oder IT und Internet. Geld wird das Blut des Lebens der Gesellschaft, auch die Kirchen haben es recht lieb gewonnen.

3. Gut vier- bis fünf hundert Jahre dominiert mittlerweile die Markt- und Geldbeziehung in Europa und hat ihren Siegeszug mit Handelsschiffen und Kanonenbooten, mit Diplomatie und offener Gewalt rund um den Globus angetreten. Sie hat Reichtum und Luxus genauso wie Krieg, Not und Elend zu nie erreichten historischen Höchstständen gesteigert und tiefste soziale Klüfte aufgerissen. War der Unterschied im materiellen Standard zwischen den reichsten und ärmsten Ländern um 1800‍ ‍noch etwa 2:1, so wuchs der Faktor in zwei weiteren Jahrhunderten Geldwirtschaft laut UNDP bis 1960 auf 1:30, 1990 auf 1:60, 1997 auf 1:76 und dürfte inzwischen jenseits der 1:100 liegen.

Und was den Skandal des Hungers in der Welt angeht, bemerkt der Anthropologe Marshall Sahlins: One third of humanity are said to go to bed hungry every night. In the Old Stone Age the fraction must have been much smaller. This is the era of hunger unprecedented. Now, in the time of greatest technical power, is starvation an institution. (Ein Drittel der Menschheit, sagt man, geht allabendlich hungrig zu Bett. In der Altsteinzeit war der Anteil sicher viel kleiner. Unseres ist das Zeitalter des Hungers wie nie zuvor. Heute, in der Zeit größter technischer Potenz, ist Verhungern institutionalisiert.)

Trotzdem: Um zu leben muss eins in unserer Gesellschaft kaufen und verkaufen, vor allem sich. Wir brauchen Geld und Markt so selbstverständlich wie Luft und Wasser. Ein anderes Leben ist für die meisten Menschen weder vorstellbar noch wünschenswert. Die durch Geld vermittelte direkte Beziehung zu Sachen und bloß indirekte oder direkt-sachliche Beziehung zu Menschen ist zur wichtigsten Klammer und zum entscheidenden Regulativ unseres Zusammenlebens geworden.

Nicht aufeinander können wir uns verlassen, nicht zueinander streben wir, sondern "nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles". Warum Gretchen im Faust dem dann noch die Worte "Ach wir Armen!" anhängt, ist heute keineswegs mehr so ohne Weiteres verständlich. Schließlich ist Geld und nicht unsere Freundlichkeit miteinander der Schlüssel zu allem, was der Mensch so braucht im Leben. Selbst "wo ich Liebe sah und schwache Knie, war's stets beim Anblick von - Marie ... Und der Grund ist: Geld macht sinnlich, wie uns die Erfahrung lehrt", so singt der gelernte Bürger in der Dreigroschenoper. Und überhaupt: "Wer sagt, dass man Glück nicht kaufen kann, hat keine Ahnung von Shopping", wie auf einer bei dieser Gelegenheit wohlfeil erwerbbaren Spruchkarte zu lesen steht.

Zwar ist uns ein Zusammenleben, das auf einem Ethos allgemeinmenschlicher Verbundenheit fußt, nicht nur möglich, ja wir neigen durchaus dazu. In einer Geldgesellschaft wird das jedoch schnell zu ökonomischem Selbstmord. Diesen Verhältnissen angepasster ist da schon der inzwischen salonfähige Zynismus von "Geiz ist geil" und "Ich habe nichts zu verschenken", dem eins dann vielleicht noch ein dumm-trotziges "Und ich brauche nichts geschenkt" anfügen will. Moral entpuppt sich in solchen Umständen regelmäßig als ein Manöver, das einen hochbezahlten Auftragsmord als Gerechtigkeit erscheinen (wie in Dürrenmatts ungebrochen aktueller Parabel "Besuch der alten Dame") oder Bomben und Raketen zum Schutz der Menschenrechte und sonstiger westlicher Werte regnen lässt (was zu veranschaulichen ein eigener Input wäre).

4. Der Glaube an die Ewigkeit der Geldwirtschaft und die grenzenlose Strapazierbarkeit von Mensch und Natur hat schon mehr und überzeugtere Anhänger gehabt. Auch an nicht so wenigen Gläubigen nagt der Zweifel und sie mutieren in Wutbürger, die in Politikern, Bankern und Spekulanten die Täter finden, die die schöne Marktwirtschaft zugrundegerichtet haben. Dabei ist es doch eine bemerkenswerte und noch dazu allen ehrlichen Arbeiterinnen und Spekulanten gemeinsame, wenn auch makabre Leistung, dass sie so an die 35 Jahre lang ein bankrottes System mit einer Blase nach der anderen und einer historisch einmaligen Schuldenmacherei am Laufen halten. Ein wahrhaft starker Glaube bei den Priestern wie bei der Gemeinde und eine unverdrossene Hoffnung, dass doch noch die Wundertechnologie auftaucht, die einen neuen realen Boom einer Verwertung mit Vollbeschäftigung und Wachstum wie vor fünfzig Jahren ermöglicht, und dass Ökokatastrophen, Peak Oil and Everything und Klimasturz bloß so eine Fata Morgana sein mögen wie die Versprechungen der Anlageberater.

Wenn solcher Glaube und diese Hoffnung wirklich "erst unseren Realitätssinn" konstituieren, wie Slavoj Zizek sagt, dann müssen wir bald nur noch demokratisch entscheiden (lassen), ob wir mit oder ohne Euro, mit Sparpaketen oder investivem Durchstarten, mit Inflation oder mit Deflation - dasselbe erleben wollen, nämlich Verarmung, eine autoritäre Notstandsverwaltung oder das globale bellum omnium inter omnes. Denn wenn das Geld sich nicht mehr verwerten kann und auch den toughsten Kreditoren und Spekulanten der zähe Glaube an zukünftige Verwertung abhanden kommt, dann wird flüssig, was im Geld gefroren ist: die Gewalt von "Rette sich, wer kann".


...oder freundschaftlich und solidarisch

5. Solidarisch leben und wirtschaften ist anders. Wie anders, das hängt nicht zuletzt davon ab, wovon man weg will. Wovon ich raus will, dazu habe ich ja eben einiges angeführt. Grundsätzlich jedenfalls widerspricht, wer auf Solidarökonomie ausgeht, dem Menschenbild, das Thomas Hobbes zu Beginn der Dominanz der Geldwirtschaft formuliert hat. Dass nämlich "der Mensch dem Menschen ein Wolf" sei und der natürliche Zustand der Menschheit ein "Krieg aller gegen alle", den nur das Gewaltmonopol des Staats zu den Macht- und Konkurrenzverhältnissen des Geldverkehrs und der Industrie herabtunen könne. Solidarökonomie besteht darauf, dass wir lieber zusammenwirken mögen als miteinander konkurrieren, dass der Mensch ein "soziales Lebewesen" ist.

Aristoteles also gegen Thomas Hobbes - wer immer sich auf die menschliche Natur beruft, hat Verwendung für das, was er in ihr erkennt. Die Menschheit hat in ihrer Geschichte gezeigt, dass sie zu vielem recht Disparatem, ja Widersprüchlichem fähig ist. Aber bei weitem nicht alles davon hat den Menschen auch gut getan. Historisch gesehen, ist unsere Natur eher ein Gang auf verschlungenen Wegen in alle möglichen Richtungen, nicht die ganze Menschheit auf derselben Strecke, in großen Gruppen, manchmal auch recht kleinen, die einen hier, die andern dort auf der Suche nach dem guten Leben. Ja, homo kann homini lupus sein, aber er kann auch ziemlich anders, andernfalls wäre die Menschheit vielleicht nicht einmal in die zweite Generation gekommen.

6. Solidarität, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Vertrauen, Freundschaft, Liebe sind keine verschiedenen Kategorien, sie sind Intensitäten desselben Verhältnisses, sie unterscheiden sich bloß in Milieu und Betriebstemperatur erheblich. Freilich wird diese menschliche Haltung und Emotion jederzeit auch - zurechtgestutzt und prächtig angeschirrt - für geschäftliche oder politische Interessen eingespannt als Mittel zum Zweck ihres Gegenteils. Einigermaßen gedeihen kann dieser Zug des Menschlichen freilich nur im Bereich privaten Lebens, bei Liebespaaren, im Freundeskreis, in der Familie, mit ein bisschen Glück auch in guter Nachbar- und Kollegenschaft. In dem Reservat also, das über die Jahrhunderte zur hoffnungslos überlasteten Reparaturstation für die psychischen und mentalen Beschädigungen im Geld- und Arbeitsleben geworden und das heutzutage auch noch am Vertrocknen ist. (Denn wenn Leistung nur mit Leidenschaft und Arbeit nur mit Freude verkäuflich ist, darf eins vielleicht Frust und Stress schon gar nicht mehr fühlen, bevor sie sich über Depression und Burnout zerstörerische Geltung verschaffen.)

Solche private, menschliche Bindungen von Solidarität bis Liebe in ihrer Eigendynamik als Lebensordnung in die öffentliche Welt übertragen zu wollen, ist eine Grenzverletzung, eine potentielle Störung der sachlichen Ordnung von Geld, Arbeit, Recht und Politik. Es sind aber just jene Bindungen, auf welche solidarisches Leben und Wirtschaften hofft und auf baut, sie sind der Reiz, der "anders leben" attraktiv macht, wenn man unter der Gleichgültigkeit, der gnadenlosen Konkurrenz und den Hierarchien, Demütigungen und Verwüstungen des Geldverhältnisses leidet.

7. Allerdings ist die erwähnte Integrationsfähigkeit der etablierten Ordnung überwältigend groß. Zunächst einmal hat sie große Übung im Umgang mit dem Widerspruch von Kooperation und Konkurrenz. Die Zusammenarbeit im Betrieb ist schließlich Voraussetzung für das Bestehen im Wettkampf auf dem Markt. Genau diese Dominanz des Markts löst denn auch den Widerspruch in die Unterwerfung der Kooperation unter die Konkurrenz auf. Die Kooperation wird dadurch zwangsläufig unfrei, fremdbestimmt, auf den Sieg des "eigenen" Betriebs und die Niederlage der Konkurrenten ausgerichtet.

Gelingt es also, statt mit Hierarchie solidarisch, ja egalitär, "ohne Chefs" zu werken, bleibt immer noch die Feuerprobe auf den Märkten. Es kann sich dabei sogar herausstellen, dass eine Dosis persönlicher Beziehung, Verbundenheit und Freundschaft, eines Denkens in Wir statt Ich ein Vorteil in der Konkurrenz und produktiver ist und dass ein wenig Rücksicht auf die Natur Zugkraft hat im Marketing. Schließlich hat die antiautoritäre Revolte von 1968 und danach auch gezeigt, dass flache Hierarchien, Zulassen von Widerspruch und Kreativität und Mannigfaltigkeit statt Einfalt gut ist fürs Geschäft. "Macht, was ihr wollt, bloß seid produktiv" - das ist der aufgeklärte Standpunkt liberaler Kapitalverwertung. Bloß wird alles, "was ihr wollt", durch das BilanzSieb von "Seid produktiv" gepresst und dabei alles ausgeschieden, was der Logik des Gelds, des Marktes, der Verwertung nicht entspricht. Was übrig bleibt - ist das, was wir Tag für Tag als Geschäft und Job erleben. Der Markt korrodiert solidarisches Werken und Wirken zu einem, das dem Geldverhältnis entspricht, macht die Genossenschaft am Ende wieder zu einer von "Ungenossen", um noch einmal Max Weber zu zitieren.

Außerdem haben die Menschen, die sich da vom Mainstream abwenden und "solidarisch wirtschaften" wollen, kein anderes Leben als eins mit Geld, Markt und Konkurrenz gelernt. Dessen Öde, Stress, Demütigungen und Lebensgefährlichkeit drängen uns zu Neuem, in dem wir schlecht geübt sind. Wenn der "alte Mensch" mit dem neuen Leben nicht gut zurechtkommt, tut er in seiner Ratlosigkeit leicht wieder oder weiter, was er zwar nicht mag und was ihn und die Seinen schädigt, was er aber besser kann.

8. Neues beginnt mit der Negation des Alten mitten im Altem. Wenn das Neue dem Alten nur widerspricht und nicht zugleich auch im und für das Alte funktional ist, wird es zerstört. Ein solidarökonomisches Projekt, das mitten in der Funktionsweise der heutigen Gesellschaft jeden Umgang mit Staat, Geld und Eigentum verweigert, wird verhungern oder als kriminell verboten. Da aber umgekehrt die Einbindung ins Alte das Neue über kurz oder lang verätzt und auflöst, kann sich das Neue in einem statisch-stabilen Zustand des Gesamten nicht behaupten. Auch einer sanften osmotischen Attacke des Alten, das das Neue von allen Seiten umgibt, kann dieses nur standhalten, wenn es in Bewegung bleibt, sich festigt, ausdehnt und damit den Bereich seiner Autonomie und seiner eigenen Logik stärkt.

Wer nicht weiter geht, fällt zurück. Gegensätze wie die Geldlogik und ein solidarisches Leben koexistieren weniger als sie prozessieren. Solidarisches Leben und Wirtschaften ist kein Korrektiv, keine Ergänzung zu Markt und Geld, es ist eine Alternative, es löst die Geldlogik auf. Sonst umgekehrt.

9. Dem Geldverhältnis liegt der wohlbekannte und in uns allen mehr oder weniger eingewurzelte Interessen-Standpunkt eines freien, souveränen, selbstverantwortlichen Ich zugrunde, von dem aus es jedem Nicht-Ich, ob lebendig oder dinglich, als einem potentiell gefährlichen Objekt entgegentritt. - "Ich muss für mich selber sorgen, sonst tut es ja niemand." Verpflichtung für andere entsteht nur in blankem Eigeninteresse, nämlich als Versicherungsfall: Ich zahle ein, weil es mich treffen könnte und nehme dafür misstrauisch in Kauf, dass andere davon profitieren. Derlei Solidarität verlässt den Mainstream nicht.

Solidarität muss ein anderes Verhältnis zwischen uns entwickeln, wenn sie gedeihen soll. Erfinden müssen wir es nicht, denn in Fragmenten ist es unter uns. Das Verhältnis selbstverständlicher Hilfsbereitschaft, der Sorge hier und da für andere, ohne dabei aufzurechnen. In manchen Gruppen von Nachbarn und Kollegen, unter Verwandten zuweilen keimt es, unter Freunden und Liebespaaren, von Eltern zu ihren Kindern treibt es zeitweise heiße Blüten. Nicht "Ich hab es mir gerichtet", sondern "Wir sorgen füreinander" schafft ein Wohlbehagen, ein Glücksgefühl in solchen Nischen und Momenten. Es zeigt, was auch nach ein paar tausend Jahren Herrschaft und ein paar Jahrhunderten ihrer jüngsten Variante noch immer möglich ist.

Freilich: Beim Geld hört sich Freundschaft auf. Das integrierte System von Geld, Markt, Recht und Staat greift durch und über, der Raum für unberechnete Freundlichkeit und fraglose Solidarität ist eng. Den zu erweitern, zu verteidigen und auszudehnen, mehr Mittel für ein solches Leben in die Hand zu kriegen, auf Wegen, die wir erst bahnen, mit Fragen, die wir noch gar nicht stellen können, aber wenn wir es richtig machen: mit Freude aneinander - so könnte Solidarische Ökonomie sich entwickeln und behaupten. Wir würden gar nicht mehr von Ökonomie reden, es wär einfach ein gutes Leben. Denn bei der Freundschaft hört sich das Geld auf.

Raute

Mythos Geld*
Ein Diskussionsanstoss in 5 Akten

von Andreas Exner

Ein Leser meint: Eine Welt ohne Geld wäre schön, doch eine schöne Welt ohne Geld sei unmöglich. Also, brauchen wir Geld oder brauchen wir Geld nicht? Im Folgenden behandle ich fünf Fragen zum Thema Geld. Als Überschriften dienen mir die wichtigsten Antworten darauf. Es spricht einiges dafür, dass es dabei um Mythen geht.


Mythos 1: Geld ist ein neutrales Mittel zum Zweck

Wir alle gebrauchen Geld tagtäglich. Weil wir beinahe nichts ohne Geld bekommen oder tun können, neigen wir zur Ansicht, Geld sei ein neutrales Mittel für einen vernünftigen Zweck. Tatsächlich müssen wir es uns ja buchstäblich leisten können, einmal nicht ans Geld zu denken. In einer Gesellschaft, in der Geld das Scharnier der sozialen Beziehungen ist, liegt das auf der Hand. Auf der Hand liegt damit aber auch, dass das Geld lediglich Mittel für einen Zweck ist, den es selber erst in die Welt setzt: Wer kaufen muss, will kaufen können.

Von der Seite der Konsumentin her gesehen ist Geld bloßes Mittel, um zu kaufen. Der Zweck des Kaufs ist hier nicht Geld, sondern Ware. Betrachten wir den Kaufakt dagegen mit den Augen eines Unternehmers, so ist sein Zweck das Geld. Er will mehr davon, als er ausgegeben hat, um die Waren herstellen zu lassen. Ansonsten macht die Aktion für ihn keinen Sinn. Denn von der Anerkennung der Kunden oder der Zufriedenheit seines Personals kann er sich nichts kaufen; weder Brot noch Yachten noch neue Maschinen, die es ihm erlauben, die Produktivität zu steigern, um in der Konkurrenz bestehen zu können. In diesem Prozess der Geldvermehrung sind menschliche Bedürfnisse und ökologische Grenzen zweitrangig. Deshalb ist Geld nicht vernünftig.

Gemacht wird folglich nicht, was machbar ist. Vielmehr entscheiden darüber Gewinn und Finanzierbarkeit. Denn Geld hat eine Botschaft: Du bist nichts, solange du nicht kaufen kannst. Tatsächlich erkennen wir einander nicht als Menschen an, sondern nur als Zahlende. Primär missverstehen wir uns als Getrennte. Erst in zweiter Linie verbindet uns das Geld. Deshalb ist Geld nicht neutral.


Mythos 2: Geld ist gut, nur die Gier danach ist schlecht

Das Streben nach Gewinn liegt nicht in der Natur des Unternehmers, sondern in der des Geldes. Nicht die Gier treibt ihn dazu, Gewinn zu produzieren. Die Ursache ist auch nicht die Gier der Banken. In Wahrheit gründet die Gewinnsucht darin, dass Geld für nichts gut ist. Es befriedigt keinerlei konkretes Bedürfnis. Geld kann man weder essen noch trinken, weder fühlen noch schmecken, noch sehen oder hören. Geld als Geld ist eine nackte Zahl (auf einem Schein, einer Münze oder am Konto). Es verkörpert den "reinen Reichtum" - einen sehr eigentümlichen "Reichtum", der von allem Irdischen "gereinigt" ist. Geld ist daher ein Produkt, das als solches gar nicht befriedigen kann. Gier und Sucht provoziert es mit Notwendigkeit.

Der Unterschied ist himmelhoch: Brot stillt Hunger, Mensch will Brot; Geld dagegen will quasi bloß sich selbst. Der Hunger nach Geld ist rein abstrakt. Auch das beste Menü lässt diesen Hunger unberührt. Betrachten wir eine Speisekarte, so bestellen wir, was auf der linken Seite steht, nicht das auf der rechten. Genau deshalb ist dieser spezielle Hunger maßlos, rastlos, endlos. Geld unterscheidet sich von sich selbst ja nur der Menge nach. Aus eben diesem Grund wird aus Geld Kapital - Geld, das sich vermehrt. Der Hunger danach, Geld zu vermehren, ist maßlos: Denn an sich selbst findet Geld kein Maß. Warum soll ein Gewinn von 10 Prozent ausreichen, wenn auch einer von 10,5 Prozent möglich wäre? Rastlos ist dieser Hunger noch dazu: Anders als der Hunger unserer Sinne ist er durch nichts und niemanden und niemals zu stillen. Warum auch soll ein Unternehmen z.B. nur alle fünf Jahre Gewinn machen wollen? Und schließlich ist dieser Hunger endlos: An sich selbst findet Geld keine Grenze. Warum sollte ein Kapital von 1 Million Euro ausreichen, wenn wir es auf 1 Million Euro und 2 Cent erhöhen können ... und so weiter. Selbst wenn ein Unternehmer dieser Geldlogik nicht folgen will, so erzwingt es doch die Konkurrenz.


Mythos 3: Arbeitsteilung benötigt Geld

Kommt die Rede auf Sinn und Zweck des Geldes, so ist oft zu hören, dass ohne Geld erstens keine Arbeitsteilung möglich sei, und dass zweitens Wohlstand gerade auf einer starken Teilung der Arbeit basiert, wie erst das Geld sie ermögliche. Tatsächlich hat der überwiegende Teil der heutigen Arbeitsteilung allein den Sinn, Geld zu machen. Auch ist es richtig, dass sich die Arbeitsschritte extrem vermehrt und die Transportwege massiv verlängert haben - wir wissen, dass dies in ökologischer und sozialer Hinsicht problematisch ist.

Ein gewisser Grad an Arbeitsteilung ist sicherlich in vielen Fällen sinnvoll. Dass es ohne Geld keine Arbeitsteilung gäbe, stimmt aber nicht. Zu den sozialen Zusammenhängen, die Arbeitsteilung ohne Geldverkehr organisieren, zählt nicht nur die Familie sowie die Wohn- oder Dorfgemeinschaft. Auch beschränken sich Arbeitsteilungen ohne Geldverkehr nicht auf die ungeheure Vielfalt vor- und nicht-moderner Gesellschaften, die weltweit existiert haben und zum Teil noch existieren. Die besten Beispiele von Arbeitsteilung ohne Geldverkehr sind vielmehr die kapitalistischen Unternehmen selbst. Innerhalb einer Fabrik oder in einem Büro wird bekanntlich weder getauscht noch bezahlt. Intern beruht ein Unternehmen vielmehr auf der Kooperation. Die Geldwirtschaft freilich führt dazu, dass Kommando- und Konkurrenzbeziehungen die innerbetriebliche Kooperation überlagern.

Dass Arbeitsteilung nicht des Geldes bedarf, lässt sich noch an vier weiteren Beispielen zeigen. Erstens am Phänomen der Freien Software-Produktion (Stichworte: Linux, Wikipedia). Dabei arbeitet weltweit eine große Gruppe von Menschen an einem hoch qualitativen, komplexen Produkt - ohne damit Geld zu verdienen, ohne einander persönlich zu kennen. Zweitens zeigt der bedeutsame und vielfältige Bereich des Ehrenamts, in welchem Ausmaß notwendige und sinnvolle Arbeiten auch ohne Geldverkehr und -erwerb geteilt werden können. Ein drittes Beispiel sind die so genannten Reduktionen in Paraguay zur Zeit des "Jesuitenstaats" im 17. Jhdt. Sie sind zwar kein Vorbild für eine egalitäre Gesellschaft, doch beweisen sie, dass prinzipiell nicht nur eine Arbeitsteilung, sondern auch eine Güterverteilung ohne Geld möglich ist. Die Reduktionen versorgten über 200.000 Menschen und stachen zu ihrer Zeit durch ihren Wohlstand hervor. Ein viertes Beispiel bieten uns die israelischen Kibbuzim. Das Sozialgefüge dieser Produktions- und Lebensgemeinschaften, die jeweils bis zu 2.000 Menschen umfassen, basierte jahrzehntelang und in wesentlichen Zügen auf einer Kooperation ohne Geld. Insbesondere in ihrer Blütezeit wurde die Produktion (ab den 1950er Jahren auf höchstem technischen Stand), die Teilung der Arbeit und die Verteilung der Güter innerhalb des Kibbuz weitestgehend ohne Geld kollektiv organisiert. In den 1960er Jahren, als der Niedergang der ursprünglichen Kibbuzidee einsetzte, lebten rund 80.000 Menschen in mehr als 200 Kibbuzsiedlungen. Jeder dieser vier beispielhaften Ansätze hat bzw. hatte natürlich mit einer Reihe von Schwierigkeiten zu tun. Doch sind diese im Wesentlichen auf die ungünstigen Außenbedingungen zurückzuführen, die von der Geldwirtschaft bestimmt sind. Sie wären überwindbar (gewesen).

Obwohl die Arbeitsteilung wichtig ist, dürfen wir ihren Nutzen aber auch nicht überschätzen. Die Produktivität etwa hängt nur zu einem Teil davon ab, mindestens ebenso wichtig ist die Kooperation. Die entscheidende Rolle aber spielen die Maschinen. Die moderne Produktivität ruht auf dem Wissen, das in ihnen steckt, und auf der fossilen Energie, mit der wir sie (noch) betreiben.


Mythos 4: Der Zins ist schuld

Eine Frage liegt nun wohl einigen auf der Zunge: "Aber ist nicht der Zins das eigentliche Übel, Geld hingegen gut?" Lasst uns die Sache näher ansehen. Um zu verstehen, wie Geld, Gewinn und Zins zusammenhängen, ist eine formelhafte Darstellung hilfreich. Wir stellen dazu dar: die Ware (mit Preisen versehene Güter und Dienstleistungen), G für das Geld und "G + Gewinn" für den Zuwachs an Geld über die vorgeschossene Summe G hinaus. Der Geldzuwachs bildet den Unternehmergewinn. Der einfachste Fall des Produktionsprozesses in einer Geldwirtschaft sieht dann aus wie folgt:

Geld wird ausgegeben, um bestimmte Waren (Produktionsmittel und Arbeitskraft) zu kaufen. Der Verkauf der produzierten Ware ergibt einen Rückfluss an Geld. Wir haben zuvor schon gesehen, dass dieser Vorgang nur dann einen Sinn ergibt, wenn die Einnahmen die Ausgaben übersteigen, wenn also nicht nur G, sondern "G + Gewinn" herauskommt. Aber diese formelhafte Darstellung ist noch unvollständig. In der Regel wird nämlich das Kapital - Geld also, das sich vermehrt - von Geldkapitalisten (Banken, Fondsverwaltern) vorgeschossen. Mit dem geborgten Kapital lässt ein Unternehmer schließlich Waren produzieren. Die ergänzte Darstellung sieht aus wie folgt:

Wer Geld zur Bank trägt, hat in der Regel nicht diesen Gesamtprozess der Warenproduktion vor Augen, wie er sich am Konto positiv zu Buche schlägt. Unser Blick ist vielmehr auf einen kleinen Ausschnitt beschränkt: Aus G wird "G + Sparzinsen" (der erste "Geldkreislauf" in der grafischen Darstellung). Es sieht deshalb so aus, als würde Geld Geld machen, quasi aus dem Nichts, so als würde Geld "arbeiten". Tatsächlich aber wird das Geld in Form von Kredit bloß vorgeschossen, um Arbeitskraft in der Warenproduktion vernutzen zu können. Die Arbeitskraft braucht nur einen Teil der Arbeitszeit, um ihre eigenen Kosten einzuspielen, schafft also mehr Wert, als sie selbst hat. Sie produziert Mehrwert, einen Profit. Der Unternehmer erhält davon einen Teil, seinen Gewinn. Der andere Teil wird an die Geldkapitalisten als Zins (oder als Aktiendividende) bezahlt. Dies ist der Preis für jenes Geldkapital, mit dem er seinen Gewinn produzieren konnte.

Übrigens geben die Banken heute nicht bloß Geld, das die Sparerinnen bei ihnen anlegen, an die Unternehmen weiter, wie die vereinfachte grafische Darstellung suggeriert. Die Banken "schöpfen" vielmehr selber Geld (Buchgeld), indem sie Unternehmen, die sie als profitabel einschätzen, Kredite gewähren (in Gestalt von Sichteinlagen). Allerdings müssen die Kredite der Geschäftsbanken zu einem gewissen Teil durch Bareinlagen von Sparerinnen oder durch Verschuldung bei der staatlichen Zentralbank gedeckt sein.

Im Unterschied zu Unternehmenskrediten sind Konsumentinnenkredite - geldwirtschaftlich betrachtet - unproduktiv. Sie werden ja nicht als Kapital genutzt, sondern für den Konsum verausgabt. Die Schuldnerinnen haben davon keinen finanziellen Vorteil. Für den Unternehmer aber sind Kredite in der Regel nicht nur rentabel, sondern notwendig, um in der Konkurrenz zu bestehen. Er profitiert, gerade weil er Schuldner ist. Denn je größer das investierte Kapital, desto größer auch der potenzielle Gewinn. Deshalb gehört zur Geldwirtschaft mit Notwendigkeit der Zins. Ihre Übel sind, wie schon zuvor gezeigt, nicht durch den Zins bedingt. Der Zwang zum Wachstum folgt ebenso aus der "Geldnatur" wie die Konkurrenz. Zusammen bewirken diese beiden Dynamiken schließlich auch, dass die Reichtumsschere immer weiter aufgeht (wer Geld als Kapital anlegen kann, bekommt noch mehr davon usw.).


Mythos 5: Kein Kloputz ohne Geld

Wenn bestimmte Arbeiten derart qualvoll oder unattraktiv sind, dass sie niemand übernimmt, ohne dazu gezwungen zu werden, dann müssen wir diese Arbeiten besser organisieren. Nehmen wir den (sehr wahrscheinlichen) Fall, dass sich niemand freiwillig dazu bereit findet, über Jahre hinweg den ganzen Tag Klos zu putzen. Was spräche dagegen, dass die Benützer selbst die Reinigung unter sich organisieren?

Welche Gesellschaftsform wollen wir mit dem Argument verteidigen, dass sie nur funktioniert, wenn es den - alles andere als notwendigen - Zwang gibt, Geld zu verdienen und auszugeben; dass sie nur funktioniert, wenn "Chefs" so genannte Beschäftigte kommandieren; unter der fortgesetzten Drohung der Verarmung, ja des Hungers, letztlich gar des Todes? Ist dies eine Welt, die wir unseren Kindern hinterlassen wollen? Ist dies eine Welt, die wir selbst für gut und richtig halten? Niemand von uns wird glauben, wir seien in verschiedene Klassen geboren, wonach es - um bei einem krassen, gleichwohl alltäglichen Beispiel zu bleiben - "Chefs" gibt, unter deren "Würde" es ist, ihr eigenes Klo zu reinigen, und "Beschäftigte", deren einzige Arbeit darin bestehen muss, den Schmutz von anderen wegzuräumen.

Damit ist übrigens nicht gesagt, dass es nicht auch erfüllend oder interessant sein kann, eine Zeit lang Reinigungsaufgaben zu erledigen. Die Arbeitsmotivation hängt von vielen Faktoren ab. Nicht einmal in der Geldwirtschaft ist das Geld dafür der (allein) entscheidende Faktor. Ebensowenig brauchen wir Geld, um soziale Institutionen und Entscheidungsprozesse zu kontrollieren. Das Geld zu kontrollieren ist dagegen ausgesprochen schwierig, ja, im Licht der jahrhundertelangen Geschichte der Geldwirtschaft meine ich sogar: Es ist unmöglich. Allemal leichter ist wohl, das Leben in einer Gesellschaft ohne Geld zu organisieren.


Was folgen könnte

Wenn die Aussagen in den Titeln der fünf vorangegangenen Abschnitte tatsächlich Mythen sind, welche Schlüsse können wir daraus ziehen? Zuerst einmal, so können wir schließen, gibt es vor allem eine Rechtfertigung für die Geldwirtschaft: dass sie nun einmal existiert und unser Leben eben prägt. Sie ist nicht nur ein Zwang, sondern auch eine Gewohnheit. Zwang und Gewohnheit sind letztlich - in Anbetracht der globalen Herausforderungen - allerdings nur schwache Argumente dafür, an der Geldwirtschaft noch weiter festzuhalten. Sehen wir zweitens, dass diese Wirtschaftsform Konkurrenz, Wachstum, extreme Benachteiligungen und vielfache Zerstörung produziert, so wäre es wichtig zu überlegen, wo und wie wir Auswege öffnen können.

Die Geschichte zeigt, dass es nicht möglich ist, die Übel der Geldwirtschaft durch staatliche Planung zu überwinden. Der Realsozialismus etwa hat zu diesem Zweck ein politisches Ungeheuer hervorgebracht. Mit dessen Hilfe verfolgte er ein quantitatives, in Geld bemessenes Wachstumsziel. Den "Geldegoismus" jedoch wollte er mit bürokratischen Zügeln bremsen und mit Gewalt lahmlegen. So legte er aber zugleich den inneren Zwang zum Wachstum still, ebenso wie den Zwang zu der in Geld gemessenen "Effizienz", die in einer Geldwirtschaft normalerweise wirken. Wachstum und (monetäre) "Effizienz" musste der realsozialistische Staat deshalb mittels äußerem Zwang, d.h. bürokratisch anordnen. Dies hatte nur begrenzten Erfolg und zeigte zudem einige unerwartete, dafür umso schwerer wiegende Negativfolgen. Auch die Versuche, staatliche Planung bzw. Wirtschaftslenkung mit marktlicher "Selbstorganisation" zu kombinieren, führten in eine Sackgasse. Der Sozialdemokratie z.B. gelang es nicht, die Geldwirtschaft zu kontrollieren und zu zügeln, geschweige denn ihre negativen ökologischen Folgen zu beheben. Ähnliches gilt für den jugoslawischen Marktsozialismus, der auf eine normale Geldwirtschaft hinauslief, mangels Rentabilität jedoch in eine tiefe Krise schlitterte. China wiederum kombiniert mittlerweile eine äußerst rigide Staatsgewalt mit einer freien Geldwirtschaft. Das tut zwar den Gewinnen gut, die Bevölkerung aber kommt unter die Räder.

Aber auch Versuchen, allein durch den Auf bau "alternativer Betriebe" die Übel der Geldwirtschaft überwinden zu wollen, sollten wir mit einer gesunden Skepsis begegnen. Denn "Alternativbetriebe" machen noch keine "alternative Wirtschaft" - vor allem dann nicht, wenn sie in der Kette von Kauf und Verkauf verbleiben. Die Macht des Geldzwangs und die eingefahrenen Gewohnheiten der Geldwirtschaft können wir nicht einfach ignorieren.

Ich sehe deshalb drei Aufgabenbereiche, die wir stärker diskutieren und miteinander verbinden sollten. Erstens ginge es darum, einige der verbreiteten Tabus abzubauen, was die Forderungen nach Geld betrifft. Denn klar muss sein: Wenn die Geldwirtschaft kein gutes Leben möglich macht, dann ist die Geldwirtschaft zu überwinden, am Anspruch auf ein gutes Leben hingegen festzuhalten. Mit dieser Sicherheit im Rücken können wir tabulos, z.B. in Gestalt eines bedingungslosen Grundeinkommens, Geld einfordern - ohne Rücksicht auf Profit- und Wachstumsinteressen, aber auch ohne Sorge um den Fortbestand der Geldwirtschaft. Auch wenn wir nach Auswegen aus der Geldwirtschaft suchen, so werden wir für eine gewisse Zeit doch Geld benötigen. Es gibt im Grunde (abgesehen von Schenkung) ja nur zwei Möglichkeiten um zu jenen Wirtschaftsmitteln, die wir für solche Auswege brauchen, zu gelangen: entweder Kauf oder aber Aneignung ohne Kauf, d.h. gemeinschaftliche Besetzung oder - staatlich akzeptierte, eventuell sogar geförderte - Vergesellschaftung bzw. Kollektivierung. Außerdem braucht es für den Auf bau von Alternativen (von der Erwerbsarbeit) befreite Zeit, die z.B. ein Grundeinkommen schaffen kann.

Zweitens und zugleich aber wäre es entscheidend, geldlose Netzwerke der Kooperation aufzubauen, die im Lauf der Zeit einen ganzen Sektor abseits der Geldwirtschaft bilden könnten. Diese Netzwerke müssten sich durch freie Absprache und wechselseitige Verpflichtung konstituieren. Sie könnten selbst eine neue "soziale Gewohnheit" des geldfreien, verbindlichen Umgangs miteinander generieren. Daneben hätten sie die Aufgabe, Institutionen, Entscheidungsprozeduren und Funktionsteilungen zu entwickeln, die eine Produktion und Verteilung ohne Geld ermöglichen und die helfen, dabei auftretende Konflikte konstruktiv zu bearbeiten. Möglicherweise ist die Solidarische Ökonomie in Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern ein in dieser Hinsicht entwicklungsfähiges Modell. Vom Staat wäre dabei zu verlangen, dass er solche Sektoren gesetzlich nach seinen (gleichwohl beschränkten) Möglichkeiten vor der Geldwirtschaft schützt und steuerlich bevorteilt.

Drittens sollten folgende Fragen in den Fokus der öffentlichen Diskussion, der gesellschaftlich aktiven Gruppen und nicht zuletzt der Wissenschaft rücken: Wie können wir unser Leben von Kauf und Verkauf entkoppeln? Was braucht es, um ohne Geldverkehr und Geldgewinn auszukommen? Worauf müssen wir fortlaufend verzichten und was drohen wir zu erleiden, wenn wir weitermachen wie bisher? Was können wir im Gegenzug gewinnen, wenn wir uns der Geldwirtschaft entledigen? Wie können wir gesellschaftliche Strukturen auf bauen, die es uns erleichtern, ethisch richtig zu handeln? Welche Art von Technologie und Energieversorgung, welche Materialien und Konsumweisen benötigt bzw. fördert eine Gesellschaft ohne Geld? Und schließlich: An welchen Initiativen und Praxen können wir anknüpfen, um ein Leben jenseits des Marktes zu entwickeln?

Der Fragen gibt es also viele. Die passenden Antworten werden wir nur gemeinsam geben können.

(*) Erstmals erschienen in: SOL Nr. 126, 2006, S. 16-20; www.nachhaltig.at

Raute

Immaterial World

Demonetarisierung durch Entwarenformung

von Stefan Meretz

Das Schlagwort von der Demonetarisierung ist ein neuer, schillernder Begriff im emanzipatorischen Diskurs. So ist es nicht verwunderlich, wenn sich schnell Missverständnisse und Abgründe auftun. Einige von ihnen sollen hier diskutiert werden.

Naiv-anekdotisch tritt manchmal die lustig gemeinte Forderung auf, alle mögen ad hoc ihre Geldbörsen leeren, worauf man gleich zur Demonetarisierung durch Verbrennen der Geldscheine schreiten könne. Mit diesem "Witz" verwandt ist die durchaus ernsthaft gemeinte moralische Anforderung, Befürworter_innen der Demonetarisierung dürften nicht nach Einkommen streben. Auf diese Weise wird jedoch ein gesellschaftliches Struktur- in ein individuelles Verhaltensproblem umgedeutet. Geld als dingliche Inkarnation des sich gesellschaftlich konstituierenden Werts kann nicht individuell umgangen werden. Daher sind alle gezwungen, in irgendeiner Form nach Geld zu streben.

Eine verwandte Diskursfigur ist die des moralischen Rankings von Einkunftsquellen. Danach gilt die staatliche Alimentation als akzeptabel, die abhängige Beschäftigung als legitim, die selbstständige Tätigkeit als zweifelhaft und die unternehmerische Tätigkeit mit der Größe des Unternehmens als wachsend verwerflich. Hierbei wird oftmals nicht die konkrete Handlungsweise beurteilt, sondern die Position als solche. Die dabei implizit vorgenommene "Adelung" von Armut wird nur noch getoppt durch die agitatorische Denunziation des "arbeitslosen" Einkommens von Kapitalist_innen, die nahtlos anschlussfähig ist an reaktionäre Diskurse, welche sich dann allerdings gegen die Ärmsten richten. Der Klassenkampffetisch lässt grüßen.

Selbstverständlich gibt es Unterschiede im Gleichen. Das Gleiche ist die monetäre Strukturlogik der Warengesellschaft. Sie bestimmt den Rahmen, in dem sich alle bewegen. Unterschiedlich ist die Position, die im gleichen Funktionszusammenhang eingenommen wird - ob als erfolgreiche oder -lose Selbst- oder Fremdverwerter_innen von Arbeitskraft. Die Position und die relative monetäre Verfügungsmasse bestimmt die Größe des Raums der Handlungsmöglichkeiten. Strukturell nahegelegte Handlungsformen determinieren keineswegs das individuelle Tun, doch die Weigerung, sich auf Kosten von anderen zu behaupten, muss man sich auch "leisten" können. So redet es sich auch leichter von Demonetarisierung mit einem wohlgefüllten Bankkonto im Hintergrund als auf der Rutschbahn von einem Dispokredit zum nächsten.

Dabei ist Demonetarisierung als Befreiungsprojekt gedacht, als allgemeine Befreiung von der Not, sich oder andere verwerten und "zu Geld machen" zu müssen. Warum rutschen wir trotzdem so oft in die moralische Schlangengrube? Weil heute die Miete bezahlt werden will, so einfach ist das. Die alltägliche Bedrückung lähmt. Umso wichtiger ist es, dass wir dies in unseren Zusammenhängen nicht noch verlängern - ohne der Illusion zu erliegen, wir könnten die Bedrückung interpersonal aufheben. Zwar gibt es Einzelne, die ohne Geld über die Runden kommen, jedoch nur, weil andere dies nicht tun.

Eine weitere Denkfigur ist die der solidarischen Demonetarisierung. Danach sei es möglich, die monetäre Logik durch Entfernung und Ersetzung von Befehlshierarchien in Unternehmen zurückzudrängen. Krönung dieser Idee ist der selbstverwaltete und -geleitete Betrieb, etwa Genossenschaften. Zunächst ist auch hier die Nähe zu neoliberalen Diskursen auffällig, die Schlüsselworte heißen hier Verschlankung, Abflachung der Hierarchien, Verbetriebswirtschaftlichung des Handelns, Eigenverantwortung am Markt usw. Doch wie oben erklärt, gibt es immer Handlungsmöglichkeiten. Man kann sich der Logik des Marktes vollständig unterordnen - darauf zielen die liberalen Ideologeme - oder versuchen, eigene Bedürfnisse gegen die Logik des Marktes zur Geltung zu bringen.

So wäre die Gleichsetzung von solidarischen mit gewöhnlichen Betrieben am Markt verfehlt. Genauso verfehlt ist jedoch die Glorifizierung von solidarischer Ökonomie als dem ganz Anderen. Solange sich Unternehmen am Markt bewegen und dort bewähren müssen, solange also die Warenform die Aktivitäten bestimmt, ist Demonetarisierung eine Illusion. Allenfalls Umverteilung - auch eine mögliche, aber keine grundsätzliche andere Handlung - ist möglich. Daraus kann man, so meine These, die zentrale Bedingung für eine strategisch angelegte Demonetarisierung ableiten: Keine Demonetarisierung ohne Entwarenformung.

Entwarenformung bedeutet, von der Warenform loszukommen. Produkte nehmen dann Warenform an, wenn sie in getrennter Privatproduktion hergestellt und anschließend in der Regel gegen Geld getauscht werden. Die Alternative sind Commons. Produkte nehmen Commonsform an, wenn ihre Herstellung und Nutzung jenseits des Tausches organisiert wird. Statt die Verteilung im Nachhinein über das Geld zu vermitteln, wird sie von vornherein gemäß der Bedürfnisse der Beteiligten verabredet.

Bedeutet diese Forderung aber nicht doch, dass wir bei allen Aktivitäten und Projekten von Geld absehen müssen? Wären wir also wieder in der moralischen Schlangengrube gelandet? Nein, keineswegs. Wie dargestellt entkommen wir der Geldbenutzung vorerst nicht, solange das Warenparadigma dominant ist. Aber es ist ein Unterschied ums Ganze, ob Geld etwa zum Zweck der Umwandlung von Waren in Commons eingesetzt wird oder weiterhin seine Funktion im erweiterten Kreislauf der Verwertung einnimmt. Ob wir also commons-basierte Produktionsstrukturen auf bauen, die eben keine Waren, sondern Commons herstellen und erhalten, die nicht getauscht, sondern nach Verabredung genutzt werden. Und dabei geht es nicht nur um immaterielle Güter wie Software und Wissen, sondern um ganz handfeste Dinge wie Kartoffeln und Maschinen.

Muss ich erwähnen, dass dies ein ungeheuer schwieriger und widersprüchlicher Prozess ist? Dass damit der Kapitalismus nicht hier und heute aufgehoben wird? Wohl kaum. Wenn eine freie Produktionsweise in der Zukunft Waren, Tausch, Geld und Markt nicht mehr kennen soll, dann muss heute begonnen werden, eben jene Produktionsweise aufzubauen - noch unter den alten dominanten monetären Imperativen. Das ist dann tatsächlich Demonetarisierung. Wenn es nötig ist, unter Einsatz von Geld.

Raute

Produktionsverhältnis weg, Staat weg - Geld passé!

von Alfred Fresin

Um einer Dämonisierung des Geldes entgegenzutreten und einen klaren Blick für die Demonetarisierung zu gewinnen, seien ein paar Anmerkungen zum derzeitigen Geldwesen eingebracht.

Politische Ökonomie des kapitalistischen Geldes

Tausch und Geld gab es schon in vorkapitalistischen Zeiten. Was ist das Spezifische der kapitalistischen Tauschwirtschaft?

Alle Bürger werden darauf festgelegt, mit dem Warentausch ihre Reproduktion zu gewährleisten. Mit ihrem Eigentum haben sie ihre Reproduktion zu bewerkstelligen. Für Leute, die nichts anderes als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, sieht die Transaktion auf dem Markt folgendermaßen aus: W(are)-G(eld)-W(are). Mit dem verdienten Geld erschließt sich für die Konsumenten die Vielfalt der Warenwelt - dass sich da nicht allzu viel mit dem Lohn erschließt, ist den meisten Lohnarbeitern bekannt. Ganz anders sieht die Transaktion bei Leuten aus, die ihr Eigentum einsetzen, um andere für sie arbeiten zu lassen. Sie kaufen die nötigen Produktionsmittel und Arbeitskräfte, lassen produzieren, verkaufen die Produkte am Markt mit einem, so ist es bei allen geplant, Gewinn, der beim Verkauf realisiert werden soll. Die Bewegung hat nun die Form G-W-G': Aus dem Vorschuss soll Überschuss werden. Dieser Zuwachs an Geld entsteht nicht im Austauschprozess oder etwa per se aus dem Geld, sondern durch Schaffung von Mehrwert im Produktionsprozess. Dieser nicht unwesentliche Vorteil der Erhöhung der Geldsumme (G'), der durch den erfolgreichen Verkauf der Ware realisiert wird, stellt sich also bei den Eigentümern von Produktionsmitteln und den produzierten Waren ein, allerdings nicht bei den eigentlichen Produzenten, den Verkäufern der Ware Arbeitskraft. Es ist dieser Zuwachs, auf den es im Kapitalismus ankommt, ausgedrückt nicht in zunehmendem Nutzen, Genuss und zunehmender Muße, sondern in Geld. Das G' ist das treibende Moment für die Produktion, es ist die notwendige Grundlage des Kapitalismus. Kapital wird Geld dann, wenn es diese Potenz zur Vermehrung innehat (also nicht in der Geldbörse der Konsumenten).

Das treffendste Kürzel für den Kapitalismus lautet demnach G-G' - auf diese Bewegung kommt es an. Die Ware stellt bei der Bewegung G-W-G' nur mehr einen Zwischenprozess dar, auf den eine gewisse Branche von vornherein verzichtet. Die Banken statten die Unternehmer mit Kredit aus, weil diese Vorschüsse brauchen, damit ihre Geschäfte keine Stockung erfahren und sie diese auf höherer Stufenleiter betreiben können, um sich Konkurrenzvorteile zu schaffen. Dieser Kredit ist "fiktives" Kapital, da es bloß den Anspruch auf Vermehrung hat und vorerst einmal eine Geldforderung ist, welche die Banken vorweg verzinsen. Die Banken sind die für den Kapitalismus unverzichtbaren Geldschöpfer, und sie machen dies aus dem gleichen Prinzip wie alle anderen Unternehmen - nämlich um ihr Kapital zu vermehren. Sie stellen ihre "Dienste" nur zur Verfügung, wenn Letzteres gewährleistet ist.

Für all diese schönen Sachen, die er als politische Klammer betreut, ist der bürgerliche Staat mitverantwortlich. Er legt jede Bürgerin und jeden Bürger darauf fest, aus ihrem (seinem) Eigentum etwas, nämlich Geld, zu machen. Dafür sind schon einige Gesetze und seine Gewalt nötig (siehe dazu auch Artikel "Der bürgerliche Staat" in Streifzüge Nr. 49, S. 11 ff.) - und außerdem ein staatliches Geld, das auch dem Anspruch genügt, Reichtum zu sein, sowohl im In- als auch im Ausland. Der Staat budgetiert alle steuerbaren Leistungen und Leistungen, die er erbringt, in Geld und bedient sich des Finanzkapitals, um seinerseits Kredite aufzunehmen. Dabei behält er immer seine Kreditwürdigkeit und die Tauglichkeit seiner Währung im Auge. Längerfristig und rücksichtslos neues Geld zu drucken, was ihm hoheitlich zusteht, um damit Ausgaben zu tätigen bzw. Schulden zu bedienen, wird ein Staat, eingebunden in den globalisierten Handel und Finanzmarkt, im Hinblick auf die Güte seines Geldes zu vermeiden trachten. Wenn er es dennoch tut, dann läuft er Gefahr, das Vertrauen der Finanzwelt auf die "Werthaltigkeit" seiner Währung zu verlieren. Starke Inflation, Abwertung, Währungsreform und schließlich Staatsbankrott können Resultate dieses Vertrauensverlustes sein.

Krise als Geldkrise

Die Banken schaffen Geld als fiktives Kapital. Dabei folgen die Banken in ihrem Geldschöpfungsprozess weiter beharrlich dem Prinzip G-G'. Sie verlangen Zinsen für die Potenz auf Gewinne des noch fiktiven Kapitals. Sie vermehren Geld unabhängig von der Produktion von Werten und deren "Versilberung" durch erfolgreichen Verkauf.

Im entwickelten modernen Kapitalismus wurde dieses Geschäftsmodell noch weiter vorangetrieben. Zwei Faktoren haben dazu beigetragen: Erstens die Loslösung des Geldes von seiner metallischen Form. Für die Einlösbarkeit des Papiergeldes zum angegebenen Wert steht der Staat mit seiner Gewalt gerade. Zweitens, als Vollendung dieses Anspruches, die Auf hebung der Golddeckung (Auf kündigung von Bretton Woods 1973, eingeleitet von der Abschaffung der Goldeinlösepflicht bzgl. des Dollars durch Nixon 1971).

Heutzutage kursiert eine enorme Menge "fiktiven" Kapitals in der Finanzwelt. Die exorbitanten Buchwerte, welche das Finanzkapital akkumuliert, sind auch Kapital, jedoch fußen sie auf dem allgemeinen Vertrauen der Spekulanten, dass sie etwas "wert" sind. Wird dieses Vertrauen beschädigt, indem Schuldner massenweise in Schwierigkeiten geraten, ihre Schulden auch bedienen zu können, und stellt sich der ganze Finanzüberbau als tatsächlich fiktiv heraus, dann ist Krise angesagt. Wann und aufgrund welches Ereignisses das Vertrauen in Misstrauen umschlägt, das ist nicht vorherzusagen. Ob nun die überhandnehmenden Schwierigkeiten von Unternehmen, ihre Schulden bedienen zu können (Dot-Com-Krise), der Wertverfall von Hypotheken aufgrund der prekären Situation vieler Immobilieneigentümer (Immobilienkrise), der Zusammenbruch großer Banken (Bankenkrise) oder die Bankrotterklärung von Staaten (Staatsschuldenkrise) sich zu einer veritablen Krise auswachsen, ist nicht mit Notwendigkeit zu bestimmen. Systemnotwendig ist allerdings, dass es von Fall zu Fall zu einer Entwertung von Kapital kommt, eben kommen muss. Und diese Entwertung vollzieht sich über das Misstrauen in Kredit. Die Banken verhelfen der Krise zum Durchbruch, indem sie Kredite einfordern, nicht mehr vergeben oder massiv verteuern. Wenn sie sich untereinander nur mehr eingeschränkt oder überhaupt nicht mehr kreditieren, kommt es zu einer Kreditklemme. Diese schlägt mit Notwendigkeit auf das produktive Kapital durch. Kredite stellen sich als zu viel vergeben heraus, Produkte erweisen sich als zu viel für die zahlungskräftige Nachfrage. Aus einer Überakkumulation von Kredit wird eine Überakkumulation von Waren.

An den Gebrauchswerten hat sich nichts geändert, und es wird weiter fleißig gearbeitet, doch das nötige G' kommt nicht mehr so richtig in die Gänge. Und zwar nicht weil es zu viel bzw. zu wenig Waren gibt, sondern weil das Geld nicht mehr in gewünschtem Maße "arbeitet". Es kracht im monströsen Finanzüberbau und der "Unterbau" leidet. In konjunkturell guten Zeiten ist es zwar auch kein Honiglecken für die Lohnabhängigen, doch in Krisenzeiten sind sie umso betroffener. Obwohl man Geld bekanntlich nicht essen kann, werden die Sorgen um das Geld zu einem allgemeinen Anliegen erhoben. Die ganze Gesellschaft ruft nach "gutem" Geld, welches durch vertrauensbildende Maßnahmen wieder hergestellt werden soll. Der Staat bzw. die Staaten sehen sich dabei herausgefordert, denn das "Blut" ihres Wirtschaftskreislaufes und ihre wirtschaftliche Souveränität stehen auf dem Spiel. Eine Neuaufstellung des Finanzsektors, eine neue Durchsortierung der Staaten oder eine Währungsreform stehen an.

Geldfetisch

Besonders in der Krise wird jedem vor Augen geführt, worum es in dieser Gesellschaft geht.

Die Basis für modernes Geld - nämlich Arbeit als Lohnarbeit und deren Produktion von mehrwertträchtigen Waren - erscheint im bürgerlichen Bewusstsein umgekehrt als Konsequenz funktionierenden Geldes. Geld wird als nützliches, quasi als natürliches Schmiermittel des Wirtschaftens, erachtet und geachtet. Dabei werden die Voraussetzungen für das heutige Geld, arbeitsteilige Produktion, Privateigentum der Produktionsmittel, Markt (Tausch), Lohnarbeit und deren politische Klammer, der bürgerliche Staat, als naturgesetzlich gültige Grundlagen unterstellt. Die Notwendigkeit des (gut funktionierenden) Geldes für diese Ökonomie wird wie ein Naturgesetz behandelt und Leute, die sich mit Überlegungen hinsichtlich einer Gesellschaft ohne Geld auseinandersetzen, als "Phantasten" bzw. "Spinner" betrachtet.

Die bürgerliche Wissenschaft untermauert die "Nützlichkeit" des Geldes, indem sie es nicht erklärt, sondern über seine Tauglichkeit bestimmt:

"In der Volkswirtschaftslehre werden im Wesentlichen drei Funktionen des Geldes unterschieden:

Geld hat Zahlungsmittelfunktion. Unter einem Tausch- oder Zahlungsmittel versteht man ein Objekt oder auch ein erwerbbares Recht, das ein Käufer einem Verkäufer übergibt, um Waren oder Dienstleistungen zu erwerben. Geld vereinfacht den Tausch von Gütern und die Aufnahme und Tilgung von Schulden. Geld ist ein Wertaufbewahrungsmittel. Um diesen Zweck erfüllen zu können, muss es seinen Wert dauerhaft behalten können. Geld ist Wertmaßstab und Recheneinheit. Der Wert einer Geldeinheit wird als Kaufkraft bezeichnet." (Wikipedia "Geld")

Damit wird nicht die Frage "Was ist das Geld?", sondern "Wozu braucht es das Geld, welche Funktionen hat es?" beantwortet und die Bestimmung der Notwendigkeit des Geldes im Kapitalismus durch die Darstellung seiner Nützlichkeit für das Wirtschaften schlechthin ersetzt.

Diese funktionelle Sichtweise verstellt selbst Kritikern der Marktwirtschaft oftmals den Blick auf radikale Alternativen. Viele von ihnen kritisieren nicht das Geld und dessen Grundlagen, sondern die Auswüchse der Geldwirtschaft und die abhandengekommene Nützlichkeit des Geldes für alle Staatsbürger. Die Finanzkrise wird nicht als Notwendigkeit begriffen, welche aus dem Prinzip G-G' folgt, sondern als Missbrauch des Geldes durch die (Investment-)Banken und als Folge deren Profitgier - und staatliche Schuldenpolitik als Knechtung unter den Erpressungen des Finanzkapitals.

Demonetarisierung

Aus den Erläuterungen ergibt sich, dass eine demonetarisierte Gesellschaft nicht wie der Kapitalismus - nur ohne Geld - organisiert sein kann. Mit der Abschaffung des Geldes sind auch alle anderen Grundlagen des Kapitalismus abzuschaffen, auf denen das Geld basiert. Das ganze Produktionsverhältnis ist auszuhebeln, das Privateigentum und damit auch die Tauschwirtschaft sowie auch die Lohnarbeit und schließlich auch der Staat, der diese Verhältnisse einrichtet und betreut. Wie immer eine demonetarisierte Gesellschaft dann im Detail aussieht, so wird sie auf einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel beruhen, auf einer Produktion von Gütern, die nicht getauscht, sondern gemäß der vorhandenen Bedürfnisse verteilt werden. Geld ist in solch einer Gesellschaft überflüssig, denn dem Tauschwert ist die Grundlage, nämlich Privateigentum, die Lohnarbeit und der Markt abhandengekommen. (Nicht getan wäre es, das Privateigentum durch Staatseigentum zu ersetzen und das Produktionsverhältnis unangetastet zu lassen, so wie es im sogenannten realen Sozialismus der Fall war.) Auch ein wie immer gearteter geldloser Tausch würde in einer vergesellschafteten, arbeitsteiligen Produktion, deren Güter verteilt werden, obsolet sein.

Es ist nun eine Sache, sich zu überlegen, wie eine demonetarisierte Gesellschaft beschaffen sein wird, eine andere, vielleicht schwierigere, wie diese entwickelt werden könnte.

Nach wie vor wird es wohl angebracht sein, möglichst viele Menschen auf die Schädlichkeit des Kapitals und ihre funktionelle Rolle als Arbeitnehmer und Staatsbürger hinzuweisen, d.h. auch ihre verkehrten Vorstellungen darüber zu kritisieren. Denn um eine neue Gesellschaft ohne Geld aufzubauen, wird es eine Menge Leute brauchen, die wissen sollten, was sie nicht wollen, wogegen sie vorgehen und wer ihre Gegner sind. Geld kann erst dann erfolgreich abgeschafft werden, wenn es nicht als das Übel der Marktwirtschaft gesehen wird, sondern als notwendiger Ausdruck des kapitalistischen Produktionsverhältnisses und deren Einrichtung und Betreuung durch die politische Gewalt.

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2000‍ ‍Zeichen abwärts

Über die Verhältnisse leben

In regelmäßigen Abständen verkünden Politiker*Innen jedweder Coleur, die Gesellschaft habe "über ihre Verhältnisse" gelebt. Obwohl häufig gehört, macht diese Redewendung doch stutzig. Dass eine Gesellschaft in der Lage ist, "über ihre Verhältnisse" zu leben, ist keineswegs selbstverständlich. Kein Mensch und keine Gesellschaft ist beispielsweise dazu fähig, in einem gegebenen Zeitraum mehr zu verbrauchen, als vorhanden ist. Es können nicht mehr Brötchen gegessen werden, als es gibt, es können nicht mehr Fahrräder genutzt werden als vorhanden sind und auch Energie lässt sich nur dann verausgaben, wenn sie zuvor erzeugt wurde. (Die einzige denkbare Ausnahme stellt hier vermutlich die heute gängige Variante des Ressourcenverbrauchs dar, die durch intensive Ressourcennutzung eine mögliche spätere Umstellung auf regenerative Energien erschwert.) Der Satz kann nur deshalb auf allgemeine Zustimmung stoßen, weil bei Reichtum und Wohlstand nicht in erster Linie an stoffliche Phänomene, sondern an monetäre Größenordnungen gedacht wird. Letztere zeichnen sich somit allem Anschein nach durch Eigenschaften aus, die nicht mit denen des stofflichen Reichtums identisch sind.

"Über die eigenen Verhältnisse zu leben" meint, sich verschuldet zu haben. Der Konsum stofflichen Reichtums stellt sich als monetärer Selbstmord heraus. Um an die Dinge zu gelangen, die doch da sind, werden Menschen gezwungen, ihre Zukunft zu verpfänden. In der wird das nicht besser werden: dank verbesserter Technik wird mehr stofflicher Reichtum zur Verfügung stehen, der wegen der üppigen Verschuldung noch weniger finanzierbar sein wird als heute schon. Das Ergebnis? Mehr Verschuldung.

Das klingt - Sie haben es erraten - nach keiner guten Idee. Nennt sich übrigens Kapitalismus, das Ganze. Macht weder Spaß noch funktioniert es ordentlich. Sollten wir mal abschaffen.

J.B.

Raute

Peer-Produktion und gesellschaftliche Transformation
Zehn Diskursfiguren aus dem Oekonux-Projekt

von Stefan Meretz

Alle Mittel für unsere Emanzipation
entwickeln sich direkt vor unseren Augen,
aber wir müssen auch in der Lage sein,
sie theoretisch zu erfassen.

Oekonux wurde als Reflexionsprojekt rund um Freie Software gegründet, aber von Beginn an gab es die These der Verallgemeinerung von Beobachtungen über Freie Software in andere Bereiche sowohl immaterieller wie materieller Produktion.

In der Folge stelle ich zehn Diskursfiguren vor, die aus Debatten im Oekonux-Projekt hervorgegangen sind.


Diskursfigur 1: Jenseits des Tausches

In Freier Software oder allgemeiner commons-basierter Peer-Produktion geht es nicht um Tausch. Geben und Nehmen sind nicht aneinander gekoppelt. Auch heute noch basieren traditionelle linke Ansätze auf der Annahme, dass jemand nur etwas bekommen sollte, wenn er/sie auch bereit ist, etwas zurückzugeben, da sonst alle in der Gesellschaft verhungern würden. Diese Position geht zurück auf die leidvolle sozialistische (und christliche) Tradition, die besagt, dass derjenige, der nicht arbeiten wolle, auch nicht essen solle.

Ein wichtiger Ansatz, der die neuen Entwicklungen der Freien Software zu erfassen versuchte, war der Ansatz der "Geschenkökonomie". Nicht zufällig lautet die korrekte Bezeichnung eigentlich "Geschenktausch-Ökonomie": Der/die Gebende kann erwarten, etwas zurückzubekommen, da dies eine moralische Verpflichtung in Gesellschaften ist, die auf dem Austausch von Geschenken basieren. Diese Art von gegenseitiger moralischer Verpflichtung existiert in Freier Software nicht. Commons-basierte Peer-Produktion gründet allgemein in bedingungslosen freiwilligen Beiträgen.

Aus einer linken Perspektive ist die Entkoppelung von Geben und Nehmen nur in einer fernen Zukunft - Kommunismus genannt - möglich. Zuvor jedoch muss eine unfreundliche Zwischenphase, der Sozialismus, durchschritten werden, in dem das Tausch-Dogma volle Gültigkeit besitzt.

Wenn man den Tausch nicht aufgeben will, dann ist Kapitalismus die einzige Option.


Diskursfigur 2: Jenseits der Knappheit

Es ist eine übliche Fehlannahme, dass materielle Dinge knapp seien und immaterielle nicht. Es scheint gerechtfertigt zu sein, materielle Dinge als Waren zu behandeln, während immaterielle Güter frei sein können. Diese Annahme verkehrt jedoch eine soziale in eine natürliche Eigenschaft der Dinge. Kein hergestelltes Gut ist von Natur aus knapp. Knappheit ist das Ergebnis der Produktion von Gütern als Waren. Knappheit ist der soziale Aspekt einer Ware, die für den Markt hergestellt wird. Im digitalen Zeitalter liegt das für immaterielle Güter auf der Hand, da die Verknappungsmaßnahmen offensichtlich sind. Dazu gehören Gesetze (basierend auf dem sogenannten geistigen Eigentum) und technische Hürden, die den freien Zugriff auf das Gut verhindern sollen. Für materielle Güter scheint das weniger klar zu sein, da wir an die Unzugänglichkeit materieller Güter - solange wir nicht für sie gezahlt haben - viel eher gewöhnt sind. Aber die Maßnahmen sind die gleichen: Gesetze und technische Hürden, begleitet von der andauernden Zerstörung von Gütern, die die Waren knapp genug machen soll, um einen entsprechenden Preis auf den Märkten zu erzielen.

Weiterhin scheint es offensichtlich zu sein, dass wir alle von materiellen Gütern abhängen, deren Verfügbarkeit begrenzt sein kann. Aber auch immaterielle Güter hängen von einer materiellen Infrastruktur ab. Im Falle des Wissens brauchen wir wenigstens unsere Gehirne, die mit Nährstoffen versorgt sein wollen. Das hat aber nichts mit "natürlicher Knappheit" zu tun. Da alle Güter, die wir brauchen, hergestellt werden müssen, ist die einzige Frage, wie wir das auf gesellschaftliche Weise tun. Die Warenform ist eine Möglichkeit, die Commonsform ist eine andere. Waren müssen in knapper Form produziert werden, damit sie ihren Preis auf dem Markt erzielen können. Commons-Güter können nach den Bedürfnissen der Menschen und gegebenen produktiven Möglichkeiten hergestellt werden. Dabei mag es aktuelle Begrenzungen geben, aber Grenzen waren stets Aufgaben für menschliche Kreativität, um sie zu überwinden.

Manche Begrenzungen mögen niemals überwunden werden, aber dies ist kein Grund, Güter künstlich zu verknappen. In solchen seltenen Fällen können soziale Verabredungen getroffen werden, um den verantwortlichen Umgang mit der begrenzten Ressource (oder dem Gut) zu organisieren. Die Commons-Bewegung hat gelernt, dass sowohl rivale wie nicht-rivale Güter als Commons hergestellt werden können, aber sie benötigen unterschiedliche soziale Umgangsweisen. Während nicht-rivale Güter verabredungsgemäß für alle frei verfügbar sein können, um ihre Unternutzung zu verhindern, ist es sinnvoll, die Übernutzung rivaler Güter durch geeignete Regeln und Maßnahmen zu verhindern - entweder durch eine limitierte nachhaltige Nutzung oder durch Ausdehnung der kollektiven Produktion und damit Verfügbarkeit des rivalen Gutes.

Knappheit ist ein soziales Phänomen, das unvermeidbar auftritt, wenn Güter als Waren hergestellt werden. Häufig wird Knappheit mit Begrenzungen verwechselt, die durch menschliche Anstrengungen und Kreativität überwunden werden können.


Diskursfigur 3: Jenseits der Ware

Sowohl Märkte wie auch der Staat sind ungeeignete Formen, produzierten Reichtum zu verteilen und destruktive Effekte zu vermeiden. Die besten Ergebnisse werden erzielt, wenn Menschen sich entsprechend ihren Bedürfnissen, Erfahrungen und ihrer Kreativität selbst organisieren und Ressourcen und Güter nicht als Waren, sondern als Commons-Ressourcen behandeln.

Genau das ist bei der Freien Software der Fall. Ein schwacher Aspekt der traditionellen Commons-Forschung und frühen Phase der Freien Software war, dass es keinen klaren Begriff von Ware und Nicht-Ware gab. Es war das Oekonux-Projekt, das zuerst formulierte: Freie Software ist keine Ware. Dieses Diktum ist eng mit der Einsicht verbunden, dass Freie Software nicht getauscht wird.

Linke Kritiker_innen argumentierten, dass die Existenz von Nicht-Waren wie Commons auf den Bereich der immateriellen Güter beschränkt sei. Aus ihrer Sicht ist Freie Software nur eine "Anomalie", während "normale" Güter im Kapitalismus Waren sein müssen. Diese Sicht stellt die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf. Kapitalismus konnte sich nur etablieren durch Einhegung der Commons und durch Beraubung der Menschen von ihren traditionellen Zugängen zu Ressourcen, um sie in Arbeiter_innen zu verwandeln. Diese Einhegung der Commons ist ein anhaltender Prozess. Kapitalismus kann nur existieren, wenn die Menschen kontinuierlich durch künstliche Verknappung von Ressourcen getrennt werden. Eine Ware - so nett sie in den Einkaufszentren erscheinen mag - ist das Ergebnis eines fortlaufenden gewalttätigen Prozesses der Einhegung und Enteignung.

Der gleiche Prozess betrifft auch Software. Proprietäre ("unfreie") Software enteignet die wissenschaftliche und schöpferische Gemeinschaft von ihrem Wissen, ihren Erfahrungen und ihrer Kreativität. Freie Software war zunächst ein defensiver Akt, um gemeinschaftliche Güter als Commons zu erhalten. Da jedoch Software in der vordersten Linie der Produktivkraftentwicklung steht, wandelte sich die Freie Software schnell in einen kreativen Prozess, um Grenzen und Entfremdungen proprietärer Software zu überwinden. Im Sonderfeld der Freien Software entfaltete sich eine neue Produktionsweise, die sich schnell in andere Bereiche ausdehnt.

Güter, die nicht künstlich verknappt und getauscht werden, sind keine Waren, sondern Commons.


Diskursfigur 4: Jenseits des Geldes

Geld ist kein neutrales Mittel, Geld kann in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen vorkommen. Es kann Lohn, Investition (Kapital), Profit, Bargeld usw. sein. Verschiedene Funktionen müssen unterschiedlich analysiert werden. In Freier Software gibt es keine Warenform, Geld im engeren Sinne des Verkaufs einer Ware zu einem Preis existiert nicht. Eric Raymond hat erklärt, wie man mit einer Nicht-Ware trotzdem Geld verdienen kann: indem man sie mit einem knappen Gut kombiniert. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der nur wenige Güter aus dem Warenreich ausbrechen, existieren die meisten Güter weiterhin als Waren. Sie werden knapp gehalten und mit kostenlosen Gütern kombiniert. Aus der Sicht der Verwertung ist das nichts Neues (z.B. Geschenke verteilen, um Kunden zu gewinnen). In der Keimform-Perspektive beginnt hier die Entwicklung einer neuen Produktionsweise innerhalb des bestehenden alten Modells.

Aber warum geben Unternehmen Geld, wenn das Geld keine Investition im traditionellen Sinne ist? Warum hat IBM eine Milliarde Dollar in die Freie Software gesteckt? Weil sie sich dazu gezwungen sahen. Ökonomisch ausgedrückt mussten sie ein Geschäftsfeld entwerten, um andere profitable Geschäftsfelder zu sichern. Sie mussten Geld verbrennen, um eine teure Infrastruktur für ihre anderen Verkäufe zu schaffen (z.B. Server-Hardware).

Es gab viele Versuche, die nicht-tauschende, nicht-warenförmige, commonsbasierte freie Zirkulation Freier Software in das traditionelle Paradigma, das auf Tausch und Ware basiert, zu integrieren. Der prominenteste Versuch war die "Aufmerksamkeitsökonomie", die besagt, dass die Produzenten nicht Güter, sondern Aufmerksamkeit austauschen. Aufmerksamkeit sei die neue Währung. Das war jedoch nur ein verzweifelter Versuch, sich an die alten Begriffe zu klammern, der weder funktionierte noch neue Einsichten lieferte.

Jenseits des Geldes zu sein resultiert direkt aus dem Nicht-Ware-Sein.


Diskursfigur 5: Jenseits der Arbeit

Freie Software und Commons im Allgemeinen sind jenseits von Arbeit. Das kann nur verstanden werden, wenn Arbeit als spezifische Form produktiver Aktivität aufgefasst wird, die mit einer bestimmten historischen Gesellschaftsform verbunden ist. Der Verkauf der Arbeitskraft - also der Fähigkeit zu arbeiten - an einen Kapitalisten, der diese einsetzt, um mehr zu produzieren, als die Arbeitskraft wert ist, ist historisch einzigartig. Das hat zwei wichtige Konsequenzen.

Erstens verkehrt es produktive Aktivität - die Menschen immer aufwenden, um ihre Lebensbedingungen herzustellen - in entfremdete Arbeit. Diese Entfremdung ist nicht Ergebnis personaler Herrschaft, sondern strukturellen Zwangs. Im Kapitalismus können Menschen nur überleben, wenn sie für ihren Lebensunterhalt bezahlen, was sie zwingt, Geld einzunehmen. Um Geld einzunehmen, kann man entweder die eigene Arbeitskraft verkaufen oder die Arbeitskraft anderer kaufen und verwerten. Das Ergebnis ist ein deformierter Prozess, bei dem strukturelle Anforderungen vorgeben, was eine Person zu tun hat.

Zweitens erzeugt es den Homo oeconomicus, das isolierte Individuum, das nach Nutzenmaximierung strebt. Die traditionelle Ökonomie behauptet, dass der Homo oeconomicus der Archetyp eines menschlichen Wesen sei, womit eine besondere historische Erscheinung zur natürlichen Voraussetzung verkehrt wird.

Anstatt auf Arbeit basiert Freie Software auf Selbstentfaltung. Auf der einen Seite geht es um das "Jucken in den Fingern" (Eric Raymond), darum, "das zu tun, was man wirklich, wirklich will" (Frithjof Bergmann), und um "eine Menge Spaß" (Entwickler_in Freier Software). Auf der anderen Seite geht es um die Einbeziehung anderer Entwickler_innen zur Erzielung der bestmöglichen Lösung. Es schließt eine positive Reziprozität zu anderen ein, also auf eine solche Weise nach dem gleichen Ziel zu streben, dass die Selbstentfaltung des/der einen, die Voraussetzung der Selbstentfaltung der anderen ist. Nicht zufällig erinnert das an das Kommunistische Manifest, worin die "freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller" ist (Marx, Engels, 1848).

Anstatt die eigene Energie für fremde Zwecke zu verkaufen, üblicherweise Arbeit genannt, basiert Freie Software auf Selbstentfaltung, die die freie Entwicklung aller produktiven Kräfte der Menschen ist.


Diskursfigur 6: Jenseits von Klassen

Kapitalismus ist eine Gesellschaft der Spaltungen. Kaufen vs. verkaufen, produzieren vs. konsumieren, Arbeit vs. Kapital, konkrete vs. abstrakte Arbeit, Gebrauchswert vs. Tauschwert, private Produktion vs. gesellschaftliche Verteilung usw. Die kapitalistische Entwicklung wird von den Widersprüchen zwischen den getrennten Teilen vorangetrieben. Arbeit und Kapital ist nur ein Widerspruch unter vielen, aber es scheint der wichtigste zu sein. Eine Person scheint per Definition entweder ein Arbeitskraft-Verkäufer oder ein Arbeitskraft-Käufer, ein Arbeiter oder ein Kapitalist zu sein. Tatsächlich sind Arbeit und Kapital keine Eigenschaften von Individuen, sondern gegensätzliche gesellschaftliche Funktionen, die wie alle anderen Spaltungen den Kapitalismus erzeugen und von ihm erzeugt werden.

Beide Seiten einer Spaltung hängen von der jeweils anderen ab. Arbeit produziert Kapital, und Kapital erzeugt Arbeit. Es ist ein entfremdeter Zyklus der permanenten Reproduktion der kapitalistischen Formen. Beide Seiten dieser Spaltungen sind folglich notwendige Funktionen des Kapitalismus. Der sogenannte Antagonismus von Arbeit und Kapital repräsentiert in Wirklichkeit einen bloß immanenten Modus der historischen Entwicklung des Kapitalismus. Die Arbeiter_innenklasse repräsentiert nicht die Emanzipation.

Freie Software und Peer-Produktion im Allgemeinen sind eine Keimform einer neuen Produktionsweise, die grundsätzlich nicht auf Spaltungen basiert, sondern auf die Einbeziehung unterschiedlicher persönlicher Bedürfnisse, Verhaltensweisen und Wünsche als kraftvolle Quelle der Entwicklung setzt. Ausbeutung gibt es nicht, da der Kauf und Verkauf von Arbeitskraft nicht existiert.

Selbstentfaltung als sich frei entwickelnde Menschen ist die Quelle des gesellschaftlichen Übergangs zu einer freien Gesellschaft, nicht die Klassenzugehörigkeit.


Diskursfigur 7: Jenseits der Exklusion

Eine der basalen Spaltungen, die der Kapitalismus erzeugt, ist die zwischen denen, die drinnen sind, und denen, die es nicht sind. Dieses Drinnen-DraußenMuster ist ein struktureller Mechanismus der Inklusion und Exklusion entlang aller möglichen gesellschaftlichen Differenzen: Arbeitsplatzbesitzer_innen vs. Arbeitslose, Reiche vs. Arme, Männer vs. Frauen, Nicht-Weiße vs. Weiße, Bosse vs. Untergeordnete, Eigentümer_innen der Produktionsmittel vs. Eigentumslose, Krankenversicherte vs. Nichtversicherte usw. Die Spaltungen müssen als strukturelles Grundprinzip des Kapitalismus begriffen werden: Ein Einschluss auf der einen Seite bedeutet einen Ausschluss auf der anderen Seite. Für das Individuum heißt das, dass jedes persönliche Vorankommen stets zu Lasten von anderen geht, die nicht vorankommen oder zurückfallen.

Im Allgemeinen sind Commons jenseits der Mechanismen der Exklusion. Je mehr aktive Menschen zum Beispiel bei Freier Software in einem Projekt mitmachen, desto schneller und besser kann ein Ziel erreicht werden. Hier wird die Beziehung zwischen den Menschen nicht durch Inklusions-Exklusions-Mechanismen bestimmt, sondern durch eine inklusive Reziprozität. Der Maintainer eines Projekts versucht so viel wie möglich aktive Leute einzubeziehen, strebt nach einer kreativen Atmosphäre und versucht Konflikte in einer Weise zu lösen, dass so viele Leute wie möglich dem "groben Konsens" und dem "lauffähigen Programm" folgen können ("rough consensus, running code").

Wenn ein Konsens nicht möglich ist, dann ist die beste Lösung ein Fork, die Aufteilung eines Projekts. Es ist eine riskante, aber machbare Option, um verschiedene Richtungen der Entwicklung auszuprobieren. Viele der bestehenden Forks arbeiten eng zusammen oder halten eine Atmosphäre der Kooperation aufrecht.

Während der Kapitalismus strukturell auf Exklusionsmechanismen basiert, erzeugt und befördert die commons-basierte Peer-Produktion die Inklusion.


Diskursfigur 8: Jenseits des Sozialismus

Ein Großteil der Linken teilt die Annahme, dass der Sozialismus als eigenständige Phase zwischen der freien Gesellschaft (Kommunismus) und dem Kapitalismus unvermeidlich ist. Nach dem allgemeinen Konzept besitzt dort die Arbeiter_innenklasse die Macht und kann die gesamte Ökonomie entsprechend ihrer Interessen und damit der Mehrheit der Gesellschaft umstrukturieren. Kurz: Zuerst muss die Macht errungen werden, dann wird die neue Produktionsweise folgen, um eine wirklich freie Gesellschaft aufzubauen. Dieses Konzept (z.B. als "Realexistierender Sozialismus") ist historisch gescheitert.

Es war stets eine neue Produktionsweise, die aus der alten Art zu produzieren entstand und den historischen Übergang vorbereitete. Der Kapitalismus entwickelte sich ursprünglich aus dem Handwerk der mittelalterlichen Städte, das dann in Manufakturen integriert wurde und schließlich zum System der großen Industrie führte. Die Frage der Macht wurde "auf dem Weg" dorthin gelöst. Das schmälert nicht die Bedeutung von Revolutionen, aber Revolutionen können nur das realisieren und befördern, was sich bereits entwickelt. Die Revolutionen des Arabischen Frühlings erschaffen nichts Neues, sondern sie versuchen die Potenzen der normalen demokratischen und bürgerlichen Gesellschaft umzusetzen.

Der historische Übergang kann nicht als Übernahme der politischen Macht realisiert werden - sei es über das Parlament oder durch Aktionen auf der Straße -, sondern nur als Entwicklung einer neuen Produktionsweise. Die Kriterien für die neue Qualität können aus den praktischen Negationen der alten Produktionsweise gewonnen werden. Statt Waren: Commons-Produktion; statt Tausch und Geldvermittlung: freie Verteilung; statt Arbeit: Selbstentfaltung; statt Exklusionsmechanismen: Inklusion aller Menschen.

Die commons-basierte Peer-Produktion überschreitet sowohl den Kapitalismus wie auch den warenproduzierenden Sozialismus.


Diskursfigur 9: Jenseits der Politik

Da es bei der commons-basierten Peer-Produktion vor allem um die Entfaltung einer neuen Produktionsweise geht, ist sie grundsätzlich eine nicht-politische Bewegung. Hierbei wird Politik als eine Aktivität verstanden, die sich an den Staat und seine Institutionen richtet und Forderungen nach Veränderungen in eine gewünschte Richtung stellt. Eine solche Politik basiert auf Interessen, die im Kapitalismus stets gegeneinander gerichtet sind. In diesem Sinne sind Commons jenseits von Politik, da sie grundsätzlich nicht im Modus von Interessen, sondern im Modus von Bedürfnissen agieren.

Es ist wichtig, zwischen Bedürfnissen und Interessen zu unterscheiden. Bedürfnisse müssen in Form von Interessen organisiert werden, wenn der übliche Realisationsmodus der des Ausschlusses der Interessen von anderen ist. Commons basieren auf einer Vielfalt von Bedürfnissen der Beteiligten, die als Quelle der Kreativität genutzt wird. Die Vermittlung dieser verschiedenen Bedürfnisse ist Teil des Prozesses der Peer-Produktion. Es ist nicht notwendig, die Bedürfnisse zusätzlich in Form von Interessen zu organisieren, um sie anschließend politisch zu realisieren. Stattdessen wird die Bedürfnisvermittlung und -befriedigung direkt erreicht.

Ein Aspekt, der dies verdeutlicht, ist die Frage der Hierarchien. Normalerweise sind Hierarchien Teil der kapitalistischen Warenproduktion. Daher ist ein üblicher linker Topos, jegliche Hierarchien abzulehnen, um Herrschaft zu vermeiden. Das jedoch ignoriert die Tatsache, dass Hierarchien als solche keine Herrschaft erzeugen, sondern die Funktion, die Hierarchien in einem bestimmten Kontext haben. In einem Unternehmen repräsentieren Hierarchien unterschiedliche Interessen, zum Beispiel die Interessen der Arbeiter_innen und die des Managements. In der Peer-Produktion könnte eine Hierarchie jedoch unterschiedliche Niveaus von Kompetenz, Erfahrung oder Verantwortlichkeit abbilden, was von denen geteilt wird, die jemanden in einer herausgehobenen Position akzeptieren. Ein Maintainer zu sein bedeutet nicht, unterschiedliche Interessen auf Kosten der Projektmitglieder zu verfolgen. Ein solches Projekt würde nicht gedeihen. Im Gegenteil, ein Maintainer ist in der Regel erpicht darauf, so viele aktive und kompetente Projektmitglieder zu integrieren wie möglich. Das verhindert nicht Konflikte, aber Konflikte können so auf der Grundlage der gemeinsam geteilten Projektziele gelöst werden.

Commons-basierte Peer-Produktion erfordert nicht, die Bedürfnisse der Menschen in Form gegensätzlicher Interessen zu artikulieren, sie ist daher jenseits von Politik.


Diskursfigur 10: Keimform

Zum Abschluss zur wichtigsten Diskursfigur, dem Keimform- oder Fünfschritt-Modell. Ziel des Modells ist, die gleichzeitige Existenz von Phänomenen unterschiedlicher Qualität zu verstehen. Die Diskussion um die Peer-Produktion wird häufig von zwei Gruppen dominiert: Jenen, die die Peer-Produktion befürworten und zu beweisen versuchen, dass die Peer-Produktion antikapitalistisch ist, und jenen, die die Peer-Produktion nur als Modernisierung des Kapitalismus ansehen. Die Herausforderung besteht darin, beides zusammen zu denken. Das Keimform-Modell erreicht dies, indem es das Auf kommen und die Entwicklung der commons-basierten Peer-Produktion als einen über die Zeit sich widersprüchlich entfaltenden Prozess auffasst.

Normalerweise ist die Anwendung des Fünfschritt-Modells ein retrospektiver Vorgang, bei dem das Ergebnis der analysierten Entwicklung bekannt ist. Durch gedankliche Vorwegnahme des Ergebnisses eines Übergangs zu einer freien Gesellschaft auf Grundlage commonsbasierter Peer-Produktion kann die Herausbildung der freien Gesellschaft rekonstruiert werden. Hier ist eine sehr grobe Skizze der fünf Schritte angewendet auf den Fall der Peer-Produktion.

1.‍ ‍Keimform. Eine neue Funktion tritt auf. In dieser Phase darf die neue Funktion nicht als vollständiger Keim oder Samen verstanden werden, der bereits alle Eigenschaften der endgültigen Form enthält und nur noch wachsen muss. Die Keimform zeigt nur Prinzipien des Neuen, ist aber nicht schon das Neue selbst. Daher ist auch die commons-basierte Peer-Produktion nicht schon selbst das Neue, sondern das qualitativ Neue an ihr ist die bedürfnisbasierte Vermittlung zwischen den Peer-Produzent_innen (basierend auf Selbstentfaltung). Während dieser Phase ist dies zudem nur auf lokaler Ebene sichtbar.

2.‍ ‍Krise. Nur wenn das umgreifende alte System in eine Krise kommt, kann die Keimform ihre Nische verlassen. Die kapitalistische Weise der gesellschaftlichen Produktion und Vermittlung über Waren, Märkte, Kapital und den Staat hat die Menschheit in eine tiefe Krise gebracht. Sie ist in die Phase des sukzessiven Verfalls und der Erschöpfung der historisch akkumulierten Systemressourcen eingetreten.

3.‍ ‍Funktionswechsel. Die neue Funktion verlässt ihren Keimform-Status in der Nische und bekommt Bedeutung für die Reproduktion des alten Systems. Die frühere Keimform hat nun ein doppeltes Gesicht: Einerseits kann sie zum Zweck des Erhalts des alten Systems genutzt werden, andererseits ist und bleibt ihre eigene Logik inkompatibel mit der Logik des dominanten alten Systems. Peer-Produktion ist nutzbar für Kosteneinsparungen und die Schaffung neuer Umgebungen für kommerzielle Aktivitäten, aber ihre eigenen Aktivitäten beruhen weiterhin auf nicht-warenförmiger Entwicklung. Kooptation und Absorption in die normale Warenproduktion sind möglich. Nur wenn die Peer-Produktion in der Lage ist, ihre commons-basierten Prinzipien zu verteidigen, kann der nächste Schritt erreicht werden.

4.‍ ‍Dominanzwechsel. Die neue wird zur vorherrschenden Funktion. Die alte Funktion verschwindet nicht sofort, sondern tritt als vormals dominante Funktion in Randbereiche zurück. Die commons-basierte Peer-Produktion hat ihre Vernetzungsdichte auf globaler Ebene erhöht, so dass sich Input-Output-Verbindungen schließen und geschlossene Kreisläufe entstehen. Getrennte Privatproduktion mit nachfolgender Marktvermittlung unter Benutzung von Geld ist nicht mehr erforderlich. Die bedürfnisorientierte soziale Vermittlung organisiert Produktion und Verteilung. Das gesamte System hat nun qualitativ seinen Charakter geändert.

5.‍ ‍Umstrukturierung. Die Richtung der Entwicklung, die Grundstrukturen und die basale Funktionslogik haben sich geändert. Dieser Prozess umfasst mehr und mehr gesellschaftliche Felder, die sich nun auf die neue bedürfnisbasierte gesellschaftliche Vermittlung ausrichten. Der Staat ist abgewickelt, neue gesellschaftliche Institutionen entstehen, die keinen einheitlichen Staatscharakter mehr besitzen, sondern Mittel der kollektiven Selbstentfaltung sind. Neue Widersprüche können auftreten, ein neuer Zyklus der Entwicklung könnte beginnen.

Dies ist nur ein erkenntnistheoretisches Modell, kein Schema für die unmittelbare Aktion. Der Hauptvorteil liegt in der Möglichkeit, den fruchtlosen Entweder-oder-Debatten zu entkommen. Es ermöglicht das Denken parallel auftretender Phänomene: das Auf kommen einer neuen Produktionsweise, die für das alte System nützlich ist und gleichzeitig ihre überschreitende Potenz in Richtung auf eine freie Gesellschaft beibehält.

Das Keimform-Modell, das im Oekonux-Kontext angepasst wurde, ermöglicht die dialektische Konzeptualisierung historischer Übergänge.

Eine Langfassung dieses Textes steht unter kurzlink.de/oekonuxdiskurs zur Verfügung.

Raute

2000‍ ‍Zeichen abwärts

Verschlimmbesserungen

Dass die Dinge in Waren- und Geldgesellschaften einen doppelten Charakter annehmen, durch den die vermeintliche Rationalität in pure Irrationalität umschlägt, ist für die meisten Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler*Innen ebenso wie für die politischen Entscheidungsträger*Innen nicht vorstellbar. Ihnen gilt gerade der eingeschränkte Blick, den sie auf die Welt werfen, als besonders menschenfreundlich. Vorausgesetzt wird der Mensch als rational handelndes Wesen. Als solches kauft er selbstverständlich nur die Dinge, die ihm sinnvoll erscheinen. So wird der produzierte Schrott im Nachhinein geadelt und jede Kritik daran soll an planwirtschaftliche Autokratie erinnern: will hier etwa einer vorschreiben, was Menschen zu gefallen hat und was nicht?

Weil die vorherrschenden akademischen Strömungen aber fröhlich ökonomischen Erfolg mit stofflicher Rationalität gleichsetzen, können sie die himmelschreienden Absurditäten und Zumutungen, die sich immer wieder vor uns auftun, nicht mehr angemessen in den Blick bekommen. Und so drängt sich dann nicht selten der Eindruck auf, hier würde der Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Wenn etwa einmal produzierte Waren im Nachhinein stofflich verschlechtert werden, weil sie so neben dem ursprünglichen Produkt auch im Billigsegment angeboten werden können und diese nachträgliche Verschlechterung ökonomisch günstiger ist als eine komplett neue Produktreihe zu entwerfen - dann fällt dem Weltbank-Ökonomen Tim Harford nicht mehr dazu ein, als dass der freie Markt "eine vollkommen effizient arbeitende Wirtschaft zur Folge hat".

In solchen Beispielen, wie sie im Bereich von Computerhard- und Software nicht unüblich sind, wird zusätzliche Arbeit aufgewandt, um das Produkt schlechter zu machen, etwa indem Funktionen im nachhinein deaktiviert werden. Hier wird augenfällig, was sich im Allgemeinen hinter der Maske von freier Produktwahl versteckt: ökonomische Rationalität schlägt um in materielle Irrationalität.

J.B.

Raute

Landnutzung ein Stück weit demonetarisieren*

von Jan-Hendrik Cropp

Wir müssen das agrarpolitische Desaster auf den Äckern tagtäglich mitansehen. Mit Entmonetarisierung als Perspektive dagegen meine ich in diesem Beitrag, die landwirtschaftliche Produktion unabhängiger von Geld und seiner Logik zu gestalten.

Wir organisieren Gemüseproduktion nach dem Leitsatz: Jede_r gibt nach seinen_ihren Fähigkeiten und bekommt nach seinen_ihren Bedürfnissen (siehe Streifzüge 53). Ein Schlüsselelement darin bleibt aber die Finanzierung zur Deckung der Produktionskosten (Budget). Eine wertfreie Enklave, aber ohne Geld nicht existenzfähig.

Es geht also um Möglichkeiten und Grenzen für eine Entmonetarisierung unserer Landwirtschaft, für eine schrittweise Verringerung der Budgethöhe durch direkte Bedürfnisbefriedigung ohne den Umweg des Geldes. Geld soll weniger wichtig für das Gelingen des Projektes werden.

Die neue Gruppenvereinbarung in Witzenhausen-Freudenthal (Hessen) hält als Ziele fest:

• Die Befriedigung des Bedürfnisses nach ökologisch erzeugtem Gemüse aller Beteiligten.
• Die Befriedigung jener Bedürfnisse (auch finanzieller Art), die bei Personen dadurch entstehen, dass sie zum Erreichen des oben genannten Ziels tätig sind (z.B. die Gärtner_Innen).
• Eine nicht-kommerzielle Befriedigung dieser Bedürfnisse, wo immer möglich. Eine finanzielle / monetäre Befriedigung dieser Bedürfnisse, wo immer nötig.

Ein Ansatz zur Entmonetarisierung wäre ein Alltag in freiwilliger Einfachheit der im Projekt Tätigen, möglichst wenig Geld auszugeben, ohne die eigene, persönliche Lebensqualität zu mindern: containern, trampen, couchsurfen, gemeinsame Nutzung von Gebrauchsgegenständen etc. Ein erster individueller, kein oder nur teilweise transformatorischer Ansatz.

Eine andere praktizierte Möglichkeit ist es, die Tätigkeit im Projekt mit monetären Einkommen quer zu subventionieren: Von gut bezahlter, teilzeitiger Lohnarbeit; über staatliche Transferleistungen; familiäre Unterstützung; Vermögen bis Fundraising fürs Projekt und gemeinsame Kasse kann das alles für die Einzelnen sinnvoll sein. Solange diese Gelder allerdings zur Deckung laufender Kosten genutzt werden, ist das bloß eine Freistellung der Landnutzung auf Kosten anderer Bereiche.

Weiter führt vielleicht eine direkte Bedürfnisbefriedigung durch unterstützende Netzwerke. Hinter dem Geldbedarf stehen ja so konkrete Bedürfnisse wie Mobilität, Wohnung, Essen, Heizung, Kommunikation usw. Diese könnten durch Fähigkeiten oder Ressourcen innerhalb oder außerhalb des Projektes befriedigt werden. Ein paar Beispiele:

Raum zum Wohnen oder als Verteilpunkt für Gemüse (Hof, Wohnung, Bauwägen / Garage, Innenhof ) wird den Tätigen durch Unterstützer_Innen günstig oder mietfrei zur Verfügung gestellt oder die Tätigen suchen sich entmonetarisierten Wohnraum in anderen Zusammenhängen (z.B. Projektwerkstatt auf Gegenseitigkeit)

Nahrungsmittel: Die Produktionspalette wird im Projekt oder durch Integration anderer Höfe ausgeweitet oder die Tätigen nutzen andere Projekte Solidarischer Landwirtschaft.

Entspannung und Gesundheit: Entweder gibt es Ärzt_Innen und Masseur_Innen im Netzwerk, die ihre Leistungen billig oder frei zur Verfügung stellen oder die Tätigen nutzen andere Solidargemeinschaften (Skillsharing-Netzwerke / Artabana).

Gebrauchsgegenstände (privat oder für die Produktion): Entweder Leute aus der Projektgruppe (Tätige plus Beitragende) stellen das Notwendige zur Verfügung oder es gibt einen regionalen Ressourcen-Pool außerhalb des Projektes.

Wartung und Reparatur der Produktionsmittel: Entweder eine interne Arbeitsgruppe mit entsprechenden Fähigkeiten kümmert sich darum oder es wird ein regionales Skillsharing-Netzwerk bemüht.

In unseren diesjährigen Vereinbarungen konnten Menschen daher als ersten Schritt hin zur Entmonetarisierung nicht nur finanzielle Beiträge, sondern auch ihre Fähigkeiten und Ressourcen zusichern.

Ein wichtiger weiterer Ansatz wäre jedenfalls der Aufbau von autonomer Infrastruktur, um die Produktion vom fossilistisch-kapitalistischen System abzukoppeln und private Ressourcen nicht nur zu teilen, sondern zu kollektivieren mit dem Ziel einer solaren, sich selbst erhaltenden Produktion. Zum Beispiel:

Saatgutproduktion: Eigene Drescher, Trocknung, Reinigung und Lagerungsmöglichkeiten.
Düngerproduktion: Ergänzend zur Gründüngung hygienisierte Rückführung der menschlichen Ausscheidungen durch Fermentierung, Kompostierung.
Treibstoffe: Ölmühlen und Biogasanlagen für umgerüstete Fahrzeuge.
Räumlichkeiten: Freikauf von Hof, Hallen, Scheunen, Verteilpunkten usw.
Fahrzeuge: Kollektive Nutzung und Umrüstung auf Biotreibstoffe aus der Region.
Werkstätten: Werkzeug nicht nur teilen, sondern kollektivieren, Ort der gemeinsamen Nutzung. • Strom- und Wärmeerzeugung: Kraft-Wärme-Kopplung auf Biomasse-Basis, Solarthermie. • Wasser: Brunnen und ökologisches Abwassersystem.

Ähnliche Strukturen (Maschinenring, Carsharing, Biogastankstellen, Energiegenossenschaften etc.) existieren, aber als marktförmige Unternehmen. Dem würde eine kollektive Form entgegenstehen, indem die Infrastruktur an eine Rechtsform übergeben wird, die eine bestimmte, nicht-kommerzielle Nutzung auf Dauer festschreibt. Eine Beteiligung an den erwähnten, bestehenden Angeboten ist sinnvoll, ein Dialog über eine eventuelle Entmonetarisierung notwendig.

Für all das bedarf es, so es nicht direkt beschaffbar ist, Kapital, entweder von innerhalb des Projektes oder von außerhalb. Überlegenswert ist ein überregionaler Fonds, in dem wohlhabende Unterstützer_Innen einen sicheren Hafen für ihr Kapital finden könnten. Auch bei mangelnder Rendite könnte das den Zeitgeist bürgerlicher Unsicherheit treffen.

Aber so einfach wird es wahrscheinlich doch nicht. Zunächst ist und bleibt Geld extrem praktikabel. Als Tauschmittel für alles kann es ein Bedürfnis sehr exakt befriedigen. Wie weit können wir auch jetzt schon nicht-monetär genau das bekommen, was wir brauchen? Weiters haben wir die Zeit für all die aufgezählten Projekte usw. nur, wenn unsere Existenz und Entfaltung nicht-monetär gesichert und nur wenig Zeit für Geldbeschaffung nötig ist.

Und schließlich bleiben bestimmte Bereiche schwer selbst organisierbar. Es gibt z.B. Maschinen und Technik, die einer globalen Produktionskette bedürfen und deren selbstorganisierte Machbarkeit in nicht-kommerziellen Strukturen fragwürdig bleibt.

Also schreiten wir fragend voran ...

(*) s. auch Streifzüge 53 "Die post-revolutionäre Möhre. Hier und Jetzt"

Raute

Rezens

Raúl Zibechi: Territorien des Widerstands. Aus dem Spanischen übersetzt von K. Achtelik und H. von Wangenheim.
Assoziation A, Berlin/Hamburg 2011, 176 Seiten, ca. 16 Euro

Zibechi, Journalist, Publizist und Aktivist aus Uruguay, sieht in den Peripherien der großen Städte eine emanzipatorische Perspektive für Lateinamerika entstehen. Dort bilden für den Kapitalismus überflüssige Menschen seit einem halben Jahrhundert autonome Parallelgesellschaften aus. Eine wichtige Rolle spielen dabei Frauen, vor allem Mütter, die häusliche Logik der Fürsorge und Versorgung auf den öffentlichen Raum des Viertels übertragen.

Die Aufstände, Landbesetzungen und sich entwickelnden Organisations- und Lebensformen sieht Zibechi als Auseinandersetzungen um physische und symbolische Räume und deren autonome Gestaltung an. Autonomie kann nur von "Gesellschaften in Bewegung" gegen die herrschende Ordnung in einem langen Prozess durchgesetzt, erprobt, verteidigt und zu Emanzipation von Herrschaft ausgestaltet werden.

Zibechi analysiert vorsichtig, spricht viel in Hypothesen, benennt offen Ungeklärtes. Keine Hoffnung setzt er in Staat, Parteien, Kirchen und Gewerkschaften. Die linken Regierungen, die ihre Wahlsiege den "Subalternen" verdanken, schildert er als Praktikanten einer neuen Gouvernmentalität. Sie könnten in den autonomen Räumen Menschen für eine selektive Sozialpolitik gewinnen und wieder an Staat, Hierarchien und Herrschaftslogik binden. Eine Aktion von oben, der aber auf halbem Weg ein auch in den Köpfen und Herzen der Unterschichten verwurzeltes Denken, Fühlen und Handeln entgegenkommt. Nichts ist entschieden.

L.G.

*

Rezens

Werner Rätz, Tanja von Egan-Krieger u.a. (Hrsg.): Ausgewachsen! Ökologische Gerechtigkeit. Soziale Rechte. Gutes Leben.
VSA-Verlag 2011, 192 Seiten, ca. 15,80 Euro

Der Sammelband zum Kongress "Jenseits des Wachstums?!" (Attac 2011, Berlin) gibt einen Überblick, wie die Debatte zum "Ende des Wachstums" aktuell verläuft. Ein Befund dazu, im Buch selbst nicht ausgesprochen, könnte sein: Degrowth ist das Ende des Kapitalismus, sein Herzstück, die unendliche Verwertung, bricht an der Endlichkeit des Planeten - aber Degrowth muss keineswegs das Ende von Herrschaft sein. Die ist älter als ihre jüngste Verkörperung und sucht schon nach einem Weiterleben nach dem Tode.

In jungen Diskursen liegen oft unvereinbare Positionen nahe beisammen. Exner/Lauk analysieren gleich zu Beginn das Scheitern des unendlichen Wachstums bei fortdauernder Herrschaft illusionslos als Weg in die Verelendung der großen Mehrheit in einer "ökologischen Kriegswirtschaft". Ihre Perspektive der Befreiung: Demonetarisierung, Selbstorganisation der Leute und Überwindung des Staats. Dahin sucht auch Friederike Habermanns "Ecommony" einen Weg: Grundsätze der "commons-based peer production" freier Software, angewandt auf materielle Produktion. Auch Serge Latouches Erläuterung der "Décroissance" als Aussicht auf Befreiung von Konsumismus, Mangel und Naturzerstörung ist lesenswert.

Bei einem Großteil der übrigen Aufsätze jedoch wird der Bock zum Gärtner gemacht: Ausgerechnet der Staat soll das Vehikel der Befreiung von der Herrschaft sein. Vielleicht greifen Parteien, Interessenverbände und Bürokratien noch darauf zurück. Insofern auch nicht uninteressant.

L.G.

Raute

ZAG EXTRA INFO
Antiziganismus

Heute leben in der Bundesrepublik Deutschland nach verschiedenen Schätzungen etwa 80-120.000 Sinti und Roma, die landläufig und in der Regel diskriminierend als "Zigeuner" und von den Behörden vorurteilsvoll mit dem alten Nazibegriff als "Landfahrer" bezeichnet werden. Sinti wanderten erstmals im 15. Jahrhundert nach Deutschland ein; außerhalb des deutschsprachigen Raumes ist der Sammelbegriff Roma.

Der Begriff Antiziganismus ist ein Neologismus, der die Feindschaft gegenüber Roma und Sinti auf einen Begriff bringt. Obwohl mittlerweile auch Roma und Sinti diesen Begriff benutzen, handelt es sich um einen Neologismus, der von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft geprägt wurde - und nicht von den Roma und Sinti selbst. Antiziganismus wurde im Gegensatz zum Antisemitismus niemals in Frage gestellt, er gehört immer zum kulturellen Code der Mehrheitsgesellschaft. Im Gegensatz zum Antisemitismus steht die Erforschung der Entstehung und Entwicklung des Antiziganismus noch in den Anfängen. Im Unterschied zur "Tsiganologie" oder "Zigeunerforschung", die die Roma und Sinti zum Sozialobjekt der Forschungen macht und an rassistische Forschungen aus dem 20. Jahrhundert anknüpft, befasst sich die Antiziganismusforschung mit den Vorurteilen der Mehrheit über die von ihr so genannten "Zigeuner".

Eine Auseinandersetzung mit dieser Variante des Rassismus ist wichtiger denn je. Nach Umfragen Ende der 90er Jahre haben zwei Drittel aller Deutschen starke Vorbehalte gegenüber Roma und Sinti. In den Medien und im Alltagsbewusstsein werden Stereotypen über "Zigeuner" immer neu reproduziert.

Wie kommt es, dass Antiziganismus so ungebrochen tradiert wird? Auf diese Fragen sollen die auf anti-ziganismus.de versammelten und bereits in verschiedenen Ausgaben der Zeitschrift ZAG veröffentlichten Artikel eine Antwort geben.

zag - antirassistische zeitschrift
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Weg mit dem Handel

von Bernd Mullet

Jahrhunderte lang haben Geld und Handel das gesellschaftliche Leben der Menschheit geprägt. Doch heute stehen diese beiden Dinge der weiteren Entwicklung dieser Spezies mehr den je im Weg, bewirken mehr Negatives als Positives. Eine Gesellschaft ohne diese beiden Elemente zu denken scheint selbst den revolutionärsten Kräften zu unrealistisch, zu radikal - oder auch nur zu einfach.

Kunden fischen

Es ist vier Uhr früh. Für unzählige andere, genauso wie für mich, die Zeit, zu welcher der Tag beginnt. Mühsam quäle ich mich aus dem warmen, weichen Bett in die harte, kalte Wirklichkeit. Duschen, Frühstück und dann raus aus der Wohnung. Ein roter Schimmer am Horizont ziert die Dämmerung, die meinen Weg zur Arbeit begleitet. Ich denke daran, was uns in der Schulzeit alles über die Arbeit so erzählt wurde: von Selbstverwirklichung war da die Rede. Doch meine Arbeit dient hauptsächlich zum Selbsterhalt. Dazu reicht es eben gerade noch. "Meine Arbeit soll mir durch das Einkommen Freiräume bieten" - doch der Freiraum, den mir mein Einkommen bietet ist gerade mal der, meine Arbeitskraft zu erhalten. Es reicht für Lebensmittel, die Miete, ab und zu ein bisschen Kleidung. Was man halt so braucht.

Und doch sehe ich die Lichter der Stadt funkeln und blinken, in beleuchteten Schaufenstern, in Leuchtschriften und großformatigen, leuchtenden Plakaten, auf denen mich junge Frauen mit perfektem, softwaregestyltem Körper und dem typischen Adobe-Hautglanz anlächeln. Sie wollen alle, deren Blick sie streift, zum Kaufen verführen, zum Geld-Ausgeben. Aus der Auslage eines Mobilnetz-Betreibers glänzen mir die neuesten Handys entgegen. Natürlich habe ich schon eines, mit dem ich durchaus zufrieden bin. Aber mit dieser Zufriedenheit machen weder der Betreiber des Ladens noch die Handy-Hersteller einen Gewinn. Ich könnte hundert Handys besitzen, so würden sie dennoch versuchen mir ein weiteres zu verkaufen. Denn nur aus dem Verkauf, nur aus einem Vertragsgeschäft mit mir, erzielen sie den Gewinn. Mit diesem Gewinn würden sie, käme es dazu, neue Geräte zum erneuten Verkauf bestellen, ihre Mitarbeiter und die Miete für den Laden bezahlen, und natürlich ihren vermeintlichen Reichtum weiter steigern, ihr Kapital vermehren. Lediglich der Mobilfunkbetreiber würde sich freuen, wenn ich mehr telefoniere. Aber ich möchte nicht nur mein Handy sondern auch mein Geld behalten.

Es ist schon sonderbar, dass diese Menschen, die mir das alles verkaufen möchten, einfach davon ausgehen, dass ich und all die anderen um mich herum, Geld haben. Genug Geld, um alle die Dinge kaufen und ihre Preise bezahlen zu können. Als läge es nur an meiner Entscheidung, mich für den Kauf der einen oder anderen Sache zu entschließen.

Arbeit

Der Himmel ist ein Stück heller geworden, doch am Zenit funkeln noch ein paar Sterne. Ich fahre weiter zur Arbeit, damit ich mir die Dinge leisten kann, die ich brauche, nur um leben, besser; überleben zu können, eine Wohnung zu haben und ein paar Klamotten. Damit ich mir diese Dinge kaufen kann, brauche ich ein Einkommen. Und ich gehe arbeiten, damit ich ein Einkommen habe und mir diese Dinge kaufen kann. Ich muss also meine Arbeitskraft verkaufen, mit ihr Handel treiben, damit ich mit dem erhaltenen Geld wieder Handel treiben kann, um meine Arbeitskraft zu erhalten, die ich dann wieder verkaufen muss, um sie erhalten zu können. Der Erhalt meiner Arbeitskraft ist also der Sinn meines Lebens, Sinn und Zweck meines Daseins. Der Verkauf meiner Arbeitskraft, um Lohn zu erhalten, mit dem ich mich selbst, meine Arbeitskraft erhalte, die ich dann wieder verkaufe, um mich erhalten zu können. Welche Selbstentfaltung! Ich kaufe um zu verkaufen, aber der Wert meiner Arbeit reicht nicht aus, um daraus Kapital zu schlagen.

Dass es anderen genauso geht ist kein Trost, es stimmt mich eher traurig. Auch sie gehen arbeiten, um ihren Lebensunterhalt bezahlen zu können. Klar, mein Vermieter verlangt das Geld ja nicht einfach so aus purer Bosheit, auch er muss seine Kosten tragen. Auch er hat Handelsgeschäfte abgeschlossen und muss, wie mit seinen Geschäftspartnern abgesprochen, Geld als Gegenleistungen erbringen, also für Energie, Wasser, Lebensmittel, Kleidung und Steuernbezahlen; also weitere Handelsgeschäfte, die er mit der von mir gezahlten Miete durchführen kann. Genauso die Bäckereiverkäuferin, bei der mein Vermieter seine Brötchen holt, und deren Chef, der Filialleiter des Supermarktes, in dem ich einkaufe. Wir alle sind in einem Netz von Handelsgeschäften miteinander verbunden und so zwangsweise auf eine Art von einander abhängig, die wir eigentlich gar nicht wollen, bei der es keinem von uns auf Dauer besser geht. Sogar immer schlechter, wenn man den permanent steigenden Arbeitsdruck und die genauso permanent sinkenden Reallöhne mitberücksichtigt. Wir alle treiben also Handel, um Handel treiben zu können, um zu überleben. Klasse!

Abhängigkeit

Den Chef des Supermarktes interessiert mein Wohlergehen eigentlich nicht. Vor allem deshalb, weil wir uns persönlich nicht näher kennen. Was ihn an mir als Kunden, als Käufer interessiert, ist, dass ich möglichst viel bei ihm kaufe. Je mehr ich bei ihm kaufe, desto höher ist sein Umsatz. Einen höheren Lohn erhält er eventuell, wenn er an Umsatz oder Gewinn beteiligt ist - eher unwahrscheinlich. Aber er und sein Chef sehen es als Bestätigung, dass ersterer seine Arbeit gut macht. Es gilt als Erfolg, wenn er den Umsatz permanent steigert. Permanentes Wachstum - das Prinzip des Kapitalismus. Damit sichert er sich auch seinen Arbeitsplatz. Ob er diesen Job gerne tut? Seiner Laune nach zu urteilen, die ich öfter in seiner Mimik und Gestik lese, eher weniger. Der jahrelange Umgang mit teilweise nervenden, besserwissenden und überklugen Kunden hat auch bei ihm Spuren im Gemüt hinterlassen. Aber letztlich interessiert das nicht. Ihn interessiert, dass er einen Job hat, mit und von dem er leben kann. Und in diesem Job hat ihn nur der Umsatz zu interessieren und wie er diesen Jahr für Jahr steigern kann. Seinen Chef interessiert, dass er gut arbeitet, damit auch er und seine Chefs leben können und so weiter in der Hierarchie.

Würde ich nicht arbeiten gehen, hätte ich kein Einkommen. Ich wäre nicht mehr lebensfähig. Andere sind davon abhängig, dass ich mein Einkommen ausgebe. Das tue ich eben, wenn ich einkaufen gehe. Einkommen erhalten wir, wenn wir etwas verkaufen, entweder Arbeitskraft oder andere Waren. Wenn ich kein Einkommen mehr habe, kann ich bald nichts mehr ausgeben. Wenn vielen das Einkommen fehlt und keiner mehr kaufen kann, sinkt die Konjunktur, die "Wirtschaft". Wenn dann die Händler weiter auf das System von "Leistung für Gegenleistung" bestehen, geraten Menschen in Not. Unsere Lebensfähigkeit in einem auf Geld und Handel basierenden Gesellschaftssystem hängt also unmittelbar von dem Vorhandensein eines Einkommens ab. Denn nur wer Geld hat, kann kaufen.

Geld im Getriebe

Inzwischen verlaufen die Farben des Himmels von dunkelblau, direkt über mir, bis türkis, nahe am Horizont. Sämtliche Sterne werden bereits vom Licht des bevorstehenden Sonnenaufgangs überstrahlt. Sie selbst fehlt noch, doch es scheint ein wunderschöner, heißer Sommertag zu werden. An einer Kreuzung sehe ich, wie ein Zeitungsverkäufer gerade seine Arbeit tut. Ob sich er oder sein Kunde darüber bewusst sind, was sie gerade gemacht haben? Welche Tragweite dieser unscheinbare Vorgang hatte? Der Kauf der Zeitung war ein mündlicher Vertrag, bei dem vereinbart wurde, dass der Zeitungsverkäufer eine Zeitung gibt und dafür Geld bekommt. Auf der anderen Seite, dass der Käufer Geld gibt und dafür eine Zeitung bekommt. Ebenfalls wurde vereinbart, dass die Zahlung sofort zu erfolgen hat und die Ware, die Zeitung, auch gleich zu liefern bzw. zu übergeben ist. Beide waren mit der jeweiligen Gegenleistung und den Bedingungen einverstanden und es kam zum Leistungstausch. Ich weiß, dass ich auch für meine Arbeitsstelle einen Handelsvertrag abgeschlossen habe, auch wenn der Arbeitsvertrag heißt. Solche Verträge werden permanent gemacht, in jedem Supermarkt, in der Trafik, bei Schaustellern auf dem Jahrmarkt, bei Friseuren, Taxifahrern. Der Supermarkt wickelt seine Vertragsgeschäfte meistens schriftlich ab. Genauso die Auto- oder Möbelhändler. Beim alltäglichen Einkauf denken wir aber nicht mal mehr darüber nach, weil es hier nur mündliche Verträge gibt oder gar nur durch schlüssiges Verhalten abgeschlossene. Gültig sind sie alle.

Es ist für uns so selbstverständlich, so normal, scheint so natürlich, dass wir für jede Leistung, die wir erhalten, Geld als Gegenleistung erbringen müssen. Wir geben Geld für eigentlich ganz elementare Dinge wie Nahrung, Wohnung und Kleidung. Für Händler sind diese Bereiche sichere Absatzmärkte, sichere Einkommen, solange es nicht zu viele Anbieter gibt. Essen muss schließlich jeder und einen Platz zum Schlafen, ein Zuhause, brauchen wir auch. So sind wir abhängig von Lohnarbeit, die dadurch als Druckmittel eingesetzt werden kann.

Das ist die Tretmühle, das Hamsterrad, in dem sich die Arbeiter befinden, und der Grund, warum ich gerade zur Arbeit fahre. Der nicht enden wollende Kreislauf, aus dem der Profit kommt und das permanente Wachstum der Unternehmen finanziert wird. Diesen Profit gibt es aber nur, wenn permanent gekauft bzw. verkauft wird, also Vertragsgeschäfte bzw. Handelsgeschäfte abgeschlossen werden, Handel betrieben wird. Nur wenn viele Menschen tun, was der Zeitungsverkäufer und sein Kunde gerade getan haben, erhalten der Zeitungsverleger, die Druckerei und die Papierfabrik ihre Gewinne, mit denen sie ihr Kapital zu vergrößern hoffen, und alle, die dranhängen, ihre Löhne mit denen sie sich erhalten müssen. Wir alle sind also in diesem Spiel finanziell voneinander abhängig. Denn haben einige keine Einkommen mehr, die sie ausgeben könnten, so wirkt sich das auch auf andere aus.

Soziale Vernetzung

Voneinander abhängig sind wir aber sowieso, und zwar mit unseren Fähigkeiten. Brot backen und Kleidung herstellen sind keine einfachen Aufgaben. Es gibt Menschen, die sich dafür interessieren und darin auch erheblich geschickter sind als andere. Wir Menschen sind verschieden, jeder hat andere Stärken und Schwächen. Das - und anderes - macht doch eigentlich unsere Individualität aus.

Auf einer kahlen Wand des Betriebsgebäudes zeichnet die Sonne mit ihren parallelen Strahlen scharfe Silhouetten von Fahrzeugen des gegenüberliegenden, fast vollends belegten Betriebsparkplatzes. Selbst die Lenkräder sind manchmal in den Schatten zu erkennen. Die übrigen Flächen taucht sie in ein warmes leuchtendes Orange. Sieht man ihr entgegen, brennt ihr gleißendes Licht in den Augen und regt den Körper an, Endorphine auszuschütten, welche auch noch die letzten Spuren von Schlafbedürfnis vernichten und endlich wach machen. Leider ist dieses wunderschöne Bild auch das letzte, was ich und die anderen rund 500 Mitarbeiter und Kolleginnen für die nächsten acht Stunden von diesem herrlichen Tag sehen werden. Statt das Sonnenlicht zu genießen werden sich meine Augen mit weißem kalten Neonlicht aus Reflektorlampen begnügen müssen. Ich passiere gerade die Stechuhr, die voraussichtlich die nächste halbe Stunde keine Ruhe finden wird. Sie hat meine Anwesenheit und die meiner Kollegen minutengenau registriert. Ab jetzt sind wir bis zum Feierabend quasi Eigentum des Betriebs. Unser ganzes Denken und Tun hat jetzt nur dem Betrieb zu dienen. Was immer wir tun, hat möglichst wenig zu kosten, aber viel Output, viel Produkt zu bewirken, um möglichst viel verkaufen zu können.

Noch im Nebel der vorher gehegten Gedanken betrachte ich den Betrieb. Viele Menschen fahren Auto, aber reparieren können es die wenigsten. Sie erfüllen andere Aufgaben und haben andere Fähigkeiten. Ich selbst würde es sicher fertig bringen, eine Hütte zusammenzubrettern, aber ein Haus oder gar eine Fabrik zu bauen ist doch etwas ganz anderes. Bestimmt ist für manche eine einsame Waldhütte in Kanada, in der man ganz auf sich allein gestellt ist, alles selbst herstellen muss, eine erstrebenswerte Lebensweise. Für mich und viele andere jedoch nicht. Ich bin durchaus gerne von den Fähigkeiten anderer abhängig. Ich muss nicht alles können, und meist bringt eine Spezialisierung auf eine Arbeit auch eine Erhöhung der Produktqualität mit sich.

Auch hier im Betrieb hat jeder seine Aufgabe, auf seinem speziellen Gebiet. Ohne das würde der Betrieb nicht funktionieren. Ich sehe Staplerfahrer, welche die Ausgangsprodukte an die Maschinen führen, Hilfsmittel herbeischaffen und die Endprodukte von den Maschinen abholen und zur nächsten oder zum Versand fahren. Ich sehe Mechaniker, welche die Maschinen instandhalten oder für andere Produktionsserien umrüsten. Ich laufe an der Qualitätskontrolle vorbei, die Stichproben der ganz oder teilweise fertigen Produkte überprüft.

Mir fällt auf, dass wir zwar miteinander arbeiten, aber untereinander für die notwendigen Dienste kein Geld verlangen. Das verlangen wir nur von der Geschäftsführung. Ich überlege, wie lange der Betrieb wohl funktionierte, würden wir beginnen für jeden erforderlichen Dienst vom Kollegen Geld zu verlangen oder die Leistungen gegeneinander aufzurechnen? Vor jedem Handgriff gäbe es vielleicht erst Verhandlungen über den Preis, einige würden gegeneinander konkurrieren, einiges wäre nicht getan, weil niemand dafür zahlte. Vermutlich ginge der Betrieb pleite, weil einige Aufträge nicht einzuhalten wären. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das funktionieren würde. Man stelle sich vor, ein Arbeiter, der vom Lager Material holt, müsste dieses, vielleicht mit einer innerbetrieblichen Währung, bezahlen. Und er würde wieder eine Forderung an den stellen, dem er das evtl. verarbeitete Material weiterreicht...

Misstrauen

Warum aber zwängen wir uns in dieses unbequeme Korsett des immerwährenden Kampfes ums finanzielle und damit generelle Überleben? Warum eine Gesellschaft, welche die Verteilung, die Herausgabe lebensnotwendiger Güter fast nur in Handelsgeschäften, gegen Geld zulässt?

In vielen Grundsatztexten sozialistischer Organisationen liest man über "gerechte Löhne" "auf dem Niveau eines Facharbeiters".

Man hält also auch noch bei revolutionären Sozialisten am Lohnsystem und damit am Handel fest. Die Betonung liegt meist auf dem "gerechten" Lohn für jeden, wobei der Lohn eines Facharbeiters als solcher betrachtet wird. Lohn aber bedingt ein Geldsystem, die Existenz von Handel und damit wieder die Abhängigkeit von Lohn. Und genau diese Abhängigkeit soll Freiheit bringen - sehr logisch.

Und was ist ein gerechter Lohn? Die meisten meiner Kollegen finden, dass Arbeiter sich von ihrem Lohn jedenfalls ein Auto und ein Haus leisten können sollten. Einige finden es gerecht, wenn der Chef wegen der höheren Verantwortung ein bisschen mehr verdient, während andere genau das als ungerecht empfinden, weil er zwar anders, aber bestimmt nicht mehr arbeitet. Wieder andere meinen, es genügt, wenn jeder von seinem Lohn leben kann. Wenn ich aber die obige Tretmühle betrachte, bezweifle ich, ob das so überhaupt möglich ist. Denn letztlich tragen die Arbeiter eines Betriebes ja auch den Lebensunterhalt der Führungsschichten des Unternehmens mit. Deren Aufgabe ist es, das Unternehmen zu koordinieren und zu versuchen, mit Hilfe der Marketingabteilung immer wieder neue Absatzmärkte für ihre Produkte zu finden oder neue Produkte zu entwickeln und so die Möglichkeit für immer neue Aufträge aufzutun. Viele Arbeiter und Angestellte sehen jene nur in Anzügen herumlaufen - sie haben den Eindruck, dass diese Menschen zwar wesentlich mehr Geld bekommen, aber wesentlich weniger arbeiten.

Angst

Der Lohn, den Arbeiter und Verkäufer, für ihre Arbeit erhalten, ist für manche dann gerecht, wenn sie davon leben können. Für andere erst dann, wenn sie sich den Luxus der Führungsetagen oder ihres Nachbars leisten können. Wenn Menschen von ihrem Gehalt nicht mehr leben können oder ihr Realeinkommen und damit der Lebensstandard sinkt, so empfinden sie es als ungerecht. Auch dass sich der Chef, wegen der massenhaft gemachten Handelsgeschäfte, die andere für ihn durchgeführt haben, einen höheren Lebensstandard leisten kann, empfinden einige so.

Genauer betrachtet ist Gerechtigkeit also nichts anderes als der Name der Angst vor irgendeiner Benachteiligung, meist materieller Art, oder gar vor dem Verlust der Lebensfähigkeit auf Grund mangelnden Einkommens, zu geringen Lohns. Gerechtigkeit hat also letztlich etwas mit der Verteilung zu tun. Mit der Verteilung von Arbeit und Gütern. Es geht um die Befürchtung, der andere könnte mehr bekommen, als er leistet, oder dass man selbst mehr leisten muss, als man bezahlt bekommt.

In wie vielen Jobangeboten liest man von "leistungsgerechter Bezahlung". Und hat man uns nicht beigebracht: "Wer viel leistet, kann sich viel leisten", oder "Leistung muss sich lohnen"? Wer nach Gerechtigkeit schreit, schürt also nicht nur Misstrauen, er hat schlicht Angst, sich nicht mehr ausreichend versorgen zu können, hat Angst vor einer Benachteiligung die vielleicht existenzbedrohend wird. Jedes Handelsgeschäft, und sei es auch nur der Kauf einer Zeitung, ist somit Ausdruck und Bedienung dieser Angst.

Abgrund

In der Pause überfliege ich eine Zeitung, die ein Kollege mitgebracht hat. Fast auf jeder Seite, in fast jeder Schlagzeile lese ich vom immer härter, immer aggressiver werdenden Kampf um Kunden, um jedes einzelne Vertragsgeschäft, um jeden Cent Gewinn. Ob ich die Angebote einer Handelskette in einer ganzseitigen Werbeanzeige ansehe, Berichte über Absatzmärkte oder Aktienkurse, Nachrichten über Preiserhöhungen von Fahrkarten bis Lebensmittel lese oder über ein Unternehmen, das von einem anderen aufgekauft wurde. Ob Versicherungen, Krankenkassen, Autos, Benzinpreise, Schuhe, Möbel, Löhne in allen Branchen, immer geht es um Handel, um Kauf und Verkauf. Und natürlich um den daraus resultierenden Gewinn, der nur dann möglich ist, wenn wir uns gegenseitig misstrauen und miteinander handeln.

Auch die Bildung mit Leistungsstipendien und leistungsgerechter Benotung nimmt sich da nicht aus. Dadurch, dass die Leistung aber nicht an den eigenen Fähigkeiten, sondern an den durchschnittlichen Fähigkeiten einer Klasse, einer Schule, einer Bildungseinrichtung gemessen wird, werden die sich Bildenden zueinander in Konkurrenz gesetzt, Neid geschürt, Druck, Angst und auch Misstrauen erzeugt. Die Angst, vielleicht nicht lebensfähig zu sein in dieser Gesellschaft, ausgeschlossen zu werden, zu schwach zu sein, um dem Leistungsdruck standzuhalten. Somit wird hier und im Arbeitsleben in den Augen der Gesellschaft die Schuld des Versagens vom System genommen und auf den Versager geschoben. Damit sind die vielen Burn-Out-Kranken, Arbeitsdepressiven selbst an ihrer Krankheit schuld. Die berufsbedingten Selbstmorde in aller Welt werden dadurch als Opfer einer "natürlichen Auslese" diffamiert: Sie waren zu schwach für dieses System, das in seinem Streben nach immer mehr Gewinn die Ausbeutung immer weiter treibt, immer mehr Leistung bei fast gleichbleibender Gegenleistung fordert.

Weg mit der Angst. Eine kleine Fantasie

Als ich den Betrieb verlasse, ist es früher Nachmittag. Auf der Heimfahrt begegnen mir einige sonnenverbrannte, aber gut gelaunte "Wasserratten", die offenbar der Hunger nach Hause treibt. Sie trösten mich ein wenig mit dem Gedanken, dass ich vom Neonlicht keinen Sonnenbrand bekommen kann. Dennoch werde ich versuchen irgendwo in einem Park noch ein paar warme Strahlen einzufangen. Ach ja: Einkaufen muss ich ja auch noch.

Würde nun einer allein auf hören, für seine Leistung Geld zu verlangen, keinen Handel mehr betreiben, wäre er in dieser Umgebung nicht mehr lebensfähig. Würden das aber einige tun, vielleicht noch mit verschiedenen Fähigkeiten, die sie haben oder sich aneignen, wäre das vielleicht der Beginn einer anderen Gesellschaft.

Als ich im Park liege und in den dunkler werdenden Himmel schaue, beginne ich zu träumen: Nehmen wir an, ich wäre ein Landmaschinenmechaniker. Und nehmen wir weiter an, die Filialleiterin eines größeren Supermarktes würde gerade im Laden stehen und ein wenig mithelfen. Und weil wir uns ein wenig kennen, meint sie plötzlich, sie würde mir jetzt einfach vertrauen und ich könnte bei ihr holen, was ich brauche, ohne bezahlen zu müssen. Sicher würde ich jetzt nicht anfangen, tonnenweise Lebensmittel und andere Dinge nach Hause zu schaffen. Wozu? Damit sie bei mir vergammeln, während andere sie brauchen? Im Laden steht alles unter besten Lagerbedingungen. Die Filialleiterin und ihre Kolleg_innen kümmern sich darum und ich habe während der Öffnungszeiten jederzeit Zugang. Ich finde die Sache riesig und repariere die Landmaschinen künftig ohne Bezahlung, weil mir der Job Spaß macht und ich alles, was ich zum Leben brauche, im Supermarkt ohne Bezahlung holen kann.

Einige Landwirte sind auch davon begeistert und beliefern den Markt künftig ebenfalls umsonst, worauf die Marktleiterin auch diesen kostenlose Produktverteilung zusagt. Das Beispiel macht Schule und plötzlich braucht die ganze Gegend bis zum nächsten Horizont keine Angst mehr zu haben vor Armut oder Hunger, da alle sich mit ausreichend Nahrung und anderen Gütern versorgen können. Da kein Handel mehr existiert, braucht es auch kein Geld mehr. Da es keinen Handelsmarkt mehr gibt, wird auch nicht für einen potenziellen Markt produziert, sondern nur noch das, was voraussichtlich benötigt wird, was anhand des durchschnittlichen Produktverbrauchs festgestellt werden kann. Banken werden überflüssig.

Natürlich ist dieses Beispiel noch voller Haken und völlig unvollständig. Es entsteht hierbei ein Netzwerk, eine Gesellschaft, in der man ohne Geld und ohne Handel leben kann. Diejenigen, die bei dieser Geschichte irgendwann übrigbleiben könnten, sind die Besitzer der Produktionsmittel. Denn sie erhalten ihren Lebensunterhalt aus dem Gewinn der Verkäufe ihrer Produkte. Aber auch die Stellen von Finanzdienstleistern und deren Angestellten werden überflüssig, da sie genau mit dem arbeiten, das es dann nicht mehr gibt. Wenn diese jetzt was anderes arbeiten, reduziert sich die für den einzelnen notwendige Arbeitszeit, was zu mehr Freizeit führt.

Die wirkliche Revolution wäre, wenn jemand eine solche Insel realisieren könnte, in der man sich einfach vertraut und Leistungen ohne Handel, ohne Bedingung und Aufrechnung einer Gegenleistung gegenseitig erbringt, soweit und sobald erforderlich. Die handelsfreie Versorgung der Menschen ist also offensichtlich weniger Resultat einer Gesellschaftsveränderung, sondern eher ihre unbedingte Voraussetzung.

Beginnen muss das aber weder plötzlich noch global. Eine kleine Gruppe einander versorgender Menschen würde genügen, natürlich mit dem Bestreben, immer mehr Menschen einzubinden und die Gruppe nach und nach immer weiter zu vergrößern. Nahrung, Wohnung, Energie und Kleidung stellen in dieser Reihenfolge die wichtigsten Ressourcen dar und würden die Kosten aller Teilnehmer bereits massiv reduzieren. Je mehr Menschen hinzukommen, je vielfältiger die Fähigkeiten und Kenntnisse werden, desto niedriger die monetären Kosten und desto weiter entfernt man sich von Geld und Handel, bis zu deren völligem Ausbleiben. Ohne Handel braucht es kein Geld, gibt es keinen Gewinn, keine Ausbeutung und nichts, was damit zusammenhängt.

Womit aber nicht gesagt werden soll, dass es dann nicht andere Probleme gibt, die bewältigt werden müssen. Durch den Wegfall der gegenseitigen Konkurrenz, der gegenseitigen Befremdung hin zu mehr Menschlichkeit und Zusammenarbeit bin ich jedoch zuversichtlich, dass auch dafür Lösungen gefunden werden.

Raute

2000‍ ‍Zeichen abwärts

Verschwendung als Krisenlösung

Beispiele für geplanten Verschleiß sind mittlerweile Legion. Eine beliebte Variante läuft darauf hinaus, bei der Produktion der Ware deren Haltbarkeit künstlich zu verkürzen. Über Nylon etwa hält sich hartnäckig das Gerücht, es würde während seiner Herstellung derart behandelt, dass es besonders empfindlich wird. Dann reißt der Faden schneller und der nächste Einkauf kann nicht allzu lange aufgeschoben werden. Auch bei Mobiltelefonen als vielbenutzten Alltagsgegenständen werden nicht zufällig Gehäuse mit einem gewissen Anteil Kunstleder benutzt, die sich leicht eindrücken lassen. Das sieht beizeiten nicht mehr schön aus und verleitet zum Kauf eines neuen Produktes. Doch nicht nur an Äußerlichkeiten lässt sich drehen.

Darüber hinaus ist es möglich, die Ware auf die eine oder andere Art so zu beeinflussen, dass perspektivisch mehr von ihr verkauft wird. Beispielsweise können die waschwirksamen Bestandteile von Waschmitteln durch billige Füllstoffe ersetzt werden. Schuhe können derart produziert werden, dass ihre Sohlen keinen Leim annehmen und daher nicht mehr repariert werden können. Ketchup-Flaschen können mit Öffnungen verkauft werden, durch die garantiert mehr Ketchup fließt als für den Bratling vonnöten wäre.

In allen diesen Fällen wird der Jahresumsatz durch die Verringerung der Umschlagzeit des Kapitals erhöht, während gleichzeitig ihr Gebrauchswert vermindert wird. Die Schuld dafür wird häufig in den mafiösen Praxen raffgieriger Kapitalist*Innen gesucht. Diese Begründung übersieht, dass Unternehmen ihre Produktionskosten optimieren müssen, wenn sie in der Konkurrenz bestehen wollen. In Zeiten stagnierender Wachstumsmärkte ist den Konkurrenzsubjekten alles Recht, was ihnen Billig ist.

Obschon die steigenden technischen Möglichkeiten immer mehr Lebensstandard mit immer weniger Aufwand ermöglichen würden, sabotieren die gesellschaftlichen Verhältnisse diese Potentialität auf Schritt und Tritt.

J.B.

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Kein Umgang nicht

Den ersten erinnerlichen Umgang damit hatte ich in zartem Kindesalter: Zwei Sumsi-Mitarbeiter entleerten eines jeden Büchslein und der jeweilige Auswurf am Tisch wurde allseits aufmerksam gemustert und taxiert. Da war es feierlich still. Dass ich nun hingeben musste, was doch als überaus wichtig galt, ging mir nur schwer ein. "Sparen" heißt das, und irgendwann lernten wir die Lektion alle: Das Weniger heute ist das Mehr von morgen.

Demgemäß machte ich mir, so mit 19, Gedanken über die bevorstehende Pensionierung. Eines Freundes Bekannte hatte scheinbar hilfreiche Interessen: sie vermittelte Lebensversicherungen. Nach dem dritten Beitragsjahr schwächelte mein Sparwillen jedoch - 25 Jahre Laufzeit!?, da sträubte sich der Wirklichkeitssinn: Totalverlust. Der Ruhestand sollte doch schon vorher zu haben sein, nicht erst wenn körperlich eh nichts anderes mehr drin ist!

Die ehebaldige Verrentung im Anschlag, kamen mir sog. Finanzprodukte mit kürzeren Laufzeiten unter, wie sie auch der gut gewandete Bekannte meiner gutgläubigen Mutter im Portfolio hatte. Goldgruber hieß er und sein Name war Programm; allerdings in einem ruinösen Sinne. Nachdem gut die Hälfte in die Grube versenkt war, beschloss ich mit dem verbliebenen ethisch zu investieren; vielleicht, dass die Verluste dann weniger schmerzten! Die 2000er-Krise dezimierte auch diesen Bestand, ethisch korrekt.

Irgendwie war ich der Sache überdrüssig. Ich hatte aufs falsche Pferd gesetzt. Oder viel wahrscheinlicher war ich überhaupt beim falschen Rennen! Einer recht fraglichen Zukunft die Gegenwart so schamlos zu opfern, erschien mir zunehmend obszön. Arbeiten wollte ich gern, arbeiten gehen aber nicht. Ich hatte zwar einiges probiert, doch es gefiel nicht recht. Ich mied folglich die Lohnarbeit und sie mich. Wir sind nicht füreinander geschaffen, das war klar. So besann ich mich wieder meiner vorzüglichen Interessen und finde seitdem innerfamiliär Verwendung, auch sonst wo; als so eine Art Hausarchitekt ungefähr; eine Lebensstellung. Der bescheidene Lebensunterhalt speist sich derweil aus der großmütterlichen Privatschatulle, was ihr nicht billig und nur so einigermaßen recht ist.

Die Schmach meiner monetären Unselbstständigkeit tritt zu Tage, sowie die allerorten beliebte Frage ergeht, wovon man denn eigentlich lebe? Na, vom Essen und Trinken, und auch was zum Anziehen braucht der Mensch! Das ist den meisten zu hoch, es wird nachgebohrt. Ich kann auf keine Erwerbstätigkeit verweisen und komme nicht selten in Erklärungsnotstand. Will ich aber erklären - das mit dem Geld, der Arbeit und so - hab ich prompt ein Legitimationsproblem: Man könne leicht herumkritteln, im Elfenbeinturm eines leistungslosen Hinfristens.

Pfiffiger Schluss: Nachdem man mich zum Schwerpunktverantwortlichenstellvertreter der sog. Lustnummer (Streifzüge Nr. 55) berief, beschloss ich nach 35 Jahren strenger Enthaltsamkeit, ein viel versprechendes Feld zu bestellen, namentlich jenes der sexuellen Leidenschaften, um mich doch auch praktisch hierin kundig zu machen. Ein hübsches Mädchen ward alsdann gefunden und alles ließ sich zunächst recht gut an. Zunächst ... denn aus heiterem Himmel wurde mir die Beziehung aufgekündigt. Ich war bestürzt, wollte wissen, warum um alles in der Welt? Die Antwort ließ warten, war aber von verblüffender Folgerichtigkeit: Ich hätte keinen Job, könne also kein Geld verdienen, wäre also im Falle einer allfälligen Fortpflanzung nicht in der Lage, für den Spross angemessen (monetär) zu sorgen und wäre also kein guter Umgang, ja, auch ein Versager gar. Drum besser gleich einen Schlussstrich ziehen. Seltsam, es ging hier ja überhaupt nicht ums Nicht-Geld-Haben, sondern ums Nicht-Geld-Verdienen-Können, wozu ich tatsächlich, aufgrund meiner hierzu mehrfach geäußerten Ansichten nicht sonderlich befähigt schien. Beherzter Rettungsversuch meinerseits: "Die Prinzen im Märchen haben doch auch allesamt keinen Job." Blieb freilich erfolglos ... zunächst.

Severin Heilmann


Me and the Money

Zwei hingeworfene Zahlen: 2.675,76 die eine, 2.176,04 die andere. Erstere summiert meine an VISA gezahlten Zinsen, zweitere meine an den Kritischen Kreis überwiesenen Mitgliedsbeiträge. Man glaubt es kaum, aber es ist tatsächlich so. Ich habe in den letzten 15 Jahren (1997-2011) "mein" Kreditkartenunternehmen mehr gesponsert als meine Streifzüge. Ich muss schon ein Verrückter sein. Zweifellos. Auch wenn es nicht Absicht gewesen ist, ist es passiert und passiert noch, obwohl Aussicht besteht, dass heuer erstmals meine Mitgliedsbeiträge die VISA-Zinsen übertrumpfen. Ein Fortschritt. Mühsam erkämpft.

Der Kritiker ist also praktizierender Affirmatiker. Mehr als er das System mit seiner Schreibe schädigen kann, arbeitet er ihm durch Alimentierung zu. Wahrscheinlich ist er da kein Einzel-, sondern der Regelfall. Im gewöhnlichen Leben, diesem existenziellen Einerlei, bin ich ja ein braver Mitmacher: ich arbeite für Geld - wenn auch widerwillig, treibe es ein - wenn auch inkonsequent, mache meine Steuererklärung - wenn auch unlustig, überwache das Konto - wenn auch enttäuscht, überfliege die Angebote - wenn auch oberflächlich; vor allem lasse ich mich von diversen Waren recht einfach verführen - wenn auch dann die Ernüchterung folgt. Man kann mir mehr an, als ich dagegenhalten kann.

Ich und das Geld, das war nie eine Liebesgeschichte. Es flog mir nicht zu und ich rannte ihm nicht nach, wenngleich ich dann doch immer wieder laufen musste und auch gehörig ins Schwitzen geriet, um flüssig zu bleiben. Ich und das Geld, das war immer eine blöde Geschichte. So richtig zu Geld gekommen bin ich nie. Etwas muss ich immer falsch gemacht haben. Vielleicht weiß ich sogar, was, was aber wiederum nicht heißt, dass ich es mit der gehörigen Anstrengung hingekriegt hätte. Nein, zweifellos nicht. Anders als in anderen Dingen vermochte ich in Gelddingen nie rücksichtslos zu sein. Wenn schon Arschloch, dann muss man doch einen driftigen Grund dafür haben, meine ich. Geschäftstüchtigkeit ist keine Tugend.

Herr über meine finanziellen Verhältnisse war ich nie. Außer in den zweieinhalb Jahren (1992-1994), als das Ministerium ein Forschungsprojekt bezahlte und ich sozusagen mein eigener Angestellter gewesen bin, war ich meist in Geldnöten. Ich könnte noch mit bizarreren Summen auffahren, etwa mit 3.376,92. So viel zahlte ich alleine zwischen 1997-1999 an Bankzinsen. Euro wohlgemerkt! Vorausgegangen war dem ein mündlich zugesagtes Forschungsprojekt, das sich dann aber nicht bewahrheitete. Ich allerdings hatte bereits so getan, als wäre es fix. Ich war dieser Tage ständig um die 10.000 Euro im Minus. In diese schwindelnden Höhen habe ich mich katapultiert, weil ich "meiner" Bank von meinem erhofften Projekt erzählte und sie den Überziehungsrahmen bereitwillig ausweitete. Ich glaubte es, sie glaubten es, aber zu schlechter Letzt musste ich allein daran glauben. Nix war fix, aber ich war fertig. Zumindest finanziell.

Leben war in diesen Jahren (Theresa und ich waren erst zusammengezogen und schenkten uns auch noch zwei Kinder) überhaupt nur möglich durch trottelhafte Verwendung der Kreditkarte, d.h. Geld damit direkt beheben, nur 10 Prozent des offenen Betrages pro Monat zurückzahlen. Darüber bin ich noch nicht ganz hinweg. Natürlich hätte ich auch jemanden um Hilfe ersuchen können (was möglich gewesen wäre), aber da regierte dieser falsche Stolz, der lieber anonym Zinsen zahlt, als offen um Unterstützung bittet. Die musste es schließlich aber doch geben, denn sonst würde ich noch immer in diesem hohen Schuldenturm sitzen. So sitze ich immerhin in einem niedrigeren.

Man traut es sich kaum zu schreiben, es ist entblößend, daher soll es auch im Kämmerlein bleiben, niemanden etwas angehen, wie es einem damit geht. Über Geld zu reden ist obszön. Wie ein Geständnis wider Willen. Über Geld spricht man nicht, schon gar nicht über das eigene, von dem man sowieso zu wenig hat wie alle anderen auch. Denn selbst die, die mehr als genug haben, können ja nicht genug kriegen. Es ist unser Auftrag, mehr zu wollen, und ich versuche dem auf meiner bescheidenen Etage nachzukommen.

Ökonomisch bin ich zweifellos ein Versager und werde das aller Voraussicht nach auch bleiben. Ich habe finanziell nichts auf der Kante und werde da auch nichts drauf kriegen. Außerdem ist mir die Sparmentalität zuwider. Banken, Versicherungen, gar Fonds oder Aktienmärkte mit Geld zu füttern erscheint mir noch irrer als irgendwelche Gebrauchswerte zu erstehen. Auch wenn ich die Lebenslust nie mit Geldgier substituierte, so erliege ich des Öfteren der Konsumsucht. So lebe ich stets über meine finanziellen Verhältnisse, aber unter meinen persönlichen Möglichkeiten.

Es ist oft knapp, aber es ist noch nie zu knapp geworden. Wir pfeifen meist aus dem vorletzten Loch, gelegentlich aus dem letzten, manchmal spielen wir aber auch in höheren Lagen. (Über die Geldbeziehungen meiner Frau schreibe ich aber nichts, weil da wird es ultra.) So gfretten wir uns durchs Leben und es geht uns im Vergleich damit nicht schlecht. Aber womit wird da verglichen? Die Frage, wie es einem geht, könnte ich mit "gut" als auch mit "schlecht" beantworten. Das hängt allein vom Kriterium ab.

Bankrottieren kann ich wiederum auch nicht. Sobald ich ganz abstürze, nehmen sie mir meinen Acker, für den ich Keuschlererbe satte 170 Euro Jahrespacht einhebe, auch noch weg. Verloren wäre dann auch die Zugabe von ein paar hundert Kilo Erdäpfel. Kartoffelnot hat es daher bei uns noch nie gegeben, im Gegenteil: Kartoffeln gibt es ziemlich oft. Was ist schon Geld gegen Kartoffeln?

Geld stiehlt Leben, relativ und absolut. Nicht nur die Zeit, die man durch diverse Geldangelegenheiten verliert, sondern auch die Zeit, die man durch den damit geschaffenen psychischen Stress und der physischen Anstrengung insgesamt an Lebensdauer verlieren muss, weil dies alles am Organismus nicht spurlos vorbeigehen kann. Wir tragen den Schaden. Wenn ich daran denke, wird mir gleich übel, so verdränge ich es. Das ist aber auch keine Lösung. Schon allein damit es mir besser geht, ist der Sturz des Geldsystems unumgänglich.

Franz Schandl

Raute

Der Terror der Positivität
Anmerkungen zu Byung-Chul Hans "Müdigkeitsgesellschaft"*

von Peter Klein

Für alte Klassenkämpfer, die den Kapitalismus als die unsittliche Veranstaltung der "Herrschenden in Staat und Gesellschaft" betrachten, handelt es sich bei der "Müdigkeitsgesellschaft" sicher um starken Tobak. Denn genau von diesem Denkstil, bei dem die moderne Gesellschaft nach alter, in die Zeiten der Französischen Revolution zurückreichender Tradition als das Resultat eines äußeren Herrschens dargestellt wird, setzt sich Byung-Chul Han in dem genannten Essay ab. Wer dagegen, wie es sich meiner Meinung nach gehört, den Kapitalismus als ein automatisch funktionierendes System begreift, mit dem geldverdienenden Subjekt als seinem tragenden Element, kann sich über diesen Versuch einer Zeitgeistdiagnose nur freuen. Mit dem Wechsel der Perspektive, der uns alle zu Bestandteilen eines gesellschaftlichen Systems macht, gelingt Han eine Beschreibung der postmodernen Seele, die, wenigstens nach meinem Eindruck, dem aktuellen Entwicklungsstand des Kapitalismus in hohem Maße gerecht wird.

Zuviel des Gleichen

Die traditionelle Art der Gesellschaftsanalyse verfährt laut Han nach dem "immunologischen Paradigma" oder "Schema" - ein Ausdruck, der von Baudrillard entliehen ist. Dabei werde "eine klare Trennung von Innen und Außen, von Freund und Feind oder von Eigenem und Fremden vorgenommen" (S. 6). Dieses Schema passte noch in die Zeit des Kalten Krieges, als die Sprache von militärischem Vokabular geprägt war, von Angriff und Abwehr, es passt dagegen nicht mehr in das Zeitalter der Globalisierung und Deregulierung. "Die Andersheit, die eine Immunreaktion hervorriefe, würde dem Prozess der Entgrenzung entgegenwirken" und den "universalen Tausch- und Austauschprozess" verhindern (S. 9). Ausdrücklich gegen Baudrillard gewandt, von dem das Bild des "Virus" als der letzten Gestalt des "Feindes" stammt, ist Han der Ansicht, dass negative Kategorien wie der Feind oder der Fremde, zu denen logisch die "immunologische Abwehr" oder "Abstoßung" gehört, überhaupt nicht mehr dafür geeignet sind, den Zustand angemessen zu beschreiben, dem wir in der sogenannten Postmoderne ausgesetzt sind.

Es ist in den einschlägigen "Diskursen" zwar viel vom Fremden und vom Anderen die Rede, es verhält sich damit aber wie mit Hegels Eule, die bekanntlich immer erst hinterher auftritt, nachdem die betreffende "Gestalt des Lebens" alt geworden ist, nachdem der "Weltgeist" seine Arbeit verrichtet hat: "Dass ein Paradigma eigens zum Gegenstand der Reflexion erhoben wird, ist oft ein Zeichen seines Untergangs." (S. 6 f.) An die Stelle der "Andersheit und Fremdheit", die eine "Grundkategorie der Immunologie" darstellt, setzt Han die harmlosere "Differenz", und die kann "konsumiert" werden: "Das Fremde weicht dem Exotischen. Der Tourist bereist es. Der Tourist oder der Konsument ist kein immunologisches Subjekt mehr." (S. 7) Und auch der "Einwanderer" ist heute kein immunologisch Anderer, kein Fremder im emphatischen Sinne, von dem eine wirkliche Gefahr ausginge ..." Er wird "eher als Belastung denn Bedrohung empfunden." (S. 9)

"Das Verschwinden der Andersheit bedeutet, dass wir in einer Zeit leben, die arm an Negativität ist." (S. 10) Die Gewalt, die der "permissiven und befriedeten Gesellschaft" (S. 14) gleichwohl innewohnt, kommt von dem "Übermaß der Positivität", dem wir ausgesetzt sind. Mit Baudrillard spricht Han auch vom "Totalitarismus des Gleichen", der Zustände wie "Erschöpfung, Ermüdung und Erstickung" herbeiführt, die nicht mehr immunologisch interpretiert werden können. Vielmehr seien es "neuronale Erkrankungen" bzw. "digestiv-neuronale Abreaktionen", die "die pathologische Landschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts" bestimmen: "Depression, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) oder Burn-out-Syndrom" (S. 5). Mit einem Wort, unser Nervensystem ist überfüttert, wir können das Überangebot, dem wir von Seiten des "Informations-, des Kommunikations- und des Produktionssystems" ausgesetzt sind, nicht mehr verdauen, es kommt zu den genannten "psychischen Infarkten" (S. 15).

Und wir, die "postmodernen Leistungssubjekte" sind es selbst, die bei der Herstellung dieses Überangebots bis zur Erschöpfung mitmachen. Es ist nämlich das hemmungslose Funktionieren, auf das der Abbau der Negativität hinausläuft. Die "Disziplinargesellschaft", wie Foucault sie beschrieben hat, dürfte endgültig wohl so um das Jahr 1989 herum untergegangen sein, zusammen mit dem "Realsozialismus" russischer Prägung. Diese von "Spitälern, Irrenhäusern, Gefängnissen, Kasernen und Fabriken" repräsentierte Gesellschaft "ist nicht mehr die Gesellschaft von heute" (S. 17). Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts wird von "Fitnessstudios, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Shopping Malls und Genlabors" symbolisiert (ebd.). Sie ist zur "Leistungsgesellschaft" geworden. An die Stelle des "Gehorsamssubjekts", das von "Geboten" und "Verboten" umstellt war, ist dementsprechend das "Leistungssubjekt" getreten. Es befindet sich in der Situation des "entgrenzten Könnens", dem Barack Obama mit seinem Yes, we can den typischen Ausdruck gegeben hat. Die Übersetzung "Leistung aus Leidenschaft" hat sich bekanntlich die Deutsche Bank geleistet. "Projekt, Initiative und Motivation" sind die Schlagworte, mit denen wir es zu tun haben (S. 18). Das "Sollen" und das "Dürfen" gehören der Vergangenheit an.

Der Zwangscharakter der Freiheit

Die Logik dieser Entwicklung wird verständlich, wenn man weiß, dass das "gesellschaftlich Unbewusste" dahin strebt, "die Produktion zu maximieren" (ebd.). "Ab einem bestimmten Punkt der Produktivität stößt die Disziplinartechnik bzw. das Negativschema des Verbots schnell an seine Grenze. Zur Steigerung der Produktivität wird das Paradigma der Disziplinierung durch das Paradigma der Leistung bzw. das Positivschema des Könnens ersetzt, denn ab einem bestimmten Produktivitätsniveau wirkt die Negativität des Verbots blockierend und verhindert eine weitere Steigerung. Die Positivität des Könnens ist viel effizienter als die Negativität des Sollens. So schaltet das gesellschaftlich Unbewusste vom Sollen aufs Können um. Das Leistungssubjekt ist schneller und produktiver als das Gehorsamssubjekt." (S. 19) Das Leistungssubjekt ist aber nicht einfach die Beseitigung des Gehorsamssubjekts, sondern, hegelisch gesprochen, seine "Aufhebung": "Das Können macht das Sollen jedoch nicht rückgängig. Das Leistungssubjekt bleibt diszipliniert. Es hat das Disziplinarstadium hinter sich" (ebd.) - und in sich, sollte man zur Verdeutlichung vielleicht hinzufügen.

An diesem Punkt nun kommt es zu einer Auseinandersetzung mit Alain Ehrenberg und seinem "erschöpften Selbst", die auch die theoretische Problematik von Byung-Chul Hans eigenem Ansatz sichtbar macht. Ehrenberg zufolge ist es die zur Norm gewordene erste Person, die die Menschen erschöpft. Das postmoderne Individuum wird ständig dazu aufgefordert, authentisch und "es selbst" zu sein. Das Übermaß von "Eigenverantwortung und Initiative" (S. 20) begünstige die Depression. Dieser Beschränkung auf die "Ökonomie des Selbst" fehlt laut Han der Blick auf den sozialen Kontext, dem dieses zu sich selbst verurteilte "Selbst" angehört. Er verweist auf die "zunehmende Fragmentierung und Atomisierung des Sozialen" und die damit einhergehende "Bindungsarmut", die ebenfalls zur Depression führen kann. Ein Aspekt, der freilich im Standpunkt des "vereinzelten Selbst" logisch enthalten ist, weshalb ich diesen Einwand nicht sonderlich überzeugend finde. Zu Kategorien, die a priori nur gesellschaftlich zu verstehen sind, muss man die "Gesellschaft" bzw. "das Soziale" nicht eigens hinzufügen. Aber das sei nur nebenbei angemerkt. Wichtig ist ganz sicher Hans Hinweis auf "die der Leistungsgesellschaft innewohnende systemische Gewalt" (ebd.). Der "Leistungsdruck verursacht die Erschöpfungsdepression ... Krank macht in Wirklichkeit nicht das Übermaß an Verantwortung und Initiative, sondern der Imperativ der Leistung als neues Gebot der spätmodernen Arbeitsgesellschaft." (S. 20 f.)

Wie immer man zu dieser schematischen Entgegensetzung des "nicht - sondern" stehen mag: Es ist hier doch ganz eindeutig von Imperativ, Gebot und Druck die Rede. Wo aber kommt dieser Druck her, von wem wird er ausgeübt? Die Andeutungen, die Byung-Chul Han in dieser Hinsicht macht, sind durchaus erhellend (sofern man mehr als Andeutungen daraus macht): "Der depressive Mensch ist jenes animal laborans, das sich selbst ausbeutet, und zwar freiwillig, ohne Fremdzwänge. Es ist Täter und Opfer zugleich." (S. 21) "Das Leistungssubjekt ist frei von äußerer Herrschaftsinstanz, die es zur Arbeit zwingen oder gar ausbeuten würde. Es ist Herr und Souverän seiner selbst ... Der Wegfall der Herrschaftsinstanz führt nicht zur Freiheit. Er lässt vielmehr Freiheit und Zwang zusammenfallen." (S. 22)

Über das Selbst der Selbstausbeutung

Mit dem "Selbst" der "Selbstausbeutung" (S. 22: "Diese ist effizienter als die Fremdausbeutung.") kommt Han auf den Kern des Systemgedankens zu sprechen. Denn als gesellschaftlich etabliertes System kann man den Kapitalismus ja nur beschreiben, wenn man ihn sich aus lauter gleichgeformten (und daher austauschbaren) Bauelementen zusammengesetzt denkt, die in jeder Situation nach der gleichen Logik funktionieren. Das von äußerer Herrschaft freie Selbst des Leistungssubjekts ist eben dieses Bauelement. Mit Descartes "Ich", das seiner selbst gewiss ist, noch bevor es mit dem Erkennen von irgendetwas angefangen hat, begann die moderne Erfolgsgeschichte dieser Abstraktion. Und die weitere theoretische Entwicklung (als Zwischenstationen sind vor allem der englisch-französische Empirismus und dessen Kritik durch den deutschen Idealismus zu nennen) erbrachte schließlich, bei Marx, den Nachweis, dass es sich dabei um ein Spezifikum der auf der Warenform beruhenden Produktionsweise handelt.

Gerade der Hinweis auf den freien Willen, von dem das postmoderne animal laborans gehetzt wird, macht deutlich, dass wir es bei dieser Kategorie mit einem Bestandteil der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu tun haben. Denn der Kapitalismus ersetzt die vormoderne Herr-Knecht-Beziehung durch die Ware-Geld-Beziehung, die, damit sie zustande kommen kann, auf den freien Willen von Käufer und Verkäufer angewiesen ist. Beim freien Willen handelt es sich also nicht um ein naturgegebenes Phänomen, das von einem physischen oder physiologischen Bedürfnis abzuleiten wäre, sondern, ganz im Sinne der praktischen Philosophie Kants, um eine Kategorie der Metaphysik, die bestimmend ist für die gesellschaftliche Form, in der sich die Menschen bei der Produktion ihres Lebens zueinander verhalten. Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist diese rein als Form zu denkende Metaphysik gewissermaßen herabgestiegen aus der theoretischen Sphäre (in der sie ursprünglich einmal "Gott" geheißen hat) und von einer "Idee der Vernunft" zum Sein einer rechtlich fixierten gesellschaftlichen Struktur geworden, in der wir alle gleichermaßen als vereinzelte (nämlich voneinander freie) Individuen anerkannt sind. Die Verallgemeinerung der Warenform, die die kapitalistische Institution der Lohnarbeit mit sich gebracht hat, ist die Grundlage dieser Entwicklung. Je mehr die Gesellschaft zur kapitalistischen Marktgesellschaft wird, desto deutlicher muss das frei über sich selbst verfügende Warenbesitzer-Ich hervortreten, das sich auch noch zum eigenen Körper instrumentell verhält und bestrebt ist, ihn mit Blick auf den Markt zu qualifizieren und fit zu halten.

Der freie Wille des Leistungssubjekts ist also selbst ein Bestandteil der systemischen Gewalt, von der bei Byung-Chul Han die Rede ist. Er ist diejenige Subjektform, die der Markt in mein Bewusstsein geschleust hat. Weshalb er logischerweise auf den Markt als auf die zugehörige Objektivität ausgerichtet ist und von mir verlangt, dass ich mich beim Streben nach Erfolg und Anerkennung an dessen Vorgaben halte. Da aber der Erfolg, den die Marktgesellschaft zu bieten hat, auch bloß in der Form der Objektivität auftreten kann, messbar als Karriere, Geld oder Fitness, kann er dort nicht ankommen, wo ich leibhaftig existiere, als ein Wesen aus Fleisch und Blut, wo ich einmalig und unverwechselbar bin. Mich immerzu in Bewegung halten, aber nie dort ankommen lassen, wo es Zufriedenheit und existenzielles Behagen gibt: das ist die systematische Folter, der mich mein seit Kindesbeinen für die Markt-Objektivität trainiertes Selbst unterzieht, indem es mir einredet, dass die für den Markt erbrachte "Leistung sich lohnt". So gesehen, muss Ehrenbergs Rede vom "erschöpften Selbst" modifiziert werden. Nicht dieses abstrakte Selbst als eine vom Markt induzierte Instanz des modernen Bewusstseins wird zur Erschöpfung getrieben, sondern umgekehrt: der lebendige Organismus, der von diesem auf den Markterfolg ausgerichteten Selbst beherrscht bzw. gemanagt wird.

Es ist ein Vorzug der Han'schen Schrift, dass sie argumentativ genau in diese Richtung zielt. Durchaus im Sinn der soeben entwickelten Position wird "das Selbst im emphatischen Sinne" als eine "immunologische Kategorie" bestimmt: "So gesehen, bringt das Burnout-Syndrom nicht das erschöpfte Selbst, sondern eher die erschöpfte, ausgebrannte Seele zum Ausdruck." (S. 20) Allerdings wird der Vorstoß, der sich gegen die Abstraktion des vereinzelten Konkurrenz-Selbst zu richten hätte, nur halbherzig vorgetragen, mit müder Geste sozusagen. Da der Text durchgängig auf das analytische Potenzial des Kapitalbegriffs verzichtet, kann er auch nicht dahin gelangen, das Ehrenberg'sche Selbst der Selbstverwertung deutlich zu kennzeichnen als die Subjektform, die unabdingbar zur Funktionsfähigkeit der kapitalistischen Marktgesellschaft gehört. Der Unterschied zwischen dem abstrakten Ego des Leistungssubjekts und dem, was den Namen der Individualität verdienen würde, wird leider sogar verwischt. (S. 32)

Das Nein als Perspektive

Als wirklichen theoretischen Mangel empfinde ich die Zurückhaltung bei der Stigmatisierung des abstrakten Selbst allerdings nur dort, wo Han den "modernen Glaubensverlust" zur Sprache bringt. Mit diesem Glaubensverlust, "der nicht nur Gott oder Jenseits, sondern auch die Realität selbst (!) betrifft", sei "das menschliche Leben radikal vergänglich" geworden. (S. 33) - Was aber, möchte man fragen, ist besser gegen die Vergänglichkeit gefeit als die Abstraktion? Darin liegt ja das Wesen der Abstraktion, dass sie von der Realität und ihrem Wechsel nicht zu erreichen oder zu beeinträchtigen ist. Zumal wenn sie, beispielhaft vorgeführt im transzendenten Gottesbegriff, als eine eigene Substanz gedacht wird, die aus sich heraus wirken kann. Eben in dieser Hinsicht, dass es weitgehend gegen die reale Welt der Erfahrung abgedichtet ist, hat ja das abstrakte Ich des freien Willens die Nachfolge Gottes angetreten. Es bewährt sich in dem Anspruch, unbeeinflusst von den Wechselfällen des Lebens gleichmäßig funktionieren zu können. Han bezeichnet das "Multitasking" zu Recht als Regression hin zu "einer breiten, aber flachen Aufmerksamkeit, die der Wachsamkeit eines wilden Tieres ähnlich ist" (S. 25). Die Hektik, die mit dem Multitasking verbunden ist, das "Übermaß an Reizen, Informationen und Impulsen" (S. 24), wäre keinen Tag lang durchzuhalten, wenn ihm nicht die Realitätsresistenz des abstrakten Ich zugrunde läge. Es erlebt nichts in der Event-Gesellschaft, es verfügt nur über ein umschriebenes Reservoir von Reaktionsweisen, die von den als funktionsrelevant definierten Reizen abgerufen werden.

Wenn also das Leistungssubjekt ein Problem mit der Realität hat, dann besteht es doch wohl darin, dass ihm die Erfahrung, die Wahrnehmung und die Auseinandersetzung mit der "Vergänglichkeit alles Irdischen" gerade fehlt. Indem es von vornherein den Standpunkt der Abstraktion bezieht, sich also tot stellt - in der Auseinandersetzung mit Agambens "Homo sacer" spricht Han von den "Untoten" der Leistungsgesellschaft (S. 35) - kann es die berühmte Frage nach dem Leben vor dem Tod gar nicht erst stellen. Allenfalls in diesem Sinne, dass ihm die mit dem Leben zusammenhängenden Fragen vergangen sind, könnte man also von "Vergänglichkeit" sprechen. So wie Han das Thema anpackt, entsteht - momentweise - der Verdacht, dass sich hinter dem Aufruf zur "Revitalisierung des kontemplativen Vermögens" die reaktionäre Sehnsucht nach der religiösen Transzendenz verbirgt, nach jenem "ewigen Leben", das mit dem Tod gleichzusetzen ist. Das freilich wäre ein grobes Missverständnis.

Die Perspektive, die Han für die Ausgebrannten und Erschöpften dieser Welt bereithält, ist alles andere als ein Nein zum Leben. Die "Müdigkeitsgesellschaft" versucht im Gegenteil, das Nein des Versagens und Nicht-mehr-Könnens, das in der Erschöpfungsdepression zum Ausdruck kommt, als ein Potenzial kenntlich zu machen, das dem guten und gelingenden Leben wesentlich ist. Während das Nein von dem Depressiven zunächst als ein Nein der Impotenz erfahren wird: ich kann etwas nicht mehr, will Han auf ein absichtsloses und richtungsloses Nein hinaus, auf das "Nein als Lebewesen" könnte man sagen. Der zentrale Begriff, den er dabei verwendet, ist das "nicht zu", wie es sich in jedem Zögern, im Innehalten, in dem Widerstand gegen das unmittelbare Reagieren auf einen Reiz bemerkbar macht (S. 44 f.). Auch das Bedürfnis, "nicht zu" arbeiten, kann man hier einordnen. Die Fähigkeit, dem Reiz-Reaktion-Schema Widerstand zu leisten, ist gewissermaßen das, was uns von der Maschine unterscheidet, die ohne jede Negativität funktioniert. In diesem Sinne wird Nietzsche zitiert: "Die Tätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der Mechanik." (S. 41) Und Han ergänzt: "Die Maschine kann nicht innehalten. Trotz seiner enormen Rechenleistung ist der Computer insofern dumm, als ihm die Fähigkeit zu zögern fehlt." (ebd.) Kurz, die Fähigkeit, auf Distanz zu gehen zu dem, was gerade "Sache" ist, abzuschweifen, zu träumen und zu trödeln, Dauer auszuhalten und Nichtstun - das alles ist eine wichtige Voraussetzung für ein Denken, das aus den gewohnten Gleisen ausbrechen kann, für ein Sehen, das Neues zu sehen, für ein Lauschen, das Neues zu hören vermag. "Die pure Aktivität verlängert nur das bereits Vorhandene. Eine wirkliche Wendung zum Anderen setzt die Negativität der Unterbrechung voraus." (S. 40)

Einsichten dieser Art finden sich in der "Müdigkeitsgesellschaft" zuhauf. Sie sind lakonisch knapp und treffend formuliert, und ich kann ihnen nur aus vollem Herzen zustimmen - ohne langes Zögern, sozusagen. Der Blick, der hier auf die seelische Situation des "Leistungssubjekts" geworfen wird, kommt einer Kritik des zeitgenössischen Kapitalismus sicher näher als so mancher Aufruf, der "die Gier der Banker und Spekulanten" an den Pranger stellt. Gerade die Handelssäle der Banken sind ja berüchtigte Orte der Reizüberflutung, und die Menschen, die dort vor den Bildschirmen sitzen, sind bestens dafür geeignet, Opfer des Burnout-Syndroms zu werden. Die "Müdigkeitsgesellschaft" könnte ihnen dabei helfen, dass sie den Weg zurück an ihren Arbeitsplatz nicht mehr finden und dafür einen anderen Weg einschlagen: den zu jener "fundamentalen Müdigkeit", die auch noch auf das immunologische Selbst der Selbstbehauptung selbst übergreift und zu seiner "Abrüstung" führt.


(*) Byung-Chul Han, Die Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010 (4. Auflage). Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Bei der um ein Vorwort erweiterten 6. Auflage von 2011 sind jeweils zwei Seiten hinzuzuzählen.

Raute

Terra incognita

Stichworte zur Kritik

von Petra Ziegler

Lamento. Geschimpft wird viel. Vorneweg (wenn auch mit gehörigem Respekt) auf die Finanzmärkte, die US(!)-Ratingagenturen, über Gier und ungerechte Verteilung, gegen die Boni-Banker, Spekulanten und all die anderen Gauner, auf die Unfähigkeit des politischen Personals, nicht zu vergessen, die Griechen, und darüber, dass die Menschen "so" sind. Fehlen irgendwo Schuldige, sie finden sich, dafür sorgt schon die veröffentlichte Meinung. Praktisch alle Welt fordert das "Abstellen irgendwelcher Missstände", murrt über die da oben, fürchtet (mehr klamm als heimlich) die von unten, beklagt gewaltige Schieflagen und fehlende Reparaturen am "System". Allenthalben laute Empörung oder leiser Widerwillen. Verwundern kann das nicht, ist eins (noch) bei Verstand geblieben, kränkt der alltägliche Un- bis Irrsinn erst recht.

Umnebelt (1). "So leben die Agenten der kapitalistischen Produktion in einer verzauberten Welt, und ihre eigenen Bedingungen erscheinen ihnen als Eigenschaften der Dinge, der stofflichen Elemente der Produktion." (K. Marx, MEW 26.3, S. 503) Die Agenten, damit sind wir gemeint, alle zusammen, nur damit sich hier keine/r klein macht.

Umnebelt (2). Kritik im Blindflug, sozusagen auf Sicht, orientiert nur am oberflächlichen Schein - das mag mitunter in die richtige Richtung weisen und ebensogut gegen die Wand. Die Analyse des vermeintlich Offensichtlichen begreift wenig und erklärt kaum etwas. Die Kernstrukturen der kapitalistischen Produktionsweise und ihre Dynamik bleiben im Verborgenen. Warum etwa "dieser Inhalt" (Arbeit) "jene Form" (Wert) annimmt, interessiert nicht. Die Frage, daran hat sich seit Marxens Zeiten nichts geändert, stellt sich gar nicht. Allenfalls wird theoretische Spitzfindigkeit vermutet, keinesfalls notwendiger Abstoßungspunkt, ohne den die Auf hebung, das meint die bewusste Überwindung des warenproduzierenden Systems, scheitern muss. Übrig bleibt (allzu oft) eine "Kapitalismuskritik", die ihren Gegenstand verkennt und gar nicht erst den Versuch macht, zum Grund der gesellschaftlichen Verhältnisse zu gelangen. Dafür ist sie schön bunt. Keine Spur vom Bilderverbot, stattdessen ein fast unüberschaubares Gewirr "alternativer Wege" und Sackgassen, dazwischen irrlichtert der gesunde Menschenverstand, bloß von Ariadne nichts zu sehen. Wohin soll es gehen, wohin genau, und wer putzt dann das Klo, darüber lässt sich endlos debattieren.

Einsicht (1+1/2). Was ist, kann nicht alles sein. Dennoch: Dass die Welt nicht die beste aller möglichen ist, sondern ein zunehmend unfreundlicher Ort, lässt die meisten erstaunlich kalt. Ein klebriger Glaube, dass daran doch nichts zu ändern ist, hält das Denken in engen Grenzen. Alles ungerecht, irgendwie falsch oder verkehrt, und doch ewig gültig. Wider besseres Wissen* gleicht Menschengemachtes einer Naturgewalt, im besten Fall "regulierbar". (*Eins weiß schon, dass es tut, nur eben nicht, was es tut.) Da wird noch zum Bollwerk imaginiert, was mit letzter Kraft als Fassade hält. Und kein Preis scheint dafür zu hoch. Lieber lassen wir uns erschlagen, bevor wir sie umwerfen. "Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben an die permanente Notwendigkeit der bestehenden Verhältnisse." (K. Marx, MEW 32, S. 552)

Kritik der Warengesellschaft erfordert Distanz zum scheinbar Selbstverständlichen. Die ist - mit Blick auf Kontostand und Kühlschrank - nicht immer zu halten. Von Gesellschaftskritik, erst recht solcher, die sich mit dem Zusatz radikal schmückt, darf ein hohes Maß an Selbstreflexion erwartet werden. Sie ist dem, was sie überwinden will, gedanklich bereits voraus und bleibt doch (bewusst wie unbewusst) verstrickt. Aber das weiß unsereins doch. So what? Abkürzungen schon wieder erlaubt? Perspektive(n) gefordert!(?) Letzteres will ich gar nicht bestreiten (es wäre schade um die Zeit), Abkürzungen empfehlen sich dagegen nur auf bekanntem Terrain. Terra incognita erschließen sie allenfalls peripher. Wenn es gilt, "alles umzuwerfen", ist dann Niemandsland? Ist es die Furcht vor dem Unbekannten, die uns am Bestehenden festhalten lässt, der Mangel an reizvoller Alternative? Zähneknirschender Realismus? Der Realismus einer Gesellschaft, nach deren Rationalität wir noch am Nötigsten sparen sollen, lieber heute im Überfluss verhungern lassen und morgen in einer giftigen Atmosphäre verrecken. Eine Rationalität, nach der wir uns von den Produkten unserer eigenen Hand meistern lassen und das tatsächlich Machbare für Luftschlösser halten. Eine Gesellschaft, die über ihren eigenen Zusammenhang nicht weiß - sie ist das unbekannte Land.


Negation. Wir beanspruchen keinen neutralen Standpunkt, unsere Kritik ist nicht konstruktiv. Ihr Gegenstand ist das Dasein unter den Bedingungen des Werts. Oder anders: die bürgerliche Gesellschaft und ihre Demokratie, basierend auf der verselbständigten Verwertungslogik des Kapitals. Wir sind - soweit besteht Einigkeit - vor allem gegen: Gegen Tausch, Ware, Wert, das impliziert Markt und Konkurrenz. Plakativer: Gegen Kapital und Arbeit! Und: Klammer, Staat, Klammer. Dagegen schreiben wir an. An den Selbstzweck der Geldvermehrung wollen wir uns nicht vergeuden, auch sonst sollte das niemand. Was ist, hat so nicht zu sein, muss so nicht sein. Wird der zugrundeliegende gesellschaftliche Prozess bloßgelegt, und nur dann, kann der "stumme Zwang der Verhältnisse" an Macht verlieren. Das vermag eine im Wortsinn radikale Kritik zu leisten. Es wäre Aufgabe genug. Sich am Feld blümchenblauer Illusionen ins Getümmel zu mischen, hilft dabei wenig. Kritik verlangt Umsicht im Gebrauch, auch klare Abgrenzung, im Einerlei stumpfer Klingen verkommt, was uns Waffe ist, zu nutzlosem Trödel. (Ein wenig Pathos zum Schluss und vorerst aus.)

Raute

Auslauf

von Franz Schandl

Die Wut und ihre Bürger

Das darf doch nicht wahr sein! - ist des Wutbürgers Schrei und dokumentiert doch nichts anderes als sein breites Unverständnis. Ansonsten könnte er nicht dauernd erschüttert und überrascht sein. Permanente Aufregung ist Kennzeichen der Ignoranz. Wut ist dumpf, aber entschieden. Sie weiß alles, wovon sie nichts versteht. Ihre Empörung ist ihr heilig. Darunter macht sie es nicht. Und über sie kann sie sich nicht erheben. Wut ist nur möglich, wo der Gedanke verbannt ist, der Reflex über die Reflexion obsiegt.

Der eigene Affekt erscheint nicht verdächtig, er ist vielmehr dieses Bürgers feste Burg. Er setzt sich in Gang, ohne von sich wissen, geschweige denn sich erforschen zu wollen. Er tritt auf als Lösung, nicht als Problem. Dass gerade das Sich das eigene Rätsel ist wie auch dessen Schlüssel wäre, will seinem Träger nicht kommen. "Ich bin, wie ich bin", sagt der Wutbürger, "und ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist." Leider.

Wutbürger kündigen der Politik ihre Gefolgschaft, umso frenetischer verherrlichen sie deren Ideologie. Das Sein wird ausschließlich an seinem von ihm selbst gesetzten Sollen bemessen. Man will die Widersprüche nicht als immanente erkennen, sondern sitzt ihnen förmlich auf. Die Diskrepanz zwischen Idealität und Realität wird nicht als für die kapitalistische Gesellschaft konstitutiv angenommen, sondern als auf ihrem Boden behebbare Störung. Die Diskrepanz erscheint nicht als notwendige Täuschung, sondern als vorsätzlicher Betrug. Stets werden untragbare Zustände als abstellbare Missstände aufgefasst, unentwegt reproduziert und mobilisiert der gesunde Menschenverstand bürgerliche Tugenden und marktkonforme Muster gegen die Wirklichkeit. Seine Replik ist ein Duplikat der Konvention.

Die Begrifflichkeit der Wutbürgerei drückt die ganze Befangenheit dieser Empörung aus. An ihrer Terminologie sind sie leicht zu erkennen. Was sich heute als Widerstand formiert, ist in den meisten Fällen schwer kontaminiert. Das ist jetzt gar nicht als Vorwurf gemeint, sondern lediglich als Feststellung, der nicht wenig Traurigkeit anhaftet. Das soll man nicht leugnen und schon gar nicht einem Bewegungsfetischismus huldigen, der puren Aktivismus zu einem positiven Kriterium erhebt.

Wut ist letztlich ein Affekt, wo das gesellschaftliche Objekt durch das gesellschaftliche Subjekt bestätigt wird. In der Wut kommt der Bürger nackt zu sich. "Wir sind wütend", schreit der Mob. Da erwacht die Herde und wird zur Horde. Koma versetzt sich in Amok. Die Beschränktheit der Beschränkten macht sich in der Wut Luft, sie ist der adäquate Ausdruck konformierten Widerstands. Verfestigung der Wut wäre demnach der Hass, eine blindwütige Feindschaft, die nach Opfern schreit. Ist Wut noch eine korrigierbare Verunglückung, so Hass bereits ein schwer behebbares Unglück.

Von seinem Erfinder, dem Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit noch in verächtlicher Weise sowohl gegen Sarrazin-Anhänger als auch Stuttgarter Bahnhofsdemonstranten gebrauchtes Wortgebilde, hat sich der Wutbürger inzwischen verselbständigt, ja ist gar zum Wort (nicht Unwort!) des Jahres aufgestiegen, positiver Bezugspunkt geworden, selbst wenn gelegentlich das "W" durch ein "M" ersetzt worden ist.

Findet zum Begriff Wut eine, wenn auch seltsame Debatte statt, so bleibt die Kategorie Bürger völlig unproblematisiert. Dass gerade die Spezies des Bürgers die anzurufende Instanz ist, wird vorausgesetzt. Wer sonst? Menschen? Aber geh! Alles was sich regt und aufregt, muss als Bürger verkleidet daherkommen und in die Zivilgesellschaft und ihre Werte verliebt sein. Der Bürger, der hier Besitz- und Staatsbürger vereinigt, ist Leitbild einer Opposition, die keine ist. Der Bürger soll nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr verwirklicht werden. Er ist Referenz-, nicht Abstoßungspunkt. Sein Universum ist nicht überschreitbar. Indes stünde gerade dieses zur Disposition.

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Raute

AutorInnen

Julian Bierwirth, 1975. Lebt in Göttingen, Studium der Sozialwissenschaften. Weltverbesserer, z.B. bei Gruppe 180° - Für einen neuen Realismus und emanzipationoderbarbarei.blogsport.de

Jan-Hendrik Cropp, studierte in einigen Ländern, erlernt gerade den Müßiggang wieder zwischen dem guten Leben, theoretischer Kritik, landwirtschaftlicher Praxis, sozialen Bewegungen und dem Aufbau schenkökonomischer Alltagsprojekte.

Andreas Exner, 1973. Studium der Ökologie. Gesellschaftskritischer Publizist, von 2003 bis 2011 Mitglied der Redaktion der Streifzüge. Dzt. u.a. bei socialinnovation.org aktiv.

Alfred Fresin, 1953. Studierte Industrietechnik, Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Lebt und arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Wien.

Lorenz Glatz, 1948. Streifzüge-Redakteur.

Severin Heilmann, 1976. Streifzüge-Redakteur.

Peter Klein, 1947. Lebt in Nürnberg; ist seit 1970 politisch in der Linken aktiv; Autor von "Die Illusion von 1917". Verheiratet, eine Tochter, Brotberuf Arzt, im "Traforat" der Streifzüge.

Tomasz Konicz, 1973. Studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover, Wirtschaftsgeschichte in Poznan, wo er wohnt. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa.

Stefan Meretz, 1962. Berliner. Informatiker. Schwerpunkte: Freie Software und Technikentwicklung. Aktiv u.a. bei Oekonux und Wege aus dem Kapitalismus; "Traforat" der Streifzüge.

Bernd Mullet, 1966. Lebt seit 2004 in Wien; ausgebildet als Krankenpflegehelfer, Polizist und IT-Systemkaufmann, war er in Altenpflege, Produktion, Lager u.a. Bereichen der sog. unteren Einkommensschichten tätig. Leidenschaftliche Hinwendung zu Wert-, Geld-, und Handelskritik. Seit dieser Ausgabe Streifzüge-Redakteur.

Franz Schandl, 1960. Streifzüge-Redakteur.

Maria Wölflingseder, 1958. Streifzüge-Redakteurin.

Petra Ziegler, 1969. Streifzüge-Redakteurin.

IMPRESSUM

ISSN 1813-3312

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Transformationskunde,
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Quelle:
Streifzüge Nr. 54, Frühling 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2012