Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

STREIFZÜGE/021: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 48, April 2010


Streifzüge Nummer 48 / April 2010

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALT

Lorenz Glatz: Einlauf

Franz Schandl: Organisieren? - Ein kleiner Aufruf zur Erhebung

Lorenz Glatz: Freundschaft!
Zwei Anrisse für eine Perspektive auf Frieden und Freiheit

Marianne Gronemeyer: Fremder. Gastfreund. Feind
Verstehen als Vernichtung des Anderen

Ilse Bindseil: Ein Freund, ein guter Freund

Peter Pott: Liebe und Freundschaft
Soll Liebe nicht verkümmern, braucht sie Freunde, die sich um sie kümmern

Franz Schandl: Vakanzen der Freundschaft -
Wegzeichen wider die Unfreundlichkeiten des Lebens

Severin Heilmann: Macht Macht Machtlos. Freundschaft und Macht -
Plädoyer für die Auflösung einer Mesalliance

FreundInnen: mit Beiträgen von Dominika Meindl, Severin Heilmann, Maria Wölflingseder und Annette Schlemm

Andreas Exner: Capitalism in Emergency - Profit ohne Wachstum?

Massimo Maggini: Was heißt "Decroissance"?
Ein nüchterner Blick auf einen interessanten Vorschlag

Ulrich Weiß: Marx' Kritik am Gothaer Programm
oder: Kein Weg aus dem Kapitalismus

Petition für eine "Kritische & Solidarische Universität - KriSU"

Kolumnen
Dead Men Working von Maria Wölflingseder
Immaterial World von Stefan Meretz
Rückkoppelungen von Roger Behrens

Rubrik 2000 Zeichen abwärts
Petra Ziegler (P.Z.)
Julian Bierwirth (J.B.)
Maria Wölflingseder (M.W.)
Lorenz Glatz (L.G.)

Rezensionen
Ricky Trang (R.T.) zu Michèle Bernstein: All The King's Horses
Petra Ziegler (P.Z.) zu Mattersburger Kreis (HG.):
Solidarische Ökonomie zwischen Markt und Staat Utta Isop (U.I.) zu Christa Wichterich: Gleich - gleicher - ungleich.
Paradoxien und Perspektiven von Frauenrechten in der Globalisierung

Raute

Einlauf

von Lorenz Glatz

Was hat Freundschaft mit "magazinierter Transformationslust" zu tun, dass sie zum Schwerpunktthema dieser Nummer der Streifzüge geworden ist? Zu sagen, dass dieses Thema im heutigen Theoriebetrieb bei den Überlegungen zu gesellschaftlicher Emanzipation besondere Aufmerksamkeit fände, wäre schlicht lächerlich. Eher schon klingt das Wort heute nach Mädchen, die von ihrer "besten Freundin" schwärmen, oder nach Männern bei Bier und Schnaps. Es kam daher nicht unerwartet, dass es diesmal kaum Textangebote gab, es mehr Nachfragen und Ermunterungen gebraucht hat und auch nicht alles zustandegekommen ist, was geplant war.

Kritik hat negativ zu sein, da steht Freundliches leicht im Geruch der Affirmation dessen, was zu überwinden ist. Dementsprechend sind Gesellschaftskritiker (mehr noch als -innen) für ihren Umgang miteinander oft zu Recht berüchtigt. Umgekehrt aber sind gewisse Fragen nicht von der Hand zu weisen: Was ist es denn, was uns Lust auf die und bei der Transformation macht, was finden wir aneinander, was suchen wir voneinander, wenn wir jene magazinieren? Die Frage ist ja nicht bloß, "warum wir uns das antun", sondern vor allem auch: "wozu". Wie leben wir, wie wollen wir leben, was haben wir für Vorstellungen, dass wir uns überhaupt imstande sehen, die Dinge nicht einfach so hinzunehmen, wie sie nun einmal liegen? Das ist das Feld, auf dem wir uns in diesem Heft umtun. Ein Streifzug hier, ein Flanieren dort. Mit unterschiedlichen Ergebnissen und mit Widersprüchen. Wie immer.

Mit welchen Themen wir weitermachen wollen, steht am Fuß dieser Seite zu lesen. Dass wir dazu Abos und Geld brauchen, ist allen LeserInnen wohlbekannt. Wir bitten um Berücksichtigung. Wer auch ein wenig Zeit und Energie einsetzen kann und will, schaue bitte auf www.streifzuege.org/wanted.

Was Schönes noch zum Schluss: Petra Ziegler ist, seit dieser Ausgabe als Streifzüge-Redakteurin mit am Werken. Wir freuen uns.

Freundschaft!

Raute

Organisieren?

Ein kleiner Aufruf zur Erhebung

von Franz Schandl

Vielleicht gibt es ja nach vielen Jahren wieder einmal die Möglichkeit, sich über die kleinen Zirkel hinaus zu organisieren. Sollte dem so sein, gilt es diese Chance zu nutzen. Sollte dem nicht so sein, stehen wir nachher nicht schlechter da als vorher. Hier soll nun nichts vorweggenommen, sondern bloß ein, nämlich mein Standpunkt bezogen und deklariert werden.

Die Rede ist von den Organisierungsversuchen einer selbstironisch so bezeichneten Superlinken, siehe: http://superlinke.blog.at/ An den Debatten um den Aufruf "Für eine Linke mit gesellschaftlicher Dimension" haben sich Menschen aus unserer Redaktion beteiligt und in den ersten Entwürfen findet sich einiges, was uns wichtig und relevant ist.

So betrachtet ist es ein ungemeiner Fortschritt, dass die Leute ins Gespräch kommen und diese Kommunikation Koordination erfährt. Die Politik der hermetischen Parzellen ist zu überwinden. Zwischen Sektierertum und Opportunismus ist der Grad manchmal recht schmal. Ein breiter Pfad kann da nur entstehen, wenn man ihn kräftig austritt, sich vor Begehungen nicht scheut, auch wenn sie gelegentlich in Abstürzen und Unfällen enden. Schlimm ist nicht, wenn man Fehler macht, schlimm ist nur, wenn man daraus keine Konsequenzen zieht. Die Suche nach gangbaren Wegen hat begonnen. Natürlich ist es nicht egal, was getan wird, und keinesfalls, wer was wie tut.

Unsere Organisierung probiert sich an einer Zusammenfügung unterschiedlicher, aber sich nicht ausschließender Momente und Aspekte der Emanzipation zu handlungsfähigen Teilen und schließlich auch zu einem handlungsfähigen Ganzen. Kein kleinster gemeinsamer Nenner soll das werden, sondern das größtmögliche Kontinuum von Akzenten, Vermögen und Kenntnissen. Keine Defensive steht an, kein Rettungsprojekt, sondern eine offensive Veranstaltung der Anliegen und Aufgaben. Die ersten Gehversuche waren ganz gut, nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der zwischenmenschlichen Ebene. In gewissem Ausmaß müssen wir uns gegenseitig Akzeptanz und Wohlwollen entgegenbringen, es geht um uns, nicht um die Erledigung eines gemeinsamen Geschäfts. Sollte das gelingen, ist einiges gelungen.


Ein Experiment

Ohne Zweifel, da wäre auch einiges zu bemängeln: Der eklatante Männerüberschuss, der Altersdurchschnitt oder dass die Plena sehr nach einschlägiger Szene ausschauen. Und will eins sehr böse sein, könnte man insiderisch unken, dass GRM, IKL und SOAK garniert mit einigen Ex-Maoisten eine trotzkistische Reinkarnation betreiben. Indes, diese Bilder greifen zu kurz oder ganz daneben. Wichtig ist ja nicht, woher einige Leute kommen, sondern wohin sie gehen. Wer meint, alte Rechnungen begleichen zu müssen, ist sowieso fehl am Platz. Die Pflege der Vorbehalte soll unsere dringlichste Aufgabe nicht sein.

Betrachten wir die Angelegenheit pragmatisch als das, was sie ist, nämlich ein Experiment, das, wie so vieles auch scheitern kann. Nur kann dies nicht a priori gewusst werden. Skepsis soll nicht zur Selbstfesselung werden und letztlich als Vorwand dienen, Absenz zu begründen. Motto: Wer nichts macht, macht keine Fehler. Werch ein Illtum!

Die Vorstellung, dass nichts geht oder zumindest jetzt nichts geht, ist weit verbreitet. Nicht wenige, die sich als radikal verstehen, beziehen einen zynischen Standpunkt. Einerseits herrscht da Verachtung gegenüber den Praktikern, andererseits dominiert eine Abgehobenheit und Reserviertheit, die zu gar keinem Eingriff mehr fähig ist. Indes ist vieles, was da an Kritik geäußert wird, durchaus berechtigt, es bleibt allerdings ob der überheblichen Pose folgenlos, erreicht keine Adressaten. Es regt nicht an, es nervt. Dieser platonische Kommunismus ist frigid, kann in keiner Weise fruchtbar wirken.

Mehr als Struktur und Gegner sind wir es selbst, die unsere Möglichkeiten beschneiden. Die gesellschaftliche Macht und ihre Unterordnungen sind in vieler Hinsicht auch unserer Selbstentmächtigung und Selbstzerfleischung geschuldet. Wir dürfen das nicht akzeptieren oder gar die Verhältnisse als Entschuldigung durchgehen lassen. Insofern sind schon kontrafaktische Setzungen potenzieller Individuen gegen ihre Charaktermasken notwendig. Das ist oft schwierig, aber kollektiv ist es leichter zu bewerkstelligen. Auch das ist ein guter Grund für eine Organisierung.


Radikal, nicht rabiat

Die wichtigste Frage ist unmittelbar nicht die nach der programmatischen Stringenz, sondern die des mentalen Grundverständnisses der Akteure. Kurzum: Wie halten wir es miteinander aus? Das ist gar nicht so einfach. Viele meinen, die Befindlichkeit sei ein nachrangiges oder gar kein Problem. Mitnichten. Die Ausblendung des Emotionalen ist fatal. Wir müssen also umgänglich und genießbar sein. Das System, das wir ablehnen, auch noch zu kopieren, wäre einfach eine Dummheit.

Auf der zwischenmenschlichen Ebene erfordert das eine konsequente Verabschiedung von der Politik der Verdächtigung, dem Gerede von Abweichlern und Kleinbürgern, der fast saloppen Denunziation als Rassisten, Antisemiten, Sexisten. Diese oftmals leichtfertig gebrauchten Anwürfe vergiften die Atmosphäre in unerträglicher Weise, ersticken Diskussionen, machen die Rede und das Atmen schwer. Man denke nur an die durchgeknallten Nahwestkriege verfeindeter Parteien. Nicht befreiend wirken solche Szeneschlägereien, sondern beklemmend und abstoßend. Ihre Wirkungen sind katastrophal.

Mir erscheint immer mehr, dass die Intransigenz des eigenen Standpunkts schädlich ist, zuletzt auch diesem selbst. Argumente haben nicht schlagkräftig zu sein, sondern anzugsfähig. Attraktivität speist sich nicht aus der Kraft eines Vorschlaghammers. Der Weg muss das Ziel spüren lassen, d.h. er ist nicht Mittel allein, sondern selbst Zweck, ohne deshalb auf einen Selbstzweck reduziert zu werden. Am Ziel festhalten, ohne das Maß aus den Augen zu verlieren, das den Weg ermöglicht.

Selbst die größte Schärfe des Inhalts ist mit einem moderaten Stil zu kombinieren. Radikal in der Aussage meint nicht rabiat in der Form. Auf den Kommunismus, so es einen gibt, hat man sich zu freuen, nicht sich vor ihm zu fürchten. Er ist nicht Buße und Fegefeuer, nicht Erziehungslager und Verbot, sondern Freundschaft und Freude. Die absolut lustbejahende Form setzt auf Befriedigung und Erfüllung, nicht auf Enthaltsamkeit und Gleichmacherei. Wir wollen es uns und den anderen gut gehen lassen. Was denn sonst?

Didaktische Überlegungen sind von Relevanz, taktische schon um vieles weniger. Frei nach Marianne Gronemeyer geht es darum, sich mitzuteilen, nicht zu vermitteln. Vermittlung geht davon aus, dass die Avantgarde über etwas verfügt, was den anderen beizubringen ist, es ist also letztlich ein pädagogisches und scholastisches, ja talibanisches Konzept, das auf vorgegebener Hierarchie baut, wo irgendwelche Priester der Theorie den Ton angeben. Das Weitersein muss jedoch in jeder Auseinandersetzung extra begründet und akzeptiert werden, es gibt keine vorgegebenen Ordnungen, denen Anordnungen folgen.


Turm und Feld

Nicht ganz nebenbei: Ich werde im Juni Fünfzig. Politische Erfahrungen gab es da nicht wenige: als Gymnasiast habe ich 1977 mit anderen in Waidhofen an der Thaya die linksradikale Schülerzeitung Auseinandersetzung gegründet, bin Mitglied der dem Trotzkismus nahe stehenden Gruppe Sozialistische Aktion (SOAK) gewesen, vertrat die Linke Alternative Liste (LAL) drei Jahre im Hauptausschuss der Uni Wien. Ab 1983 habe ich Alternative Listen aufgebaut, in Heidenreichstein, in Niederösterreich, in Österreich. Für erstere bin ich von 1985 bis 1995 im Gemeinderat gesessen und für letztere im Hainburger Einigungskomitee der Grünen, die ich im Herbst 1986 unmittelbar nach der "Säuberung" der Linken (durch Meissner-Blau, Pilz und Strobl) gleich wieder verlassen habe.

Ich möchte diese Zeit keineswegs missen. Fehler und Illusionen gab es zuhauf, aber ich habe nichts vertan. Vertan hätte ich es nur, wäre ich dort hängen geblieben oder hätte ich gar eine dieser seltsamen politischen Karrieren gemacht. Vor allem habe ich viele Menschen kennen gelernt, die mir sonst entgangen wären. Manche haben auch noch heute meine Sympathie und ich vielleicht auch ihre.

Die Jahre danach waren davon geprägt, dass ich mich von der Handwerkelei verabschiedete, dass ich den Anspruch kritischer Theorie einforderte, auch über die Welt zu reflektieren, ohne unmittelbar aktiv werden zu müssen. Nicht nur von Marx oder Hegel zu reden, sondern sie auch gelesen zu haben, das hat schon was. Ausdruck dieser Periode ist der Aufbruch der (heute bereits zu historisierenden) Wertkritik in den Neunzigerjahren und die damit verbundene Etablierung und Entwicklung der Streifzüge.

Ich mag den Elfenbeinturm. Er ist einer meiner Lieblingsorte. Der prächtige Ausblick, der gewaltige Überblick. Analysieren meint ja auch das Einzelne auf das Ganze zu beziehen, es nicht sachlich zu betrachten, sondern in dessen Totalität. Erst die Zusammenschau erschließt den Zusammenhang, zweifellos. Und doch, das Konkrete verschwindet im Abstrakten, erscheint nur noch als verunreinigendes oder verzierendes Beiwerk. Genauigkeit und Unmittelbarkeit kommen dabei zu kurz. Das profane Leben, das ist weit weg. Man steht über den Dingen, und da man ja auch lächerliches bürgerliches Subjekt ist, fühlt man sich gelegentlich als Feldherr des Geistes, dem alles zu Füßen liegt.

Wenn dann allerdings noch die Überheblichkeit folgt, wird es schlimm. Besserwisser vom Turm mag niemand, selbst wenn sie Recht haben. Den Turm zu verlassen, ohne ihm zu entsagen, das wär doch was. Und auch andere mit auf den Turm nehmen, wohl wissend, dass er, obwohl man die Welt von dort oben am besten sieht, nicht die Welt ist. Schon die gemeinen sinnlichen Bedürfnisse sind nicht mit Weitblick und Einsicht zu sättigen. Ist der Kühlschrank länger leer, trübt sich der Blick der genialsten Denker. Mag er auch als geschützte Stätte gelten, ein sicherer Ort ist der Elfenbeinturm sowieso nicht, der soziale Kahlschlag lässt ihn nicht unbeschädigt.

Ist eins sich dessen nicht bewusst, verwandelt sich der Turm gar leicht in einen Narrenturm und nicht wenige Denker erscheinen als Idioten ihrer Weggetretenheit, ohne das auch nur zu merken. Inzwischen, man sollte es ruhig aussprechen, ist die Betonung der Theorie aber aufgrund ihrer Einseitigkeit steril geworden. Sie droht zu einer selbstreferenziellen Veranstaltung überstrapazierter Theoriegruppen zu werden.


Wirkungen

Theorie und Praxis sind nicht nur nicht eins, sie sollen auch keineswegs zu einer Einheit verrührt werden. Trotzdem ist es wichtig und notwendig, dass sie sich gegenseitig mitteilen und befruchten, d.h. nicht als isolierte Momente gegenüberstehen, wo Theoretiker sich abfällig über Praktiker äußern wie umgekehrt. Das macht keinen Sinn. Die Theorie ist nicht die Vorgesetzte der Praxis, und die Praxis nicht Vorgesetzte der Theorie. Bewahren wir ihre relativen Unabhängigkeiten, ihre Zweiheit. Die Frage, die sich jede emanzipatorische Organisierung zu stellen hat, ist: Wie gestalten wir die Genossenschaft zwischen Theorie und Praxis so, dass erstere bei aller notwendigen Distanz nicht entrückt, aber auch nicht in den Alltagspraxen oder gar in irgendeiner Politik absäuft.

Das Kriterium der Praxis ist die Wirkung. Praxis ist der stete Versuch bessere Synthesen zu erzielen. Man kann hier ruhig an alte Artikel anschließen und die auch zitieren: "Wirkung bemisst sich aber nicht als eine unbestimmte, sondern als eine bestimmte und bestimmbare. Nicht nach Anschlussfähigkeit frägt Praxis, sondern nach Anzugsfähigkeit, die Bewegung muss die richtige Richtung haben. Die Leute abzuholen, wo sie sind, hieße ja, sich zu ihnen, auf ihre Ebene zu begeben; nein es geht darum, diese von dort abzuziehen: sie haben zu kommen. Was von ihnen zu lernen ist, ist eindeutig negativ bestimmt. Wir positionieren uns nicht mit ihnen, sondern gegen sie für sie." (Bewegungsversuche auf Glatteis, Streifzüge 2/2000, S.9)

Oder: "Eine Anforderung an die transvolutionäre Praxis ist, dass sie dem gesunden Menschenverstand zwar nicht anschlussfähig ist, aber doch aufmischungsfähig. Sie muss ihn verstehend unverständlich machen. Das Normale zum Irren küren, ist ihre Aufgabe. Sie will Fronten nicht erhärten, sondern diese aufbrechen und auflösen. Alles andere ist sektiererische Selbstinszenierung und intellektuelle Kraftmeierei, die sich meist so lange aufführt, bis der Illusionismus in die Desillusion umschlägt und selbst in die Normalität desertiert." (Ebenda)

Theorie und Praxis stehen im Dienst von etwas Bedeutenderem: einem gelingenden und guten Leben. Sequenzen davon sind auch heute schon einlösbar. Kritik hat esoterisch und exoterisch zu sein, d.h. sie hat ihren Hang nach Grund und Tiefe nicht aufzugeben, muss aber gleichzeitig den Drang nach der Weite aller gesellschaftlichen Felder ausdrücken. Die genuine linke Politikfixiertheit ist dem hinderlich.

Man sollte also wegkommen von dieser selbstverständlichen Konzentration auf den politischen Sektor. Der ist nur eine Sphäre, und nicht die alles bestimmende und vorrangige. Die Räume der Emanzipation sind überall, und wir sollten sie daher nicht an einer bestimmten Stelle festzurren. Der Alltag der Menschen (Produktion, Zirkulation, Reproduktion) ist als zentraler Ausgangspunkt zu begreifen. Und wir sollten klar erkennen, dass letztlich eben nicht die Erkenntnis, sondern die emotionale Transposition die entscheidende Triebkraft der Transformation sein wird.


ModErn statt MOdern

Auf der Höhe der Zeit heißt mit der Zeit gegen sie. Sich der Zeit wider sie anzupassen, das ist die radikale Herausforderung. Wir haben Traditionen, aber wir sind nicht eine oder die Tradition. Jene sind Kompost, aber nicht das, was wachsen soll. Verwechseln wir unsere Aufgaben und Vorhaben nicht mit unserer oder unseren Geschichte(n).

Noch einmal zu mir. Ich glaube, es wird Zeit aufzustehen. Gespräche von Achtzigjährigen, die über versäumte Gelegenheiten nachdenken, möchte ich mir und anderen jedenfalls ersparen. Da ist es schon besser, noch einige Male zu scheitern. Und ich bin oft gescheitert - was denn sonst? Aber wenn ich mir die Erfolgreichen und Integrierten anschaue, die traurigen Schicksale vieler Karrieren, dann habe ich trotz diverser Niederlagen großes Glück gehabt. Und Genuss und Zeit und einiges mehr, was Freude bereitet, vor allem auch, weil ich das Privileg habe, weder der Lohnarbeit noch dem Sozialsystem ausgeliefert zu sein. Zumindest weitgehend. Es gibt keine Existenzen, gegen die ich mich eintauschen möchte. Auch nicht gegen deren Lagen, die meist nichts anderes meinen als eine gute finanzielle Ausstattung.

Immer noch gilt: Lieber als das Versäumnis ist mir der Fehler. Es ist noch nicht aus, es geht erst los. Ob der Traum von der freien Assoziation, dem guten Leben einlösbar ist, wird sich weisen, auslöschbar wird dieser Traum aber nie sein. Es ist die nicht tot zu kriegende Sehnsucht nach menschlichen Menschen, die sich frei und selbstbestimmt bewegen können und die Larven der Vorgeschichte abwerfen. Ob die andere Welt möglich ist, wer weiß das schon; dass diese Welt unmöglich ist, das hingegen wissen wir und darin sollten wir uns auch nicht erschüttern lassen. So gesehen ist die Transformation eine aktuelle Aufgabe, kein Fernziel, unabhängig davon, ob sie sich jetzt, morgen, übermorgen oder nie verwirklichen lässt.

Die erste Motivation ist meist negativ, Folge eines Unbehagens, das praktisch werden will. Eins will etwas nicht, eins will etwas verhindern. Diese Motivation hat ihre Meriten, aber sie muss von der partiellen zur "großen Weigerung" (Marcuse) aufsteigen und letztlich hat sie sich in ihr Gegenteil zu verkehren, also positiv zu begründen, wenn sie an Kraft und Schwung gewinnen möchte. Positiv wollen meint nicht positiv denken. Was will ich? und Wohin will ich? und Womit will ich? treten dann in den Vordergrund, haben als elementare Fragen Raum zu behaupten. Das ist auch deswegen wichtig, weil sonst das unbegriffene Unbehagen aufgrund diverser Enttäuschungen allzu leicht in Ressentiment kippt.

Was heißt Selbstbestimmung jenseits der demokratischen Illusion, Attraktivität jenseits des Populismus, Praxis jenseits der Politik? Was bedeutet Transzendenz, die nicht in der Immanenz untergeht? Profan, aber ganz entschieden ist zu fragen: Was ist das gute Leben? Was fördert das gute Leben? Was hindert das gute Leben? Was ist Glück, Freude, Lust, Eierkuchen? Was eine klassenlose Gesellschaft? Eine herrschaftsfreie Assoziation? Diesen Problemstellungen sollten wir uns eingehend widmen, sie keineswegs auf irgendwelche St. Nimmerleinstage verschieben. Das hier Angedachte kommt durchaus pathetisch und apodiktisch daher, es erfordert einen paradigmatischen Bruch.

Wie mobilisieren wir die menschliche Wärme gegen die Kälte von Kapital, Herrschaft und Subjekt? Lasst es uns doch einfach probieren.

Raute

2000 Zeichen abwärts

Sollbruchstelle

Ich trenne mich. Nach Jahren. Attac und ich, wir scheiden in Freundschaft, wie das so schön heißt und wie sich das gehört. Verbunden hat die Auflehnung gegen die Zumutungen des globalen Kapitalismus. Deren Wurzel war Kern des Konflikts. Die Trennung war absehbar. Was schmerzt, sind die fehlenden Reaktionen, die als Indiz für gescheiterte Versuche einer Veränderung von innen heraus gewertet werden müssen. Dass mir das Ganze auch noch unrunde Träume beschert, ist aus meiner Sicht übertrieben, als Erfahrung nicht uninteressant. Dass all das zu einem Zeitpunkt geschieht, an dem Menschen aus meiner Nachbarschaft mich zunehmend auf mein (nunmehr zurückliegendes) Engagement ansprechen und freundliche Zustimmung signalisieren, liegt an der Krisenrealität, nicht an meinem spezifischen Tun.

"Die Finanzmärkte müssen auf ihre eigentliche Aufgabe, die Finanzierung der Realwirtschaft, zurückgeführt werden." Ein Auszug aus einem meiner Artikel, datiert 2008. Besagter Satz ist übernommen, wohl aus einem der "Positionspapiere". Das macht die Sache nicht besser, da nützt kein Herausreden. Lob der "Realwirtschaft" war meine Sache nie. Zu lesen, dass ich vor nicht allzu langer Zeit derartiges zu Papier bringen konnte, erschreckt mich. Ein wenig wütend macht es mich auch, und unfair gegen meinen Ex-Verein.

Es ist den NetzwerkerInnen der reregulierten Märkte nicht vorzuwerfen, dass sie nicht sind, was sie nicht vorgeben zu sein. Zu kritisieren ist ihre verkürzte Sicht umso mehr.

"Die Notwendigkeit eines anderen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems aufzuzeigen", ähnliches findet sich immer öfter in halböffentlichen Attac-Papieren als Teil der Agenda. Schön, nur scheint bei den Forderungen, zwei Absätze drunter, die gute Absicht wieder vergessen. "... die Menschen abholen, wo sie stehen", heißt es dann. Wozu? Um selbst dort zu bleiben?

P.Z.

Raute

Freundschaft!

Zwei Anrisse für eine Perspektive auf Frieden und Freiheit

von Lorenz Glatz

Weil ich meine Großmutter regelmäßig besucht, ihr zugehört und ihre Fragen beantwortet habe, hat sie mich ihren "Freund" genannt. Das schien mir ungewöhnlich, aber die Etymologie gibt ihr recht: Freund ist ein Mittelwort der Gegenwart und hat eine indogermanische Wurzel mit der Bedeutung "schützen, schonen; gern haben, lieben". Friede und Frei teilen übrigens diese Herkunft. Diese Bedeutungen schwingen sozusagen als Konnotationen historisch mit, wenn es um Freundschaft als eine spezifische Gestaltung der Beziehungen unter den Menschen geht.

Sie wird als privilegiertes Verhältnis einzelner gestaltet und genossen. Soweit ist das heute Alltagssprache. Darüber hinaus wird inmitten der gesellschaftlichen Kälte und - so muss man heute sagen - schleichenden Desintegration alltäglich ohne viel Aufhebens als unsichtbarer Kitt des Zusammenlebens uneigennützige, selbstverständliche Freundlichkeit praktiziert, ja seit dem europäischen Hellenismus sagen Philosophen, dass darin der Zusammenhalt der Menschheit besteht bzw. bestehen soll.

Als Rahmenbedingung freilich gilt: Freundschaft hat sich auf allen Ebenen stets zur Herrschaft verhalten und zu verhalten, seit diese in die Geschichte eingetreten ist. Dabei sind Theorie und Praxis freundlicher Beziehungen die verschiedensten Amalgamierungen mit Herrschaft eingegangen bis zur fast völligen Vereinnahmung in die Kumpanei des Krieges und der Konkurrenz. Und doch ist auch die Tradition des Verrats an der Herrschaft, begangen aus Liebe und Freundschaft, nie erloschen.


1. "Große Einsichten, starke Freundschaften und vertrauter Umgang"

Die enge, frei gewählte Beziehung zwischen Gleichen und gleich Gestimmten, explizit oder implizit begehrlich und sexuell-erotisch, ist der uns naheliegende, sicherlich meistgewünschte Sonderfall, er gilt als das Musterbeispiel von Freundschaft und Liebe. Deren Bereich geht jedoch weit darüber hinaus. Sublimierung gibt es nicht bloß repressiv, wie Freud es meistens darstellt. Ein dünner Strang zumindest hat eine bessere Perspektive: Geglückte Liebe, erfülltes Begehren nährt auch den Wunsch nach Weitung, Verästelung, Verfeinerung, Teilhabe der Andern (ausführlich nachzulesen in Marcuses Eros and Civilization).

Freundschaft und Freundlichkeit braucht eins gerade als der schwache Teil in den meistens ungleichen Verhältnissen, die unser Leben ausmachen, es bereichern, schützen - und bedrohen und zur Hölle machen, wenn wir scheitern. Kein Mensch hätte ohne fürsorgliche Pflege wahrscheinlich auch nur das Kleinkindalter überlebt. Ich wähle jedoch das eingangs erwähnte Verhältnis zum Exempel - die ungleichen Beziehungen zwischen Alten und Gebrechlichen und denen, die sie therapieren, pflegen, sich um sie kümmern, ein Verhältnis, das nicht recht in das Bild von der "besten Freundin" oder dem "Seelenfreund" passt. Wer hier auf der schwachen Seite liegt, ist in seiner Ungleichheit dem Verlassenwerden und dem Übergriff leicht ausgesetzt. "Gottes Lohn", den die Siechen für ihre Pflege verheißen konnten, hat samt der Gottesfurcht weitestgehend ausgedient. Und an Nutzen und Brauchbarkeit, an "Gleichwertigem" hat eins dann vielleicht nie mehr nie jemandem etwas zu bieten.

Aristoteles sah in Ungleichheiten in einer Freundschaft bereits ein Äquivalenzproblem und nahm den "schlechteren" Freund in die Pflicht, dem "besseren" zum Ausgleich für seine mindere Qualität ein "Mehr" an Dienstbeflissenheit zu bieten. In unserem Fall heißt das freilich schlicht: Ausschluss von Freundschaft und Freundlichkeit. Aristoteles hat in seiner Ethik nicht daran gedacht, aber in einer voll entwickelten Warengesellschaft, wo noch dazu die von uns konkret ins Auge gefasste Beziehung zu einem großen Teil professionalisert ist, gibt es für den geforderten quantitativen Ausgleich die allgegenwärtige Patentlösung: Geld. Der unpersönliche Regent der Welt, von dem manche Dichter und Propheten schon in der Antike sagten, dass er die Welt regiere - weil es damals noch einen Hintergrund gab, vor dem das leicht erkennbar war. In neueren Zeiten ist seine Herrschaft so durchgedrungen und allgegenwärtig, dass sie schon recht schwer zu sehen ist.

Der Kranke oder Pflegebedürftige tritt also heute in den meisten Fällen in ein Kunde-Dienstleister-Verhältnis mit seinen Pflegern. Er bringt als Kunde Geld (sein eigenes Vermögen, bar oder als Erbschaft, oder einen geldwerten Anspruch aufgrund von Versicherung und Sozialgesetzgebung) als Zahlung für die konsumierte Leistung ein und stellt so die Gleichwertigkeit her. Gleichwertigkeit freilich in einer Gegensätzlichkeit, die den einen anhält, möglichst wenig für sein Geld zu tun, und die andere, möglichst viel dafür zu konsumieren. Es begegnen da einander im Grund nicht Menschen, sondern bloß ihr Geld. Daher kommt es, dass Menschen so oft nicht sich und ihresgleichen Freund sind, sondern dem Geld. Je mehr dessen Logik Vorschrift wird, desto mehr vereitelt "Dienst nach Vorschrift" den menschlichen Sinn und Zweck des Tuns. Die Realisierung eines solchen Diensts führt über Gleichgültigkeit zum Tod.

Dahinter steht aber noch Schlimmeres: Geld und Recht sind nicht sicher, sie sind bloß geronnene, strukturelle Gewalt, das heißt, sie gelten nur, wenn sie notfalls glaubhaft erzwungen werden können. Sie sind die Gitterstäbe eingesperrter Unmenschlichkeit. Die Schwäche ihres Inhabers ist die Chance des Räubers. Und wenn es nur um die Macht geht, zu demonstrieren, dass Schwäche unterliegt. Die Todesengel, die vom Lazarett in Auschwitz bis zu denen im Krankenhaus Lainz, sind keine Dämonen aus einer anderen, gesetzlos-bösen Welt. Sie sind genuine Geschöpfe des Systems.

Dass trotzdem (auch für Lohn und Geld) Menschen aufmerksam gepflegt und umsorgt werden, ist unbezahlbarer menschlicher Luxus, Respekt, persönliche Verbundenheit, Freude aneinander - ist die "Freundschaft" meiner Großmutter oder - verzeiht den dicken Auftrag - ein Triumph menschlicher "Ebenbürtigkeit" über die Herrschaft der "Gleichwertigkeit". Das mag immerhin auch nach Geldlogik noch zurechtgestutzt verstehbar sein bei den Gepflegten, aber auch wer gut und gern pflegt, wärmt sich am An-Sehen und der Zu-Neigung seines Gegenübers, ja - was den Kern ausmacht - einfach am gemeinsamen Menschsein jenseits aller bestimmten Antwort von denen, die sie umsorgen. Immer wenn sich das ereignet, glückt das menschliche Verhältnis, lösen sich Stärke und Schwäche auf: in Glück eben. Der Wolf wird zum Menschen, weil der Eine den Anderen als Menschen erkennt und sich ihm zuneigt. (So löst sich tatsächlich die banale Alltagsszene bei Plautus auf, aus der Thomas Hobbes sein "homo homini lupus" genommen hat).

Dieses Geschehen hat - aus der geldherrschaftlichen Verbindung gelöst - den Geruch des hilflos Privaten, des Notankers, an dem das Leben in der Gesellschaft, auch wenn es einen in grellen Momenten anekeln sollte, noch soweit Sinn macht, dass eins sich in den Spiegel schauen kann. Entwickelte Freundschaft der verschiedensten Art kann aber zu gesellschaftlicher Relevanz wachsen. Was es dazu braucht, lässt ausgerechnet der Herrschaftstheoretiker Platon im Symposion einen gewissen Pausanias sagen, einen der Vorredner, bevor er den großen Meister Sokrates sein Wort ergreifen lässt. Pausanias meint mit Blick auf die Tyrannei des Perserreichs, dass es "den Herrschenden nicht bekommt", wenn die Beherrschten "große Einsichten", "starke Freundschaften und vertrauten Umgang" miteinander hätten. Das macht tatsächlich emanzipatorischen Sinn. Große Theorie und eine Praxis der Freundschaft kann Herrschaft korridieren, wenn eins sich nicht vom andern trennt.


2. Vom "Homo homini lupus" ...

Die moderne Gesellschaftstheorie des Thomas Hobbes beginnt mit einem Angriff auf die aristotelische Anthropologie des zoon politikon, auf das Konzept eines Menschen, der auf ein Zusammenleben in der polis ausgerichtet sei und den eine philía politiké (eine Liebe / Freundschaft in der Polis) mit den anderen Bürgern verbinde. Aber die Polis ist nicht die bewohnte Welt und Bürger sind nicht einmal alle Bewohner. Die Einhegung von Geselligkeit in der Polis lässt es zu, fordert dazu heraus, dem Bürger die Nichtbürgerin, den Barbar, den Feind gegenüberzustellen, der Stadt eine andere, ein unsicheres, feindliches Außen. Hier hat Hobbes eigentlich einen Berührungspunkt mit den kritisierten Alten, er ist aber wesentlich radikaler. Für ihn ist die Feindschaft überall, er postuliert die Welt als zu knapp für die Menschen und schon den Naturzustand der Individuen als Krieg aller gegen alle um die erstrebten Lebens-Mittel. Freundschaft im angerissenen Sinn einer menschlichen Potenz zu einem glücklichen Miteinander gibt es bei ihm nicht.

Es gibt nur die "amicitia forensis", das vorübergehende Zweckbündnis zur Durchsetzung eigener Interessen. Bloß der drohende Tod im naturgegebenen Krieg bringt die Menschen dazu, ihre unumschränkte Souveränität des Besetzens und Tötens an den absoluten Staat abzutreten und dessen Spielregeln einer gezähmten Konkurrenz in seinem Bereich zu beachten. Doch nach außen wird sie gleichgeschaltet und gebündelt, denn zwischen den Staaten herrscht der Naturzustand.

Hobbes' Anthropologie ist die zur menschlichen Natur erklärte Logik der zu seiner Zeit endgültig durchgesetzten Geldwirtschaft. Dieser Vorgang der Naturalisierung gesellschaftlicher Phänomene zur Erklärung des herrschaftlichen Status Quo war nicht neu, bloß ist diese bis heute weiter- und ausentwickelte Herrschaftslogik wesentlich dichter und ins Leben eingreifender als ihre Vorgängerinnen. Hobbes' Befund, dass es keine Freundschaft gibt, ist vor allem eine (in ihrer Wirkung auch zur eigenen Umsetzung beitragende) Prognose der kommenden Entwicklung. Schillers Ballade von Mörus, der da nach einer antiken Erzählung im 4. Jahrhundert v. Chr. "zu Dionys, dem Tyrannen", schleicht, "den Dolch im Gewande", nach dessen Verhaftung der Freund mit seinem Leben als Kaution dafür bürgt, dass jener nach drei Tagen zur Kreuzigung erscheint, und der, als er wirklich kommt, um den Freund wieder auszulösen, als gescheiterter Mörder vom gerührten Tyrannen um seine Freundschaft gebeten wird - diese alte Geschichte ist wohl schon im 19. Jahrhundert nostalgische Rührsal für Heranwachsende.

Der Platz für Freundschaft (so patriarchalisch amalgamiert sie auch sein mochte) war mit dem Vordringen der Geldlogik in alle Lebensbereiche dramatisch geschwunden. Die alte Theorie der Freundschaft um des Freundes selbst willen läuft aus. Die Praxis menschlicher Verbundenheit wird kanalisiert in den neuen, intensivierten und nicht selten mörderischen gesellschaftlichen Formen der Konkurrenz im Feuerwaffenkrieg und auf jeder Art von Markt. Zwar ist ihre Differenz zur Herrschaft nicht einmal in den Schlachthöfen der Weltkriege völlig verschwunden. Doch "mitten im Frieden" hat sich die Modellvorstellung des noch im intimsten Umgang kühl kalkulierenden homo oeconomicus tief in den Arbeitsmenschen hineingefressen und sind auch schon die unteren Schichten angehalten, sich zum "unternehmerischen Selbst" zu modeln, das in der steten strategischen Analyse aller, auch der eignen Mängel und Risken nicht einmal sich selber so wirklich Freund sein kann. Die Hobbessche Diagnose von etwas, das zu seiner Zeit gewiss noch als menschliche Unvollkommenheit, vielleicht sogar grundlegende Verderbtheit aufgefasst wurde, ist inzwischen zum Leitbild geworden, der Wolf ist das, was zu sein, wer reüssieren will. Gilt schon für Hilfsarbeiter.

Die aufbrechende Krise der herrschenden Ordnung, deren Wohl und Wehe am Gelingen des stets wachsenden Kreislaufs von Kapitalverwertung hängt, bringt auch sehr fitte Hobbessche Wölfe außer Atem. Die Welt, die einmal als reiche Mutter aller Menschen galt, ist so knapp geworden, wie Hobbes es voreilig vor bald vierhundert Jahren angenommen hat. Nicht nur ist alles schon vergeben, sie ist auch über große Strecken recht versaut und vieles, was noch vor kurzem unerschöpflich schien, geht zur Neige. Die Krise steigert nicht nur den Druck auf die Seele des Wachstums, die menschliche Arbeit und den steten "Kampf um Arbeitsplätze", ins Aussichtslose, sondern sie verschärft jede andere Unterdrückung auch - der flexible Widerstand gegen die Gleichberechtigung der Frauen versteift sich, die Diskriminierung der "colored people", die "Abwehr" der immer noch und immer weiter zunehmenden "Ausländerflut" bekommt den mehr oder minder brutalen Zuspruch aller, die Wahlen gewinnen wollen, um wenigstens noch von der Verwaltung des Niedergangs zu profitieren. Und die Rechte und die Güter, die die Benachteiligten und Unterdrückten haben wollen, brechen auch für die weg, die sie noch haben. Schlechte Zeiten für eine freundliche Welt. Und nächstes Jahr verlässlich schlechter. Es sieht ganz so aus, dass "Aufschließen" zu den Vollberechtigten und "Verteidigen" des schon Erreichten nicht mehr so richtig greifen, wenn das Bezugssystem selber in den Fugen kracht.


... zu "Frieden, Freiheit, Freundschaft"?

Laktanz hat im 4. Jahrhundert den christlichen Begriff von humanitas ganz ontologisch als unsere gemeinsame Gotteskindschaft definiert. Daraus ergibt sich, dass die "für wilde Tiere zu halten sind", die "plündern, foltern, töten, vertreiben", ja jeder, "der das Band der Menschlichkeit zerreißt, für einen Brudermörder anzusehen ist". Wofür derlei Norm zumindest auch dient, hat schon vor ihm Vergil als Aufgabe des römischen Imperiums definiert: "Friedensgesittung aufzuerlegen, den zu schonen, der sich unterwirft, und den mit Krieg niederzuwerfen, der sich überhebt". Unzählige kleine Friedensstifter, Kirchen- und Sektenhäupter und große Mächte haben auf diese Weise Gottes Geboten, der Wahrheit und den Menschenrechten Geltung verschafft und tun es selbstredend bis heute.

Gesellschaftlichkeit als freundschaftliche Verbundenheit zwischen konkreten Menschen, die ein weltweites Gewebe der Menschheit bilden, ist keine Norm, schon gar keine Realität, sondern ein Vorhaben, das sich auf eine Potenz stützt, die wir an uns erfahren und benennen können. Gesellschaftlichkeit mag eine unabdingbare Voraussetzung menschlichen Lebens überhaupt sein, in ihr sich zu verhalten ist jedoch unentschiedene Potenz jedes einzelnen. Es gibt keine ewige, maßgebende menschliche Natur, die uns vorgibt, wie und was wir tun sollen, wenn es uns um eine Welt in "Frieden, Freiheit, Freundschaft" für die Menschheit geht. Wer aber selbst hie und da erlebt hat, dass wir zu Freundschaft fähig sind, dass es Freude macht und befreiend ist, einander als Andere unser selbst, als anders und doch unsresgleichen, anzuerkennen und freundlich aufzunehmen, muss sich mit dem Elend und der Feindschaft der menschlichen Verhältnisse nicht abfinden, kann jene "andere Welt" für möglich halten und die unerträgliche demontieren, transformieren wollen.

"Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein", klagt Bert Brecht den Nachgeborenen. Vielleicht ist das der deutlichste Ausdruck des Scheiterns. Nicht die Verzweiflung, "wenn da nur Unrecht war und keine Empörung", nicht die verzerrten Züge ob des "Hass(es) gegen die Niedrigkeit", nicht die vom "Zorn über das Unrecht" heisere Stimme, erst die summarische Unmöglichkeit, freundlich zu sein, besiegelt die Tragödie und erklärt vielleicht, warum nach der "Flut, in der wir untergegangen" - und wieder aufgetaucht sind, nur ein Umbau der Herrschaft, aber keine "andere Welt" herausgekommen ist.

"Freundlich zu sein" ist nämlich mehreres: Es ist Motiv, Attraktion, Methode und Zusammenhalt des Vorhabens, es nicht ein fernes Ziel, sondern als work in progress schon von allem Anfang Inhalt der Bemühungen, Antrieb für eine Theorie und Praxis, die uns Freundschaft entwickeln und wirksam machen lassen gegen die gesellschaftlichen Grundlagen des "Kriegs aller gegen alle", der dabei ist, über die Ufer aller seiner Kanäle zu treten. Freundschaft steht daher gegen die glorreiche Logik von Kampf und Sieg, in der Kampf regelmäßig vom angeblichen Mittel zum Sinn und Selbstzweck mutiert. Sieger sind bloß Nachfolger. Wenn eine "andere Welt" möglich sein soll, dann ist die herrschaftliche Gewalt nicht zu kopieren, sondern zu delegitimieren, zu umgehen, zu unterlaufen, zu isolieren, zu demontieren. Dies zu betonen ist umso wichtiger, als gerade dies ein blinder Fleck ist im Auge des kritischen Bemühens, in dem "schneidende Schärfe der Auseinandersetzung", ob nach innen oder außen, weithin als ein Gütezeichen gilt und aus den starken Worten immer schon die Sehnsucht nach dem Zuschlagen tönt.

Freilich stellen sich eine Menge mehr Fragen, als Antworten absehbar sind. Aber so ist das auf dem Weg zu einem Ziel, das eins mehr wünscht als kennt, auf Wegen, die oft erst zu bahnen sind. Aber nicht allein und "fully addicted to friendship"!

Raute

Krise ohne Ende

oder: Ausweg aus der globalen Konkurrenzwirtschaft

Angesichts der Verwerfungen nach dem Finanzcrash und der folgenden Weltwirtschaftskrise richten sich die Hoffnungen vieler auf eine "andere" Politik. Regulierungen im Dienste des Allgemeinwohls sollen die Macht der Finanzmärkte bändigen und eine soziale- und ökologische Neuausrichtung ermöglichen. Stattdessen bleibt den staatlichen Krisenverwaltern kaum mehr als die Aufrechterhaltung "systemrelevanter Funktionen".

Die Suche nach Auswegen aus unserer gegenwärtigen Produktions- und Lebensweise wird zur wichtigsten Herausforderung unserer Zeit.


Veranstaltungsreihe

jeweils 19.00 Uhr Depot, Breite Gasse 3, 1070 Wien

Teil 1 Donnerstag, 29. April,
"Krise ohne Ende?"
Warum die Politik die Krise nicht lösen kann
mit Norbert Trenkle

Teil 2 Dienstag, 11. Mai 2010
Solidarische Ökonomie - ein Kind der Not?
mit Markus Auinger

Teil 3 Montag, 17. Mai 2010
Halbinseln gegen den Strom
Wege jenseits von Kapitalismus, Geld und Tauschlogik
mit Friederike Habermann

Teil 4 Mittwoch, 26. Mai 2010
Wem gehört die Welt?
Commons: Beitragen statt Tauschen
mit Brigitte Kratzwald

Moderation: Petra Ziegler
Veranstalter: Attac Österreich

Raute

Fremder. Gastfreund. Feind(*)

Verstehen als Vernichtung des Anderen

von Marianne Gronemeyer

Ich beginne mit dem merkwürdig schillernden und in seiner Herkunft äußerst zwiespältigen deutschen Wort Gast. Vom Gast nehmen wir normalerweise an, dass er der gern gesehene ist, der, den wir geladen haben, auf den wir vorbereitet sind, dessen Erscheinen zu einem Fest wird. Aber dieser Gast fordert ja meine Gastfreundschaft nicht heraus. Die wird vielmehr erst auf die Probe gestellt, wenn der unliebsame Gast auf der Türschwelle steht und Einlass begehrt. Vielleicht bittet er nicht einmal darum, sondern ist nur einfach da und sein bloßer Anblick enthält die Aufforderung, ihm Einlass zu gewähren. Vielleicht empfinde ich ihn nur als störend, er beansprucht meine Zeit und meine Aufmerksamkeit, die ich anderen Dingen zuwenden wollte, er schafft mir Ungelegenheit, Unbequemlichkeit, unterbricht das gutgeordnete Ganze eines gewohnten Tageslaufs.

Womöglich macht er mir aber auch Angst. Ich kenne ihn nicht. Ich weiß nichts von ihm. Vielleicht ist es ihm gar nicht um Gastfreundschaft zu tun. Vielleicht will er ganz anderes, vielleicht hat er es auf mein ganzes Hab und Gut abgesehen und seine Bedürftigkeit ist eine betrügerische Verkleidung. Die vielen "Vielleichts", Inbegriff der Unwägbarkeit, machen das ganze Unbehagen fühlbar.


hospes - hostis

Zum Wort Gast gibt es im Lateinischen zwei Wörter, die aus derselben Wurzel stammen, nämlich hospes, der Gast, wie es im Hospiz noch in unserer Alltagssprache geläufig ist, und hostis der Feind, der Fremdling. Dies erlaubt nun ein paar wichtige Einsichten über den Zusammenhang, der hier zur Sprache kommen soll. Zuerst das Wort hospes. Es ist in sich wieder doppeldeutig, es bezeichnet nämlich sowohl den Gast, als auch den Gastgeber, womit eine wichtige Aussage über das Gastrecht getroffen wurde. Es ist ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit. Jeder, der Gast ist und der die ihm gebührende Gastfreundschaft erfährt, ist auch zugleich potentieller Gastgeber. Das ist das eine. Das andere: auch der Gast trägt gebend etwas bei zum Gelingen dieses Verhältnisses. In der Antike wurde er als Bote des Zeus verstanden. Wie armselig er und wie leer seine Hände sein mochten, er hatte doch etwas zu geben. Gast und Gastgeber waren einander ebenbürtig. Keiner von beiden war nur Gebender und keiner nur Nehmender.

Und zum Wort hostis. Darin scheint die Verwicklung der Fremdheit mit der Feindschaft auf. Hier wird auf die naheliegende Vermutung angespielt, der oder das Fremde sei mir in seiner Andersheit feindselig gesonnen, bestreite mir durch seine bloße Existenz das Recht meines Soseins, wie auch ich - umgekehrt - die Erfahrung der Fremdheit des Andern mit dem Gefühl der Überlegenheit meiner Eigenart verbinde, um gleichsam eine Verteidigungslinie gegen das Fremde aufzurichten. Die Gastfreundschaft ist eine Haltung, die diesen Automatismus unterbricht. Sie könnte so etwas sein wie die "Kultivierung der Feindschaft".


Verstehen statt Gastlichkeit

Im Umgang mit dem Fremden, verstanden als der, die und das Fremde, hat sich aber eine ganz andere Form der Kultivierung des Feindschaftsimpulses durchgesetzt. Nicht die Gastlichkeit, sondern das Verstehen.

Ich will darzulegen versuchen, wie sich das Verstehen an die Stelle der alten Gastfreundschaft gesetzt hat, und wie es deren strikte Forderung, den Gast und den Gastgeber ebenbürtig bleiben zu lassen, in eine hierarchische Beziehung der Unterwerfung umgeformt hat. Was unter Ebenbürtigkeit zu verstehen sei, hat Ivan Illich in einer kleinen Szene an der Mauer einer Moschee in Dakkar verdeutlicht. Er bricht morgens mit einem Freund, in dessen Haus er Gast war, zu einem Gang durch die Stadt auf. An der Mauer einer Sufi-Moschee stehen Bettler. Einem von ihnen legt er mit möglicher Diskretion ein 10-Franken-Stück in die ausgestreckte Hand und geht, um die Unauffälligkeit der Geste zu wahren, rasch weiter. Der Freund hält ihn am Ärmel zurück und weist ihn an, dem Bettler in die Augen zu schauen und sich vor ihm zu verneigen. Der Bettler segnet ihn, indem er nun seinen Blick erwidert und einen Koranspruch sagt, mit Allahs Segen. "Was da vor sich ging ­... war eine Feier der Unvergleichbarkeit von zehn Franken und Allahs Segen. Und gerade deshalb konnten wir einander in die Augen sehen als Du und Du. Die Unvergleichlichkeit der Spende hatte unsere Ebenbürtigkeit bezeugt." (Illich 1988) Illich nennt diese Unvergleichlichkeit "dissymmetrische Komplementarität". Erst mit Hilfe einer solchen Erzählung können wir aufgestört werden aus einem Automatismus, der im Laufe einer langen Geschichte in unseren Hirnen eingerastet ist und uns alles, was uns begegnet, sofort in Äquivalententauschkategorien ordnen lässt, mit dem Ergebnis, dass das eine eben weniger oder mehr "wert" sei als das andere. Dies ist ja die beherrschende Weise, dem Fremden den Stachel zu ziehen, dass es als etwas Geldwertes abgeschätzt wird. So wird alles mit allem vergleichbar unter der Frage, was es kostet, und alles wird einander gleich, nur hat es eben auf der Skala zwischen "wertlos" und "hochwertig" verschiedene Plätze inne. In dieser Einschätzung ist der Segen des Bettlers, da man "sich dafür nichts kaufen kann", wie man heute gern sagt, um irgendetwas absolut verächtlich zu machen, ganz unten auf der Skala eingeordnet. Es bedarf also, um Ebenbürtigkeit zu pflegen, einer radikalen Abstinenz gegenüber der Herstellung von Vergleichbarkeit. Das sagt sich leicht, aber tatsächlich ist es die Bestreitung dessen, was allenthalben im Gange ist: die totale Ökonomisierung aller menschlichen Belange. Verzicht auf Vergleichbarkeit ist wirklich revolutionär, denn die Bewertung von allem, vom gesamten lebenden und toten Weltinventar und von allen Äußerungsformen menschlicher Existenz ist dasjenige, worauf das Verstehenwollen letztlich hinausläuft. Ehe wir uns aber diesem machtvollen Impuls des Verstehens zuwenden, will ich ein paar Betrachtungen über das Fremde anstellen.


Das Fremde als Schrecken und Lockung

Das Fremde ist doppelgesichtig. Es ist beängstigend, furchtauslösend, bedrohlich, aber es ist auch lockend, anziehend, phantasiebeflügelnd. Es mag so scheinen, als sei es nur in der dunklen Gestalt feindlich, während es in der verführerischen Form zum Liebesobjekt werden könnte. Ich will zu zeigen versuchen, dass auch das lockende Fremde Ängste schürt, keine Sicherheitsängste, sondern Versäumnisängste, und dass deshalb alle Anstrengungen des modernen Menschen darauf gerichtet wurden, das Fremde als Fremdes auszurotten.

Einst war das Fremde mächtig, Urschrecken zu verbreiten, aber auch unwiderstehliche Lockung zu verströmen. Es hatte zwei Gesichter, das schreckliche, furchteinflößende und das betörende. Man musste sich seiner in Furcht und Zittern erwehren, oder man konnte seiner Verführung erliegen. Das Fremde bevölkerte die Angstträume und die Sehnsüchte zugleich. Gefährlich und voller Überraschung, wie es war, war es dem Eigenen ebenbürtig. Dies galt auf eine verwickelte Weise sogar dann, wenn es unterjocht und versklavt wurde. Solange es seine Rätselhaftigkeit und sein Geheimnis zu bewahren vermochte, blieb ihm etwas von seiner unbezwinglichen Kraft.


Das Fremde - rückständig und konsumierbar

Heute kommt das Fremde nur noch in einer kläglichen Gestalt vor. Es erscheint als Zurückgebliebenes, Rückständiges, Verspätetes. Es vermag keinen Schrecken mehr zu verbreiten, sondern wird allenfalls als lästig empfunden. Es heften sich auch keine Sehnsüchte und ins Blaue gehenden Wünsche mehr daran, es wird vielmehr konsumiert. Zum Beispiel in der Gestalt des Tourismus, jener verwüstenden Mischung aus entschlossenem, kräfteverzehrenden Nichtstun und Höchstgeschwindigkeit, die neben der Bewusstseinsindustrie die elaborierteste Form der Erfahrungsvermeidung ist: Man schleppt das Eigene bis ans Ende der Welt und misst diese daran, wie weit sie es schon gebracht hat in dem Bemühen, so zu werden wie wir.

Das moderne Doppelgesicht des Fremden ist also nicht mehr Schrecken und Lockung, sondern Rückständigkeit und Konsumierbarkeit. Und die Art und Weise des Umgangs mit der Fremdheit: Man beseitigt sie oder kauft sie als Trophäe auf.


Bedürfnis nach Sicherheit

Wie hat es zu diesem deprimierenden Verfall des Fremden kommen können? Es war ein nicht geringer Teil des Projektes der Moderne, dem Fremden den Stachel zu ziehen und dem Urschrecken zu Leibe zu rücken. Am Beginn der Neuzeit kommt ein Thema auf, das es vorher so nicht gab: das Bedürfnis nach Sicherheit. Ehe sich dieses Sicherheitsbedürfnis in den Menschen niederschlagen konnte, "musste sich zuvor eine Übertragung vom Himmel auf die Erde ereignet haben. (...) solange der Abendländer jeden Abend im Vertrauen auf einen waltenden und wahrenden Gott einschlafen konnte, im Vertrauen darauf, dass der Himmel auf seiner Seite war - (...), solange der Mensch jeden Abend bevor er zu Bett ging, jeden Morgen, bevor er sich erhob, jeden Mittag, bevor er seine leibliche Speise zu sich nahm, sich mit einem Gefühl tiefen Seelenfriedens der göttlichen Obhut anbefahl, so lange war Sicherheit eine Vokabel ohne Bedeutung oder richtiger: mit einer Bedeutung, die sich von derjenigen stark unterscheidet, die wir ihr beilegen. Die Sicherheit beruhte wesentlich und fast ausschließlich im Vertrauen auf Gott." (Febvre, 115) Erst wenn die Ereignisse nicht mehr aus der Hand Gottes entgegengenommen werden, sondern der Mensch für seine Verhältnisse die Verantwortung übernimmt, wird die Herstellung von Sicherheit zu einem erstrangigen Projekt. Anders gesagt: Wenn der moderne Mensch sich daranmacht, seine Welt nach eigenen Plänen vernunftgemäß zu gestalten, ist ihm die Furcht im Wege, denn sie schwächt die Widerstands- und Tatkraft. Das ist der Grund für René Descartes' unerbittliches Verdikt über die Furcht. Der Ausweg, den er dem Furchtsamen weist, ist die Eliminierung der Überraschung: "Was die Furcht oder den Schrecken betrifft, so sehe ich nicht, dass sie jemals lobenswert oder nützlich sein können." Furcht ist nur "ein Äußerstes des Sichgehenlassens, des Erstaunens und der Furchtsamkeit, welche immer gänzlich lasterhaft ist, wie auch die Kühnheit ein äußerster Mut ist, der immer gut ist, vorausgesetzt, dass der Zweck, den man sich vornimmt, gut ist. Und da der Hauptgrund der Furcht in der Überraschung besteht, gibt es nichts Besseres, daran vorbeizukommen, als von Vorüberlegungen Gebrauch zu machen und auf alle Ereignisse vorbereitet zu sein, vor denen zu bangen, Furchtsamkeit verursachen kann." (Descartes, Art. 176 und 174) Vormodernes Bewusstsein, schreibt Peter Sloterdijk, war tief durchdrungen von der Erfahrung, dass es immer anders kommt, als man denkt. Diese Erfahrung will die Moderne nicht mehr gelten lassen: "Beflügelt von einem geschichtemachenden Gemisch aus Optimismus und Aggressivität hat sie die Herstellung einer Welt in Aussicht gestellt, in der es kommt, wie man denkt, weil man kann, was man will. (...)" (Sloterdijk 1989, 22)

In dieser auf Berechenbarkeit zugerichteten Welt, gilt als sicher nur noch das Gemachte, das Verwaltete und Kontrollierte, dasjenige, dem die Eigendynamik der Überraschung und Unvorhersehbarkeit ausgetrieben wurde.


Aggressivität des Verstehens

Da hat naturgemäß das Fremde ausgespielt. Von dieser Absicht, alles berechenbar und kontrollierbar zu machen, wird es im Kern getroffen, denn Überraschung und Unvorhersehbarkeit machen sein Wesen aus. Dem Fremden wurde die Bereitschaft, es als Fremdes zu dulden, aufgekündigt. Damit wurde das gigantische Bekanntmachungsunternehmen der Moderne eingeläutet, eine Invasion des Verstehens.

Sie haben richtig gehört, ich will den guten Ruf des Verstehens schädigen. Ich will von Verstehensfeldzügen sprechen, nicht von einfühlsamem, sondern von aggressivem Verstehen, von jenem, das dem Fremden den Garaus macht.

Verstehen ist penetrant. Es gibt sich nicht zufrieden mit der Oberfläche der Erscheinungen. Es geht ihnen unter die Haut. Es will in seine Gegenstände hinein, in ihre Tiefe, auf ihren Grund. Es besetzt sie wie eine "Armee in Feindesland" (E. Bloch). Es fragt nicht nach ihrem "Was" und "Wie", sondern nach ihrem "Woher" und vor allem nach ihrem "Wozu". Die Frage nach der Ursache und nach der Gesetzmäßigkeit ist meist das Vorfeld der Beherrschbarkeit und der Verwertbarkeit. Im Verstehen soll sich die Nützlichkeit der Dinge offenbaren. Das Verstehen schult nicht den betrachtenden, sondern den durchschauenden Blick.

Paradoxerweise ist das Verstehenwollen zugleich Ausdruck eines profunden Desinteresses. Wenn ich jemandem sage: "Ich verstehe dich" oder "Ich habe dich verstanden", dann meine ich damit: "Ich bin mit dir fertig. Ich will mich durch dich nicht länger beunruhigen lassen. Ich habe dich auf den Begriff gebracht. Ich habe dich verträglich gemacht mit dem Stand meiner Welt- und Menschenkenntnis." "Ich verstehe dich", heißt: "Mit der Überraschung, die so oder so in dir schlummert, mit dem Geheimnis, das du bist, mit deiner verstörend gefährlichen Fremdheit und deiner erschreckenden Andersheit habe ich nichts zu schaffen. Ich werde sie nicht gelten lassen."

Verstehen ist gleichmacherisch. Es ist nur zu haben um den Preis äußerster Ungenauigkeit, mangelnder Sorgfalt und dreister Respektlosigkeit. Der verstehende Zugriff lässt am anderen nur das Verstandene oder das Verstehbare gelten. Das Verstandenwerden wird für den Anderen buchstäblich zum Verhängnis. Wer dem Anderen verstehend zuvorkommt, gewinnt Überlegenheit; die Überlegenheit, die aus der Definitionsmacht kommt. Der letzte Impuls des Verstehenwollens ist Theodor Lessing zufolge der "machtwillige Wunsch zu verkleinern und zu verachten" (Lessing, 99). Der Andere wird zum Spiegelbild des verstehenden Selbst begradigt.

Sehen Sie den Unterschied zwischen dem Verstehen des Andern und der Gastfreundschaft ihm gegenüber? Der Gast kann fremd bleiben. Ich nehme mir ihm gegenüber nicht heraus, mich ihm gegenüber so zu benehmen, als kennte ich ihn (Robert Walser). Gastfreundschaft setzt die Bereitschaft voraus, den Andern für das zu nehmen, was er mir von sich offenbart, sagt Ivan Illich, und nicht für das, was ich im Vorhinein über ihn weiß. "Das", so Illich, "ist schwer vorstellbar nach 100 Jahren Traumdeutung durch Freudsche Psychoanalyse. Die psychoanalytische Annahme, dass ich dir helfen kann, etwas über dich herauszufinden, weil ich dich umfassender verstehe, um nicht zu sagen objektiver sehe als du selbst, färbt unvermeidlich unsere Beziehungen, gleichgültig ob dies Verstehen nun auf sehr faszinierendem, hohen psychoanalytischen Niveau oder in trivialen, heruntergekommenen Alltagsvarianten passiert." Nur wenn ich bereit bin, im Umgang mit dem Andern, das, was er mir über sich selbst mitteilt, zu akzeptieren und als sein Geschenk an mich anzunehmen, kann ich mich von ihm überraschen lassen. Das bedeutet, Abstinenz zu üben gegenüber dem wuchernden Deutungszwang und eine Absage an alles Vorwegwissen zu erteilen. Das wäre freilich eine hohe und demütige Kunst des respektvollen Umgangs mit dem Fremden.

Verstehen ist also einerseits eine Illusion, die die letzte, undurchdringliche Fremdheit und Einsamkeit eines jeden leugnet. Was ich vom anderen erfahren kann, ist eben nie dessen Erfahrung, sondern immer nur meine Erfahrung dessen, was er mir von seiner Erfahrung kundtut. Verstehen ist sodann eine Bemächtigung. Es unterwirft den Anderen unter mein Verständnis von ihm. Es ist schließlich auch eine Selbstberaubung. Denn es bringt mich um die Überraschung und friert meine Erfahrung auf dem Stand des Bekannten und Vorweggewussten ein. Verstehen verhindert die Begegnung mit dem Fremden. Die letzten terrae incognitae werden gegenwärtig mit Verve erschlossen. Das eigene Innere wird mit Leib und Seele der "alles befingernden Frechheit" (Th. Lessing) preisgegeben. Und die Zukunft, die große Unbekannte, soll exakt so werden, wie die wissenschaftlich technischen Eliten sie haben wollen. "Alles positivierende Forschen (lässt sich) urdumm und urneugierig (...) von der Hypothese führen, die Welt sei nicht bekannt genug." Statt dessen gilt, "dass sie nicht unbekannt genug ist; allzu enthüllt steht sie vor unseren Augen und Ohren, und in Wahrheit geht es nicht darum das Rätsel zu lösen, sondern es vor seinen Lösern zu bewahren." (Sloterdijk 1987, 116) Worum es ginge, wäre demnach nicht das große Bekanntmachungsprojekt voranzutreiben, sondern dem Ungewissen, dem Rätselhaften, der Überraschung, die Kennzeichen alles lebendigen Wesens ist, eine Chance zu geben, und das heißt Gastfreundschaft zu gewähren.


Versäumnisangst

Das Sicherheitsbedürfnis, aus dem der Wille entsprang, die Ungewissheit aus der Welt zu schaffen, ist einer der Impulse, dem Fremden auf den Leib zu rücken. Das gleiche Ziel wurde jedoch - nicht weniger energisch - aus einem andern Grund verfolgt. Um der Sicherheit willen, musste das bedrohliche Fremde ausgelöscht werden, die lockende Fremdheit fiel einer ganz anderen Besorgnis zum Opfer. Mit der Verabschiedung der Jenseitshoffnung und der Aufkündigung des Gottvertrauens konfrontiert sich der moderne Mensch einem endgültigen, unwiderruflichen, durch keine Vorläufigkeit gemilderten Tod. Das Leben wird zu einer biologischen Lebensspanne. An der unumstößlichen Tatsache der Vergänglichkeit vermag der auf sich selbst gestellte Mensch nur im Sinne der Verlängerung der Frist zu rütteln. Lebensverlängerung ist einerseits ein Vorhaben, das die Sicherheitsanstrengungen erhöht. Es ist andererseits ein Anstoß zur Beschleunigung des Lebens. Das in seine Lebensspanne eingezwängte Einzelleben soll bis zur Neige ausgekostet werden, ihm soll so viel Realität wie möglich zugeführt werden. Die Kluft zwischen den Möglichkeiten, die die Welt bereithält, und den Realisierungschancen in dem viel zu kurzen Leben soll durch Erhöhung des Lebenstempos im Idealfall geschlossen werden. Wenn das Leben einzige und letzte Gelegenheit ist, gerät das Individuum unter Versäumnisangst. Begehrlich richtet sich der Blick auf die Welt da draußen mit ihren unerschöpflichen Möglichkeiten. Vor allem wegen der Angst, etwas zu versäumen, muss das Fremde getilgt werden. Es ist ja nicht nur ein Anschlag auf die Berechenbarkeit der Welt, sondern es repräsentiert das schlechthin Andere, das, was aus dem eigenen Leben draußen bleibt, was ihm nicht einverleibt werden kann. Es hält die kränkende Erinnerung an die Begrenztheit des Eigenen, eben des Lebens als Lebensspanne, die der Weltmöglichkeit nicht gewachsen ist, wach.

Über die Unerträglichkeit der Kluft zwischen Lebenszeit und Weltmöglichkeit können wir offenbar nur zur Ruhe kommen, wenn weltweite Gleichförmigkeit hergestellt ist, wenn da draußen nichts zu wünschen übrigbleibt, wenn das Andere und Fremde nur als ein schwacher Abglanz, eine Minderform des Eigenen erscheint. Darum konnte man sich nicht damit begnügen, das Fremde verstehend und durchschauend zu entschrecken, sondern musste sich an praktische Tilgung der Andersartigkeit machen.

Am Beginn der Moderne wurden die Fremden ausgerottet und versklavt. Aber damit wurde man deren Andersartigkeit nicht los. Zuletzt obsiegte die Generosität: Dem Fremden sollte aufgeholfen werden zur Gleichheit. Angleichung nach oben stand auf dem Programm, Emporentwicklung. Wirklich entledigt hat sich der moderne Mensch der quälenden Lockung durch das fremde Draußen, indem er es zum Gleichen auf niedrigerem Entwicklungsniveau erklärte. Nicht dass der Andere unvergleichlich anders ist, macht seine Fremdheit aus; sie reduziert sich vielmehr darauf, dass er weniger hat, weniger Nahrung, weniger Bildung, weniger Tüchtigkeit, also weniger Erfolg und weniger Vernunft: die vor allem.

Das Fremde ist das Zurückgebliebene, das Rückständige, die Verspätung der Vernunft. In dieser Gestalt hört es auf, Nährboden für Versäumnisängste zu sein. Als Restkategorie wird Fremdheit angewandt auf diejenigen, die es noch nicht geschafft haben, die noch immer störend zurückgeblieben herumstehen und die globale Aufwärtsbewegung ärgerlich hemmen. Die Fremden sind der retardierende Rest der Welt.


Verletzung des Anderen

Das Bemühen um weltweite Gleichförmigkeit hat es weit gebracht. Alles strebt hinein in den Hochbetrieb der Welteinheitskultur. "Welt", schreibt Herbert Achternbusch, "ist ein imperialer Begriff. Auch wo ich lebe, ist inzwischen Welt. Früher ist hier Bayern gewesen. Jetzt herrscht hier die Welt. Auch Bayern ist wie der Kongo oder Kanada von der Welt unterworfen, wird von der Welt regiert. (...) Je mehr die Welt regiert, desto mehr wird die Erde vernichtet, werden wir, die dieses Stück Erde bewohnen, vernichtet. (...) Das imperiale Gesetz der Welt ist Verständnis. Jeder Punkt der Welt muss von jedem anderen Punkt verstanden werden. Das hat zur Folge, dass jeder Punkt auf der Welt jedem anderen Punkt gleichen muss. So wird Verständnis mit Gleichheit verwechselt und Gleichheit mit Gerechtigkeit. Aber wieso ist es ungerecht, wenn ich mich einem anderen nicht verständlich machen kann? Will sich der Unterdrückte oder Beherrschte verständlich machen? Natürlich der Unterdrückende und Herrschende. Herrschaft muss begreifbar sein." (Achternbusch, 11)

Kaum einer hat über die Verletzung des Anderen durch Verstehen so eindringlich geschrieben wie der jüdische Religionsphilosoph Emmanuel Lévinas: "Die abendländische Philosophie fällt mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere ... seine Andersheit. Von ihrem Beginn an ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen, von einer unüberwindbaren Allergie." (Levinas, 11) Die Tilgung des Anderen ist ein Akt der Einverleibung, der "Verselbigung des Verschiedenen", (187) der "Umschmelzung des Anderen in das Selbe" (189).


"Bewegung des Selben zum Anderen"

Eine ganz andere Bewegung als die zugleich sicherheitssüchtige und zwingende, mit der das Andere ins Eigne gezerrt wird, zur "Beute", zum "Raub", zum "Opfer" (198) gemacht wird, wäre das riskante Hinausgehen aus dem vertrauten Eigenen ohne Eroberungs- und Unterwerfungsabsicht, "eine Bewegung des Selben zum Anderen, die niemals zum Selben zurückkehrt. Dem Mythos von Odysseus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verlässt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen." (215) Und, so müsste man hinzufügen, der in dem verheißenen Land niemals ankommen wird.

Halten wir bei diesem bedeutungsschweren Aufbruch des "umherirrenden Aramäers" (5. Mose 26,5) eine Weile inne. Das Bild dieses Auszugs aus dem Lande der Herkunft bemüht Lévinas, um eine Hinwendung des Ich zum Andern zu beschreiben, die "radikal großmütig" ist, bei der der Andere - mit letztem Ernst - das Ziel ist und das Ich folglich ganz von sich absieht, auf keinen Lohn spekuliert, ohne sich jedoch im Andern zu verlieren. Solche Aufkündigung der Ichbezogenheit "verlangt ... (geradezu) die Undankbarkeit des Anderen. Die Dankbarkeit wäre ja gerade die Rückkehr der Bewegung zu ihrem Ursprung". Der Gedanke ist bestürzend. Er bedeutet einen wirklich radikalen Bruch mit allen Denk- und Handlungsgewohnheiten moderner Menschen. Es geht ja bei dem hier geforderten Ausbruch aus dem Kerker der Ichbezogenheit - Levinas spricht vom "Ichlichen Imperialismus" (200) - nicht nur darum, um des Andern willen die Wahrung des eigenen Vorteils hintanzustellen, also statt nach meinem Nutzen und Gewinn zu schielen oder nach meiner Glückseligkeit zu streben, auf sein Wohlergehen und sein Glück bedacht zu sein. Ein bereits unerfüllbarer Anspruch, aber doch als Sollensforderung geläufig.

In dem, was Lévinas uns zumutet, ist mir nicht nur die Frage, wie es mir besser ergehen könnte, sondern sogar die selbsterzieherische Frage danach, wie ich besser werden könnte, verwehrt. Denn auch diese Frage umkreist das Selbst und behaftet es bei der Selbstbefassung. Sie beschreibt einen "Aufbruch mit Wiederkehr". Sie wird gestellt aus moralischer Gewinnsucht. Es geht in ihr um einen Ertrag für die eigene Scheuer. Die ethische Frage, die Lévinas zu stellen lehrt, lautet nicht: "Wie kann ich mich bessern?" Sie heißt vielmehr: "Was bin ich dir schuldig?" Die Antwort darauf findet sich nicht in ethischen Regelwerken, in moralischen Mindestanforderungen oder Sündenregistern, nicht in Normen und Gesetzen und nicht einmal im eigenen Gewissen, sondern im Antlitz des Andern - "mit dem vollkommen Ungedeckten und der vollkommenen Blöße seiner schutzlosen Augen, mit der Geradheit, der unbedingten Offenheit seines Blicks ... der mir alle Eroberung untersagt" (198). Das Handeln des Ich wird nicht durch allgemeine Satzwahrheiten genereller Gültigkeit geleitet, durch keinen kategorischen Imperativ, sondern durch den unverwechselbaren "Anblick" des besonderen jeweiligen Du. Ivan Illich spricht von einem "Soll, das durch den Abweg zum Andern hin gegeben wird" (Illich 1999). Um den Unterschied dieser Maßgabe für mein Tun zum normgeleiteten Handeln zu verdeutlichen, verweist er auf zwei alte Geschichten und die Spannung, die zwischen ihnen besteht:

- Die Geschichte der Antigone, die ihren Bruder Polyneikes dem Verbot des Königs Kreon zum Trotz begräbt, weil sie das Gebot, dass die Toten nicht unbegraben sein dürfen, höher achtet als die Staatsraison.

- Und die Geschichte des barmherzigen Samariters, der auf seinem Weg von Jerusalem nach Jericho im Angesicht des unter die Räuber Gefallenen, ausgeplündert und verwundet Liegengelassenen, seine Absichten und sein Tagesgeschäft aufgibt und tut, was der Andere ihn durch seinen bloßen Anblick (in diesem "Augenblick") tun heißt.

Die Situation, in die der Samariter durch den Ausgeplünderten gerät, offenbart also nicht nur, was das Ich dem Du schuldet, sondern auch, was es ihm verdankt. Sein Handeln ist eine Antwort auf ein Antlitz, dessen besondere, einzigartige Entsprechung. Dabei unterstreicht die Verwendung des Begriffs "Antwort" die Feststellung, dass das Ich in diesem Verhältnis zum Andern nicht verschwindet, nicht in ihm verlorengeht/aufgeht. Das Ich bleibt eines "Gegenwortes", einer Entgegnung und Begegnung fähig.

* Vortragsmanuskript Linz 2003, gekürzt


Literatur

Achternbusch, Herbert: Der Olympiasieger, Frankfurt 1982.
Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele, 1984.
Febvre, Lucien: Das Gewissen des Historikers, Berlin 1988.
Illich, Ivan: Die Verkehrung der Gastfreundschaft durch das Christentum, in: Biotope der Hoffnung, Olten 1988.
Illich, Ivan: Mitschrift seiner Bremer Vorlesung vom 29. Januar 1999
Lessing, Theodor: Nietzsche, München 1985.
Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen, in: dito, München 1998.
Lévinas, Emmanuel: Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, in: s.o.
Sloterdijk, Peter: Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt 1987.
Sloterdijk, Peter: Eurotaoismus, Frankfurt 1989.

Raute

Ein Freund, ein guter Freund

von Ilse Bindseil

Notwendig, d.h wichtig wäre für mich eventuell ein wackerer Freund, obschon ich die Freundschaft für unausführbar halte, weil sie eine zu schwierige Aufgabe zu sein scheint. Speziell hierüber würde es allerlei zu reflektieren geben ...
Robert Walser, Der Räuber


Es gibt offenbar zwei Formen, Freundschaft zu schließen, erzählte ich mir selbst, eine, die auf einer Illusion, die andere, die auf einem So-tun-als-Ob beruht. Ob es sich um den einen oder andern Typ handelt, entscheidet sich hinterher, wenn die Freundschaft erblüht oder abgestorben ist. Abgestorben, da erinnert man sich an die ursprüngliche Beziehungslosigkeit, über die man sich hinweggesetzt hat. Erblüht, staunt man, wie Geringschätzung, Heuchelei, purer Zwang und Förmlichkeit sich in Freundschaft umwandeln können, sofern ein einziges Element sich dazugesellt: Zeit.

Wie kann man über einen ursprünglichen Einwand hinweggehen, fragte ich mich und erinnerte mich an die unwiderstehliche Wertschätzung, die mir entgegengebracht wurde, und dass ich mich wie eine Braut fühlte, die sich sagt: Die Liebe wird schon noch dazukommen. Sie war dazugekommen, aber ihr hatte stets der rechte Halt oder der aufrichtige Grund gefehlt. Das Ende war ein bitteres Scheitern der Freundschaft und befreite Rückkehr zu mir selbst.

Wie wird aus Förmlichkeit Freundschaft, fragte ich mich nicht weniger erstaunt und erschauerte bei der Erinnerung an den gigantischen Augenblick, als mir zwei freiwillige Hände statt der erpressten einen entgegengestreckt wurden. Die gestelzte Konversation auf der Türschwelle war einer Plauderei auf dem Küchensofa gewichen. Ich war anhänglich geworden, stellte ich hinterher fest, ich suchte sogar die Berührung. Von gedrechselter Sprache keine Spur, nicht einmal von der lästigen Atemlosigkeit, diesem Hineinstolpern in eine ungedeckte Zukunft, in der ich nachatmen musste, was ich zuvor geredet hatte. Diesmal hatte ich zwischen den Sätzen geatmet, was sag ich, zwischen den Worten. Wovon die Rede war? Nicht von allem Möglichen, sondern von uns Freunden, in dem genau konturierten Sinn, dass wir nichts gemeinsam erlebt hatten, aber die Zeit uns gemeinsam erlebt hatte. Ungezwungen hatten wir uns auf den Standpunkt der Zeit gestellt. "Ach, den Nussbaum wollen Sie umhauen? Sie meinen, seine Tage sind gezählt? Unsere auch." Hinterher war ich fröhlich - weil ich da gewesen war, nicht wie sonst, weil ich's hinter mir hatte.

Freundschaft, sagte ich mir in einem ersten Versuch, Bilanz zu ziehen, ist die persönliche Anerkennung einer höchst unpersönlichen Angelegenheit, des Lebens, der gemeinschaftliche Verzicht auf Einzigartigkeit und Besonderheit, glückliche Entfernung von sich selbst.

So gefasst, hatte sie offenbar etwas mit Alter zu tun, das nachlassende Interesse an der eigenen Person erleichterte die Sache jedenfalls gewaltig. Alles hing davon ab, ob es einem gelang, die oberflächliche Beziehung in Ehren zu halten. Das war nicht einfach; noch war sie ja nichts außer ein bisschen Heuchelei und Simulation und musste trotzdem geehrt werden, nur so konnte sie etwas werden. Weil ich so wenig förmlich war, also eigentlich ganz sympathisch, standen meine Chancen hier nicht besonders gut, und vielleicht war ich von den Ausnahmen deshalb so beeindruckt, und die eine oder andere Freundschaft hatte sich ganz wunderbar bewährt.

Wenn ich ehrlich bin, kehrte ich zu meiner Eingangsüberlegung zurück, dann besteht für mich der ganze Unterschied darin, ob das Werben von mir oder vom andern ausgeht. Geht es von mir aus, kann ich Hoffnungen zurückschrauben, Enttäuschungen bearbeiten, frei mit den Grenzen hantieren, mal den Traum erleben und dann wieder die Realität konfrontieren, am Ende das herausdestillierte Körnchen reiner Freundschaft genießen. Geht es vom andern aus, dann bin ich anders, passiv, der leisesten Empathie unfähig und gierig nach Komplimenten.

Wenn ich verehrt werde, sagte ich mir, kann ich die Freundschaft nicht ehren, der Dritte im Bunde fehlt.

Das ist, wie wenn ein Verliebter dir die Sterne vom Himmel holen will; bald kannst du nicht mal mehr den Lichtschalter betätigen, willst aber Feuerwerk und Feiertagsbeleuchtung den lieben langen Tag.


Gerüchte ...

Ich war mit dem Gerücht aufgewachsen, dass Freunde dazu da seien, bedenkenlos in Anspruch genommen zu werden, gemäß der alten Rätselfrage: "... und ist doch nie verbraucht?" Ich hatte auch gehört, dass Freundschaft die einzige Beziehung sei, in der Kritik keine Rolle spiele. Wenigstens das konnte ich mir noch aus erlebten Kinderfreundschaften herleiten, wo das Aussetzen der Kritik den Einstieg in die Phantasie bedeutete. Konnte ich mit meiner Freundin nicht gemeinsamen Tagträumen nachhängen, ohne für blöd zu gelten? Konnte ich ihr nicht meine geheimsten Wünsche mitteilen, ohne mein Gesicht zu verlieren, ihr die abenteuerlichsten Pläne mitteilen, ohne beim Wort genommen zu werden, meine Familie schlechtmachen, ohne den gefürchteten Verrat zu begehen?

Wir haben uns in Freundschaft geübt, sagte ich mir. Was wie ein Alles-ohne-Kritik aussah, das war in Wirklichkeit ein Nichts-außer-Freundschaft. Wie sollte es Freundschaft sein, wenn wir doch gar nicht wussten, was Freundschaft ist? Also haben wir es Freundschaft genannt, und damit es nicht nichts war, haben wir gesagt: keine Kritik. Wenn wir schon nicht wussten, was es war, so hatte es doch eine Eigenschaft, die bewies, dass es sie gab.

Von daher, sagte ich mir, auch der Hang, dem Unsäglichen Raum zu geben, das Unterste der eigenen Person nach oben zu kehren, den Freund zum Mitwisser all des Miesen zu machen, das man aufzuweisen hat; gar nicht mal, weil man es nicht allein tragen kann, sondern aus Rücksicht auf ihn: Wie sonst soll er merken, dass er ein Freund ist?

So befreundet bin ich nicht mit mir, sagte ich mir, dass ich mich meinen unsäglichen Seiten aussetzen will. Lieber will ich keinen Freund.

Ich war in dem Köhlerglauben erzogen worden, dass der beste Freund des Mannes seine Frau ist und umgekehrt. Wenn das Vertrauen so weit gediehen war, dass er, der von Amts wegen ihr Mann war, ihr Kamerad wurde, wenn umgekehrt sie die Geschlechtergrenze überschritt und ebenfalls Kamerad wurde, dann war für eine Nur-Freundschaft, eine Nichts-als-Freundschaft-Freundschaft kein Bedarf.

Wenn ich meiner Freundin etwas über meinen Mann erzähle, argumentierte ich auf meine rigoristische Art, dann setze ich mich ja selbst herab. Wie kann ich ihn meinen Mann nennen und über ihn reden, frei nach der Devise: Weißt du, was mein Mann gemacht hat? Ich fand das unlogisch, nicht nur fragwürdig, vor allem unlogisch. Deutete es nicht auf eine Spaltung in mir, und was sollte meine Freundin sein, wenn nicht ein Teil dieser Spaltung?

Man hat ja auch nicht einen Freund, sagte ich mir, und redet über ihn, höchstens zu einem anderen Freund, wenn man nämlich das Bedürfnis verspürt, jedem Einzelnen von ihnen das Gefühl zu vermitteln, er wäre der Einzige. Oder aber - und das kam mir irgendwie bekannt vor -, wenn man zu bloßen Bekannten ein unbefangeneres, ja herzlicheres Verhältnis als zu Freunden pflegte, und da ergab sich natürlich schon die eine oder andere Gelegenheit zu einem Bonmot auf Kosten der Freundschaft.

Ich war auch in der Überzeugung aufgewachsen, Freundschaft wäre die libidinöse Erscheinungsform der Pubertät, erstens zielgehemmt und zweitens passager, also nichts Eigenständiges. "Komm an meinen Busen, Freund!", die Aufforderung galt dem, was gerade nicht in der Liebesbeziehung aufging, der Jugend, der Humanität, dem gemeinsamen Traum von der Frau, schlicht dem Träumen. Sie meinte nicht zuletzt die Kunst, obwohl mir das immer absurd vorgekommen war: dass etwas die Kunst und nicht die Kunst, umgekehrt, eine Sache meinte. Auch dass Freundschaft sich selbst meinen sollte, dieser Gedanke erzeugte in meinem Kopf keine Vorstellung.


... und Mystifikationen

Ausgerechnet die Äußerung eines Jesuiten, der in einer WG lebte, brachte mich wieder auf das Thema. Wie er, in seinen Lebensumständen von andern Menschen seines Alters nicht unterschieden, das Zölibat verkrafte, wurde er gefragt. "... und man muss gute Freunde haben", antwortete er. Den ersten Teil seiner Antwort vergaß ich sofort; wahrscheinlich hatte er mit Religion zu tun. Aber das Paradox ging mir nach. Was ersetzen die guten Freunde dem, der mit ihnen die Liebesbeziehung ersetzen muss, fragte ich mich, und ohne dass sie bloß Ersatz wären. Was hieß in diesem Sinn gut? Im Geläufigen bezeichnete "guter Freund" ja eher die Abwesenheit eines Feindes.

Die Antwort ließ sich ein paar Jahre Zeit, aber ich hielt die Frage in Ehren. Das war nicht wenig, da Ersatz, frz. ersatz, für mich immer eine trostlose Vorstellung gewesen ist, vielleicht die trostloseste von allen. Und natürlich haben weder Glaube noch Verstand, sondern die Umstände mir ein Licht aufgesteckt; mit andern Worten: Ich erfuhr, was ein guter Freund ist, eine Freundin oder ein Freund.

Ein Freund, sagt der Volksmund, ist jemand, der einen so akzeptiert, wie man ist. Ich fixierte mich nicht länger auf das potenziell Diskriminierende daran, dass man eben nur so ist, wie man ist, auch das Diskriminierende für den Freund. Ein Freund, formulierte ich für mich, ist jemand, der mich wahrnimmt. Wenn er mich anredet, merke ich, dass ich wirklich bin. Zwar, das Erlebnis stellt sich auch ohne Freund ein, ich brauche bloß eine Ohrfeige zu kassieren. Dass ich es mit begleitenden Gefühlen, minimalen Reflexionen, einem ganzen in behaglicher Gewohnheit ablaufenden Reaktionsschema ausstatten kann, also in einem alltäglichen, zugleich erlebten Sinn bin, liegt an der Gegenwart meinen Freundes.

Es ist nicht so, dass ich ihm ein griesgrämiges, deprimiertes, verheultes Zerrbild von mir liefern darf, und er muss es mögen; diese Karikatur des Alter Ego ist nicht gefragt. Vielmehr verfügt er selbst dann über ein authentisches Bild von mir, wenn dieses mir restlos abhanden gekommen ist, ich teils wie tot, teils verzweifelt lebendig, aber wie ohne Körper bin. Durch ihn werde ich zwar nicht von mir, aber von der Entstellung geheilt. Er ist mein Treuhänder, bei ihm ist meine Normalversion hinterlegt: ich, wie ich bin, bloß nicht verzerrt. Er hat sie sich angeeignet, im vielfältig verschachtelten Sinn des Begriffs, und ich habe mich an diese Tatsache gewöhnt, mich auch ein wenig abhängig davon gemacht, weiß ich doch, dass ich mich bei Bedarf mit ihr versorgen, mich mit ihr abgleichen, mich gegebenenfalls mit ihr aufladen kann. Nur auf Grund einer blinden Gewohnheit oder eines mechanischen Reflexes flüchte ich mich zu ihm, wenn ich mich wie versteinert oder verkümmert fühle, meine Stimme nicht mehr kontrolliere, meine Themen nicht mehr variieren kann; ich weiß weder, warum mir so ist, noch warum ich komme. Lächelnd greift er in die Schublade und gibt mir ein Messer: Hier, schäl mal die Kartoffeln, aber nicht wieder so dick wie beim letzten Mal!


Ich und mein Original

Ein Freund, resümiere ich für mich, ist jemand, der im Besitz meines Originals ist. Ein Liebster ist vielleicht im Besitz von mir, mein Freund ist im Besitz meines Originals. Ein Freund, sagte ich mir, beschenkt mich mit meiner eigenen Wirklichkeit. Nicht existenziell, eher moralisch oder ästhetisch bin ich auf ihn angewiesen. Denn ohne ihn bin ich zwar auch, aber je nach Zufall vergröbert, verkleinert, verzerrt, ohne die Aura der Person, mit ihm aber verantwortungslustig und handlungsfähig. Hochgradig gefährlich daher, den Freund zu strapazieren, aber unabdingbar, ihm zu vertrauen; wenn man ihm nicht vertraut, bestreitet man ihm nämlich, was er ist. Kein Grund indes, die Wirklichkeit, die von ihm abhängt, mit Banalität zu verwechseln, seiner natürlich; auch umgekehrt, was er einem gibt, für etwas anderes als das Gewöhnlichste zu halten. Man ist nicht auserwählt, bloß weil er mit einem spricht, er nicht Gott und man selbst weiß Gott nicht gerettet; selbst wenn dieses Gefühl dem nicht totzukriegenden Größenwahn am genauesten entspricht. Seine Leistung ist einzigartig in einem höchst alltäglichen Sinn: Soeben warst du noch in deinen Tagträumen, Halluzinationen und Projektionen abgesoffen, da kommt er und sagt: "Hör mal ...", und du fühlst dich im Bruchteil einer Sekunde wie repariert.

Über den Freund nachdenken, sagte ich mir, kann man nicht, ohne dass die Drohung aus Kindertagen herüberklingt: "... dann bist du nicht mehr mein Freund." Da mein Freund nicht nur ein Teil, sondern auch der Garant meiner Welt ist, ist die Drohung seines Verlusts gleichbedeutend mit der des Verlusts meiner Welt. Je nachdem, ob er mehr den immanenten oder den transzendentalen Part übernimmt, ist dabei mal die Drohung größer als der Verlust, mal der Verlust erheblich größer als die Drohung. Eine Freundschaft, die halten soll, muss unablässig nach beiden Seiten bearbeitet, das Existenzielle muss zum Alltäglichen herab-, das Alltägliche zum Existenziellen heraufgestuft werden; perspektivisch jedenfalls, um sie vom Ballast der Projektionen zu befreien und um den Schnittpunkt in den Blick zu bekommen.

Das heißt nicht, sagte ich mir, dass an ihr herumgedoktert werden soll, im Gegenteil. Eine Freundschaft leben - um das geschmacklose Wort zu gebrauchen - heißt sie genießen.


*


Pragmatik des Benimms 1: Faule Ausrede

Vor allem komm mir nicht mit der Entschuldigung, du seiest erschöpft. Erschöpft zu sein ist würdelos, Verrat an sich selbst. Alles andere als ein Rückzug, ist es die heimtückischste Form des Übergriffs, Dramatisierung, getarnt als Appell und inszeniert als Unterwerfung. Alles andere als eine Entschuldigung, ist es selbst eine Untat, auf dem kriminellen Pfad nicht nur das nächste, sondern auch das schwerere Vergehen. Da hat jemand nicht bedacht, dass seine sterbliche Natur ihm das Maß gibt, er hat nur an Ausnahme und so weiter und hinterher dann an Erschöpfung gedacht! Er hat gegen die Verantwortung für sich selbst verstoßen und damit gegen das einzige Gesetz, das der Einzelheit des Menschen Rechnung trägt. Ein solcher Verstoß bedürfte mehr als andere der Entschuldigung, nur, wenn das Vergehen den Platz der Entschuldigung besetzt, wo soll die Entschuldigung Platz nehmen? Aus welcher Ressource soll sie schöpfen? - Ich weiß, was du sagen willst. "Die Verantwortung für sich selbst entsteht aus der Einzelheit; sie entsteht aus dem Alleinsein, sie entsteht aus der Einsamkeit. Ich bin aber nicht allein", willst du sagen, "einsam schon gar nicht, meine Ethik ist nicht mager, sie zielt auf Vergesellschaftung, sie zielt auf Verwirklichung. Nur wenn ich mich übernehme, merke ich, dass ich nicht allein bin, und überschreite die Grenzen meiner Persönlichkeit." Jetzt bist du in deinem Fahrwasser. "Wenn meine Kräfte erschöpft sind", fährst du fort, "merke ich, dass es noch andere Kräfte gibt, sprich: die von anderen; solange die eigenen reichen, merke ich es ja nicht. Wenn andere mir zu Hilfe kommen müssen, spüre ich meine kollektive Natur, mein faktisches Verschmolzensein, mein wahres und wahrhaftes Wesen." Triumphierend, in Gedanken längst vor größerem Publikum: "Wie sollen wir unsere kollektive Natur betätigen, wenn wir keine Hilfe brauchen, und wie können wir uns helfen lassen, wenn wir uns nicht zu viel zumuten?"

Wäre ich ein buddhistischer Meister, ich würde dir mit der Faust ins Gesicht schlagen: das für deine Erschöpfung und das für die schmeichlerische Miene, mit der du sie vorträgst, und das für den Stolz in deinen Augenwinkeln, und das und das! Mit blutender Nase würdest du davonschleichen: erleuchtet. Aber nichts ist so verführerisch wie Erschöpfung: für einen selbst, denn man braucht nicht zu denken; für andere, denn jeder kann sich einklinken. Nichts ist ein so machtvolles Argument, ein so eindeutiger Ruf. Das ist wie SOS: Hilfe tut not, Kritik ist verboten. "Meister, ich bin erschöpft, schlaflos wühle ich mich durch die Bücher großer Geister; wahrlich, wenn ich den Kopf auf dem Kissen drehe, spüre ich, wie die Buchstaben mit schwerem Gewicht von der einen auf die andere Schädelseite hinüberpurzeln, wie sich das H im sperrigen G, das breitbeinige A im O verfängt." Ich würde dir mit der Faust ins Gesicht schlagen: Dies für die Selbstgefährdung und das hier für die Ausnahme, etwas Besonderes für das Besondere. Weißt du, was es bedeutet, eine Ausnahme zu sein? Für den eigenen Überfluss die Notration der andern einfordern, das bedeutet es. Hier hast du, was ich den andern zugedacht hatte, die ganze Ration! Um das Nasenblut aufzufangen, müsstest du den geschwätzigen Mund mit der Hand verschließen, und prompt, wie es in den alten Büchern heißt, stellte Erleuchtung sich ein. - Wäre ich aber bloß Personalchef einer großen Firma, würde ich in deinen Personalbogen schreiben: Kann nicht einmal Verantwortung für sich selbst tragen, wie dann für andere; eifrig und bemüht, aber die Basis fehlt.


*


Pragmatik des Benimms 2: Goldene Regel

Was dir widerfahren ist, erzähle nur einmal und einem Einzigen; dann hast du es erzählt. Und wenn es der Vulkanausbruch des Jahrhunderts, die Liebe deines Lebens, das Unglück deiner Familie, der Schlüssel zu deinem Charakter ist, erzähl es nur einmal. Du wirst merken, dann erzählst du es gar nicht. Lebe, dann brauchst du dich nicht zu erzählen. - Es ist nötig, das Wissen über dich zu vervollständigen, und sei es aus Bescheidenheit oder, um der Wahrheit die Ehre zu geben, der Idealisierung zu wehren? Du meinst, wer schweigt, wird überschätzt, stille Wasser sind tief, sagt man zu Unrecht von ihm? Du musst deutlich machen, meinst du, dass auch bei dir manches im Argen liegt, dass du von Widersprüchen gebeutelt bist? Das musst du um der lieben Wahrheit willen, um der noch lieberen Wirklichkeit willen klarstellen? - Interessiere dich nicht für das, was du nur in Erklärungen bist. Sei das nicht, dann gibt es auch nichts dahinter zu vermuten. - Wer auch hier wieder einen Trick vermutet, sich künstlich zu verkleinern, mit dem geh um, wie der Meister mit dem ungebetenen Schüler: Versteck dich vor ihm, vertreib ihn mit dem Knüppel, und wenn du ihn schließlich akzeptierst, ist das sein Bier, kann er resignieren lernen. - Gib das Reden seinem Gegenstand oder dem Reden seinen Gegenstand zurück. Plaudere über das Wetter - früher hieß das, preise die Schöpfung -, erzähle das Gewesene, erkläre das Mechanische, denk über das Denken nach. Erzähle nicht das Wetter, erkläre nicht das Gewesene, denke nicht über das Mechanische nach, preise nicht das Denken. Erkläre nicht das Wetter, denk nicht über das Gewesene nach, erzähle nicht das Mechanische, preise nie das Denken.

Raute

Liebe und Freundschaft

Soll Liebe nicht verkümmern, braucht sie Freunde, die sich um sie kümmern

von Peter Pott


Liebe und Freundschaft wider Willen

Liebe und Freundschaft werden gern in einem Atemzuge genannt und gleichgesetzt. Von "Chaostheoretikern" z.B., die die Natur nicht mehr länger als Chaos verstehen wollen, das des menschlichen bzw. göttlichen Subjekts bedarf, um in Ordnung zu gehen. Das Chaos, für das die Natur immer gehalten wurde, wenn auch nicht schon immer für ein unproduktives Chaos, das Chaos ruft sich schon selbst zur Ordnung - und das umso sicherer, je weniger subjektive Willkür das natürliche Gleichgewicht drangsaliert.

Die Natur, will Alfred North Whitehead (1984) wissen, hat einen ursprünglichen Ordnungssinn: Sinn für Freundschaft, wie er sagt - und wieder einmal den Wald, wenn auch nicht bevorzugt den deutschen, als Beweis dafür heranzieht. Er lehrt uns - anders als es uns Darwin weismachen wollte -, dass "jeder Organismus eine Umgebung von Freunden (braucht), teils um ihn vor gewaltsamen Veränderungen zu schützen, teils um seine Bedürfnisse zu befriedigen" (239ff.). Jeder Organismus! Wald, Wiesen und Felder - und ebenso die Familie, die Schule und die Fabrik. "Eine Fabrik ... ist ein Organismus, der eine Vielfalt von lebendigen Werten offenbart. Was wir auszubilden wünschen, ist die Gewohnheit, einen solchen Organismus in seiner Gesamtheit aufzufassen" (231f.). Das ist insbesondere die Gewohnheit, eine Fabrik "mit ihren Maschinen, ihrer Gemeinschaft von Arbeitsgängen, ihrem sozialen Dienst an der Bevölkerung, ihrer Abhängigkeit von Organisations- und Planungstalent, ihren Potentialitäten als Quelle des Reichtums für Aktionäre" (232), so zu sehen, wie der Wald zu sehen ist, den Whitehead als einen "Triumph der Organisation wechselseitig voneinander abhängiger Spezies" (240) sieht. Wie dieser so ist auch die Fabrik nicht als Kampfzone zu verstehen, in der jeder Organismus nur um sein Überleben kämpft, sondern als "eine Umgebung von Freunden" usw. (s.o.).

Whitehead ist kein Einzelkämpfer im Kampf für ein "Neues Denken", das sich von dem veralteten Denken Darwins trennt. "Alle neueren Universal- und Einheitswissenschaften", so Stephan Poromka, "plädieren für die Beobachtung des Komplexen, für die Nicht-Linearität, die Lebendigkeit, Eigendynamik und Selbstorganisation der Systeme, ihre Unplanbarkeit und Unsteuerbarkeit" und werfen den klassischen Wissenschaften vor, "genau das ignoriert zu haben, um das Lebendige reduktionistisch mit einfachen, starren, uniformen Gesetzen ins Lineare, Determinierte und Reversible zu bannen" (Poromka 114).

Was Whitehead "Freundschaft" nennt, nennt Francisco J. Varela "Liebe" (1990). Wie jene keine unter Freunden ist, ist diese keine unter Liebenden: keine Sache von Individuen, die sich aus freiem Willen und mit mehr oder weniger guten Gründen zu einem freundschaftlichen bzw. liebevollen Umgang miteinander entschließen. Die den "Überlebenseinheiten" attestierte Freundschaft bzw. Liebe zu anderen "Überlebenseinheiten" wurzelt tiefer - und funktioniert, ohne dass die einzelnen Glieder ausdrücklich an sie denken. Der Geist, der sie in Liebe und Freundschaft miteinander verbindet, ist der Natur von Natur aus eigen. Sie hat ihn einfach: als Hirntätigkeit , die sich früher äußert als wir gedacht haben und das objektive Geschehen zwischen den Dingen reguliert, das eine subjektive Auffassung von Liebe und Freundschaft nur stören kann.

Das freundschaftliche Geschehen in den diversen "Überlebenseinheiten" lässt sich beobachten, doch nicht dingfest machen. Es zeitigt Wirkungen, die sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussehen, in keinem Fall exakt bestimmen lassen. So chaotisch diese Wirkungen auch scheinen: Die in keiner bestimmten Wirkung zu fassende Wechselwirkung gehorcht einem "großen Gedanken" (David Bohm), für den es auch wissenschaftliche Beweise gibt. Sie kommen aus der Atomphysik. Aus der Neurowissenschaft. Oder aus der Kognitionswissenschaft, die uns auch wissen lässt, wie wir uns dieses eigentümlich freudlosen Geistes von Liebe und Freundschaft versichern. In teilnehmender Beobachtung! Was uns dabei als bedeutungsvoll erscheint, das ist es nicht, sondern ergibt sich - aus einer Fülle von Aktionen, die für sich betrachtet scheinbar ganz geistlos sind und in ihrem Verhalten "viel stärker dem Stimmengewirr einer Cocktailparty als einer Kette von Befehlen" gleichen (Varela 1990, 75).

Man muss nicht unbedingt "hirnforschungsorientiert" sein, um zu wissen, dass das Gemurmel der Gäste einer Cocktailparty Sinn macht - und den Beobachtern dieses Gemurmels zu erkennen gibt, "was etwa in einem Büro geschieht" und dass diese Beobachtung vielleicht "weitaus wichtiger und angemessener für ein Verständnis der Bürodynamik (ist) als etwa die herkömmlichen Organigramme in der Managementwissenschaft bzw. Betriebswirtschaftslehre" (Varela 1990, 113f.). Man muss aber unbedingt "hirnforschungsorientiert" sein und systemisch denken, wenn man davon ausgehen will, dass es die Bürogemeinschaft selber ist, die an ihrer Beobachtung interessiert ist - der Freundschaft wegen, mit Whitehead gesprochen; aus emotionalen Gründen, wie Hirnforscher Pöppel beweist; der Liebe wegen, wie Varela sagt - und davor warnt, die Liebe als eine ausdrücklich gesuchte Beziehung zu verstehen. Liebe, sagt das Hirn, das nicht nur Männer, auch Frauen haben, ist nicht zu machen, sondern anzuerkennen: als die offenkundige Tatsache, wie Varela mit Umberto Maturana einig (Varela/Maturana 1984) bekundet, "dass es, biologisch gesehen, ohne Liebe, ohne Annahme anderer, keinen sozialen Prozess gibt", dass also alles, "was die Annahme anderer untergräbt - vom Konkurrenzdenken über den Besitz der Wahrheit bis hin zur ideologischen Gewissheit - ... den sozialen Prozess (unterminiert), weil es den biologischen Prozess unterminiert, der diesen erzeugt".


Gewollte Freundschaft - nichts für "Weibspersonen"

Wer noch bei Sinnen ist, wenn er das "Gemurmel der Gäste einer Cocktailparty" erlebt, wird nicht leugnen, dass es "emotional bewertend" ist, seine Erfahrung aber gewiss nicht als "eingebettet in die Vorgeschichte der Erfahrung" deuten, vielmehr als eingebettet in die Geschichte einer Erfahrung, die besagt, dass Liebe und Freundschaft ausgesuchte Begegnungen sind und als solche durchaus verschieden, wie jeder weiß, dessen Liebe nicht auf Gegenliebe stieß und der zum Trost Freundschaft angeboten bekam. Ein Unglück! Sagt Marx (MEW EB 1, 567). Glück im Unglück! Dürfte Michel de Montaigne sagen. Denn der Zustand, in den wir geraten, wenn wir auf Liebe machen, "ist ein wildes, flatterichtes, wallendes, und abwechselndes Feuer", wie Montaigne überzeugt ist, "eine fieberhafte Hitze, die uns bald überfällt, bald aber sich wieder legt, und uns nur auf einer Seite einnimmt" (Montaigne 2008, 36f.). Ganz anders ergeht es uns in der Freundschaft. In ihr waltet "eine beständige und stille Inbrunst, die holdselig und artig, nicht aber rau und stechend ist. Weiter ist bei der Liebe nichts als ein rasendes Verlangen nach dem, was uns flieht. Sobald sie sich in den Schranken der Freundschaft, das ist, in der Übereinstimmung des Willens hält, verschwindet sie und wird matt. Der Genuss ist ihr Verderben, weil ihre Absicht nur auf den Körper geht und endlich zum Ekel wird. Hingegen die Freundschaft genießt man desto besser, je mehr man sie wünscht: sie entsteht, nährt sich, und wächset nur bei dem Genusse, weil sie nur auf den Geist sieht" (ebd.). Wozu "Weibspersonen gemeiniglich ... nicht recht geschickt sind" (ebd., 38). Schön wär's, wenn sie dieses Geschick hätten - und zur Freundschaft so fähig wären wie Männer, so dass eine Freundschaft auch zwischen Mann und Frau sich ergeben könnte und derart nicht nur "die Seelen", sondern auch "die Leiber" in den Genuss der Freundschaft kämen. Womit gewiss "die Freundschaft noch vollkommener und vollständiger sein würde. Allein wir wissen kein Beispiel, dass dieses Geschlecht habe so weit gelangen können" (ebd.).

Anders als "alle neueren Universal- und Einheitswissenschaften" besteht Montaigne darauf, dass Liebe und Freundschaft von Menschen gesuchte und gefundene Verhältnisse sind - und keine Naturgegebenheiten, denen man gehorchen muss, wenn man den sozialen Prozess nicht unterminieren will: die Liebe wesentlich ein geschlechtliches Verhältnis, das bevorzugt zum anderen Geschlecht wahrgenommen wird, Freundschaft eher ein geschlechtsneutrales Verhältnis, das nicht unbedingt, doch bevorzugt zum gleichen Geschlecht gesucht wird. Für das aber "Weibspersonen gemeiniglich ... nicht recht geschickt sind". Fragt sich nur, wer diese von Montaigne angesprochenen Menschen sind und was sie in dem einen wie in dem anderen Fall suchen? Es sind in jedem Fall vorbildliche Menschen: Mannspersonen; Menschen also, deren Verhältnis zueinander und zur Welt nicht als ein menschliches vorausgesetzt werden kann, wie das Montaigne unterstellt. "Er sieht nicht", so die Kritik von Marx und Engels an Feuerbach, die auch auf Montaigne zutrifft, "wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, dass sie ein geschichtliches Produkt ist, das Resultat der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen, deren jede auf den Schultern der vorhergehenden ihre Industrie und ihren Verkehr weiter ausbildete, ihre soziale Ordnung nach den veränderten Bedürfnissen modifizierte" (MEW3, 43).

Wie Feuerbach, wie aber auch Whitehead und Varela usw., kommt Montaigne, weil er "die Menschen nicht in ihrem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhange" sieht, mit seiner Auffassung von Liebe und Freundschaft "nie zu den wirklich existierenden, tätigen Menschen, sondern bleibt bei dem Abstraktum der Mensch stehen" (ebd., 44). Es fehlt die Kritik der anstehenden Lebensverhältnisse, die "den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches" in Aussicht nimmt (MEW EB 1, 567).


Freundschaft um der Liebe willen
1. Die Liebe ist eine Kunst

Vorausgesetzt, das Verhältnis des Menschen zum Menschen und zur Welt ist ein menschliches, so "kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. ... Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, d.h., wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebensäußrung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück" (ebd.).

Die Liebe, die Marx vor Augen hat und die "den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches" voraussetzt (ebd.) und unter dieser Voraussetzung mit dem "kleinen" Unterschied zwischen Mann und Frau spielt, ist der Versuch des Mannes, sich mit einer bestimmten Äußerung seines wirklichen individuellen Lebens in das Leben der Frau einzumischen, diese aus der Fassung zu bringen und zu bewegen, ihre Fassungslosigkeit geistesgegenwärtig aufzugreifen, sie mit dem eigenen wirklichen individuellen Leben zu verbinden und durch dessen Äußerung rückwirkend auf den Mann einzuwirken, so dass auch er seine Fassung verliert, ins Taumeln gerät und sich ermuntert fühlt, seine Fassungslosigkeit in Verbindung mit der Frau neu zu verfassen, ein Paar bildend, das mit jeder Paarung sich erneuert, aufblüht und seine "Produktivkraft" steigert.

Das als Liebe zu bezeichnende Verhältnis der Geschlechter zueinander ist nicht das Verhältnis von zwei unvollständigen Wesen, die einander vervollständigen, das mangelnde Vermögen durch das Vermögen des anderen ergänzen. Es ist keine Sache der Organisation vorhandener Schwächen und Stärken, kein soziales Anliegen, vielmehr ein Wahnsinn, in dem "immer auch etwas Vernunft" ist, wie Nietzsche sagt (II, 306): ein "Lustzustand, den man Rausch nennt" (III, 755) und der neues, ein anderes Leben will, sei es ein noch nie gehörtes Musikstück, ein zuvor noch ungesehenes Bild, einen völlig unbekannten Tanzschritt. Oder ein Kind. Was keinen wesentlichen Unterschied macht. Wie Nietzsche meint: "Musikmachen ist auch noch eine Art Kindermachen" (III, 756), das Kindermachen dem entsprechend auch eine Art, Musik zu machen. In jedem Fall eine Kunst - und weder nur eine Technik noch ein bloß biologischer Vorgang -: die Kunst, etwas zu erzeugen, "was vorher nicht vorhanden, und ... ebensowenig aus schon Vorhandenem oder schon Bekanntem bloß abgeleitet" ist (Wilhelm von Humboldt I, 268), ein Etwas also, das anstößig wirkt, das nicht nur eine andere Gemeinschaft in Aussicht nimmt, sondern die alte augenblicklich erneuert, um die gesellschaftlich erneuerte Gemeinschaft schon im nächsten Augenblick mit einem anderen Aspekt der Individualität bekannt zu machen, der die bekannte alt aussehen lässt - und aufhebt: einen Produktionsprozess initiierend, der von der Bahn, die ihn auf die Welt brachte, nur abweicht, um sie mit zusätzlicher Individualität, also auch mit weiteren und grundsätzlich mit allen Individuen fortzusetzen, auch wenn diese ihr menschliches Wesen hinter Bosheit verstecken.


2. Blumen des Bösen

"Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum" (MEW 3, 6). Es wohnt auch nicht an einem festen Ort in einer auserwählten Gemeinschaft. Das menschliche Wesen wohnt dem einzelnen Individuum als Sehnsucht und Suche nach diesem Wesen inne: als ein empfindsames Leiden an der unmittelbaren Wirklichkeit, das es leidenschaftlich nach einer anderen, schöneren Wirklichkeit suchen lässt, die nur zu verwirklichen ist, wenn das Individuum mit Liebe zur Sache kommt - und seine körperliche und geistige Kraft zur Veränderung der Welt vergesellschaftet, d.h. sie aus eigener Kraft mit der anderer Individuen produktiv vermittelt. Und dazu sind grundsätzlich alle Menschen eingeladen. Nicht nur die bekannten und vertrauten, sondern auch die Masse der unbekannten Menschen. Erst mit dieser Einladung ist das natürliche Dasein des Menschen ein "menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden" (Marx EB 1, 537f.). Was dem Einladenden die Fähigkeit abverlangt, sich unbekannten Reizen hinzugeben, ohne sich aufzugeben, den massenhaften Reizen, wie Baudelaire schreibt, einen individuellen Reiz abzugewinnen.

Baudelaire beschreibt diese Fähigkeit als die Fähigkeit des modernen Künstlers, dem die Menge auf den Straßen und Plätzen, in den Warenhäusern ein ebenso leidenschaftliches Bedürfnis ist wie seine Einsamkeit. Er braucht die Menge, wie der Vogel die Luft, der Fisch das Wasser braucht. Seine "Gesundheit" verlangt, "sich mit der Menge zu vermählen" (Baudelaire 5, 220). Wie sie von ihm verlangt, was sie von Fischen und Vögeln nicht verlangt: die Menge der widerfahrenden Ereignisse künstlerisch zu verarbeiten. "Er ist ein Ich, das unersättlich nach dem Nicht-Ich verlangt, und dieses in jedem Augenblick wiedergibt, es in Bildern darstellt, die lebendiger sind als das immer unbeständige und flüchtige Leben selbst" (ebd., 222). Er nennt sie "Die Blumen des Bösen", zu denen auch die "Eine" gehört, "die vorüberging":

"üppig hob und wiegte ihre Hand des Kleides wellenhaften Saum;
Leicht und edel setzte sie wie eine Statue das Bein. Ich aber trank, im Krampf wie ein Verzückter, aus ihrem Auge, einem fahlen, unwetterschwangeren Himmel, die Süße, die betört, die Lust, die tötet.
Ein Blitz ... und dann die Nacht! - Flüchtige Schönheit, von deren Blick ich plötzlich neu geboren war, soll ich dich in der Ewigkeit erst wiedersehen?".

(Baudelaire 3, 245).


3. Ein "Kraftakt von doppelter Kraft"

Um die "Flüchtige Schönheit", von deren Blick der Künstler plötzlich neu geboren war, noch im Diesseits wiederzusehen, muss das neugeborene Ich sein gegenwärtiges Du als Neugeborener ansehen - und es verzückt neu gebären: im Akt der Liebe, der ein "Kraftakt" ist, wie von Humboldt sagt; ein "Kraftakt von doppelter Kraft": passiv, empfangend, leidend die eine, aktiv, tatkräftig, leidenschaftlich die andere, "eine auf Wirkung und eine andre auf Rückwirkung" gerichtete Kraft. Wobei "dieser Unterschied nur in der Richtung, nicht in dem Vermögen (besteht). Denn wie die tätige Kraft eines Wesens, so auch seine leidende, und wiederum umgekehrt. Etwas bloß Leidendes ist nicht denkbar" (277f.), wie eine tätige Kraft ein Unding ist, die vom Stoff, den sie bearbeitet, unberührt bleibt. Die Zwiespältigkeit ist entscheidend. Sie ist entscheidend nicht nur für den unmittelbaren Geschlechtsakt.

Die Differenz zwischen Mann und Frau sorgt auch sonst im Leben für Spannung, die die "Wechselwirkung der Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit" (274f.) zur Voraussetzung hat. Sie spaltet die menschliche Art natürlich nicht in zwei verschiedene Arten, in der Welt zu sein. So oder so wird die Welt in der Art von Menschen wahrgenommen, die im Unterschied zu jeder anderen Art individueller, d.h. gesellschaftlicher Natur ist. Sie erlaubt es ihnen, sich in Freiheit zu paaren: wann, wo und wie es ihnen beliebt. Sie können, wenn sie wollen, ihre Tage auch in langweiliger und erschlaffender Gleichheit miteinander verbringen. Wollen sie sie schöpferisch, lustvoll, produktiv miteinander verbringen - mit "Genie" zum Vorschein bringen, "was vorher nicht vorhanden" war, sich ihr eigenes Leben erfinden -, dann müssen sie jenen "ästhetischen Zustand" wollen, der, wie Nietzsche schreibt, "einen Überreichtum von Mitteilungsmitteln ... mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen" vereint (III, 753). Sie müssen diesen Zustand, wie gesagt, wollen. Er überkommt sie nicht, wie er die Katze und den Kater zur Paarungszeit überkommt. Sie müssen sich die Zeit dazu nehmen: eine "Ich-Du-Beziehung" (Martin Buber) eingehen, die gut daran tut, die Natur des Unterschieds von Mann und Frau, dem "nicht bloß die Fortdauer der Gattungen in der Körperwelt anvertraut" ist, sondern aus dem "auch die reinste und geistigste Empfindung" hervorgeht (von Humboldt, 274), nicht als Prägung zu werten, sondern gesellschaftlich zu nutzen - und die geschlechtliche Liebe "weit über die beschränkte Sphäre hinaus, in die man (sie) einschließt, in ein unermessliches Feld zu versetzen" (268) und auf diesem "weiten Feld" zum Vorschein zu bringen, "was vorher nicht vorhanden und ... ebensowenig aus schon Vorhandenem oder schon Bekanntem bloß abgeleitet" ist, was eine "wirkliche Erfindung" ist, die nur "durch diese Wechselwirkung der Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit" zustandekommt.


4. Liebeskummer

Freundschaft ist nicht Liebe. Von ihr aber auch nicht zu trennen. Ist Liebe wesentlich ein geschlechtliches Verhältnis, das bevorzugt zum anderen Geschlecht wahrgenommen wird, so ist Freundschaft ein geschlechtsneutrales Verhältnis, das nicht unbedingt doch bevorzugt zum gleichen Geschlecht gesucht und gefunden wird. Will sie nicht, wie in der bürgerlichen Gesellschaft üblich, "bei dem Abstraktum der Mensch" stehen bleiben und den "wirklichen, individuellen, leibhaftigen Menschen" nur in der Empfindung anerkennen, will Freundschaft ihrem Anspruch - bei dem "wirklich existierenden, tätigen Menschen" anzukommen - gerecht werden (MEW 3, 44), dann kann sie nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen und insbesondere nicht von dem Verhältnis des Freundes zum anderen Geschlecht absehen, das nun einmal das "unmittelbare, natürliche, notwendige Verhältnis des Menschen zum Menschen ist" (EB 1, 535). Der Freund muss sich darum kümmern. Nicht nur um die Kümmernisse des Freundes, sondern um die Kümmerlichkeiten dieses Verhältnisses, das die Liebenden zwingt, sich um eine Arbeit zu kümmern, die mit Liebe und Freundschaft praktisch nichts im Sinn hat. Dem entsprechend spekuliert jeder Mensch nur darauf, "dem andern ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten" (EB 1, 546f.).

Wenn der ideale Freund "keine Kritik der jetzigen Lebensverhältnisse" (MEW 3, 44) gibt, der wirkliche gibt sie. Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Er mischt sich in das befreundete Liebesleben ein. Etwa dadurch, dass er die angetraute Frau des Freundes (bzw. sie den Mann der Freundin) zum Tanzen auffordert - und so der theoretischen "Kritik der jetzigen Lebensverhältnisse" spielend auf die Sprünge hilft. In dem Wissen: "Auch was tanzt, will anders werden und dahin abreisen" (Bloch, 456f.). Und wird auch anders, wenn es denn mit Liebe tanzt, die eine Kunst ist: "die Kunst", wie Brecht sagt, "etwas zu produzieren mit den Fähigkeiten des andern. Dazu braucht man von dem andern Achtung und Zuneigung. Das kann man sich immer verschaffen" (87). Man muss sich nur die Zeit dafür nehmen: Zeit, die nicht dem Takt des Geldes gehorcht, sondern einem Rhythmus, dessen Zweck die "Verlängerung des Augenblicks der sinnenden Betrachtung" ist, wie der irische Dichter William Butler Yeats schreibt: "des Augenblicks, in dem wir zugleich träumen und wachen" und der "der einzige schöpferische Augenblick" ist, "in dem sich das Gemüt, befreit vom Drang des Willens, in Sinnbildern entfalten kann" (zit. nach George Thomson: Frühgeschichte Griechenlands und der Ägäis. Berlin 1960, 391), die freilich ohnmächtig bleiben, wenn die Sinnbilder nicht zu einer bestimmten Äußerung des wirklichen individuellen Lebens werden, mit der sich die Tanzenden ungeschickter Weise auf die Füße treten und sich damit entschuldigen, dass sie sich gegenseitig in eine geschicktere Tanzbewegung schicken, um sich auf diesem Wege in ihrem "individuellsten Dasein" miteinander zu verwickeln: ein Paar bildend, das am Ende des Tanzes nicht dasselbe ist als das zum Tanzen angetretene und für das traute Paar eine Provokation darstellt, die nicht als Kriegserklärung zu verstehen ist, sondern als Liebeskummer, mit dem nicht das fliehende Eheglück zu bejammern, sondern das in dieser Beziehung Unterdrückte zu betrauern ist - im "Erfassen der flüchtigen Bilder" (Benjamin I.3, 1244), die von einem ganz anderen, fernen Liebesglück sprechen. Und die nur zu fassen sind, wenn das in seiner Liebe dahinkümmernde Paar auch andere Liebesbeziehungen eingeht. Doch nicht, um den alten "Partner" gegen einen neuen auszutauschen, weil, wie man meint, das "Potential" erschöpft, in der Beziehung keine Lust mehr zu finden sei, man und frau einfach Abwechslung brauchen.

"Es gibt keinen ärgeren Sophismus", bemerkt André Breton (114f.), als zu behaupten, die "erotische Spannung zwischen zwei Menschen" lasse mit der Zeit nach, dass also "die Liebe in dem Maße, als sie ihre Verwirklichung erstrebe, sich selber der Zerstörung" aussetze. "Nichts Herzloseres, nichts Trostloseres als diese Vorstellung". Sie ergibt sich aus der Tatsache, dass die erste "Partnerwahl" aus ökonomischen und moralischen Gründen keine freie Wahl war - und jede neue Wahl so unfrei wie die vorausgehende. "Wenn die Wahl wirklich frei war, kann, wer sie getroffen hat, sie unter keinen Umständen anfechten". Die Liebe auf den ersten Blick macht nur den Anfang einer Liebesgeschichte, die durch einen zweiten, dritten, durch immer neue Blicke auf die Probe zu stellen ist. Nicht ausgeschlossen, eher zu erwarten, dass der Blick auch auf ein fremdes Gesicht fällt - und sich darin verliebt. Das muss zum Bruch der Ehe führen. Nicht zur Untreue. "Nichts Herzloseres, nichts Trostloseres als diese Vorstellung". Herz- und trostlos ist aber auch die Vorstellung, dass nicht sein kann, was nicht sein darf: dass die Liebe zu dem oder der Einen die Liebe zu einem oder einer Anderen ausschließt.

Die erste "große" Liebe muss eine zweite nicht weniger "große" nicht ausschließen. Das versteht sich in der Liebe der Mutter zu ihrem Kind von selbst. Ihre Liebe zu dem einen verträgt sich problemlos mit der zu dem anderen. Das muss für die Liebe zwischen Mann und Frau nicht anders sein, auch wenn in dieser offensichtlicher als in der Mutter- oder Vaterliebe die sexuelle Lust mit im Spiel ist. So individuell in diesem oder jenem Fall die Liebeslust auch ist, so wenig muss die Individualität der einen Liebeslust durch die andere eingeschränkt werden. Vorausgesetzt, dass keiner darauf spekuliert, "dem andern ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten" (EB 1, 546f.).


5. Wirkliche Freundschaft hört bei Geld nicht auf

Vorausgesetzt, die Liebe ist so frei, dass sie sich gegen Liebe tauschen kann - und nicht gezwungen ist, sich mit Sex, Geld oder einem anderen verführerischen Angebot beliebt zu machen, nicht genötigt, den anderen mit gemeinen Mitteln in Besitz zu nehmen, in der Lage, durch Liebe Liebe zu produzieren, dann ist das traute Paar nicht geschieden, wenn die Vertrauten sich auch anders paaren - und sich zutrauen, das hier wie da erzeugte "Mehr von Kraft" (Nietzsche) als gemeinsame Kraft zu bekunden, für die ihre Erzeuger als Freunde bürgen, deren Freundschaft bei Geld - anders als bei der bürgerlichen Freundschaft - nicht aufhört.

Freundschaft, die nicht "bei dem Abstraktum der Mensch " stehen bleiben, die "zu den wirklichen existierenden, tätigen Menschen" vordringen, ihn nicht nur in der Empfindung anerkennen will, kann nicht das Privateigentum anerkennen. Es ist abzuschaffen! Das Privateigentum aber ist nicht abzuschaffen, wenn die Menschen es nicht schaffen, sich ein Dasein zu schaffen, in dem das Privateigentum sich aufhebt. Wie die "ganze Bewegung der Geschichte ... wie ein wirklicher Zeugungsakt (ist) - der Geburtsakt seines (des Menschen) empirischen Daseins" (EB 1, 536) -, so ist auch die Abschaffung des Privateigentums und der darauf zugeschnittenen Beziehungen, die Abschaffung also auch der Ehe, die Abschaffung der staatlichen Bevormundung nicht ein Staats- oder sonst ein Gewaltakt, sondern "ein wirklicher Zeugungsakt": der Geburtsakt eines empirischen Daseins, das nicht für einen Geist spricht, den es hat, vielmehr von einem, der ihm fehlt, der die Beziehungen der Menschen zueinander und zu den Dingen revolutioniert - und sie zu immer neuer "Bestätigung der menschlichen Wesenskraft und neue(r) Bereicherung des menschlichen Wesens" ermuntert (EB 1, 546), das "kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum" ist, auch nicht eine von diesem oder jenem Volk verkörperte Wesenheit, sondern in "seiner Wirklichkeit", wie Marx schreibt, "das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (MEW 3, 6), das nicht falsch zu verstehen ist. Nicht als Zustand, der nur zu bestätigen ist, sondern als "die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt" (ebd., 35), der selbst ein wirklich gewordener, gesellschaftlich produzierter Zustand ist - und nicht "etwa eine bloß abstrakte Tat des Selbstbewusstseins, Weltgeistes oder sonst eines metaphysischen Gespenstes". Er "ist eine ganz materielle, empirisch nachweisbare Tat, eine Tat, zu der jedes Individuum, wie es geht und steht, isst und trinkt und sich kleidet, den Beweis liefert" (ebd., 46).

Wie gesagt: Jedes menschliche Individuum liefert den Beweis, auch wenn es längst nicht mehr lebt. Jedes Individuum, auch wenn es nicht vor Ort ist, an einem unbekannten, weit entfernten Ort lebt und arbeitet. Und wie jedes Individuum für den jetzigen Zustand wesentlich war, ist es auch wesentlich, um ihn aufzuheben. In den Worten Bretons: "Unsere Chance ist über die Welt hin verstreut, wer weiß wo, allenthalben nur darauf wartend, sich zur Blüte zu entfalten, doch knitterig wie der Mohn in seiner Knospe". Doch Vorsicht! Wir verspielen unsere Chance, wenn wir "allein nach ihr auf die Suche" gehen (Breton, 40). Wir müssen sie in Begleitung suchen. "Die Sympathie, die zwischen zwei, zwischen mehreren Menschen besteht, scheint wohl geeignet, sie Lösungen näherzubringen, die zu erreichen sie getrennt vergebens hoffen würden" (ebd., 39).

"Sympathie" nennt Breton das Programm, das die "Bekannten, Erreichbaren" miteinander verbinden muss, um Lösungen zu erreichen, "die zu erreichen sie getrennt vergebens hoffen würden". Wir haben "Freundschaft" gesagt - und darauf hingewiesen, dass sie wenig hilft, wenn die miteinander Befreundeten sich nur in der Empfindung anerkennen, sie bei dem Abstraktum der Mensch stehen bleiben, nicht zu den wirklich existierenden, tätigen Menschen vordringen, wozu die Kritik ihrer Lebensverhältnisse, die ihres falschen Bewusstseins eingeschlossen, nicht fehlen darf. So gesehen, kommt Freundschaft die Aufgabe zu, sich darum zu kümmern, dass der Akt der Liebe, der ein "Kraftakt von doppelter Kraft" ist, dem "nicht bloß die Fortdauer der Gattungen in der Körperwelt anvertraut" ist, sondern aus dem "auch die reinste und geistigste Empfindung" hervorgeht (von Humboldt, 274), auch überdacht wird, nicht nur im geistigen, sondern auch im materiellen Sinne, er eine Wohnung findet, die schwer enttäuscht wäre, wenn ihre Bewohner sich weigerten, ihr miteinander belastetes Leben auf sie zu übertragen und Kräfte in ihr anzusprechen, die ihren "beengten und beengenden gesellschaftlichen Zustand über sich hin aus treiben zu einem menschenwürdigen hin" (Adorno).


Literatur

Baudelaire, Charles-Pierre: Sämtliche Werke / Briefe in acht Bänden, München Wien 1975 ff.
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften (12 Bände), Ffm. 1980.
Bloch, Ernst: Prinzip Hoffnung I. Ffm. 1959.
Brecht, Berthold: Geschichten von Herrn Keuner, Ffm. 1971.
Breton, André: L'Amour fou, Ffm. 1989.
Montaigne, Michel de: Von der Freundschaft und andere Essais, Ffm. 2008.
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, München 1954-65.
Poromka, Stephan: Hypertext, München 2001.
Varela, Francisco J.: Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik, Ffm. 1990.
Varela, Francisco J. / Maturana, Umberto: Der Baum der Erkenntnis, München 1984.
von Humboldt, Wilhelm: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur in: Bd.1 der Werke in fünf Bänden, Darmstadt 2002.
Whitehead, Alfred North: Wissenschaft und moderne Welt, Ffm. 1984.

Raute

2000 Zeichen abwärts

Dialektik der Freundschaft

Der Kapitalismus macht keine Gefangenen. Er lässt "kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'" (Kommunistisches Manifest). Das Gegenüber zählt nur, solange es sich im Tausch als ebenbürtig erweist. Taugt es nicht dafür, kann es mir gleichgültig sein, was auch immer mit ihm passiert. Freundschaft ist die Aufhebung dieser patriarchal-kapitalistischen Anonymität, im Positiven wie im Negativen.

Im Negativen, weil Freundschaft als strukturell männerbündisches Prinzip immer schon Teil der gebrochenen Totalität eben dieser patriarchalen Vergesellschaftung ist und ihre Vollendung findet in der Kameradschaft des Schützengrabens: Während der Mann in den Krieg zieht, um Frau und Kind zu schützen und sich so im täglichen Kampf aller gegen alle zu bewähren hat, braucht er die Freundschaft als Ausweich- und Rückzugsort. Sie stellt die andere Seite der Männlichkeit dar, die notwendige Voraussetzung, um den Anforderungen der gesellschaftlichen Totalität an die Einzelnen zu trotzen und diese gleichsam zwar nicht überwinden, dafür aber ertragen zu können.

Im Positiven, weil die solidarisch-kooperative Überwindung der Vereinzelung, die Anerkennung von anderen als Individuum ohne Aberkennung all dessen, was an ihnen nicht in unseren eigenen Ansprüchen und Vorstellungen aufgeht, eine Grundbedingung für jedwedes individual-kooperatives Miteinander ist. Das Gegenüber ernst zu nehmen, ihm auf gleicher Augenhöhe zu begegnen ohne im selben Atemzug alles auf- und gegenzurechnen - wie sollte eine Überwindung der Warenmonade anders praktizierbar sein?

Freundschaft gelangt auf diese Weise zu einem Doppelcharakter, sie hat das Potential zur Aufhebung, steht aber in der ständigen Gefahr, als bloße Abspaltung zu enden. Noch in den reflektiertesten politischen Zusammenhängen schlägt sie von der Befreiung in die Unterdrückung um, sobald die Dialektik den Beteiligten nicht mehr bewusst ist.

J.B.

Raute

Rezension

Michèle Bernstein: All The King's Horses
Semiotext(e) 2008, 128 pages, £ 9.95

The book everyone interested in the Situationists has heard about, but no one has actually read, is finally available in English. Like most parts of Situationist history the origin of this book is hidden in myth and selfhistorification. The story goes that it was solely written to fill the SI's war chest. Bernstein's concern about practising a dead art was resolved by Debord who declared it an act of detournement.

And indeed, it's a slippery rewrite of Laclos' "Dangerous Liaisons" that recounts episodes from the lives of Geneviève and Gilles, a young bohemian couple that move in the intellectual and avant-garde circles of the late 50ies. Although the names have been changed, it's clear that it's Debord playing the role of the cold libertine with Bernstein as his cohort. "We're all characters in a novel, haven't you noticed? You and I speak in dry little sentences. There's even something unfinished about us."

They engage in games of seduction, joyful games that are fuelled by a conception of love that is open, playful and influenced by the idea of the potlatch so vital to the early SI.

The Book itself isn't groundbreaking. It's just a Situationist trash novel - charming, frivolous and humorous. But it's an inspiring read, even if you are not familiar with Situationist history. And if you can decipher all the hidden hints it becomes absolutely amazing.

Adornits beware: This is also a book about revolutionaries love of real life.

R.T.

It seems that you can't mention this book without quoting it's most famous dialog. So will find it packed in a comic strip (again) somewhere in this issue.

Raute

Vakanzen der Freundschaft

Wegzeichen wider die Unfreundlichkeiten des Lebens

von Franz Schandl

"O meine Freunde, Freunde gibt es nicht!"
(Aristoteles)

Freund und Freundin kann heute schon alles Mögliche heißen. Sie kommen und gehen, vergehen und verlaufen sich. Hier wird nun eine aufgeladene Bestimmung vorgenommen, die auch in emanzipatorischer Absicht tauglich sein soll.


I.

Man trifft sich in der Freundschaft nicht der Sache wegen, sondern ob des oder der anderen. Was sich ausdrückt und ausführt, ist die direkte Beziehung. Freundschaft meint Akzeptanz ohne Umweg. Freundschaft gibt es nur als gegenseitige Anerkennung jener.

Wir definieren Freundschaft hier als eine andauernde und wechselseitige Hingezogenheit, die keine Gründe kennt, die außerhalb der Unmittelbarkeit dieses spezifischen Verhältnisses liegen. Man mag noch so viele Argumente anführen, die für diese oder jene Freundschaft sprechen, das ihr Wesentliche lässt sich nicht benennen. Es ist keine analytische Größe.

Ohne Affekte ist Freundschaft nicht möglich. Freundschaft beginnt mit der Erwiderung der Sympathien. Indes geht Freundschaft in ihrer besonderen Weise der Verbindlichkeit weit über diese Gemütsbewegungen hinaus, sie ist vielmehr bewusst hergestellte Effizienz. Freundschaft baut auf spontaner wie gewachsener Neigung, die sich praktizieren lässt. Freunde haben ist etwas Praktisches, theoretisch geht das nicht. Freundschaft hat somit vornehmlich mit Erfahrung und Erlebnis zu tun, ist von Genossenschaft und Partnerschaft zu trennen.

Freundschaft setzt Bekanntschaft voraus. Bekanntschaft ist jedoch meist etwas Zufälliges: Man besucht eine Schule, arbeitet in diesem oder jenem Büro, publiziert in einem Medium, besucht Kundschaften, geht in dieselben Lokale, benützt öffentliche Verkehrsmittel oder Bäder. Freundschaft erbaut sich im Gegensatz zur Bekanntschaft oder Verwandtschaft auf etwas Bewusstem und Aktivem. Bekannte und Verwandte kann man sich kaum aussuchen, Freunde schon. Freundschaften sind Bekanntschaften, denen Bekenntnisse und Versprechen folgen.


II.

Freundschaft ist Intimität, auch wenn diese sich verbal äußert und nicht körperlich betätigt. Oder wie Montaigne sagt: "Bei der Freundschaft hingegen umfasst uns eine alles durchdringende, aber gleichmäßige und wohlige Wärme, beständig und mild, ganz Innigkeit und stiller Glanz; nichts Beißendes ist in ihr, nichts, das uns verzehrte." (Michel de Montaigne, Essais (1580) Frankfurt am Main 1998, S. 100.)

Indes hat Freundschaft auch einen sexuellen Gehalt, doch im Prinzip keinen aktiven, sondern einen latenten. Der Eros ist nicht körperlich, sieht man von kleineren amikalen Berührungen ab. Das Sexuelle ist in Freundschaften aber so offensichtlich, wie es übergangen wird.

Freundschaft ist in den meisten Fällen gleichgeschlechtlich orientiert. Zweifellos handelt es sich um gedämpfte, aber dünstende Homoerotik. Eine Freundin wie einen Freund zu haben, scheint für einen heterosexuellen Mann noch immer nicht leicht zu sein. Aber auch umgekehrt trifft das zu. Ganz bewusst steht daher hier abseits aller paritätischen Floskeln auch stets "man". Diese Betrachtungen sind eindeutig maskulin und nicht geschlechtsneutral codiert. Was wiederum kein Bekenntnis ist, sondern lediglich eine Feststellung.

Nach der Liebe ist die Freundschaft wohl die innigste Beziehung, zu der wir fähig sind. Das Vertrauen in der Freundschaft bedeutet auch die tendenzielle Aufhebung individueller Geheimnisse. Wo sonst außer in der Diskretion der Freundschaft sollten jene ihren Platz finden? Natürlich muss es viel Vertrauen geben, wie sonst könnte man Freundschaft ernst nehmen? Sie hat schon was von der reinen, also unbedingten Verlässlichkeit, etwas, das freilich das Konkurrenzsubjekt nur sehr bedingt aufzubringen versteht.


III.

Freundschaft ist nur möglich, wenn man Zeit und Raum miteinander teilen kann. Sie braucht, zumindest zeitweilig, räumliche Nähe, um als sinnliche Gewissheit bestehen zu können. Vor allem auch das Vieraugengespräch. Physische Anwesenheit ist nötig, um Freundschaft zu etablieren, und auch erforderlich, will Freundschaft sich erhalten. Freundschaften können letztlich nicht vom Sinnlichen abstrahieren.

Gegenseitige Aufmerksamkeit ist ein zentrales Kriterium. Da Aufmerksamkeit begrenzt ist, sind Freundschaften von jeher in der Zahl begrenzt. Freundschaft erfordert Zeit, viel Zeit. Man kann daher nicht viele Freunde haben, sondern nur wenige, bestenfalls einige. Gerade in Zeiten der Zeitnot ist das Hüten und Halten der Freundschaft alles andere als leicht.

Neue Technologien multiplizieren keineswegs unsere Freundschaften. Auch via Internet kann man nicht viele Freunde haben. Das gilt selbst für jene, die aufgrund ihrer unmittelbaren Lebenslage von vielen Verpflichtungen, insbesondere der Lohnarbeit, befreit sind. Vertraue keinem, der zu viele "Freunde" hat.


IV.

Ist der Beginn der Freundschaft wechselseitig, so ist das Ende meist einseitig. Das Aus kann recht unterschiedlich erfolgen: abrupt durch Tod oder Bruch, allmählich durch das Auslaufen. Einen wirklichen Akt setzt nur die mittlere Variante, allerdings sagt das noch nichts über die Zeit nach dem Ende: ob die Trennung bloß Rückzug und Distanz bedeutet, oder aber in Feindschaft und Hass übergeht. Das hängt von den jeweiligen Personen und Situationen ab. Das Auslaufen hingegen ist meist die Konsequenz einseitiger Entscheidungen (z.B. eine Ortsänderung), die mit Freundschaft unmittelbar nichts zu tun haben, sie aber in Folge entscheidend tangieren.


V.

Man ist nicht Freund, weil man etwas erhält, sondern weil man jemanden mag. Dieses Mögen ist ein Vermögen ohne Kalkül, es ist einfach da. Vielleicht kann man es begründen, aber warum sollte man? Es ist eine gegenseitige Anerkennung, die Zuversicht, Vertrauen und Verlässlichkeit erwirkt. Freundschaft ist nicht nur leidlich, sie ist gedeihlich und bekömmlich. Zumindest in ihren besten Momenten.

Freundschaft ist von beidseitigem Nutzen zu unterscheiden, auch wenn dieser jener dienen mag und ihr förderlich ist. Freundschaft ist nicht das Austauschen von Gefälligkeiten. Das ist nicht ihr Kern. Kennzeichnend für Freundschaften sind keineswegs die "gemeinsamen Interessen". Die wird es geben, aber ausschlaggebend können sie nicht sein. Sind sie es, dann steht diese "Freundschaft" auf fremden und tönernen Füßen.

Es ist vielmehr ein Problem, dass gegenwärtig viele solcher "Freundschaften" bestehen, die sich auf und um gegenseitige Nützlichkeiten konzentrieren. Im Prinzip verdienen sie diese Bezeichnung nicht, sind bloß ein System institutionalisierter Freundlichkeiten, nicht mehr als funktionelle und funktionalisierte Beziehungen.

Allzu oft werden (scheinbar) solide Zweckgemeinschaften mit Freundschaften verwechselt. Das offenbart sich dann, wenn mit dem gemeinsamen Zweck auch die "Freundschaft" über Bord geht, als hätte es für sie nie eine Grundlage gegeben. So hinterlassen nicht wenige Brüche einen fahlen Nachgeschmack. Zu Recht fragen sich viele, was denn das gewesen ist. Nicht weniges baut auf falschen Voraussetzungen.

Freundschaften, die sich aufgrund einer gemeinsamen Sache entwickeln, lösen sich meist auch wieder auf, wenn dieser Bezug nicht mehr gegeben ist. Man steht dann schneller vor den Trümmern, als man meint. Wirkliche Freundschaft muss also die direkte Bezogenheit kennen, soll aus der Differenz um den Gegenstand nicht auch die Trennung oder gar das Zerwürfnis und die Feindschaft folgen. Nicht alle Differenzen können überbrückt werden, doch wenn es Brücken gibt, dann gehören Freundschaften zu deren festesten.


VI.

Nicht nur das Feindbild ist zumeist falsch, auch das Freundbild ist oftmals unzureichend. Es ist eine seltsame Imagination und bespiegelt das, was man zu haben meint und nicht das, was man hat. Eins schreit dann Verrat und Betrug und drückt damit doch nur Verständnislosigkeit, ja Hilflosigkeit aus. Enttäuschung sagt freilich aus, dass die Projektion nicht richtig gewesen ist. Was folgt, ist meist die emotionale Eskalation.

Gelegentlich äußern sich aufgekündigte Freundschaften in gezielter übler Nachrede und - wir existieren ja auch in einem Segment kritischer Theorie - in Verfolgungsschriften auf geradezu latrinischem Niveau, mögen da die Argumente noch so hochtrabend formuliert und als Inhalte inszeniert werden. Hier tarnen sich psychisches Elend und mentale Unbeholfenheit als theoretische Souveränität.

Da mag es schon vorkommen, dass zweifellos gescheite Köpfe in einem kurzen Pamphlet einige dutzende Male den Unbegriff "Arschloch" für ehemalige Weggefährten - waren das Freunde? - verwenden und dann auch noch meinen, sie hätten mehr gesagt als über sich selbst. Derlei Aggressivität, Ausfluss von Biederkeit wie Verbitterung, lässt einen nur noch Trauer und Mitleid empfinden. Indes sollte der Ärger keinen Hass erzeugen.

Nicht jede Feindschaft, die man sich zuzieht, muss man auch noch unbedingt ausüben. Ungeliebten Unfreunden ist die Feindschaft zu verweigern. Nicht nur, weil das Energie vergeudet, sondern weil nur so dieses destruktive Realszenario überwunden werden kann.

Anders als der Freund setzt der Feind persönliche Bekanntschaft nicht voraus. Gerücht und Ressentiment reichen vielfach, um die Feindschaft in Gang zu setzen. Feinde sind überhaupt leichter zu pflegen als Freunde, da jene keiner Nähe bedürfen. Im schroffen Gegensatz zu Freundschaften sind Feindschaften auch einseitig möglich.


VII.

"In der Freundschaft hingegen gibt es kein Geschäft und keinen Handel, sie beschäftigt sich ausschließlich mit sich selbst", schreibt Montaigne (ebenda). Freundschaften sind daher ein Gut, aber sie haben an sich keinen Wert, auch wenn sie einen ausdrücken, d.h. materialisieren und idealisieren können. Freundschaft hat nichts mit Berechnung zu tun, sie meint nicht Freunderlwirtschaft. Freundschaften sind partiell außerhalb der Marktbeziehungen zu verorten. Wären sie nur eine Ausgeburt derselben, könnten wir sie von diversen Partnerschaften gar nicht erst unterscheiden.

Marktteilnehmer mögen freundlich sein, freundschaftlich sind sie deswegen nicht. Ihre Freundlichkeit ist nicht Ausdruck von Freundschaft, sondern Reklame für den Zweck des Kaufs. Sie drücken sich nicht aus, sie bewerben sich. In ihrem struktiven Verhalten sind sich Marktteilnehmer Feinde.

Das System der Konkurrenz setzt auf die Organisation der Feindseligkeit. Dort, wo Gegnerschaft erforderlich ist, gilt es sie auch zu fördern und zu entwickeln. Das ist freilich ohne eine mentale Grundhaltung, die dem entspricht, nicht möglich. Die Tendenz zur Feindseligkeit ergibt sich aus den Zwängen der marktwirtschaftlichen Kommunikation. Schließlich ist diese kein Spiel, sondern ein Kampf um gesellschaftliche Möglichkeiten.

Freundschaft ist nun etwas, das sich der Konkurrenz entziehen möchte, ja sich gar nicht so selten offensiv widersetzt. Sie mag damit immer wieder auflaufen und scheitern, aber sie kreiert sich stets aufs Neue. Keine Resistenz kann ohne Freundschaften bestehen. Freundschaft bedeutet, man schenkt sich her und gibt sich hin, aber: man tauscht sich nicht aus!


VIII.

Dass beim Geld die Freundschaft aufhört, sollte man einfach dahingehend interpretieren, dass jenseits des Geldes Freundschaft erst richtig aufblühen kann, somit umgekehrt Freundschaften als Brennstäbe der Emanzipation ein entscheidendes Mittel wären, die Welt des Geschäfts restlos zu überwinden. Ganz profan sollte schon jetzt die Grundfrage "Geld oder Freundschaft?", gestellt werden. In aller Freundschaft: Wie halten wir es mit uns?


IX.

Bereits heute versteht Freundschaft die Vakanzen des Lebens in mancher Hinsicht aufzufüllen, und es ist zu vermuten, dass in ihr, wird sie von den falschen Projektionen und Belastungen befreit, noch mehr Potenzial stecken könnte. Freundschaft als Kern der Kommune, das wäre durchaus eine Perspektive. Die freie Assoziation könnte man sich durchaus als riesiges Netz vieler Freundschaften vorstellen. Auf dass die Menschen den Menschen Menschen werden.


X.

Postskriptum: Ob ich selbst Freunde habe? Mein Kopf sagt mir, dass ich mir da ja nicht sicher sein soll. Aber mein Gefühl sagt mir, dass sich einige finden werden.

Raute

Macht Macht Machtlos

Freundschaft und Macht - Plädoyer für die Auflösung einer Mesalliance

von Severin Heilmann

Es ließe sich denken, dass jeder gesellschaftliche Körper seinen Zusammenhang über ein "Bündel von Machtbeziehungen" (Foucault) konstituiert. Sieht man sich in der Welt, in der wir leben, um, so erscheint dies zutreffend. Die Frage nach dem Warum erübrigt sich, möchte man an diese Verhältnisse als eine unverrückbare anthropologische Konstante glauben. Das, was ist, ist eben so. Man könnte den Zustand aber auch als bloß einen möglichen ansehen und nicht als conditio humana - dann sieht die Sache freilich anders aus: Es ist jetzt so, das schon; man wird dann aber weiterfragen: Wollen wir das auch so?

Im nun Folgenden soll ein bescheidener Versuch unternommen sein, die Implikationen unserer permanenten gegenseitigen Machtausübung auf unseren Umgang miteinander genauer in den Blick zu nehmen. Hieraus ergibt sich zu guter Letzt wie von selbst der Bezug zum gestellten Thema, nämlich der Freundschaft.

Doch beginnen wir mit dem Begriffsfeld der Macht: Als Macht möchte ich innerhalb dieses Textes im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs jene Fähigkeit benennen, mittels derer eigene Interessen gegen ein gewisses Widerstreben durchgesetzt werden können. Eigene Interessen entspringen zuvorderst aber unseren Bedürfnissen, sodass hier das Streben nach Macht das Bedürfnis par excellence sein muss.

Daraus ergibt sich eine bestimmte Subjekt-Objekt-Konstellation: Das Macht ausübende Subjekt erfährt eine scheinbare Unabhängigkeit, da durch die Bemächtigung die bedürftige Angewiesenheit scheinbar verschwindet, die die Befriedigung seines Bedürfnisses eigentlich bedingt. Aber wie gesagt: Seine Unabhängigkeit ist nur eine scheinbare. Recht besehen befindet das Subjekt der Macht sich in einer verblüffenden Abhängigkeit, die die des Objekts noch qualitativ übertrifft. Dieses ist zwar dem Subjekt unterworfen, jedoch nicht von ihm abhängig in der Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse.

Es lässt sich somit zweierlei sagen: Sowohl das Subjekt als auch das Objekt sind prinzipiell der Macht ihrer Bedürfnisse unterworfen. Das Subjekt ist zusätzlich noch dem Objekt ausgeliefert und findet auf diese überraschende Weise zu seiner eigenen zweiten Begriffsherkunft (lat.: subiectus = unterworfen).

Sicher, diese Systematik der Abhängigkeitsverhältnisse ist theoretisch und findet sich praktisch kaum in dieser expliziten Ausformung. Jedes Subjekt ist auch Objekt, ist beides oft gleichzeitig, ja manchmal beides ohne jeden äußeren Bezug, gespalten ganz und gar in sich selbst. Das gilt vice versa natürlich auch für das Objekt. Überdies sind die Verhältnisse nicht stabil, sondern beweglich, verschieben sich ständig.


Bäcker gegen Schneider, Schneider gegen Bäcker

Die Geschichte vom hungrigen Schneider und fröstelndem Bäcker, gehaltlos und abgegriffen wie sie ist, erweist uns hier immerhin den Dienst, den beschriebenen Zusammenhang mühelos ins Bild zu setzen: Der Schneider hat Hunger. Er entscheidet, sich der Macht seines Bedürfnisses zu beugen und den Bäcker aufzusuchen. Der Bäcker, der klassischerweise sonst friert, tut dies diesmal nicht oder treffender: Er tut dies nicht so sehr, dass er auf den offensichtlichen Vorteil, der ihm aus den ungleichen Bedürfnislagen erwächst, leichtfertig verzichtete. Flugs befindet er sich also in der Machtposition des Subjekts und damit in der Lage, dem hungrigen Schneider als seinem Objekt einiges abzupressen. Solange der Schneider Hunger bekommt und dabei auf die Fertigkeiten des Bäckers angewiesen bleibt, wird sich am Abhängigkeitsverhältnis nichts ändern. Beide bleiben der eigenen Bedürftigkeit erlegen.

Beide, denn selbstverständlich ist auch der Bäcker bedürftig, da er ja sonst gar kein solches Machtverhältnis zum Schneider eingegangen wäre - er würde ihm entweder bedingungslos geben oder gar nicht. Doch sobald der Schneider die Fähigkeit erlangt, für die Stillung seines Hungers selbst Sorge zu tragen, wird die doppelte Abhängigkeit des Bäckers offenbar: Weder kann er nun den Schneider dazu nötigen, ihm sein Ankleidungsbedürfnis zu befriedigen noch besitzt er die Fähigkeiten, dies selbst zu tun. Freilich könnte nun der Bäcker seinerseits sich die Schneiderskunst aneignen. Doch, sagen wir, der Bäcker ist eben nicht weise, sondern schlau und aufgrund der dumpfen Ahnung seiner eigenen doppelten Abhängigkeit trachtet er den Schneider gleichfalls in seiner Abhängigkeit zu halten. Sei es dadurch, dass es ihm gelingt, ihr Tausch- oder Erpressungsverhältnis als gerecht, gottgewollt oder als natürlich in das sozialisatorische Strombett der Gewöhnung überzuführen, sei es durch die Moderation der Erpressung. Er könnte dem Schneider auch über die Bedürfnisschiene kommen, indem es ihm etwa gelingt, den Schneider von der energetisierenden Wirkung irgendwelcher Vitalkornbrote zu überzeugen oder ähnliches. Er könnte auch möglichst unbemerkt die Kontrolle über die Ressourcen für die aufkeimende Subsistenz des Schneiders zu übernehmen trachten, um ihn auf diese Art zu unterbuttern. In jedem Falle aber kann dies nur gelingen, wenn die scheinbare Macht des Bäckers nie als Macht in Erscheinung tritt und schon gar nicht als die Ohnmacht, die sie eigentlich ist.

Zusätzlich spielt hier noch ein weiteres Motiv hinein, das eigentlich gründlichere Betrachtung verdient: Angst. Für beide gilt nämlich prinzipielles, gegenseitiges Misstrauen und droht Verlust, ja potentielle Auslöschung. Der eine lebt in steter Angst, seine Machtposition zu verspielen und sich selbst als ohnmächtig erkennen zu müssen oder als solches erkannt zu werden und infolgedessen den durch Bemächtigung erlangten Nutzen einzubüßen, während der andere die eigene Unterwerfung ja nur hinnimmt, weil er ansonsten eine eklatante Verschlimmerung seiner Verhältnisse zu befürchten hätte. Ihrem Wesen nach erfordert eine solche Beziehung wechselweise Angst und Verängstigung. Dass uns in unseren Lebensbezügen dieser Charakter nicht unmittelbar entgegenschlägt, ist der gesteigerten Eleganz unseres Machtinstrumentariums geschuldet und über Sozialisierung, Konditionierung und Gewöhnung an die Rechtsförmigkeit von Herrschaftsverhältnissen minimal-invasiv zu implantieren. Macht, die als solche noch erkannt werden kann, ist gar nicht effizient.


Zwischenbilanz

Aus dem ersten Teil unserer Untersuchung ließe sich folgendes extrahieren: Machtausübung ist Ausdruck bedürftiger Ohnmächtigkeit. Hingegen bedeutet Machtlosigkeit im Bezug zum anderen in hohem Maß Eigenständigkeit und Daseinsmächtigkeit. Unter diesem Blickwinkel wandelt sich Macht zu Ohnmacht, Ohnmacht zu Macht.

Bedingung für ein Machtverhältnis ist latente oder tatsächliche Abhängigkeit und zwar beider, des Subjekts wie des Objekts. Eine solche Abhängigkeit besteht, sofern die Bedürfnislage die eigenen Fähigkeiten für deren Abhilfe dauerhaft überfordert. Umgekehrt verspricht die Reduktion der Bedürfnisse oder aber die Entwicklung geeigneter Fähigkeiten tendenzielle Unabhängigkeit.

Eine weitere, nicht unwesentliche und zudem offensichtliche Konsequenz der beschriebenen Zusammenhänge bringt uns indirekt dem näher, was, in scharfem Kontrast zum Machtverhältnis, als freundschaftliches Verhältnis angesehen werden könnte: Eine Eigentümlichkeit der Macht besteht nämlich darin, dass die ihr unterworfenen Objekte dem Subjekt stets nur als Mittel zum Zweck gelten können. Die Selbstzweckhaftigkeit, wie sie für die freundschaftliche Beziehung von zentraler Bedeutung ist, schließt Machtausübung deshalb per definitionem und kategorisch aus. Ebenso die Ebenbürtigkeit, wie sie die Freundschaft aus gutem Grund für sich in Anspruch nimmt.

Muss man nun angesichts seiner Verhältnisse wie eingangs konstatieren, dass ein Bündel von Machtbeziehungen die eigene Lebenswelt als gesellschaftliche Matrix durchzieht und dabei durchwirkt, so ist das zunächst weder gut noch schlecht. Die Frage lautet anders: Will ich das?

Nun, sofern man den Fundstücken der bisherigen Schürfung etwas abgewinnen kann, ist jedenfalls klar, dass freundschaftliches Verhalten in freundschaftsfeindlichen Verhältnissen, wie sie jene der Macht konstituieren, nicht gelingen kann. Machtlosigkeit in Bezug auf meine Mitwelt ist also die unhintergehbare, minimale Bedingung des freundschaftlichen Umgangs mit ihr. Wenn wir das wirklich wollen, ist der zweite Teil unserer Untersuchung bloß eine Fingerübung: Denn wenn Macht also die Subjekt-Objekt-Fragmentierung voraus- und gleichzeitig umsetzt, so kann Freundschaft sich nur jenseits dieser Realität ungehindert entfalten. Und weil diese Gespaltenheit der Menschen untereinander wie in sich selbst lediglich das Resultat einer Konstruktion ist, eines spezifischen Menschenbildes, könnte man sich daran machen, sich neu zu erfinden, unser Selbstbild unter jeglicher Missachtung einer fixen Vorstellung umzuarbeiten. Möglicherweise kommen wir so eher an jene Wirklichkeit heran, wie sie uns aus den Neurowissenschaften, der Umweltbiologie oder am eindringlichsten aus der Quantenmechanik schon seit Jahrzehnten entgegenblickt und uns Verbundenheit als Grundbedingung unserer Existenz erkennen lässt. Die Subjekt-Objekt-Trennung wird sich allein schon aufgrund dieser paradigmatisch neuen Denkweise schwerlich nur halten können. Wie also lässt sich dieser Dualismus überwinden?

Lassen wir die theoretische Subjekt-Objekt-Gespaltenheit zunächst bestehen und versuchen den Vektoren der Machteinwirkung zu folgen. Von Bedürfnissen war ja schon mehrmals die Rede und sie haben sich als "Einfallstor der Macht" entpuppt. Dieses Feld hat Marianne Gronemeyer bereits in überaus geistreicher Weise beforscht, weswegen ich mich den Umständen zuwenden möchte, durch welche Bedürfnisse und Machtinteressen zueinander finden. Das führt vorerst zurück auf bekanntes Terrain: zur Wertkritik fundamentalster Art gewissermaßen.


Wert und Bewertung

Als ideales Vehikel für Subtilität und Eleganz in Sachen Machtausübung dürfen Wertesysteme aller Art angesehen werden, wobei diese ihrerseits auf moralische Kategorien rekurrieren. Das Dilemma der Moral aber ist die grundsätzliche Unverträglichkeit dessen, was sie ist, mit dem, was sie will: Sie will den Menschen zu einem guten machen und unterstellt ihm mithin, dass er es noch nicht ist oder wenigstens noch nicht hinreichend. Gleichzeitig ist das geforderte Verhalten nur dann akzeptabel, wenn es aus freien Stücken erfolgt. Um in die Freiheit nötigenfalls gezwungen werden zu können, braucht es einen selbstregulativen gesellschaftlichen Konditionierungsapparat, der gemäß herrschender Wertordnung belohnt und bestraft und so das Kunststück der Transmutation vom Sollen ins Wollen vollführt. Hier nimmt die schicksalhafte Gespaltenheit des eigentlich als Individuum gedachten Menschen seinen Ausgang. Als Agent und zugleich Delinquent des Apparates, wenn auch letzteres nur in latenter Form, steht er seinesgleichen gegenüber.

An ihm soll nachfolgend versucht werden, die Wirkweise der Bewertung als Funktion der Werthaltung offenzulegen, um dann schlussendlich das freizulegen, was vom zivilisatorischen Abraum so gründlich verschüttet liegt.

Es sind vor allem die so genannten Tugenden, die das Skelett unseres Wertedenkens ausbilden: Sie zielen allesamt auf Gespaltenheit ab und machen diese, durch Vermittlung an spezifische Bedürfnisse, den Machtflüssen von außerhalb nutzbar.

Verantwortung ist ein dankbarer Kandidat für eine exemplarische Zerlegung. Verantwortung genießt allenthalben großes Ansehen, was sich auch im Sprachgebrauch widerspiegelt: Verantwortungsvoll oder -bewußt, Verantwortungsgefühl, verantwortliches Handeln usf. Wir ärgern uns, wenn Politiker ihrer Verantwortung nicht nachkommen, wenn ein Aufsichtsratspräsident verantwortungslos oder unverantwortlich handelt. Warum? Weil der sanfte Zwang des drohenden Vertrauensentzugs, der die Verantwortlichen doch an ihre Verantwortungspflicht erinnern sollte und unser kleines Dankeschön für die Externalisierung unserer Verantwortung war, wieder einmal ins Leere zielt? Oder ist es deswegen, weil wir als treue Agenten der Wertordnung diese oder jene Übertretung der Malefikanten abzustrafen trachten, da ansonsten unsere wertegebundene Identität selbst Schaden leidet, mitnichten aber dazu in der Lage sind?

Oder was heißt es, wenn etwa ein Pilot die Verantwortung für das Wohl und Wehe seiner Passagiere übernimmt? Fühlte ich mich dem Piloten freundschaftlich verbunden, könnte ich mich nach seiner Befindlichkeit erkundigen; auch, ob ihm momentan nach Fliegen zumute sei usw. Sofern dem nichts entgegensteht, könnte ich davon ausgehen, dass der Pilot intrinsisch motiviert ist zu fliegen. Im Moment jedenfalls. Ganz ohne irgendeine Verantwortung.

Völlig anders die Sichtweise des Subjekts: Es ist hier die Pflicht des Piloten, mich unversehrt an den Ort meiner Bestimmung zu befördern. Dabei hat er seiner Verantwortung für mich Rechnung zu tragen. In der Regel tut dies das Pilot-Objekt auch, weil es andernfalls unangenehme Konsequenzen zu fürchten hat, sollte es später zur Verantwortung gezogen (!) werden. Im Falle eines Absturzes erweist sich die Verantwortung des Piloten aber als reine Schimäre.

In ähnlicher Weise könnte man andere Etikettentugenden wie Verlässlichkeit, Höflichkeit oder Treue auf ihre freundschaftshinderlichen Momente hin abprüfen. Aber auch Dankbarkeit und Anerkennung weisen unter bestimmten Gegebenheiten bedenkliche Tendenzen zur Instrumentalisierung auf. Entlarvend sind hier Wendungen wie "jemandem Dank schulden", "zu Dank verpflichtet sein" oder "Anerkennung zollen". Der intrinsisch beflügelte Pilot schert sich nicht um Dank, entsprießt ihm doch aus seinem Tun Erfüllung und Zufriedenheit. Der geschuldete Dank verweist auf ein Tauschverhältnis und geht somit implizit vom prinzipiellen Widerstreben des Bedankten gegen die erbrachte Leistung aus. Möglicherweise weil wir uns als gespaltene Subjekte selbst kaum anerkennen können, lechzen wir nach Anerkennung von anderen. In dieser Hinsicht ist Dank und Anerkennung lediglich eine subtile Form der operanten Konditionierung mittels Belohnung.

Man könnte hier in beliebiger Weise - von der Ehre übers Mitleid bis hin zum Vertrauen - fortsetzen und folgende Einsicht gewinnen: So untauglich und zersetzend diese Wertvermittlung für ein wahrhaftiges, selbstzweckhaftes und ausschließlich aufeinander als Individuen bezogenes amikales Verhältnis auch ist, sobald ich sie radikal auf mich selbst beziehe, tappe ich nicht in die Wert-Falle, in der ich unweigerlich Mittel für die Zwecke anderer werde oder mich genötigt sehe, andere für meinen Zweck einzuspannen.

Selbstverantwortung, Selbstvertrauen, Selbsttreue, Selbstsicherheit, Selbstverständnis, Selbstkritik, Selbstermächtigung, Selbstachtung, Selbstgenügsamkeit und dergleichen sind das Unterpfand für die Wahrung der Würde des anderen, seiner Unversehrtheit und zerbrechlichen Integrität. Erst dadurch sind die Bedingungen für jene freundschaftliche Gesinnung erfüllt, die vornehm genug ist, nicht objektbezogen zu sein und idealerweise die ganze Mitwelt mit einschließt - seien es nun Menschen, Tiere oder Pflanzen. Sie weiß um ihr Eingebundensein darin, und begegnet ihr ohne Bewertung, ohne Mittel-Zweck-Rationalität in "interesselosem Wohlgefallen" (Kant).

Raute

FreundInnen

Segensreiche Entleiblichung der Interaktion

von Dominika Meindl

Freunde sind das Salz in der Ursuppe des Lebens. Ohne meine Freunde wüsste ich nicht, dass meine Frisur an einen totgefahrenen Frosch gemahnt. Dass Tschäcki Lugners Neuer im Sternzeichen und vom Gesicht her Ratte ist. Dass meine Hose backbords auch schon mal loser gesessen hat. Dass weibliche Frettchen an Östrogenvergiftung verenden, wenn ihnen in der Brunftzeit kein Fretterich sexuell beiwohnt. Dass meine Kolumnen früher viel pfiffiger waren. Trotz dieser mit Dank kaum aufzuwiegenden informativen Liebesdienste in der Vergangenheit sehe ich meine Freunde immer weniger.

Die Nullerjahre haben uns nämlich eine eminente Entleiblichung der Freundschaft beschert. Trefflich lässt sich über Facebook spotten oder in Bedenken ob der Verlotterung echter, gelebter Intersubjektivität verfallen. Doch dank "FB" muss ich nicht mehr aus der Wohnung, wenn ich wissen will, was KathiKevinMarcelFranz gerade umtreibt. Da spare ich mir allerlei Unbill, vom falschen Outfit bis zum Tritt in Hundekot.

Eine wunderliche Wendung ist auch die Intimisierung der Einblicke. Unter vier Augen hätten mir meine gschamigen Kumpane nie gestanden, dass sie einen neuen Freund / den alten in den Wind geschossen / ihre lesbische Freundin geheiratet / das Geschlecht gewechselt haben. Auf Facebook habe ich tatsächlich all das und noch viel mehr erfahren. Im Internet können meine Freunde ihrem Bekenntnisdrang nachgeben, ohne durch gerunzelte Stirnen und Reaktionen wie "Aber der alte war doch noch ganz gut" behelligt zu werden.

Heute habe ich 279 digitale Freunde. Früher hatte ich analog so viele Menschen nicht einmal gekannt. Gut, dass die auch nicht mehr so oft außer Haus gehen. Man stelle sich vor, ich gäbe eine Geselligkeit und alle kämen. Da wäre der Kühlschrank ratzfatz leergefressen, Mägen knurrten, Prügeleien entstünden im Unterzucker.

Ein immenser Vorteil besteht auch im Hygienischen. Was man sich bei der realen Interaktion alles holen kann! Von bösen Blicken über ungeplante Schwangerschaften bis zum Schnupfenvirus. Da doch lieber nur ein Virus auf dem Computer. Von den Einsparungspotenzialen im kränkelnden Gesundheitsbereich ganz zu schweigen.

Nachteilig könnte freilich das Fehlen echter sozialer Kontrolle sein - einst die Kernkompetenz privater Human Ressources. Schon heute wirkt sich das amikale Ausbleiben negativ auf vieler Menschen Wohnungsreinlichkeit aus. Auf den Sitzgelegenheiten sedimentieren sich Zettel, Zeitungen und Zigarettenschachteln. In den Ecken tollen die Staubmäuse mit den Silberfischen umher. Unschön.

Damit die Kemenate sich nicht schleichend anhand von Kleingetier und Raviolidosen in eine Mülldeponie verwandelt, empfiehlt es sich dringend, ab und zu echte Menschen hereinzubitten. Es müssen ja nicht die engsten Freunde sein, denn das sind oft die strengsten. Man kann durchaus einmal den Rauchfangkehrer oder einen Zeugen Jehovas einlassen und an deren Miene ablesen, ob es sie schon ekelt. Gelingt die Übung, kann man einander später bestimmt auf Facebook noch näher kommen und sich über das Paarungsverhalten von Nagetieren austauschen.


*


Vorsicht, Zitat von Einstein

von Severin Heilmann

"Our separation from each other is an optical illusion of consciousness" - klingt vorderhand völlig verrückt, oder? Aber mir gefiel es. Zunächst wahrscheinlich deswegen, weil es mit einer Realität aufräumte, mit der ich im Grunde nie viel hab anfangen können: Jene des vereinzelten Einzelnen, des Subjekts, das sich, teils tragisch teils komisch, irgendwie durchfrettet - wenig attraktiv. Andererseits behagten mir die Institutionen des sozialisierenden Zwangskollektivismus, wie die Schule damals oder die Pfadfinder, auch nicht so recht und ich schätzte drum bereits als Kind die Zurückgezogenheit.

Der Vorzug vom Rückzug besteht zweifellos darin, sich in der perspektivlosen Unvereinbarkeit zwischen sozialem Autismus und Pseudoindividualismus auf der einen Seite und der Vereinnahmung als soziales, staatenbildendes Insekt auf der andern identitär nicht unnötig verschleißen zu müssen; wie ich überhaupt eine grundsätzliche Abneigung gegen alle Arten freudloser Anstrengungen empfinde, worunter auch die mühsame Herausbildung einer Identität mittels Identifikation fällt.

Ich hielt mich also zurück und wartete ab und beobachtete. Zwar weiß man dabei nie genau, wer man selbst ist, man bildet sich deshalb aber noch lang nicht ein, zu wissen, wer die andern sind. Das verunsichert zwar, andererseits eröffnet derartige Erwartungslosigkeit Möglichkeiten. Möglichkeiten etwa, sich selbst wie auch andere stets neu kennen zu lernen. Vielleicht hat Einstein ja das gemeint, dass die Wirklichkeit unseres Daseins nicht so sehr jener von stabilen Teilchen entspricht als viel eher den Möglichkeitsfunktionen interferierender Wellen, die per se nicht abgrenzbar, nicht abgrenzbar sind.

Der Unberechenbarkeit einer Möglichkeitswelt ist auch das sog. Chaospendel ausgesetzt, auf dessen Arm weitere Pendel gehängt sind und dessen man sich gern zur Veranschaulichung komplexer chaotischer Vorgänge, wie sie für alles Leben charakteristisch sind, bedient. Seine Bewegungen lassen sich nicht vorhersagen, sie sind nichtlinear. Es gerät nämlich zuweilen an einen Schwebepunkt, in dem die Gesetzmäßigkeiten der klassischen Mechanik außer Kraft treten. Die Richtung, in die es kippen wird, ist in diesem hochsensiblen und instabilen Zustand u. U. von einer einzigen zufälligen Quantenfluktuation abhängig - an dieser Stelle, in diesem entscheidenden Moment nimmt das Pendel den ganzen Kosmos wahr: Größte Instabilität als Bedingung höchster Sensibilität.

Hingegen schätzt man auf unserm Planeten scheint's Stabilität und Sicherheit - keine Freunde der Freiheit sind das. Schade, denn ebenso wie die statische Instabilität eines laufenden Beins durch Zuhilfenahme eines zweiten sich dynamisch stabilisieren lässt, könnten wir auch zueinander sein. Wir könnten uns in Freiheit verbunden fühlen, nicht in Abhängigkeiten gefangen.

Dann hören die andern auf, die Hölle zu sein, denn ich habe sie dazu gemacht anstatt in ihnen den potentiellen Freund zu sehen. Unsere Verschiedenheit akzeptieren und unsere je in uns angelegte Einzigartigkeit schätzen - da kann, glaub ich, nicht viel daneben gehen.

Die erste Begegnung mit einem, wie sich in der Folge herausstellen sollte, langjährigen Freund, hatte ich an einem ersten Schultag kurz nachdem ich beim Hinsetzen in die instabile und irreversible Phase überging und er mir versehentlich, wie er später beteuerte, den Sessel wegzog. Man kann also nie wissen, was alles möglich ist oder wird. Aus heutiger Sicht erscheint mir die geringste Feindseligkeit ihm gegenüber, die ich damals sicher empfand, völlig absurd. Wie absurd ist es also, überhaupt Feinde haben zu können? Schwer zu sagen.

Wenn unsere Trennung nur eine illusorische ist, dann zählt Freundschaft aber sicher zum Besten was uns diese scheinbare Trennung zu bieten hat und es ist allemal schöner, angenehmer und befruchtender sich unter Freunden zu wähnen als sich mit Scheingegnern herumzuschlagen.


*


"Ich verstehe mich mit dir gut"

von Maria Wölflingseder

Ich glaube nämlich, dass jedes Wesen, jedes Ding, jede Landschaft, genauso wie Feuer, Wasser und Luft auf einen Ton gestimmt ist, und manchmal in seligen Augenblicken begegnen wir Figuren oder Orten, die unserer Stimmung vollkommen entsprechen und uns zum Klingen bringen. Ein Glück der Harmonie kann dann entstehen: Zwei schauen sich gegenseitig auf den Grund der Seele. Einer kann Koloratursopran an der Mailänder Scala sein und der andere durchaus Regenwolken über den Donauauen. Der eine Eislieferant in Olmütz und der andere der Handschuh einer betrogenen Frau. Einer Zigarettenschmuggler und der andere das Geräusch einer zugeschlagenen Autotür. Jede Kombination ist denkbar. Die zwei erkennen einander, wissen, dass sie zum selben Stamm gehören und dass der Engel der guten Fügungen sie zu Recht anspucken würde, wenn sie einander leugneten." - Das schreibt André Heller über Joseph Roth und seine Protagonisten.

Wie sehr gilt das Beschriebene erst für zwei Menschen. Sympathie oder - ein anderes treffendes Wort - Zuneigung ist unberechenbar und unlogisch, daher unerklärlich. Geradezu magisch, sich von jemandem angezogen zu fühlen. Von Anfang an das Gefühl zu haben, einander schon lange zu kennen. Seelenverwandtschaft - eine Metapher für übereinstimmendes Empfinden. Manche "erkenne" ich vom ersten Augenblick an, andere entdecke ich mit der Zeit. Freundschaft ist etwas Intimes. Mit Aristoteles, dem es bei der Freundschaft um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ging, habe ich nicht viel am Hut. Freundschaft als sittliche Tugend? Nein, das wäre für mich etwas zwischen "Nächstenliebe" und "Solidarität". Montaigne, für den "das größte Ereignis in der Welt ist zu verstehen, man selbst zu sein" (la plus grande chose au monde est savoir ètre à soi), fühle ich mich viel näher. Die Freundschaft zu Étienne de La Boétie ging Montaigne über alles. Er fand aber, Freundschaft zu einer Frau - falls sie über geistige Fähigkeiten verfüge (er ist nur keiner solchen begegnet) - könnte noch stärker sein, weil sie Geist, Seele und Körper umfasse.

Es gibt Sätze, die zu Floskeln geworden sind und dabei ihrer vollen Bedeutung verlustig gegangen sind. Solch ein Sätzchen ist: "Ich verstehe mich mit dir gut." Das heißt doch: "Ich verstehe mich durch dich so gut." Sich selbst im Anderen erkennen. Zwei schauen sich gegenseitig auf den Grund der Seele. Freundschaft eine wundervolle Möglichkeit zu erfahren, man selbst zu sein, durch die Spiegelung im Anderen, durch das vom Anderen Wahr(!)genommen-Werden. - Von hier ist es nicht weit zur Kunst. Sie ist ebenfalls ein großartiges Mittel zur Spiegelung seiner Selbst. Stefan Zweig schreibt in seinem Fragment über Montaigne: "Wer sein eigenes Leben schildert, lebt für alle Menschen, wer seine Zeit zum Ausdruck bringt, für alle Zeiten." Auch das gemeinsame Genießen von Kunst, z.B. von Musik, die zweien gleichermaßen nahegeht, kann große Nähe schaffen. Und umgekehrt, was wäre eine bessere Inspiration für poetisches Schaffen als reizvolle Begegnungen. - Nicht umsonst heißt es auch, ein gutes Buch ist, wenn etwas so geschrieben wurde, als ob man es einem guten Freund erzählt hätte.

"Schriftlich und Körperlich - meine bevorzugten Ausdrucksweisen", so beginnt eines meiner Gedichte. Briefe, Mails, SMS - ein wichtiger Austausch unter Freunden. Ein anregendes Ping-Pong - überlegt und reflektiert. Historische Briefwechsel - Literatur gewordene Freundschaft. Aber sich "sinnlich live" zu treffen, der spontane, direkte Austausch darf kein Versprechen bleiben. "Unvermögen // Meine Vorstellung / vermag vieles. / Nur eines nicht. / Die Wirkung / deiner Anwesenheit / erzielen", lautet ein anderes meiner Gedichte.

Freundschaft: Begegnung von Mensch zu Mensch, von Seele zu Seele. Begegnung jenseits von Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Milieu. Und auch jenseits von Weltanschauung. Unter meinen Freunden und Freundinnen sind Alte und Junge, Männer und Frauen, Schriftsteller und solche, die noch selten ein Buch von innen gesehen haben. Potentielle Freunde und Bekannte nach Kriterien der political and sexual correctness zu checken, ist genauso befremdlich wie nur unter Seinesgleichen zu verkehren. Bei der Zusammenarbeit und den Zusammenkünften in Sachen Analyse und Kritik steht eine bestimmte Aufgabe, eine Absicht im Vordergrund. Freundschaften hingegen sind absichtslos. Zuneigung wird in all ihren Varianten und Nuancen verkostet und ausgekostet - zweckfrei wie beim Spiel. Ein "Doppelleben" ist daraus geworden. Ja, meine Welten sind überaus verschieden.


*


Friends will be Friends

von Annette Schlemm

Wie armselig muss Paris Hilton sein, wenn sie sich ihre "Beste Freundin" in einer Fernsehshow aussuchen muss. Nein, sie sucht sie nicht aus - sie "eliminiert", und alle Anwärter_innen unterwerfen sich entwürdigenden Ritualen, die Freundschaft von vornherein ausschließen - ohne irgendeine Reaktion der Empörung.

Was ist es dann aber, von dem ich spüre, dass es die Luft ist, die meine Seele aufatmen lässt in all dem Gestank? Ich kann mich an Zeiten erinnern, da war ich mit mir selbst alleine in einer fremden Welt - die Gesellschaft unendlich weit entfernt. Vielen scheint dann nur die Liebe als ein Weg zur erfüllenden Gemeinsamkeit. Die wird bald zu eng, und das Ausbrechen führt dann wiederum zur Vereinsamung in einer beziehungslosen Welt, oft auch zu einem unbefriedigenden Hin und Her zwischen dem Streben nach Verschmelzung und Isolierung. Vielleicht ist Freundschaft die Gemeinsamkeit, die nicht so sehr auf die Pelle geht wie Liebe und nicht so weit weg ist wie die Gesamtgesellschaft.

Für Aristoteles ist wahre Freundschaft das Schätzen der anderen Person um ihrer selbst willen anstatt zum eigenen Nutzen. Hegel knüpft sie zudem noch an ein "gemeinsames Werk", das gemeinsam getan wird, "denn Freundschaft, wenn sie auch noch so gemütreich ist, fordert doch einen Gehalt, eine wesentliche Sache als zusammenschließenden Zweck". - Insofern sind politische Zusammenhänge, die sich für die Emanzipation von Menschen einsetzen, geradezu prädestiniert, Freundeskreise zu sein. Solche Gruppen können das in uns bewahren und stärken helfen, was dem kapitalistischen Verwertungszwang widersteht. Sonst führt der Anpassungsdruck entweder zur Assimilation oder zum Rückzug in verbitterte Isolation. Ein Nein zu den alltäglichen Zumutungen lässt sich auf Dauer ohne Schaden nur aushalten, wenn wir eine Gruppe gleichgesinnter Menschen im Hintergrund haben, die ein vertrauensvolles Gespräch über politische Themen möglich macht, in der der Gegendruck aufrecht erhalten werden kann. Damit daraus keine reine Kuschelfraktion wird, müssen die Grenzen nach außen offen bleiben und die Widersprüche dosiert hereingelassen werden.

Wie im Lernzonenkonzept:

In der Komfortzone fühlen wir uns wohl, sicher und stark - in der Panikzone sind wir dagegen vor Angst und Panik fast handlungsunfähig. Dazwischen liegt daher die Lern- oder Wachstumszone. Welche Lebensbereiche und Praxen für wen in welcher Zone liegen, ist sehr unterschiedlich. Eine Komfortzone haben, Ausflüge in die Lernzone machen und von dort aus immer mal wieder in die Panikzone gehen - gestärkt von Freunden, die mitkommen und uns auffangen, wenn etwas schief geht. Meine erste Blockade vor den Castortransporten habe ich mutiger überstanden, als ich mir je zugetraut hätte - weil durch die Bezugsgruppen Rückzugsorte da waren. Das Wissen darum ließ mich mehr Schritte durch die Polizeisperre gehen, als ich alleine je geschafft hätte. Dazu verhilft ein Freundeskreis. Gleichzeitig ändert sich dadurch auch die Form des Agierens. Wer als Einzelkämpfer_in ständig in der Panikzone agiert, zeigt häufig Verbissen- und Verbiestertheit. Eine "Zwischenzone" im Freundeskreis kann mehr Gelassenheit ermöglichen, in ihm die vertretenen Inhalte mit entwickeln, was einen starken Rückhalt gibt. In einer Kultur der Freundschaft können auch Dissonanzen besser so bearbeitet werden, dass sie alle Beteiligten voranbringen. Es wäre schon ein politischer Erfolg, der Kälte von Individualisierung, Flexibilisierung, Mobilisierung und Virtualisierung eine wärmende Gegenströmung abzugewinnen, zwischen Rückzugsnischen in fauler Harmonie und verbiestertem Einzelkämpfertum einen Vorschein emanzipativer Menschlichkeit erlebbar zu machen. Kampf wäre dann nicht nur Aufopferung, sondern erfülltes und beglückendes Leben. Natürlich müssen nicht alle politischen Partner_innen miteinander befreundet sein. Aber wenn die Atmosphäre zwischen uns genauso eisig oder gar hinterhältig ist wie unter den Freund_innen von Paris Hilton, dann stimmt etwas ganz und gar nicht.

Ich danke besonders meinen Freundinnen und Freunden von der "Zukunftswerkstatt Jena" für unsere lange, bereichernde Freundschaft.

Raute

Pichl Peter (1934-2010)

Nachruf von Franz Schandl

Am 6. März ist unser Freund und Transformationsrat Peter Pichl gestorben. Oder besser Pichl Peter wie er sich zu nennen und zu unterschreiben pflegte. In seinem früheren Leben ist er mal Zeichenprofessor an einem Wiener Gymnasium gewesen, nun war er schon viele Jahre in Pension und lebte in einer geräumigen Wohnung in Wien Gumpendorf.

Peter unterstützte unsere Tätigkeiten in vieler Hinsicht. Er verteilte die Streifzüge unter seinen Bekannten, beriet uns in Layoutfragen, gestaltete die Cover in den Jahren 2006-2008, stand uns immer mit Rat und Hilfe zu Verfügung. Solange er konnte, kam er zu unseren Veranstaltungen, verschleppte uns zum Heurigen oder steckte einem eine Flasche Rotwein aus dem Burgenland oder Weißwein aus dem Traisental zu. Er besuchte mit unsereins das Kunsthistorische Museum, die Kunsthalle in Krems oder machte einen Tagesausflug ins Stift Geras.

Die Gespräche mit ihm waren immer anregend, manchmal auch etwas anstrengend, denn immer wusste er viel und wollte es unbedingt loswerden. Eine Besprechung der jeweils aktuellen Streifzüge gehörte fest zu unserem gemeinsamen Programm. Peter war sehr belesen und an gar vielem interessiert. Über Leute, die er nicht mochte, konnte er ziemlich schimpfen, aber wenn ihm jemand oder etwas gefiel, dann war er sehr zugetan. Vor allem ist ihm das Lachen nie vergangen.

Freilich war Peter von unzähligen schweren Krankheiten verfolgt, die er sich aber akkurat nicht anmerken lassen wollte. Lieber sprach er von etwas anderem, immer hatte er Ideen, für die Ausgabe 47 schrieb er noch einen kurzen Beitrag. In den beiden letzten Jahren hat er, abgesehen von Spitalsaufenthalten, seine Wohnung nicht mehr verlassen. Zuletzt habe ich ihn Mitte Februar besucht und ihn gebeten, den Aufruf "Für eine Linke mit gesellschaftlicher Dimension" zu unterstützen. Was er nach dessen Lektüre auch getan hat.

Wir danken ihm noch einmal für alles und widmen ihm diese Nummer. In Freundschaft.

Raute

Capitalism in Emergency - Profit ohne Wachstum?

von Andreas Exner

Von Merkel bis Sarkozy will man, dass alles beim Alten bleibt. Weil's aber schlicht nicht so bleiben kann, wie's ist, muss man adaptieren. Da kommt die Wachstumskritik gerade recht.

Die Krise bricht aus der Sicht der Lohnabhängigen und Kapitalisten wie ein Naturereignis über die Gesellschaft herein. Dass der eigene Zusammenhang mit den Anderen, die eigene Lebensweise die Krisenursache sein könnte, liegt so fern wie dem Mittelalter der Gedanke, die Erde drehe sich um die Sonne. Die "Real-Illusion" bürgerlicher Freiheit lässt die Erkenntnis, dass die allseitige Unabhängigkeit der Individuen (am Markt) gerade die Ursache ihrer größtmöglichen Abhängigkeit voneinander ist (ein Widerspruch, der in der Krise eklatiert), kaum je von alleine aufkommen.


Gefährliche Innovationen

Spontan ist allerdings die Einsicht in die Notwendigkeit, etwas an den Koordinaten von Ökonomie und Politik verändern zu müssen, um in der fundamentalen Krise das gewohnte Prozedere von Ausbeutung und Unterwerfung fortführen zu können. Die "politische Klasse" ist zwar ebenso wenig wie die Kapitalistenklasse homogen, dennoch denken und handeln die Mitglieder der Politbüros in vielem ähnlich. Die strukturellen Notwendigkeiten der Reproduktion des Kapitals, die der Staat mitorganisiert und von der er abhängt, setzen nämlich ungeachtet aller Spielräume Restriktionen. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass ähnliche Ideen zur selben Zeit an verschiedenen Orten im politischen Diskurs auftauchen. Die allseitige kommunikative Vernetzung ist dafür nur Bedingung, nicht Erklärung.

Ganz allgemein werden in Krisensituationen oppositionelle Ideen von den Herrschaftsapparaten aufgenommen und systemerhaltend umgebaut. Dies geschieht durch Kontextveränderung und Neuinterpretation, durch gezielte Auslassung einerseits und Anreicherung mit herrschaftsfunktionalen Ideen andererseits. Bestes Beispiel dafür sind einige der neoliberalen Leitwerte: Kreativität, Flexibilität, flache Hierarchien, Selbstverantwortung: Sie sind Ergebnis der Transformation zentraler Themen der 1968er-Bewegungen. Ähnliches ließe sich wohl anhand des Faschismus und Nationalsozialismus im Verhältnis zu den damals dominanten Strömungen des marxistischen Sozialismus zeigen.

In der gegenwärtigen Krise kommen ökonomisch-soziale Verwertungsgrenzen mit einer Energie- und Klimakrise beispielloser Dimension zusammen. Der Krisenverlauf wird in untergeordneter Weise von oppositionellen Strömungen, die sich in der "Globalisierungsära" gebildet haben, beeinflusst. Weniger in Europa, spürbar in Lateinamerika. Ganz allgemein gesehen schreiben sich in den bisherigen Krisenverlauf nicht nur die dominanten Kapitalinteressen ein, sondern ebenso die Interessen der Lohnabhängigen. Beide Kräftepole verdichten sich - asymmetrisch freilich - in den politischen Krisenreaktionen.

Doch drängt die Vehemenz der Krise, deren weiterer Verlauf von den Systemfunktionären häufig als gravierend eingeschätzt wird, dazu, die bestehenden Formen der Regulation zu verändern. Zu diesem Zweck müssen bislang oppositionelle, "innovative" Elemente aus Diskursen und Praxen übernommen werden: erstens weil das Kapital selbst keine Kreativität besitzt und immer von dem "lebt", was sich außerhalb seines unmittelbaren Herrschaftsbereichs und gegen es entwickelt; zweitens weil in Krisensituationen die (vorsorgliche) Einbindung kapitalgefährdender Elemente ein Herrschaftserfordernis darstellt.


Establishment against Growth

Die ökonomisch-sozialen Verwertungsgrenzen haben zu einem Wachstumseinbruch auf großer Stufenleiter geführt. Die schon vor dem Einbruch zunehmend debattierte ökologische Krise mit Fokus Klimawandel wird nun mit den anderen Krisentendenzen diskursiv zusammengeführt. Das zeigt sich in den wachstumskritischen Debatten, die seit rund einem Jahr quasi aus dem Boden schießen. Von den kleinen Refugien aus, in denen sie seit den 1970er Jahren überdauerten, werden sie nun vom Mainstream aufgegriffen. Einige Beispiele: Angela Merkel und Horst Köhler äußerten öffentlich, man müsse das Wachstum als alleiniges und oberstes Wirtschaftsziel hinterfragen; ähnliches war von Nicolas Sarkozy zu vernehmen, der eine eigene Kommission zum Thema eingerichtet hatte, die unlängst einen Bericht publizierte (Stiglitz et al., 2009, "Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress"). Das österreichische "Lebensministerium" veranstaltete Ende Jänner 2010 eine große Konferenz mit dem Titel "Wachstum im Wandel" (www.wachstumimwandel.at); dem war ein Projekt zusammen mit der Consulting- und Forschungsfirma SERI vorangegangen, das sich im Buch "Welches Wachstum ist nachhaltig?" niederschlug (Mandelbaum-Verlag, 2009). In Großbritannien erarbeitet die Sustainable Development Commission - "the Government's independent adviser on sustainable development, reporting to the Prime Minister" - unter der Headline "Redefining Prosperity" wachstumskritische Perspektiven. Seit 2007 existiert die von EU-Kommission, WWF, OECD, dem Club of Rome und dem EU-Parlament getragene Initiative "Beyond GDP" (www.beyond-gdp.eu). Weitere Beispiele sind Berichte in den etablierten Medien und Veranstaltungen von Lobbyverbänden. Mit Beteiligung linker Strömungen markierte die Pariser Degrowth-Konferenz im April 2008 einen radikalen Wechsel der Debattenführung in der Ökoszene, der dem Interesse staatlicher Akteure an der Kritik des Wachstums vorangegangen war.

Paradigmatisch zeigt die Format-Coverstory "Wohlstand ohne Wachstum" vom 12.1.2010 (www.format.at) die Konturen der krisenreaktiven Wachstumskritik seitens der Systemfunktionäre und der mit ihr verkoppelten Zivilgesellschaft. Ein durchgängiger Topos ist dabei die Kritik des Bruttoinlandsprodukts (BIP), dem monetär bemessenen Output an Gütern und Diensten einer Volkswirtschaft, als "alleinigem Wohlstandsindikator". Dabei werden das BIP und sein Wachstum als ein Indikator für konkrete Bedarfsdeckung, mithin Wohlstand, missverstanden, anstatt diese Größen als Indikatoren für die Profitpotenziale und Hegemoniefähigkeit einer kapitalistischen Wirtschaft zu sehen.


Fallstricke statt Lösungen

De facto ändert es nichts an der Produktionsweise des Kapitals, ob man ihren "Output" volkswirtschaftlich lediglich in monetären Größen oder zusätzlich als Anzahl Autos, Kühlschränke, Brötchen oder mithilfe irgendwelcher "Glücksindikatoren" auf Fragebogenbasis bemisst. Es ändert zwar nicht materiell, jedoch ideologisch Einiges, wenn die Herrschaftsapparate davon abgehen, das BIP und sein Wachstum als oberste Zielgrößen offensiv zu propagieren. Dazu muss man wissen, dass der herrschaftlich-wachstumskritische Diskurs mit keinem Wort die kapitalistischen Produktionsverhältnisse kritisiert. Corinna Milborn, Autorin der besagten Cover-Story in Format, fasst dessen "Lösungsvorschläge" wie folgt zusammen:

Erstens Arbeitsplätze ohne Wachstum durch Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich. Damit zwinge nicht jede Produktivitätssteigerung zur Erhöhung des Umsatzes, referiert Milborn - "Die Modelle: Teilzeitarbeit, Karenz und Auszeiten für Bildung - zugleich aber eine längere Lebensarbeitszeit". Zweitens Ressourcenverbrauch statt Arbeit besteuern. Dabei soll die alte Idee der Ökosteuer mit einer Umverteilung von oben nach unten verbunden werden, wie seit Neuestem auch das Ökosoziale Forum fordert. Drittens Werte statt schneller Gewinne. Zitiert wird der Vorschlag von Hans-Christoph Binswanger, Aktiengesellschaften in Stiftungen umzuwandeln, die soziale und ökologische Ziele in ihrer Satzung festschreiben. Viertens ein neues Geldsystem. Das "Finanzsystem" treibe "die Realwirtschaft mit hohen Renditeerwartungen". Binswanger schlägt deshalb vor, dass nur Zentralbanken Geld schöpfen dürften. Dies würde Kreditvergabe, damit Gewinn und folglich Wachstum einschränken. Fünftens Fortschritt neu messen. "Das Königreich Bhutan hat das BIP als Maßzahl für Wohlstand schon lange verworfen. Seit 1972 wird das 'Brutto-Sozialglück' gemessen", so Milborn.

Ernst Ulrich von Weizsäcker bringt im Format-Interview die falsche, ökologisch relevante Schlussfolgerung auf den Punkt: "Am Wachstum hängen Arbeitsplätze: Wenn die Produktivität steigt und die Zahl der Arbeitsstunden nicht abnimmt, braucht man Wachstum, um auch nur die Zahl der Arbeitsplätze zu halten. Die Unternehmen wiederum sind gezwungen, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, weil sie sonst von der Konkurrenz abgehängt werden - nicht zuletzt aus Billiglohnländern. Diese Dynamik aus weltweitem Wettbewerb und dem Wunsch, die Beschäftigtenzahlen zu halten, erzeugt zwangsläufig einen dringenden Wunsch nach Wachstum." Tatsächlich aber ist das gesamtwirtschaftliche Wachstum ein Selbstläufer und resultiert nicht aus dem "Wunsch" Arbeitsplätze zu erhalten.

Arbeitszeitverkürzung schwächt den Zwang, den Umsatz zu steigern, nicht ab. Neue Maschinerie erlaubt in der Regel mehr in kürzerer Zeit herzustellen und wird maximal genutzt, schon allein um die Investitionskosten möglichst rasch einzuspielen. Bei verkürzter Arbeitszeit würden mehr Arbeitskräfte eingestellt - bleibt sonst alles gleich. Verkürzung der Arbeitszeit erhöht selbst ohne Lohnausgleich die Arbeitskosten (da z.B. mehr Zeit für Koordination erforderlich ist). Höhere Arbeitskosten führen jedoch tendenziell zu beschleunigter Automatisierung durch Maschinen. Der Gesamtoutput kann mit Arbeitszeitverkürzung alleine folglich weder verkleinert noch konstant gehalten werden.

Ökosteuern können den Wachstumszwang und -drang grundsätzlich nicht aufheben. Sie binden die staatliche Kapitalabhängigkeit lediglich an den Ressourcenverbrauch, der ja aber gerade verkleinert werden sollte. Die Veränderung von Unternehmensformen könnte durchaus den Wachstumszwang entschärfen, allerdings kaum ohne eine Entwicklung in Richtung einer Solidarischen Ökonomie, also von Selbstverwaltung und zwischenbetrieblicher Kooperation und Produktionsplanung. Die Einschränkung der Kreditvergabe ist als politisches Ziel aus einem einfachen Grund illusionär: Verunmöglichte man den Geschäftsbanken die Geldschöpfung, so würden eben Nicht-Banken Kredit vergeben und Geld "schöpfen".


Sakrosankt: Profit

Von diesen Einwänden abgesehen fällt auf, dass das kapitalistische Produktionsverhältnis, die Lohnarbeit, wie ein blinder Fleck außen vor bleibt. Entsprechend wird auch die Gewinnorientierung keinesfalls in Frage gestellt. Ernst Ulrich von Weizsäcker spricht Klartext: "Man müsste das Anreizsystem so verändern, dass Betriebe ohne eine hektische Vermehrung der Arbeitsproduktivität gute Gewinne erzielen." Franz Fischler stößt in dasselbe Horn: "Ich habe heute einen Firmenchef kennen gelernt, der - um dieser Kurzfristigkeit zu entgehen - sein Unternehmen in eine Stiftung umgewandelt hat, die nun wesentlich innovativer ist, gute Gewinne macht und zufriedene Mitarbeiter hat."

Es ist der analytischen Oberflächlichkeit der "politischen Klasse" zuzurechnen, dass die simple Frage nicht einmal ins Bewusstsein tritt, was denn mit den Gewinnen einer "nicht wachsenden Wirtschaft" gemacht werden solle. Man kann sogar unterstellen, dass der Kredit massiv eingeschränkt wäre, wie Binswanger das fordert. Die Unternehmensgewinne würden nach wie vor investiert - dem strukturell vorgegebenen Produktionsziel "Gewinn" entsprechend in seine Erhöhung: Kapitalakkumulation und "Wachstum" resultieren.

Hier wird die Gefährlichkeit der herrschaftsförmigen Wachstumskritik sichtbar. Grundsätzlich ist nämlich Profitproduktion ohne Wachstum des Gesamtkapitals denkbar: als ein Verdrängungswettbewerb der angesichts von energetischer und ökonomischer Krise bedrohten Einzelkapitalien oder aber - in einem "Steady State-Kapitalismus" - als ein "parasitäres" Abschöpfen des Mehrwerts für Luxuskonsum. Die aus dem Lohn- und Kapitalsystem Herausfallenden sollen unter diesen Vorzeichen die einzige Perspektive, die man ihnen bisher vorspiegelte, aus "ökologischen Gründen" aufgeben: das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Dafür erklärt man ihnen, dass Geld und Konsum nicht glücklich machen.

Die moralisch ebenso wie analytisch fehlgeleitete Verzichtsökologie, über Jahrzehnte hinweg von wohlmeinenden Ökoaktivist_innen diskursiv vorbereitet, droht sich solcherart mit dem blanken Faktum fehlender Wachstumsmöglichkeiten des Kapitals zu verbinden. Eine Produktionsweise, die ihr "Menschenmaterial" mangels Verwertbarkeit fortschreitend ausstößt, das "Bruttosozialglück" zur zynischen Maxime erhebt, während de facto das Elend sich verbreitert - ein Muster, das aus dem Entwicklungsdiskurs bekannt ist, wo ständig darüber lamentiert wird, die eigenen, ach so engagierten Ziele leider nicht und nicht zu erreichen - wird sich freilich auch mit ideologischen Verrenkungen nicht am Leben halten können.

Daraus folgt jedoch noch nicht, dass jene emanzipativ überwunden werden wird. Abzusehen ist vielmehr, dass die umkämpfte Suche nach einer neuen Form von Herrschaft vorderhand einmal weitergehen wird. Wer ernsthaft an einer ökologisch und sozial verträglichen Produktionsweise interessiert ist, wird gut daran tun, sich nicht von Herrschaftsinteressen instrumentalisieren zu lassen, sondern die Kritik zu schärfen.

Raute

Dead Men Working

Wer arm ist, soll schweigen

von Maria Wölflingseder

Das "Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung" wurde proklamiert. Den Wortlaut dieser Verkündigung muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Jetzt soll es plötzlich eine "Anerkennung des Rechts der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen auf ein Leben in Würde und umfassende Teilhabe an der Gesellschaft" geben? Und "das Bewusstsein für die Lage armer Menschen soll geschärft, ihr Zugang zu Rechten, Ressourcen und Dienstleistungen gefördert und Stereotype und Stigmatisierungen bekämpft werden." - Ich bin sprachlos.

Nachdem es seit fast 30 Jahren kontinuierlich bergab gegangen ist, wird ein Jahr gegen Armut ausgerufen? Was wird sich dadurch ändern? Ab September wird es eine Grundsicherung geben, an der nur sicher ist, dass man mitnichten davon leben kann! Eine Sicherung der elendigen Lage ist das. Wie soll damit eine "umfassende Teilhabe an der Gesellschaft" möglich sein? Und plötzlich will man den "Kunden" des AMS, die seit Jahren, und jenen des Sozialamtes, die bereits seit Jahrzehnten wie Nicht-Subjekte (vulgo wie der letzte Dreck) behandelt werden, "würdevoll" begegnen? Auf diesen "Erlass" an die Beamten und Vertragsbediensteten bin ich gespannt. Wann wird damit begonnen, die im Kundenverkehr Tätigen dahingehend zu schulen? Unter all den "überqualifizierten" Arbeitslosen finden sich dafür sicher geeignete Lehrende. Auch AMS-Chef Johannes Kopf wird einen Intensiv-Kurs brauchen. Noch vor einem Jahr behauptete er im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Arbeitslose würden zum wiederholten Male zu Bewerbungstrainings gezwungen, weil mit ihren Bewerbungsschreiben und -strategien etwas nicht stimmen könne.

Apropos AMS-Maßnahmen und große Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen, die zur Zeit von Politikerinnen harsch kritisiert wird. Warum werden aber gleichzeitig Frauen, nur Frauen, vom AMS in so genannte Sozialökonomische Betriebe geschickt, um ein halbes Jahr lang Besuchsdienst bei alten Menschen zu absolvieren - um in einer Tätigkeit geschult zu werden, die es als Beruf überhaupt nicht gibt? Warum werden Frauen vermehrt dazu angehalten, sich auf Pflege- oder Heimhelferin umschulen zulassen? Vorsicht, in vielen Jobs, in denen Frauen in der Überzahl sind, ist die Armutsfalle bekanntlich nicht weit! Von der vielgepriesenen "diversity", die oft im AMS-Kursprogramm steht, kann selten die Rede sein. Selbst die Piktogramme auf den Notausgangsschildern haben heute gendergerecht zu sein, aber dort, wo's ums finanzielle Überleben geht, wird Sexismus perpetuiert - trotz gleichzeitiger verbaler Verdammung.

Zu hinterfragen gilt es auch die Zahlen: die der sogenannten "Armutsgrenze" als auch die der als arm Eingestuften. In Österreich leben laut Statistik knapp über eine Million Menschen (12 Prozent) an oder unter der Armutsgrenze. Diese liegt bei 950 Euro im Monat. Die Summe sagt allerdings nichts darüber aus, ob man davon leben kann, sondern beziffert lediglich 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens. Bei den heutigen Miet- und Energiekosten, die für eine Einzelperson gut und gern 650 Euro ausmachen, bleiben 300 für alle anderen Ausgaben. Und mit der neuen Grundsicherung von 750 Euro bleibt einem ohnehin nur noch die Wahl, ob man lieber verhungern oder erfrieren will.

Die Zahl jener, denen "ein Leben in Würde und eine umfassende Teilhabe an der Gesellschaft" verwehrt wird, ist jedenfalls um vieles höher, als die offizielle Zahlenspielerei besagt. Abgesehen davon wurde bis vor kurzem von Experten stets betont, genaue Zahlen über die Einkommensverhältnisse der Bevölkerung seien schwer zu eruieren. Bekanntlich hütet jeder - Reich wie Arm - das Wissen um seine finanziellen Verhältnisse wie den heiligen Gral. Selbst in der Ehe soll das (Nicht-)Wissen um des anderen Kontostand ein recht heißes Eisen sein. Woher soll also plötzlich die klare Zahl der Armen kommen?

Da werden nun zum "Jahr gegen Armut" landauf, landab in ganz Europa unzählige Papiere Seite um Seite gefüllt, Konferenzen und Tagungen zelebriert und sogenannte "Botschafter" werbewirksam angeheuert: Promis aus den Sparten Sport, Kultur, Wissenschaft, Bildung und Soziales, die alle einhellig erklären, wie schlimm Armut sei und dass man unbedingt etwas dagegen machen müsse (www.2010gegenarmut.at). Höchst kurios: Betroffene selbst kommen nicht vor. Ihnen wurde in der Öffentlichkeit längst die Rolle der stummen, handlungsunfähigen Opfer, die behandelt werden müssen, zugeteilt. Demgemäß sind die einschlägigen Erfahrungen und Erkenntnisse der Autorin skurril: War ihre Analyse und Kritik von Esoterik und Biologismus seit vielen Jahren stark nachgefragt, so riss die Resonanz abrupt ab, als sie als Expertin und Betroffene über Arbeit, Arbeitslosigkeit und Armut publizierte. Die Veröffentlichung, dass auch "Überqualifizierte" nicht vor Armut gefeit seien, würde den Bildungsmythos unerlaubterweise in Zweifel ziehen. Und die Analyse der kapitalismusimmanenten Logik, die hinter der Behandlung von Armen als Nicht-Subjekte steht, würde unser Gesellschaftssystem samt und sonders in Frage stellen. Das will doch nun wirklich niemand.

Es macht offenbar einen großen Unterschied, ob sich jemand nur der Recherche halber in die Position eines "Betroffenen" begibt (etwa Günter Wallraff oder Barbara Sichtermann) oder ob jemand als tatsächlich Betroffener berichtet. Erstaunlich, wie gekonnt SozialarbeiterInnen, JournalistenInnen, WissenschaftlerInnen etc. noch immer in der Lage sind, eine Trennlinie zu ziehen zwischen ihnen und den Objekten ihrer Lohnarbeit - auch wenn diese Grenze längst nur mehr fiktiv ist. Zu groß ist die Angstabwehr. Niemand will wahrhaben, dass es jeden jederzeit treffen kann. - Die Armen sind daher stumm zu halten. Via Medien werden die Betroffenen entmündigt, in dem nur über sie berichtet wird - stets im Duktus eines "Schreckgespensts". Sie dürfen höchstens ihr Leid klagen, aber als "Experten", geschweige denn als Gesellschaftsanalytiker und -kritiker haben sie in der Öffentlichkeit nichts verloren. Da die zugestandene Rolle unausstehlich ist, ist es mitnichten verlockend, sich zu Wort zu melden. Das Stillhalten ist somit gesichert. Gegenteilige Anzeichen sind trotz "Jahr gegen Armut" weit und breit nicht in Sicht.

Raute

Was heißt "Decroissance"?*

Ein nüchterner Blick auf einen interessanten Vorschlag

von Massimo Maggini

Es ist eine üble Sitte, die sich auch in der radikalen Linken immer weiter ausbreitet (nicht nur in der etablierten, die aus dieser Praxis schon einen Lebensstil gemacht hat), über Fragen und Probleme zu streiten, ohne zu wissen, worüber man eigentlich redet. Für diese Mentalität ist es oft ausreichend, den Verdacht zu hegen, dass der Verlag, der gewisse Texte herausbringt, "politisch" nicht "korrekt" ist oder dass der Autor verdächtigen Umgang pflegt, um drakonische und irreversible Urteile zu stanzen. Diese Urteile beruhen zum Großteil auf dem Hörensagen, das einer oberflächlichen und vorurteilsgeladenen Lektüre vorausgeht, um dann die Frage mit einem Hieb durch den gordischen Knoten abzuschließen, ohne sich je wirklich auf die Sache einzulassen und ohne sich mit dem Streitobjekt gründlich vertraut zu machen.

Was ich hier machen möchte, ist das umgekehrte Vorgehen, d.h. zu verstehen trachten, was jene These uns sagen, auf welche Weise sie zu einem emanzipatorischen Diskurs beitragen und welche Richtungen der Ausarbeitung, ob theoretisch oder praktisch, sie anregen kann.


Eine antikapitalistische Betrachtungsweise

Serge Latouche wird mit gutem Recht als Ziehvater der "decroissance" betrachtet, die im Italienischen mit "decrescita" und im Englischen mit "degrowth" sehr eng ans Original angelehnt übersetzt, im Deutschen aber mit "Wachstumsrücknahme" nicht sehr glücklich wiedergegeben wird, sodass für diesen Text das französische Wort beibehalten wurde. Latouche hat zuletzt einen Traktat zum Thema publiziert, der für eine Darstellung und Auseinandersetzung gut geeignet ist. Auch wenn man stellenweise sein Denken vielleicht der Naivität und des Utopismus bezichtigen könnte, so muss man doch anerkennen, dass das theoretische Gerüst, auf dem seine Überlegungen beruhen, zumindest beachtenswert ist. Versuchen wir also zu verstehen, wovon wir sprechen.

Um den klassischen Fehler einer voreiligen Auffassung zu vermeiden, empfiehlt es sich gleich einmal klarzustellen, dass "decroissance" nicht die Büchse der Pandora ist und noch weniger eine Rezeptur für die Befreiung und das glückliche Leben aller. "Decroissance" ist, sagt Latouche, vor allem ein "Slogan", eine "Wortbombe", deren Zweck es ist, einen Horizont zu sprengen, der von der Rechten wie von der Linken als unproblematisch angesehen wird: Das Schlagwort hat vor allem den Zweck, die Notwendigkeit zu unterstreichen, das Ziel eines unbegrenzten Wachstums aufzugeben, dessen Motor ganz wesentlich das Profitstreben der Kapitalinhaber ist. Der Gegenstand der Polemik ist also das kapitalistische Wachstum. Aber hier kommt auch schon der erste Einwand: Kann es auch ein nichtkapitalistisches Wachstum geben? Oder ist "kapitalistisches Wachstum" eine Tautologie oder gibt es z.B ein "sozialistisches Wachstum", vielleicht sogar auch ein bisschen ein "ökologisches"?

Nein, in Latouches und jeder an "decroissance" orientierten Sichtweise ist Wachstum immer und einzig kapitalistisch, genauso wie "Entwicklung". Man hat Wachstum, d.h. Akkumulation von Produkten und Wert, nur um die verrückten Erfordernisse des Kapitalismus zu erfüllen. Alles, was existiert, ist in Ware und Wert zu verwandeln - in einem Wiederholungszwang, der sich in einer Spirale permanenten Wachstums ins Unendliche fortsetzen muss (müsste). Hätte es ohne Kapitalismus irgendeinen Sinn, eine derart entfesselte Produktion von meist unnützen Dingen aufrechtzuerhalten samt allen ökologischen und sozialen Folgen, die das mit sich bringt? Oder könnte man nicht vernünftigerweise daran denken, mit den Zielen zu produzieren, Bedürfnisse zu befriedigen, die man nicht erst schaffen muss, sowie ein glückliches Leben für die Menschen zu gewährleisten statt den Geldwert der Waren zu realisieren? Hätte es noch Sinn, täglich Millionen Elektrogeräte, Autos und was sonst noch alles zu produzieren, mit dem einzigen - zwanghaften - Ziel, sie zu verkaufen, um Profit zu machen?

Offenkundig nicht. Wenn "decroissance" Wachstum und Entwicklung kritisiert, dann hat sie die Verrücktheit und Unbrauchbarkeit eines Produktionssystems im Auge, das in höchstem Maß Leid und Zerstörung verursacht, und hält nach einem vernünftigeren Ausschau, das auf Mensch und Umwelt achtet. Das ist in Kürze die Quintessenz des Vorschlags der "decroissance", die man im Auge behalten sollte, um ihrem Geist gerecht zu werden.

Eins der verbreitetsten Missverständnisse behauptet, dass von "decroissance" zu sprechen heute bedeute, die Völker der Dritten Welt, die wir Bewohner des Westens ausbeuten, um unseren wunderbaren Lebensstandard zu garantieren, irreversibel zum äußersten Elend zu verurteilen. Die "decroissance" predigt derlei aber mitnichten. Sie vertritt vielmehr eine kulturelle Abkehr vom Wachstum noch vor der ökonomischen, eine Abkehr, die auch jenen Völkern, die heute der Herrschaft des Westen unterworfen sind, erst einen echten Zugang zu Wohlergehen und Reichtum öffnet. Ein Westen, der nicht mehr kapitalistisch ist, nicht mehr ökonomisches Wachstum als sein Ziel sieht, das er um jeden Preis und vor allem auf Kosten der sogenannten Drittweltländer erreichen muss, ließe dem "Rest der Welt" Platz für eine echte und dauerhafte Zusammenarbeit für ganz andere Ziele als die Anhäufung von Profit.

Entscheidend ist also, vor allem einmal den kulturellen Horizont des Wirtschaftswachstums zu überschreiten. "Decroissance" in einer Gesellschaft des Wachstums wäre in der Tat bloß eine ungeheure Katastrophe - so wie sie sich ja ganz real mit der jetzt entstandenen kapitalistischen Krise abzeichnet: eine Arbeitsgesellschaft ohne Arbeit und eine Wachstumsgesellschaft, in der das Wachstum ausbleibt. "Decroissance" ist nur im Rahmen eines gesellschaftlichen Umfelds konzipierbar, das schon auf einer anderen Logik basiert.

In diesem Sinn ist "decroissance" nicht nur unverträglich mit einer "nachhaltigen Entwicklung" oder dergleichen, sondern stellt sich radikal dagegen. Ökonomische "Entwicklung" kann weder nachhaltig noch dauerhaft sein. "Entwicklung" ist ein sehr zweifelhafter Begriff, der seinerseits auf noch zweifelhafteren wie "Fortschritt" oder "Modernität" beruht - er ist schlicht die andere Seite des Wirtschaftswachstums. Kein vom Westen kolonisiertes Volk hat je danach verlangt "sich zu entwickeln" (wohin und warum?), so wenig wie je eines hat "wachsen" wollen. Ein Wirtschaften, das sein Gleichgewicht darin findet, dass eine Bevölkerung zufriedenstellend mit Lebensmitteln versorgt wird, muss sich nicht "entwickeln". Diese Notwendigkeit ergibt sich erst, wenn sie als Diktat von einer äußeren Macht auferlegt wird. Viele "fortgeschrittene" Zivilisationen (um einmal diesen entschieden unangemessenen Terminus zu verwenden) haben Jahrtausende bestanden, ohne auch nur einen Schritt fortzuschreiten, und sie haben daran nicht besonders gelitten noch sind sie deshalb ausgelöscht worden.

Viele dieser Kulturen hatten die technischen Mittel, um eine industrielle Revolution lange vor England in Gang zu setzen: die griechische z.B. oder die altägyptische, aber auch die auf dem amerikanischen Kontinent vor der verheerenden Ankunft des modernen Europäers. Sie haben sich aber davor gehütet, ein so verrücktes und selbstzerstörerisches System wie das unsrige einzuführen. Warum? Weil sie "inferior" oder "primitiv" waren? Es geht hier nicht darum, die vielen dunklen Flecken und mindestens problematischen Züge dieser Kulturen zu verteidigen, sondern man sollte sich ab und zu gewissen Fragen ernsthaft stellen, ohne die unerträglichen Vereinfachungen und Unterstellungen, die unter dem Diktat der späteren Fortschrittsideologie bis heute einen klareren Blick auf die Vergangenheit verstellen.


"Dekolonisierung der Vorstellungswelt"

Um zu unserem Thema zurückzukommen: Ich begnüge mich hier damit, soweit möglich zu klären, was "decroissance" zum Projekt der Befreiung vom Kapitalismus beitragen kann. Eine bündige Kritik an "Entwicklung", ob einer "nachhaltigen" oder sonst einer, und an ihren eher unheimlichen Begleitideologien ist in diesem Zusammenhang der Kernpunkt. Der erste Schritt dazu, so Latouche muss eine "Dekolonisierung der Vorstellungswelt" sein, ein Überschreiten des Glaubenshorizonts der unbegrenzten Akkumulation. Ein Weg nicht ohne Probleme, vor allem wenn wir mit Marx anerkennen, dass der Kapitalismus als "automatisches Subjekt" agiert und nicht Ergebnis von tiefgründiger Reflexion ist. Transformation und Befreiung allerdings sind ohne bewussten und überlegten Kurswechsel unmöglich. Aber gerade angesichts der kapitalistischen Krise, in der wir uns befinden und höchstwahrscheinlich lange bleiben werden, von entscheidender Bedeutung.

Es handelt sich mit anderen Worten um die Durchsetzung eines "Paradigmenwechsels", der vielleicht von der Krise begünstigt wird. Das stets gegenwärtige Risiko dabei ist jedoch, dass jede Revolte steckenbleibt, wenn sie das "automatische Subjekt" nicht ausdrücklich zum Gegenstand der Auseinandersetzung macht und sich auf eine immanente Reform eben dieses Subjekts beschränkt - und so zu einer unverhofften Hilfe für dieses verkommt. Allerdings enthält gerade Latouches Gedanke, dass "decroissance" in einer Gesellschaft, die im Horizont des Wachstumsdenkens befangen bleibt nicht möglich ist, die Antikörper gegen jenes Abdriften. Es liegt jedoch an uns selbst, die Kritik und die Konfliktaustragung in die richtige Richtung zu lenken. Sonst geht bloß das klägliche Spiel der "Interessenvertretung" weiter, statt dass wir das eigene Leben in die eigenen Hände nehmen.

Der anstehende Kurswechsel, meint Latouche, lässt sich nicht mit Wahlen, einer neuen Mehrheit und einer besseren Regierung realisieren. Es braucht nicht mehr und nicht weniger als eine "Kulturrevolution". Denn bevor an eine Umwälzung der Strukturen zu denken ist, geht es darum, auf einer anderen Ebene zu arbeiten, auf einer "mehr menschlichen": Dem Altruismus gegen den Egoismus, der Kooperation gegenüber der Konkurrenz, der Freude an freier Zeit und Spiel gegen die Arbeitsbesessenheit, dem geselligen Umgang über die Konsumwut, der Selbstbestimmung gegen die Fremdbestimmung, der Lust am schönen Werk über die Effizienz der Arbeit die Oberhand verschaffen. Alles, was hier gefördert werden soll, hat in der Massenkultur einen gewissen Platz, ist unter den Leuten durchaus lebendig, wird aber negiert, behindert und ist vor allem vom erwähnten "automatischen Subjekt" dienstbar gemacht.


Kritik der Wahrheit

Zu diesem schwierigen, aber notwendigen Ausweg gehört auch die Suche nach einem anderen Umgang mit der Umwelt und folglich auch eine Kritik der mathematisch-experimentellen Naturwissenschaft, um ihren Einfluss und ihre absolutistischen und universalistischen Anmaßungen in Frage zu stellen (was aber keineswegs heißt, sich in eine Welt des Aberglaubens zu flüchten, der ja in Wirklichkeit bloß die Kehrseite des wissenschaftlichen Absolutismus ist). Die Natur ist nicht beherrschbar, es geht um eine harmonische Eingliederung in sie. Die Einstellung eines Räubers ist durch die eines guten Gärtners zu ersetzen, wie Latouche sagt. Dazu muss man die Anmaßung eines Galilei aufgeben, dass, was nicht mess- und berechenbar, auch nicht real ist, also nicht existiert, keine Wirkung zeitigt, nicht den Rang von "Wahrheit" hat.

Nur so überschreitet man zugleich den Horizont des Kapitalismus. Das Ergebnis soll nicht, man muss das wiederholen, ein Abgleiten in einen neuen mittelalterlichen Obskurantismus sein (falls das Mittelalter wirklich so finster war). Es geht vielmehr darum, die Hypertrophie naturwissenschaftlicher Wahrheit als der heute einzig gültigen, dazu bestimmt über den Wahrheitsgehalt des Existierenden zu befinden, zu redimensionieren. Über den Mond z.B. kann man sagen, er sei der Satellit der Erde. Er ist aber auch jenes Ding am Himmel, in dem das Kind in Hebels Gedicht "Der Sommerabend" ein Männchen in Jacke dahingehen sieht, oder jener, der Leopardis Gedicht "Alla luna" inspiriert hat. Bloß hat eine poetische Aussage nicht die Bedeutung einer wirklichen, für die Menschen relevanten Wahrheit, sie wird höchstens als eine ästhetische Improvisation angesehen, eine Art rhetorischer Freiheit, die man sich in der Rede nimmt und dabei natürlich die einzige, letzte und definitive Wahrheit der alles beherrschenden naturwissenschaftlichen Aussage nicht anzweifelt. Es geht darum, auch die Ansprüche zur Geltung zu bringen, die gerade von einer Redeweise wie der poetischen erhoben werden, die sich ausdrücklich nicht auf solide naturwissenschaftliche Grundlagen stützen, die deswegen aber nicht weniger ihre raison d'être, ja geradezu Notwendigkeit für den Menschen haben, die wieder anerkannt und als "wirkliche Wahrheit" im alltäglichen Leben der Menschen geschätzt werden muss.

Genau das könnte auch für gewisse Züge von Populärkulturen gelten, die im allgemeinen als Ausdruck primitiver und naiver Beziehungen zwischen den Menschen und der Erde abgehandelt werden, sowie für die handwerklichen Fertigkeiten, die ebenso als ineffektiv und insuffizient für die Erfordernisse einer Zivilisation verachtet werden, die auf einer industriellen Kultur mit in alten Zeiten unvorstellbarer Produktivität beruht.

Eine solche Redimensionierung bedeutet jedoch nicht - ich sage es noch einmal -, auf die Naturwissenschaft und ihre Methoden einfach zu verzichten, sondern meint eben Neubemessung, Beschneidung ihrer absolutistischen Anmaßungen und Eingrenzung in den ihr eigenen Bereich sowie Rückbindung an andere, weniger objektivierende Instanzen von Erkenntnis. Eine Suche nach dem "Maß" also gegenüber der "Hybris" der Moderne, dem "Unmaß", das dem verrückten prometheischen Ehrgeiz und Machtwillen des modernen Mannes eigen ist. Die Hybris, das Unmaß des Herrn und Meisters der Natur hat den Platz des Sich-Einfügens in eine Umwelt eingenommen, die man in vernünftiger Weise ausbeutet, wie sich Latouche ausdrückt. Eine "vernünftige Ausbeutung", die voraussetzt, dass man das kapitalistische Paradigma der Ökonomie und Produktivität aufgegeben hat, das Paradigma einer Welt, die sich auf eine Art von Wissenschaft stützt, die nicht zufällig mit ihr entstanden ist. Ein Ökonomismus, der natürlichen Überfluss mittels künstlicher Schaffung von Mangel und Bedürfnis in Knappheit verwandelt, indem Natur privatisiert und kommodifiziert wird.


Paradoxe Revolution

Eine echte Revolution also, die sich auf Vertrauen in die Fähigkeiten des Menschen stützt, wenn er sich einmal vom Zugriff des "automatischen Subjekts" befreit hat, auf den großen Reichtum gesellschaftlichen Erfindergeists, sobald einmal Kreativität und Genie nicht für Ökonomie und Produktivismus verschwendet oder von ihnen gedämpft werden. Auch die Arbeit bekommt in diesem Kontext eine neue Bedeutung. Sobald sie einmal nicht mehr von den kapitalistischen Erfordernissen der Akkumulation und Ausbeutung bestimmt ist, verschlingt sie nicht länger das Leben der Menschen. Sie wird zu einer weder hektischen noch totalitären Betätigung, zu einer, der es um die Herstellung von Gütern geht, die den Menschen nützen und ihr Wohlbefinden fördern, das nunmehr in Begriffen sozialer Beziehungen, des Freiseins und des Glücks statt des Besitzes und der Entfremdung gefasst wird.

Die zügel- und sinnlose Produktion von Waren, die de facto niemand je gewünscht hat (und die, um verkauft zu werden unaufhörliche Werbefeldzüge brauchen, die den Bedarf erst herstellen), die Verwüstung der natürlichen Umwelt, der mörderische Angriff auf Länder und ihre Bewohner, deren einzige Schuld es ist, auf Ressourcen zu sitzen, die für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verrücktheit unabkömmlich sind - dies alles soll verschwinden zu Gunsten sinnvoller Herstellung mit völlig anderer Ausrichtung.

"Decroissance" schließt zugleich quantitative Reduktion und qualitative Transformation der Arbeit ein. Freilich ist auch dieser Übergang um einiges komplexer, als man sich vorstellen mag. Es handelt sich nicht "einfach" darum, die geltende ökonomische Ordnung umzustürzen, das unrechtmäßig Entzogene den Ausgebeuteten zurückzuerstatten und eine den Bedürfnissen angemessene Verteilung der Güter einzuführen. Es braucht mehr: den Zauber des Lebens, freie Zeit und Spiel und reiche soziale Beziehungen. Latouche schließt an Hannah Arendt an: Nicht nur die beiden verdrängten Bestandteile der vita activa, die Tätigkeit des Handwerkers und Künstlers und das eigentliche politische Handeln sollen ihr Bürgerrecht wiederfinden, auch die vita contemplativa selbst soll rehabilitiert werden.

"Decroissance" ist nicht jene rückwärtsgewandte und tendeziell rechte Ideologie, als die sie zuweilen dargestellt wird. Das Risiko dahin abzudriften, besteht aber zweifellos, wenn sie in verwässerter und verbogener Form zu einem systemimmanenten Ausweg gemacht wird. Die Menschen müssten bloß ein "nüchternes" und moralisches Leben in den Tugenden der Sparsamkeit und Genügsamkeit führen, damit der "Standort" auch in diesen dunklen Krisenzeiten reüssieren könne. Gegen derlei Verdrehungen ist "decroissance", wie Latouche sie beschreibt, sicherlich ein gutes Antidot. Der Wandel, den sie erfordert, ist in der Tat unvereinbar mit den Erfordernissen kapitalistischer Produktion und Akkumulation. Ihre realistischen und vernünftigen Vorschläge haben daher paradoxerweise wenig Chancen auf konkrete Realisierung und noch weniger auf Erfolg ohne einen vollständigen Umsturz des Bestehenden und die Schaffung von dessen Voraussetzung, der Änderung der Vorstellungswelt, die allein die Perspektive einer selbstbestimmten und convivialen (Ivan Illich) Gesellschaft hervorbringen kann.

Andererseits schließt die Kritik der Moderne nicht ihre schlichte Ablehnung ein als vielmehr ihre Überwindung. Es ist durchaus im Sinne des Emanzipationsvorhabens der Aufklärung und der Errichtung einer selbstbestimmten Gesellschaft, dass wir das Scheitern der Moderne angesichts der herrschenden kapitalistischen Fremdbestimmung verkünden. Mit einer paradoxen Verwirklichung jener Ideale, die die "decroissance" in der Tat zu bekämpfen propagiert, vertritt Latouche ein Denken, das m.E. verdient, bedacht und anerkannt zu werden. Die wahrlich finsteren Zeiten, die wir jetzt zu durchqueren haben, verlangen Erklärungen und Auswege, die auf Möglichkeiten verweisen, die vielleicht utopisch und fern erscheinen, aber anziehend und mitreißend sind. Ob sie verwirklicht werden, können wir nicht sagen. Eins aber ist sicher: Es wird nicht damit gehen, dass man die Regierenden, die Unternehmer und dergleichen anfleht, jene doch bitte zu realisieren. Das werden wir eher in erster Person tun und zur Befreiung vom Kapitalismus einen neuen selbstbestimmten Anlauf nehmen müssen, der uns hoffentlich einmal über dieses kriminelle und verrückte System hinausbringt und zu einer neuen Epoche führt, in der - um eine berühmte Metapher von Marx aufzunehmen - der Mensch sich auf die Füße stellt und endlich auf seinen Beinen zu laufen beginnt. Es geht gewissermaßen darum, eine Wette abzuschließen, auch diese vielleicht so paradox wie jene von Pascal, aber nötig wie noch nie. Was wir zu verlieren haben, sind heute im Grund mehr denn je unsere Ketten. Und eine Welt zu gewinnen.

(*) Übersetzt aus dem Italienischen und bearbeitet von Lorenz Glatz


Serge Latouche, Petit traité de la décroissance sereine, Mille e une nuits 2007.
Serge Latouche, Breve trattato sulla decrescita serena, Bollati Boringhieri 2008.
Serge Latouche, Farewell to Growth, Polity Press 2009.

Eine deutsche Übersetzung ist bis dato noch nicht erschienen.

Raute

2000 Zeichen abwärts

Ferngesteuert

Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten!" Dieses Sätzchen erlangt angesichts von Autos, die nicht mehr zu bremsen sind, eine neue Bedeutung. Menschen rasen in den Tod, weil die Technik versagt. Die Bremsen bremsen nicht, weil die Gaspedale hängen geblieben sind, heißt es in den Nachrichten. Das ist ja wie ein Reality-Alptraum. Wie ein wahr gewordener Horrorstreifen. Falls sich jemand so etwas Banal-Verrücktes überhaupt auszudenken wagen würde. Oder sind Autos schon so weit, dass sie die unentwegte Forderung, in allen Lebenslagen ordentlich durchzustarten, allzu ernst genommen haben? (Vgl. mein "Durchstarten!" in Streifzüge 37/2007.)

Kann ein Gaspedal überhaupt hängen bleiben? Ist in Autos nicht längst fast alles digitalisiert? Ein Auto könnte heute genauso über einen "Joystick" gesteuert werden. Dies wird auch bald der Fall sein. Aus Gründen der Gewohnheit ist die Handhabung aber noch fast so wie vor hundert Jahren. Ob da nicht doch eher "elektromagnetische Unverträglichkeiten oder digitales Wirrwarr hinter den eigenwilligen Pedalen stecken", fragt sich hoffentlich nicht nur ein ZEIT-Redakteur. Selbst einem Laien erscheint das doch viel naheliegender.

Wie berechenbar, wie zurechnungsfähig ist unser digital gewordener Alltag noch? Sind die damit bezweckten Vereinfachungen wirklich welche? Oder bleibt da oft nur Hoffen (und Beten), auch wenn's nicht immer tödlich endet wie im Toyota? Gesundheitsfördernd ist all der Nervkram jedoch auch nicht. Zum Beispiel, wenn keiner sagen kann, wie lange auf das Geld von der Krankenkasse zu warten sei, weil es ja digital auf den Weg geschickt wurde. Welch Logik! Oder haben Sie schon einmal - wie meine Kollegin - 7(!) Stunden Telefongespräche über 3 Tage verteilt auf sich genommen, um sich für ein Seminar anzumelden? Auch meine Anmeldung per Mail wurde nicht akzeptiert - weil sie ja nur digital möglich ist (was mitnichten funktioniert). Zu so vielen Telefonaten wie meine Kollegin lasse ich mich aber nicht fernsteuern vom "Fond Gesundes Österreich" (Sic!).

Übrigens, wie war das mit Goethes "Zauberlehrling"? Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Und das Wasser, das uns schon bis zum Hals steht?

M.W.

Raute

Rezension

Mattersburger Kreis (Hg.): Solidarische Ökonomie zwischen Markt und Staat. Gesellschaftsveränderung oder Selbsthilfe?,
Mandelbaum Verlag, Wien 2009, 124 Seiten, ca. 9,80 Euro


Ausgehend von Erfahrungen in Lateinamerika verdichtet sich seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum der Diskurs um neue Formen selbstbestimmter Produktion. Bedarfs- und Gemeinwesenorientierung, betriebliche Selbstverwaltung und die Ausrichtung an sozialen und ökologischen Kriterien sind bestimmende Merkmale "Solidarischer Ökonomie". Das neue JEP bietet dazu fundierte Beiträge. Trotz spürbarer Sympathie für den Gegenstand ihrer Untersuchung weichen die AutorInnen widersprüchlichen Aspekten nicht aus.

Oftmals aus der Not geboren, zwischen Selbsthilfe und dem Anspruch auf gesellschaftliche Transformation, drohen die Initiativen einerseits von der marktwirtschaftlichen Konkurrenz zerrieben, anderseits von eben diesen Strukturen vereinnahmt zu werden. Bleiben die einzelnen Projekte für sich, geht die Selbstverwaltung nicht selten mit Selbstausbeutung einher.

Gelingt die Vernetzung, der Aufbau von "Produktionsketten", kann sich ein Stück des Weges in Richtung einer demokratischen, egalitären und solidarischen Gesellschaft erschließen. An einer Reihe von Beispielen aus Brasilien werden Perspektiven und Herausforderungen "instandbesetzter Betriebe" verdeutlicht, sehr differenziert auch die Darstellung der baskischen Industriekooperative Mondragón. Die Beiträge nehmen dabei ebenso die gesetzlichen Rahmenbedingungen wie die teils mangelnde Unterstützung seitens der Gewerkschaften in den Blick.

P.Z.

Raute

Immaterial World

Kritische Psychologie

von Stefan Meretz

Schon mehrfach war in der Kolumne von dem Menschen die Rede, dem gar die Gesellschaftlichkeit als Natureigenschaft zugeordnet wurde. Die Formulierung der gesellschaftlichen Natur des Menschen ist kein rhetorischer Trick, um zwei eigentlich unverbundene Sphären zusammenzubringen, sondern wörtlich gemeint: Der Mensch ist aufgrund seiner biotischen Ausstattung zur Vergesellschaftung fähig. Diese zentrale Erkenntnis stammt aus der Kritischen Psychologie, und um diese soll es im Folgenden gehen.

Die Kritische Psychologie entstand im Zuge der Studierenden-Bewegung Ende der 1960er Jahre an der Freien Universität Berlin. Mitbegründer und zentraler Mentor war der damals schon etablierte Hochschullehrer Klaus Holzkamp (1927-1995). Ziel dieser Strömung der damals breit geäußerten Kritik an der bürgerlichen Psychologie war es, ein neues wissenschaftliches, marxistisch fundiertes Paradigma für eine Psychologie vom Standpunkt des Subjekts zu entwickeln. Als Unterscheidungsmerkmal dieses "positiven" Ansatzes in Abhebung von anderen kritischen Ansätzen gilt das große "K" im Namen.

Im Basiswerk "Grundlegung der Psychologie" von Klaus Holzkamp werden Grundbegriffe entwickelt, mit denen Individuen ihre je eigene Situation im Prozess sozialer Selbstverständigung aufklären und neue Handlungsmöglichkeiten entwickeln können. Das "je" verweist auf die Verbindung von Individualität und Verallgemeinerbarkeit, denn das Subjekt ist nicht bloß isolierte und unterworfene "Warenmonade", sondern besitzt auch unter kapitalistischen Bedingungen Handlungsmöglichkeiten.

Die Handlungsmöglichkeiten sind grundsätzlich doppelt bestimmt. Sie können entweder dazu dienen, nahegelegte Denk- und Handlungsformen zu übernehmen, um sich auf Kosten anderer zu behaupten. Da jedoch "ich" für Andere der "Andere" bin, ist in dieser restriktiven Weise, die eigenen Existenzbedingungen zu sichern, stets eine latente oder manifeste Selbstfeindschaft enthalten. Die zweite, grundsätzlich andere Alternative besteht nun darin, die beschränkenden und selbstfeindlichen Denk- und Handlungsoptionen zu überschreiten, um im Zusammenschluss mit anderen die Handlungsmöglichkeiten in verallgemeinerter Weise zu erweitern, so dass sie strukturell nicht mehr zu Lasten Anderer gehen.

Die zweite Alternative beginnt in jeder Situation und an jedem Ort, ist aber unter den gegebenen Bedingungen mit bloß individueller oder gemeinschaftlicher Reichweite nur partiell realisierbar. Die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten in verallgemeinerter Weise schließt also notwendig die Perspektive der Aufhebung des Kapitalismus als bestimmender sozialer Form der gesellschaftlichen Vermittlung ein, also die Überwindung von Verhältnissen, in denen der Mensch "ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Marx).

Dies unterscheidet die Kritische Psychologie fundamental von kontrollwissenschaftlichen Ansätzen der traditionellen Psychologie, für die das Verhalten von Individuen schon konzeptuell bloß Resultat von Umweltbedingungen ist. In jüngster Zeit wird in der Neuro-Forschung diese Vorstellung einer "Außendetermination" durch ein Konzept der "Innendetermination" ergänzt, bei dem das "Gehirn" die Rolle eines Homunkulus einnimmt und das Individuum steuert. Damit werden selbst bürgerliche Kernkonzepte wie die "Willensfreiheit" unter ideologischen Beschuss genommen.

Psychoanalytische Ansätze werden hingegen als Theorien vom Standpunkt des Individuums gewürdigt, aber gleichzeitig dafür kritisiert, dass die Gesellschaft konzeptuell als Gegensatz zur menschlichen Natur gefasst wird, die grundsätzlich der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse entgegenstehe. Mit dem Begriff der gesellschaftlichen Natur des Menschen begründet die Kritische Psychologie, dass es die jeweils historisch-besondere soziale Vermittlungsform ist, die über die Art der Teilhabe an der Herstellung der Lebensbedingungen und damit die Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung entscheide.

Die Kritische Psychologie hat auf viele Bereiche ausgestrahlt. Auch ein Ursprung der "Keimform-These" ist in ihr zu finden, und zwar dort, wo die Frage erörtert wird, wie evolutionär qualitativ neue psychische Funktionen entstehen konnten. Der Keimform-Ansatz überträgt diese Überlegungen auf die gesellschaftliche Entwicklung und fragt, wie sich historisch eine qualitativ neue gesellschaftliche Form durchsetzen kann.

Im Zentrum steht dabei der "dritte Schritt" (von fünf), mit dem die doppelte Funktionalität des "Neuen im Alten" begreifbar werden soll. Einerseits muss das Neue die Logik des Alten innerhalb der bisherigen Systemlogik bedienen, gleichzeitig aber muss es in seiner wesentlich eigenen Funktionsweise inkompatibel zur der alten Logik sein. Gleichzeitig "funktional, aber nicht absorbierbar" zu sein, ist mit einer formalen Entweder-oder-Logik nicht zu erfassen (vgl. dazu "Über Logisches" in Streifzüge 43/2008), sondern setzt dialektisches Denken voraus.

Als Beispiel wird häufig die Freie Software angeführt, die einerseits zur Kosteneinsparung beiträgt und insofern innerhalb der alten Verwertungslogik funktional ist, gleichzeitig aber als Nicht-Ware nicht auf jener basiert. Sie fungiert aus Sicht des Kapitals also eher wie ein kostenloses Gut, das gleich anderen kostenlosen Gütern in der Produktion genutzt werden kann. Freie Software wird jedoch im Unterschied zu natürlichen Ressourcen selbst hergestellt, und zwar in Form der Peer-Produktion außerhalb der Logik der Wertverwertung - der Aspekt, in dem sie über den Kapitalismus hinaus weist.

Die gesellschaftstheoretische Grundlage der Kritischen Psychologie orientiert sich am vorherrschenden Verständnis eines traditionellen Marxismus. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem historischen Versagen des Traditionsmarxismus steht auch in der Kritischen Psychologie noch aus. Eine Möglichkeit, dies nachzuholen, ist die 7. Ferienuniversität Kritische Psychologie, die vom 24. bis 28. August 2010 in Berlin stattfindet. Schwerpunktthemen sind die Kritik des neuen Biologismus, das Verhältnis von Gesellschaftsanalyse und subjektwissenschaftlichen Kategorien sowie Widersprüche in der beruflichen und gesellschaftlichen Praxis mit der Kritischen Psychologie.

Infos: www.ferienuni.de.

Raute

Marx' Kritik am Gothaer Programm oder: Kein Weg aus dem Kapitalismus

von Ulrich Weiß

Auf die Marxsche Kritik am Gothaer Programm der Sozialdemokratie von 1875 bezogen sich die Theoretiker der "sozialistischen" Warenproduktion positiv und zwar zu Recht. Die Annahme einer Übergangsgesellschaft, in der auf dem Weg ins "Reich der Freiheit" noch Kategorien der Warenproduktion und des bürgerlichen Rechts gelten sowie der Staat unerlässlich ist, erschienen auch mir zu DDR-Zeiten überzeugend.

Ernsthafte Kapitalismuskritiker müssen sich auch heute die Frage stellen: Wie ist der Übergang denkbar? Kann eine besondere Übergangsgesellschaft mit heute herrschenden Kategorien beschrieben werden? Wenn nicht, wie dann?

Gemessen an der behaupteten geschichtlichen Mission geriet der Real-"Sozialismus" samt seiner Warenproduktion in ein Dilemma. Auch in der Aufstiegsphase eröffnete die nachholende Modernisierung keinen Weg aus dem Kapitalismus (oder um ihn herum), sondern nur einen in ihn hinein. Dieser Prozess dauert in China noch an. "Sozialistischer" Staat, "sozialistische" Warenproduktion und entsprechende Ideologie sind nicht vorrangig als das zu begreifen, was sie auch waren - Ausdruck eines grundsätzlichen theoretischen Irrtums. Auch hier gilt, was Marx über die vulgärsozialistischen Auffassungen Proudhons und der Arbeiterbewegung sagte: ein "historisch gerechtfertigter Standpunkt". (MEW 2:33) Durch die Geschichte belehrt sind heute das Gothaer Programm, Marx' Kritik daran und seine "Gegen"-Vorstellungen von der so genannten ersten Phase des Kommunismus als geradezu klassische Ausdrücke praktischer und theoretischer Unmöglichkeiten zu begreifen.

Von einem historischen Niveau aus, da die bürgerliche Gesellschaft noch über enorme zivilisatorische Potenzen verfügte, wurde versucht, den Übergang zum Kommunismus in einer solchen Weise zu antizipieren, dass er den Lebensnotwendigkeiten realer Bewegungen entspricht eine vergängliche Unmöglichkeit.

Die zweite grundsätzliche Unmöglichkeit, eine vom Entwicklungsstand der bürgerlichen Gesellschaft unabhängige, bestand darin, vom Standpunkt einer kapitalistischen Hauptklasse, vom Proletariat aus, Kommunismus denken zu wollen, zu erwarten, den Proletariern als Proletariern könnte es noch um mehr gehen als um die innerkapitalistischen Verbesserungen ihrer Lebensverhältnisse, erfassbar in den Kategorien der bürgerlichen politischen Ökonomie.

Das Gothaer Programm machte Marx fassungslos: "Verwerflich, demoralisierend" (MEW 19:21), "ungeheuerliches Attentat auf vorhandene wissenschaftliche Einsicht in unsrer Partei" (MEW 19:25f), ideologische Flausen. Vom demokratischen Wunderglauben und Untertanenglauben an den Staat verpestet, überschreite es nicht das bürgerliche Niveau. (MEW 19:21ff)

Marx Wut richtete sich gegen die Autoren, doch die Programmforderungen entsprachen offenkundig einem im Proletariat sich immer wieder reproduzierenden Bedürfnis. Nur gegen den Widerstand der Parteiführer, "der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und der Redaktion des Vorwärts" (MEW 22:582) konnte Engels 1891 die Marxkritik veröffentlichen - in entschärfter Variante. Das für den Erfurter (Programm-)Parteitag angeblich "wichtigste ... Aktenstück" (MEW 22:90) provozierte "einen Sturm in der sozialistischen Presse ... Es fielen damals sehr bittere Worte, und sie würden noch viel herber ausgefallen sein, wenn nicht eben Friedrich Engels der Veröffentlicher und Karl Marx der Verfasser gewesen wäre. Aber energisch betont wurde, das von Karl Marx in so schroffer Weise verurteilte Programm habe seine Aufgabe herrlich erfüllt. Und bis zu einem gewissen Grade war das auch richtig. Warum? Weil das Gothaer Programm mit all seinen Fehlern auf der einen Seite doch den realen Bedürfnissen der Arbeiterbewegung ... genügenden Ausdruck lieh und auf der anderen ihr Prinzip deutlich und energisch betonte." (Bernstein E., Noch etwas Endziel und Bewegung. Ein Brief an Otto Lang (Oktober 1899), In: Sozialistische Monatshefte, Jg. 1899, Nr. 10, S. 504)


Wut

Was empörte Marx? Redensarten über die Arbeit und die Gesellschaft. Das Programm vermeide klare Bestimmungen der "in der jetzigen kapitalistischen Gesellschaft [geschaffenen] ... Bedingungen ..., welche die Arbeiter befähigen und zwingen, jenen geschichtlichen Fluch zu brechen." (MEW 19:17) Statt die kapitalistische Gesellschaft, die zu überwinden die revolutionäre Sozialdemokratie angetreten war, "als Grundlage des bestehenden Staates ... zu behandeln", sieht sie diesen "als selbständiges Wesen ... 'das seine eignen geistigen, sittlichen, freiheitlichen Grundlagen' besitzt." (MEW 19:28)

Im Programm ist die Rede vom unverkürzten Arbeitsertrag, vom gleichen Recht, gerechter Verteilung, progressiver Einkommensteuer, vom freien Staat, Volksstaat. Marx zeigt den Unsinn dieser Lassalleschen Stichworte bezüglich der kapitalistischen Produktionsweise bzw. der kommunistischen Gesellschaft. Was die Bourgeoisie unter gerechter Verteilung verstehe - Kauf, Verkauf von Waren nach ihrem Wert, Ware Arbeitskraft eingeschlossen, - sei tatsächlich "die einzige 'gerechte' Verteilung auf Grundlage der heutigen Produktionsweise". Es würden eben nicht "die ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt", es entspringen "umgekehrt die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen". (MEW 19:28) In der kommunistischen Produktionsweise sei dagegen die Gerechtigkeits- und Gleichheitsforderung gegenstandslos. Da gilt "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" Sozialistische Sektierer schwatzen "über 'gerechte' Verteilung", aber wieso geschieht das in der deutschen Partei, in der "die realistische Auffassung ... Wurzeln ... geschlagen" hatte? Es sei "überhaupt fehlerhaft ..., von der sog. Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen". Das Programm folge dem Vulgärsozialismus und den bürgerlichen Ökonomen, "die Distribution als von der Produktionsweise unabhängig zu betrachten und zu behandeln, daher den Sozialismus hauptsächlich als um die Distribution sich drehend darzustellen" (19:21f).

War die Popularität solcher Heilserwartungen in der Arbeiterbewegung (heute bei Attac, in linken Parteien) Ausdruck mangelnder Bildung und der Demagogie bürgerlicher Ideologen? Ich folge Marx' Religionskritik und begreife dies nicht vorrangig als Betrug einer irrenden Führerschicht, nicht als Opium für, sondern als Opium des Volkes (MEW 1:378). Solche Ideologien gehen vor allem aus den jeweiligen Existenzbedingungen hervor, sind also nicht durch Aufklärer aufhebbar, sondern nur durch Selbstaufklärung in Verbindung mit wirklicher Aufhebung der Zustände, die solcher Vorstellungen bedürfen. (vgl. MEW 1:379)

Mit diesem Marx ist zu verstehen, dass das Debakel von Gotha tiefer wurzelt, als er es selbst in seiner Wut sieht. Die Theorie "ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen". (MEW 1:385) Marx' Theorie - sofern sie die Möglichkeit des Kommunismus begründet - schlug in der Arbeiterbewegung keine Wurzel. Ihrer Existenz und die ihrer eigenen politischen und gewerkschaftlichen Bewegung legte den Proletariern offenkundig Anderes nahe als die Verwirklichung der ihr zugeschriebenen "weltgeschichtliche[n] Rolle." (MEW 2:38)

Wenn sich die Proletarier dem theoretisch begründeten Marxschen Kommunismus nicht öffneten, Publikationen und Schulungen verpufften, konnte man damals noch auf die Zukunft hoffen. Doch gerade die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise bis zum heute erkennbaren Punkt, da die Voraussetzungen für die Aufhebung der kapitalistische Produktionsweise tatsächlich erst entstehen (vgl. MEW 42:598ff), trifft die einstige kämpferische Arbeiterbewegung in ihrer Auflösung.


Handlungen

Er zweifelte nicht an der "historischen Mission", entsprechend ihrer Lebenslage würden die Proletarier seine Theorie doch massenhaft aufgreifen.

Zweitens greift er auf seine Kritiken am Proudhonschen Vulgärsozialismus zurück und belegt, dass die Vorstellungen Lassalles die Unterwerfung der Arbeiterbewegung unter die gegebenen Verhältnisse bedeuten.

Drittens setzt er seinerseits den Lassalleschen Phrasen fassliche Bilder eines Weges in die kommunistische Gesellschaft entgegen.

Dieser Textteil wurde vom "Sozialismus" und der geschichtsmächtigen revolutionären Arbeiterbewegung wie eine Bibel behandelt - es entsprach deren Existenzbedingungen und ging in die so genannte Politische Ökonomie des Sozialismus ein. Dies hat wirklich Geschichte gemacht. Doch sozusagen nach der Feier und gemessen an Marx' sonstigem theoretisch-praktischen Anspruch - die Arbeiterbewegung müsste immer auch das Endziel der Bewegung im Auge haben - zeigt sieh dies als ein extrem widersprüchliches, ein quasi antimarxsches Marxdokument. Es steckt voller vulgärsozialistischer Zugeständnisse. Man kann das als Taktik verstehen, als Versuch, überhaupt noch eine geistige Brücke zwischen dem tatsächlichen Horizont der Arbeiterbewegung und Marx' Kommunismusvorstellungen zu schlagen. Doch gerade dieses Dilemma - es blieb für die revolutionäre Arbeiterbewegung und den Real-"Sozialismus" bestehen - drückt die logische Konsequenz jeder marxistischen Grundentscheidung aus, das Proletariat als Subjekt der kommunistischen Umwälzung anzusehen. Das zwingt dazu, zumindest den Beginn des Kommunismus in den Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft zu beschreiben, das zu betreiben, was Marx an Proudhon kritisierte: "Kritik der Nationalökonomie vom nationalökonomischem Standpunkte aus". Dieser bis weit ins 20. Jahrhundert hinein "historisch gerechtfertigte Standpunkt" war ein nichtkommunistischer.

Der junge Marx: Proudhon verfolge "keine abstrakt wissenschaftlichen Zwecke ..., sondern [stelle] unmittelbar praktische Forderungen an die Gesellschaft ... [Das ist] motiviert und berechtigt durch die ganze Entwicklung, die er gibt, sie ist das Resumé dieser Entwicklung". Proudhon: "Gerechtigkeit, nichts als Gerechtigkeit; darin fasst sich meine Darlegung zusammen." (MEW 2:24f) "Nachdem er sich die Frage aufgeworfen, ob und warum die Menschheit sich [im Streben nach Gerechtigkeit - UW] so allgemein und so lange habe irren können, nachdem er die Lösung gefunden, dass alle Irrtümer Stufen der Wissenschaft sind, dass unsre unvollständigsten Urteile eine Summe von Wahrheiten einschließen, die für eine gewisse Zahl von Induktionen wie für einen bestimmten Kreis des praktischen Lebens ausreichen ... kann [Proudhon] sagen, dass selbst eine unvollkommne Erkenntnis der moralischen Gesetze für einige Zeit dem gesellschaftlichen Fortschritt genügen könne." (MEW 2:27) Genau dies hatten Bernstein und andere für das Gothaer Programm als durch die Bewegung gerechtfertigt geltend gemacht. Genau das war wohl der Grund, warum Marx letztlich das Programm so stehen ließ, es nicht öffentlich anprangerte und selbst in seinen positiven Bildern der Übergangsgesellschaft eine "unvollkommene" (nämlich innerkapitalistische) Darstellungen gab.

Heute ist leichter zu begreifen: Die tatsächliche Rolle der Arbeiterbewegung bestand darin, die kapitalistische Entwicklung auf einen einigermaßen zivilisationsverträglichen Weg zu zwingen. Die allgemeine Gerechtigkeitsforderung war dafür eine scharfe Waffe. Doch heute, da die kapitalistische Produktionsweise selbst ihre zivilisatorischen Potenzen vernichtet, ist diese Waffe stumpf geworden. Wege aus dem Kapitalismus eröffnet sie nicht.

Proudhon fasste "Gestaltungen des Privateigentums, z.B. Arbeitslohn, Handel, Wert, Preis, Geld etc. nicht ... selbst als Gestaltungen des Privateigentums." (MEW 2:33) Seine Kritik der Nationalökonomie blieb "in Voraussetzungen der Wissenschaft, die sie bekämpft, befangen", im Privateigentum. (MEW 2:32) Er begriff das Ganze der kapitalistischen Produktionsweise und dessen Grundlage, den Tauschwert, nicht. Bei ihm hat jedes ökonomische Verhältnis "eine gute und eine schlechte Seite", die gute "von den Ökonomen hervorgehoben, die schlechte von den Sozialisten angeklagt". Die erblicken im "Elend nur das Elend" (MEW 4:143). Das "Verhältniss der Waren zum Geld" verkennend betrachtete Proudhon "das zinstragende Kapital als die Hauptform des Kapitals". Er wollte den zinslosen Kredit und auf ihm basierend die Volksbank, also "besondere Anwendung des Kreditwesens, angebliche Abschaffung des Zinses, zur Basis der Gesellschaftsumgestaltung machen", eine "spießbürgerliche Phantasie" (MEW 16:30f). Proudhon habe aber die Revolution nicht verraten. "Es war nicht seine Schuld, wenn er ... unberechtigte Hoffnungen nicht erfüllt hat." (MEW 16:29) Das kann ergänzt werden: Es ist nicht Schuld des Proletariats und seiner Parteien und Organisationen, wenn es seinen begrenzten, aber "historisch gerechtfertigten Standpunkt" nicht überschreitet. Und: Wo der spätere ML die Hoffnung auf die proletarische kommunistische Mission mit der praktischen Arbeiterbewegung zu verbinden versuchte, gab es gar keine andere Möglichkeit als die Zukunft in den Kategorien der bürgerlichen politischen Ökonomie darzustellen, etwa eine sozialistische Warenproduktion und sozialistische Lohnarbeit anzunehmen.

In den Grundrissen stellte Marx die Ware mit ihrem Doppelcharakter als ökonomische Zellform des Kapitalismus dar und übertrug deren Bestimmung sogleich auf die Ware Arbeitskraft. (MEW 42) Über sein Kapital I schrieb er: "Das Beste an meinem Buch ist 1. (darauf beruht alles Verständnis der facts) der gleich im ersten Kapitel hervorgehobene Doppelcharakter der Arbeit, je nachdem sie sich in Gebrauchswert oder Tauschwert ausdrückt; 2. die Behandlung des Mehrwerts unabhängig von seinen besondren Formen als Profit, Zins, Grundrente etc. Die Behandlung der besondren Formen in der klassischen Ökonomie, die sie beständig mit der allgemeinen Form zusammenwirft, ist eine Olla Potrida [Mischmasch]." (MEW 31:326)

Solches Mischmasch-Denken führt zur Idee, die Übel der kapitalistischen Produktionsweise durch Geld- und Bankreformen zu überwinden. Marx: "Nicht die in den Produkten inkorporierte Arbeitszeit, sondern die gegenwärtig nötige Arbeitszeit ist das Wertbestimmende." Diese schwankt beständig, sinkt im Maße der Ausbeutung durch Verlängerung der Arbeitszeit (bei gleichem Wert der Ware Arbeitskraft) bzw. durch Steigerung der Produktivität. Um ein sozusagen authentisches Geld zu erhalten, das Schwankungen der Preise, Spekulationen, Krisen, Ausbeutung ausschließen und Gerechtigkeit sichern soll, schlagen Weitling und Proudhon "Papiergeld, ein bloßes Wertzeichen", quasi Stundenzettel, vor. Durch dieses würde der Arbeiter "der steigenden Produktivität seiner Arbeit froh werden, statt dass er jetzt im Verhältnis zu ihr fremden Reichtum, eigne Entwertung schafft. ... Goldgeld mit dem plebejischen Titel: "x Arbeitsstunden" steigt oder fällt gegenüber der "gegenwärtige(n) lebendige(n) Arbeitszeit" in dem Maße wie "die in einem bestimmten Quantum Gold enthaltne vergangne Arbeitszeit beständig steigen oder fallen muss ... Um es konvertibel zu erhalten, müsste die Produktivität der Arbeitsstunde stationär gehalten werden." (MEW 42:70f) Papiernes Arbeitsgeld, Stundenzettel, folgen demselben Gesetz wie das goldene.

Verschiedene Geldformen, "Metallgeld, Papiergeld, Kreditgeld", können durchaus "der gesellschaftlichen Produktion auf verschiedenen Stufen besser entsprechen, die eine Übelstände beseitigen, denen die andre nicht gewachsen ist; keine aber ... solange das Geld ein wesentliches Produktionsverhältnis bleibt, kann die dem Verhältnis des Geldes inhärenten Widersprüche aufheben, sondern sie nur in einer oder der andern Form repräsentieren. Keine Form der Lohnarbeit, obgleich die eine Missstände der andren überwältigen mag, kann die Missstände der Lohnarbeit selbst überwältigen." Kein "sozialistisches" Arbeitsgeld kann das Erträumte erreichen, "ohne das in der Kategorie Geld ausgedrückte Produktionsverhältnis selbst aufzuheben". Proudhon vermag nicht zwischen Wert und Preis zu unterscheiden. Er kann die "allgemeine Frage über das Verhältnis der Zirkulation zu den übrigen Produktionsverhältnissen ... nicht einmal in ihrer reinen Form aufstellen, sondern nur gelegentlich darüber deklamieren." (MEW 42:58f)

Marx hatte auf "die wissenschaftliche Einsicht in unsrer Partei" gesetzt, "dass der Arbeitslohn nicht das ist, was er zu sein scheint, nämlich der Wert respektive Preis der Arbeit, sondern nur eine maskierte Form für den Wert resp. Preis der Arbeitskraft." Doch nun "kehrt man zu Lassalles Dogmen zurück, obgleich man nun wissen musste, dass Lassalle nicht wusste, was der Arbeitslohn war, sondern ... den Schein für das Wesen der Sache nahm." (MEW 19:25f) Auf Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe wird gesetzt, als ob "man mit Staatsanleihen ebensogut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn!" Der Staat wird verstanden als "Regierungsmaschinerie und sonst nichts. ... Einkommensteuer setzt die verschiednen Einkommensquellen der verschiednen gesellschaftlichen Klassen voraus, also die kapitalistische Gesellschaft." (19:29f) - der längst überwunden geglaubte Proudhonismus. (MEW 29:462)


Kommunistische Entgegnung

1. "Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus."

2. "Ebensowenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren. ... Das Wort 'Arbeitsertrag', auch heutzutage wegen seiner Zweideutigkeit verwerflich, verliert so allen Sinn." (MEW 19:19f)

Soweit so klar, doch dann entwirft Marx eben Bilder der "ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft", später Sozialismus genannt. Da diese sieh nicht auf ihrer eignen kommunistischen Grundlage entwickele, sondern "aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, ... ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft", gelten hier noch nicht die gerade genannten Bestimmungen. "Demgemäß" - das soll wohl heißen: gemäß der genannten Nähe zum Kapitalismus - erhält "der einzelne Produzent - nach den Abzügen - exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. ... Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück." (MEW 19:19)

Nach Marx' Feldzug gegen Stundenzettel eine verblüffende Aussage! Marx gibt dem Unbehagen auch gleich Ausdruck: "Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit er Austausch Gleichwertiger ist", also das bürgerliche. Was soll dem Ganzen aber eine andere soziale Form geben als die der Warenproduktion, die auf der erreichten Stufenleiter nur eine kapitalistische sein könnte? "Inhalt und Form" dieses Prinzips seien gegenüber der Warenproduktion "verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehn kann außer individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Waren äquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern ausgetauscht." "Das gleiche Recht ist hier daher immer noch - dem Prinzip nach - das bürgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sieh nicht mehr in den Haaren liegen, während der Austausch von Äquivalenten beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht für den einzelnen Fall existiert." "Trotz dieses Fortschritts ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen Schranke behaftet. Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, dass an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird." (MEW 19:19) Die verschiedenen Individuen werden auch hier "von einer bestimmten Seite (ge-)fasst, ... nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts" (MEW 19:21)

Proudhon und Weitling könnten jubeln. Ihre Stundenzettel sind wieder da - Geld, angeblich gereinigt von seinen Übeln. Vom Arbeiter, der für den Zettel, für Geld arbeitet, vom Lohnarbeiter also wird "weiter nichts" angenommen, nur die vom Bösen gereinigte gute Seite! Proudhon taucht als Marx der ersten Phase des Kommunismus wieder auf. Marx nennt dies "Missstände", die erst durch eine entschieden höhere "ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft" überwunden würden. Dann sei "die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden." (MEW 19:21) Knechtende Arbeitsteilung aber in einer Produktion auf hohem Niveau, so der Kritiker der politischen Ökonomie Marx, bedeuten Warenproduktion, Lohnarbeit, Geld, Kapital und Arbeit. Wo Arbeit "nur Mittel zum Leben" und nicht "selbst das erste Lebensbedürfnis" ist, da muss es wenigstens den stummen Zwang der Ökonomie geben, sollen die Produktionsmittel und die Arbeiter, die jene eben nicht besitzen, zusammengebracht werden. Nur das kann die Arbeiter zwingen, ihre Arbeitskraft der Verfügung eines fremden Kommandos zu unterwerfen: Scheine, Arbeitszettel, also Anspruch auf die in den von ihnen benötigten Produkten enthaltene Arbeitszeit anderer Arbeiter - was kann der Maßstab für die Vergleichbarkeit der Produkte sonst sein als die in ihnen enthaltene Arbeit überhaupt, gesellschaftlich notwendige abstrakte Arbeit? Was sind solche Produkte?: Waren. Und Arbeitsscheine?: Lohn. Und was sind die Arbeiter? Marx geht hier stillschweigend davon aus, dass nicht die Ware Arbeitskraft gekauft und verkauft wird, sondern dass - Abzüge abgerechnet - eine eindeutige Aquivalenzbeziehung zwischen geleisteter Arbeit und Anspruch auf Waren besteht, vermittelt durch die Arbeitsscheine. Jedes der Marx-Argumente gegen Proudhon trifft auf diesen Marx dieser Übergangsgesellschaft selbst zu.

Mit dem Proudhonkritischen Marx wird schon logisch das klar, was sich im Real-"Sozialismus" dann tatsächlich entwickelte: unter den genannten Voraussetzungen reproduzieren sich in der "ersten Phase" die wesentlichen Verhältnisse der Warenproduktion. Der Arbeiter bleibt Lohnarbeiter. Ein Staat, die angebliche Diktatur des Proletariats, regelt und dirigiert eine Produktion, in der in entfremdeter Tätigkeit Produkte hergestellt werden, die dem Produzenten äußerlich sind, die ihm nicht gehören, sondern dem, der darüber verfügt, dem Staat. Was ist dieser Staat anderes als der Ausdruck der Zerrissenheit dieser Gesellschaft, eine entfremdete Form der Gemeinschaftlichkeit, was sind die Staatsfunktionäre anderes als Manager des Staatskapitals? Was wird produziert?: Waren, Wert und Mehrwert.

Ein einziges Argument führt Marx an, dass die erste angeblich kommunistische Phase, mehr sein soll als eine besondere staatskapitalistische Variante der kapitalistischen Produktion: Es könne "unter den veränderten Umständen niemand etwas geben ... außer seiner Arbeit" und es könne "nichts in das Eigentum der einzelnen übergehn ... außer individuellen Konsumtionsmitteln". (MEW 19:20) Das soll wohl heißen, es könne keine Ausbeutung stattfinden.

Dem zuzustimmen, bedeutete Marx' sonstiges Denken zu verleugnen. Nicht nur der junge Marx wusste, dass knechtende "Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Ausdrücke" sind. (MEW 3:32) Dem "sozialistischen" Staat als Gesamtunternehmer und Eigentümer der Produktionsmittel stehen die Lohnarbeiter gegenüber. Und Marx hatte die Annahme widerlegt, auf hoher Vergesellschaftungsstufe könne es für den Produktenaustausch arbeitsteilig agierender Produzenten, deren Tätigkeit nicht selbst Lebensbedürfnis ist (das ist hier ja ausdrücklich ausgeschlossen), ein Mittel geben, das sich auf die im Produkt verkörperte Arbeitszeit bezieht, aber nicht Geld ist. Ist es aber Geld, verhindert auch der Marxsche Stundenzettel nicht, dass alle die Übel einer Warenproduktion reproduziert werden und seine Übergangsgesellschaft theoretisch und später auch praktisch einen Weg in den Kapitalismus hinein bedeutet.

Man kann das u.a. bei Ingo Elbe vertiefen. Das behauptete "Vergesellschaftungsprinzip in der Übergangsgesellschaft" zeigt, dass auch Marx "gelegentlich den 'seichten Utopismus' eines 'Arbeitsgelds' (MEW 23:109)" propagiert. (Elbe, I., Marx vs. Engels - Werttheorie und Sozialismuskonzeption, November 2001, www.rote-ruhr-uni.com:cms:Marx-vs-Engels-Werttheorie-und.html) Dieser Teil der Gothaer Programmkritik ging als legitime Sozialismusvorstellung in die marxistische Tradition ein. Deren tatsächlich innerkapitalistische Funktion hat sich erfüllt. Die wirkliche Arbeit nach Wegen aus dem Kapitalismus zu suchen ist nicht nur praktisch sondern auch theoretisch noch zu leisten.

Raute

Rezension

Christa Wichterich: Gleich - gleicher - ungleich. Paradoxien und Perspektiven von Frauenrechten in der Globalisierung,
Ulrike Helmer Verlag, Frankfurt am Main 2009, 240 Seiten, ca. 19 Euro


Christa Wichterich hat ein neues Buch vorgelegt, in welchem sie den aktuellen Stand der Debatte zur feministischen Globalisierungskritik im deutschsprachigen Raum, deren Kennerin sie wie kaum eine zweite ist, darstellt. Feministische Globalisierungskritik wendet sich einerseits gegen die ungleiche Verteilung von unbezahlter Arbeit (70 Prozent machen Frauen) und Eigentum weltweit (Frauen verfügen über 1 Prozent des Weltvermögens). Andererseits gegen die "Paradoxien der Gleichheit", welche in den Ländern des Nordens einen Schein rechtlicher Gleichheit für integrierte Minderheiten auf individueller Ebene vortäuschen. Die Möglichkeit von "Chancengleichheit" für weibliche Individuen und einzelne Angehörige von Minderheiten entsprechen nicht realer und materieller Gleichheit für diskriminierte Kollektive in sozialer, kultureller und ökonomischer Hinsicht.

Sozio-ökonomische Ungleichheiten zwischen Ländern des Nordens und des globalen Südens, sowie diskursive Strukturen, die blind füreinander sind, trennen Frauenbewegungen und geschlechterkritische Bewegungen weltweit. So wurde der Frauenweltmarsch aus dem Jahr 2000, der ungefähr fünf Millionen Frauen vornehmlich aus den Ländern des globalen Südens mobilisierte, von den geschlechterkritischen Bewegungen des Nordens kaum wahrgenommen. Das neue Buch von Wichterich stellt feministisches Grundwissen zur Verfügung, um aktiv in die internationalen Gespräche mit feministischen Kollektiven aus den Ländern des Südens einzutreten.

U.I.

Raute

2000 Zeichen abwärts

"Alles Leben ist Chemie"

Sie war auf Prozac". - "Wer nicht?" - Dialog vor einer Leiche in der Gerichtsmedizin (in der TV-Serie CSI Miami). Antidepressiva sind kein Indiz mehr. Die WHO erwartet, dass Depression in den nächsten Jahren "zur häufigsten Erkrankung nach Krebs und Herz-Kreislauf-Problemen" wird. Allein in Österreich sind nach ärztlichen Schätzungen zehn Prozent der Bevölkerung diesbezüglich "klinisch auffällig" bzw. "manifest krank". Wie viele darüber hinaus zumindest an der Kippe stehen müssen, zeigt ein wacher Blick in jeder U-Bahn zur Stoßzeit (wenn eins sich denn noch zum Beobachten hochkriegen kann). Und was da - legal, illegal, scheißegal - alles eingeworfen oder runtergesoffen wird, um über die Runden zu kommen, findet sich nur zum geringsten Teil in den Statistiken ärztlicher Verschreibung.

Chemie ist aber längst nicht nur für Borderliner und Loser ein Muss. Bei der Depression mögen die Frauen noch führen, "im feindlichen Leben", im "Schaffen und Streben" haben die Männer die Nase noch vorn. Wer sich im freien Wettbewerb behaupten will, braucht mehr als Kreativität, Commitment und Genie, braucht Doping. Als chemische Keule gegen die Konkurrenz sozusagen. Im Sport ist es ja schon seit Jahrzehnten gang und gäbe (dort haben die Frauen auch schon aufgeholt) und sorgt jährlich für die schönsten Skandale. Und für einen lukrativen Rüstungswettlauf zwischen den Labors der Lieferanten und den Ausstattern der Prüfer. Im Showbusiness gehören die Drogen zum Nimbus. Auch Fernsehmoderatoren sollen nicht mehr reüssieren können, wenn sie nicht vor dem Auftritt eine Straße Kokain in die Nase ziehen. Und nicht einmal an den Unis dienen Drogen einfach nur dem Spaß. In den USA erwägt man Dopingtests für Prüflinge an den Unis, denn jeder vierte hilft chemisch nach, wissen diverse Studien. Und jeder fünfte Lehrer auch. Schlucken oder Schluss mit der Karriere. Und wer weiß, ob nicht auch schon VerkäuferInnen bei Billa, Peek & Clockenburg und wie sie allen heißen, so um ihre Arbeitsplätze kämpfen (müssen). Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht was eigentlich? - genug.

L.G.

Raute

Rückkopplungen

Die dritte Pille

von Roger Behrens

"There is something real in the illusion, more real than in die reality behind it."
Slavoij Zizek


Das Kino zeigt nicht einfach nur Fiktionen der Wirklichkeit, sondern erzeugt mit seinen Erzählungen zugleich die Wirklichkeit, die es abbildet. Es mag uns über die Wirklichkeit täuschen und mit Illusionen spielen; tatsächlich stellt sich gerade das Kino als eine Apparatur dar, die uns einen zuverlässigen Zugriff auf die Realität garantiert. Das, was wir mit einem recht diffusen Begriff als "Realität" bezeichnen, ist heute längst erschüttert; aber nach über hundert Jahren Filmgeschichte erweist sich gerade das Kino als Ort, uns in den unheimlichen Schichten und Strukturen der Wirklichkeit Sicherheit und Orientierung zu geben.

Genau darin entfaltet das Kino seine Materialität, eine phantastische Stofflichkeit, die weit in das Bewusstsein hineinragt. Es offenbart etwas, das Zizek den "cinematic materialism" nennt. Dieser meint, "dass wir unter der Bedeutungsebene spiritueller Bedeutung, aber auch einfacher narrativer Bedeutung eine grundlegendere Ebene von Formen an sich finden, die miteinander kommunizieren, interagieren, sich wiederholen und sich ineinander verwandeln." Eine "Proto-Realität".

Zizek steht hiermit durchaus in der Linie Siegfried Kracauers, der seine 1960 erschienene "Theorie des Films" im Untertitel programmatisch "Die Errettung der äußeren Wirklichkeit" nannte. Deutlicher noch im amerikanischen Original: "The Redemption of Physical Reality", denn "Redemption" meint auch, mit religiösem Beiklang, Erlösung. Das Kino rettet oder erlöst die Wirklichkeit deshalb, weil das Filmbild gleichsam zur Probe des Realen wird und uns gerade in der Vermittlung Dinge sehen lässt, die in der unmittelbaren Konfrontation unerträglich wären.

An diesem Materialismus nimmt Zizek aber zwei Korrekturen vor: Erstens geht es ihm um die Rettung der inneren, d.h. psychischen Realität; zweitens gibt er dem religiösen Erlösungsmotiv eine gute blasphemische Wendung. Im dritten Teil von Sophie Fiennes "The Pervert's Guide to Cinema" expliziert Zizek dies an "Alien Resurrection" (USA 1997): Ellen Ripley ist ein Klon; sie betritt einen Raum, in dem sie den vorherigen, missgebildeten Versionen, Monstren ihrer selbst begegnet. Zizek: "Das bedeutet, dass uns unsere vorherigen, alternativen Verkörperungen, die wir hätten sein können, aber nicht sind, dass diese Alternativversionen unserer selbst uns nachjagen." Diese möglichen Mutationen unserer selbst verweisen auf eine "unfertige Realität": "Eine alte gnostische Theorie besagt, dass der Gott, der unsere Welt schuf, ein Idiot war, der es verhunzt hat, sodass unsere Welt eine halbfertige Schöpfung ist. Hier haben wir es mit der ontologischen Sichtweise zu tun, die davon ausgeht, dass das Universum unfertig ist. Das ist, glaube ich, ein sehr modernes Gefühl." So modern wie das Kino: "Durch diese Ontologie einer unfertigen Realität wurde das Kino eine wirklich moderne Kunst. Das Kino als die Kunst der Erscheinungen erzählt uns etwas über die Realität selbst. Es erzählt uns etwas darüber, wie die Realität sich selbst konstituiert. Sie ist voller Hohlräume, Öffnungen und Lücken. Sie ist nicht ganz real, nicht ganz fertig."

Das unfertige Universum ist eine Wirklichkeit voller Möglichkeiten wie Unmöglichkeiten. Genau dies bezeichnet die Spannung zwischen der physischen und psychischen, der äußeren und inneren Wirklichkeit, die ohne das Kino unerträglich und gefährlich wäre. Doch das Kino geht noch darüber hinaus: Es lädt uns auch ein, diese Spannung auszuhalten, die unfertige Realität zu erkunden und mit der Unfertigkeit der Welt fertig zu werden. Das gelingt dem Kino dadurch, dass es die begriffliche Logik durch die der Bilder ergänzt: Zizek spricht von "visual terms".

Sein erstes Beispiel ist "Matrix" (USA/AUS 1999), nämlich die Szene, wo Morpheus zu Anderson (bzw. Neo) sagt: "This is your last chance. After this there is no turning back. You take the blue pill, the story ends. You wake up in your bed and believe whatever you want to believe. You take the red pill, you stay in wonderland, and I show you how deep the rabbithole goes." Und Zizek kommentiert: "Aber die Wahl zwischen der blauen und der roten Pille ist eigentlich keine Wahl zwischen Illusion und Realität. Natürlich ist die Matrix eine fiktionale Maschine, aber sie kommt aus Fiktionen, die bereits unsere Realität strukturieren. Nimmt man der Realität die regulierenden symbolischen Fiktionen, dann verliert man die Realität selbst. - Ich verlange eine dritte Pille. Was wäre denn die dritte Pille? Jedenfalls keine transzendentale Pille, die eine falsche, billige, religiöse Erfahrung vortäuscht, sondern eine Pille, die mir ermöglichen würde, nicht die Realität hinter der Illusion wahrzunehmen, sondern die Realität innerhalb der Illusion selbst. - Wird etwas zu traumatisch, zu brutal oder auch zu angenehm, dann bringt das die Koordinaten unserer Realität durcheinander. Wir müssen es fiktionalisieren."

Diese Fiktionalisierungen, an Sequenzen aus 43 Filmen erläutert, werden selbst zu einer einzigen großen Fiktionalisierung: Zizek begibt sich zu den Originalschauplätzen berühmter Filme, gestikuliert, schwitzt, ist Teil der Szene. Wie zuvor schon in Filmen wie "Zizek!" (USA 2005, R: Astra Taylor), "The Reality of the Virtual" (UK 2004, R: Ben Wright) oder "Love Without Mercy" (USA 2003, R: Miguel Abreu) ist Zizek immer schon sein eigener Schauspieler, eine unwirkliche Filmfigur. So zeigt ihn der erste Filmausschnitt in "The Pervert's Guide to Cinema" beim Blumen gießen im Garten. Ein gewöhnlicher Mensch, eine Fiktion, eine Lüge. Die Leinwand lässt es aber zu, hier doch eine Realität dieser Person zu zeigen, die in der Wirklichkeit gar nicht vorkommt. So endet der Film, der schließlich keiner über das Kino ist, sondern einer über Zizek, der vom Kino erzählt, programmatisch. Mit Bildern aus Tarkowskis "Stalker" (SU 1979) erklärt Zizek die Leinwand zur Zone: "Um die Welt von heute zu verstehen, brauchen wir das Kino, buchstäblich. Nur im Kino finden wir diese entscheidende Dimension, für die wir in unserer Realität nicht bereit sind." Und dann die weiße Leinwand: "Wenn Du nach dem suchst, was in der Realität realer als die Realität selbst ist, dann suche in der filmischen Fiktion."

Slavoij Zizek: The Pervert's Guide to Cinema, Regie: Sophie Fiennes, DVD (Zweitausendeins)

Raute

Petition für eine "Kritische & Solidarische Universität - KriSU"

Die soziale, ökologische und wirtschaftliche Krise der gegenwärtigen Gesellschaft macht "business as usual" zu einer Drohung. Arbeitslosigkeit und Armut werden zunehmen, der Klimawandel ist kaum mehr zu bremsen, die Wachstumswirtschaft stößt an ihre Grenzen. Die Universität hat diese Entwicklungen unterstützt und mitzuverantworten. Sie hat versagt als Organ der kritischen Reflexion - weil sie von einer Gesellschaft finanziert und getragen wird, die von Reflexion eigentlich nichts wissen will. Sie interpretierte mit Betriebsamkeit das Weltgeschehen, während der Neoliberalismus die Welt dem Marktdogma gemäß verändert und in eine beispiellose Krise geführt hat.

Es muss ihr eine andere universitäre Praxis entgegengestellt werden, die sich nicht an Konkurrenzfähigkeit, selbstzweckhaftem Wirtschaftswachstum und der Konditionierung für den Arbeitsmarkt orientiert. Eine Praxis, bei der es nicht um impact points, akademische Karrieren und Drittmittelacquirierung geht. Die Kritische und Solidarische Universität hat zum Ziel, Freiräume zu schaffen, um die Einbettung der Universität in kapitalistische Verwertungsprozesse zu analysieren, gesellschaftliche Hierarchien zu hinterfragen und Grundlagen einer Solidarischen Ökonomie zu legen - einer Solidarischen Ökonomie, welche die immens gestiegenen Reichtumspotenziale unserer globalen Gesellschaft auch wirklich zu Reichtum für alle macht und nicht auf der Verarmung und dem Elend der Massen aufbaut; einer Solidarischen Ökonomie, die auf der grundsätzlich gemeinschaftlichen Natur unserer Lebensgrundlagen beruht und sie auch als gemeinschaftliche Güter pflegt und vermehrt.

Eine Kritische und Solidarische Universität kann in der bestehenden Universität nicht Fuß fassen.

Sie braucht autonome Räume, um Kritik zu üben und neue Formen von Wissen zu generieren.
Sie braucht autonome Räume, um Studierenden Kreativität und zwangloses Experiment zu ermöglichen.
Sie braucht autonome Räume, um alle Interessierten zu Studierenden zu machen.
Sie braucht autonome Räume, um unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen - Arbeiter innen, Angestellte, Hausmänner und -frauen, kritische Lehrende, Kinder, Künstler innen, Studierende, Forscher innen, Migrant innen usw. - zusammenzuführen und daraus zu lernen.
Sie braucht autonome Räume, um in die bestehende Universität hineinwirken zu können.
Sie braucht autonome Räume, um eine Solidarische Ökonomie, die auf Selbstverwaltung, Demokratie, Gemeinwesenorientierung und Kooperation beruht, auszubauen und zu stärken.
Sie braucht autonome Räume, um eine Perspektive für Studierende und Nicht-Studierende zu entwickeln, die den Zwang zur Arbeit im Dienste von Wirtschaftswachstum, Konkurrenz und Vermarktung lockert.
Sie braucht autonome Räume für eine Solidarische Ökonomie der Bildung.

Eine Kritische und Solidarische Universität ist ein langfristiges Projekt der Veränderung von Universität und Gesellschaft. Jetzt sofort muss sie angesichts der drängenden gesellschaftlichen Probleme beginnen. Die Kritische und Solidarische Universität revitalisiert Räume, die seit mehreren Jahren leerstehen und für die kein Nutzungsplan besteht. Hier und heute tut sie einen ersten Schritt aus der Krise.


Ihr Konzept hat fünf Säulen

1. Lebendige Verbindung und universitas von Forschung, Lehre und Praxis
2. Selbstverwaltung, Feminismus, Antirassismus und Engagement gegen Antisemitismus
3. nicht-kommerzieller Charakter
4. Unabhängigkeit vom Staat
5. Bildung für Solidarische Ökonomie und Aufbau einer Solidarischen Ökonomie der Bildung durch Erforschung, Vermittlung und
  Entwicklung selbstverwalteter, gemeinwesenorientierter und kooperativer Produktionsweisen.


Anmerkung

Diese Petition wurde von rund 300 Leuten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen in- und außerhalb Österreichs unterzeichnet. Ihre Namen und viele O-Töne sind auf www.krisu.noblogs.org einzusehen, wo sich auch weitere Unterstützer_innen eintragen können. KriSU wurde im Zuge einer vorübergehenden Besetzung von Räumen aus ehemaligem Universitätsbesitz durch rund 50 Aktivist_innen vom 5. auf den 6.12.2009 eröffnet. Der Antrag der Grünen im Wiener Stadtrat, das Projekt KriSU bei der Suche nach Räumlichkeiten zu unterstützen, wurde mit den Stimmen der SPÖ abgelehnt. Inzwischen hat sich im Rahmen von KriSU eine Arbeitsgruppe "vivir bien" gebildet, die sich der Erfassung und Kartierung von Ressourcen für eine nicht-kapitalistische Lebens- und Produktionsweise widmet. Weiters ist KriSU in die Gestaltung einer selbstverwalteten Lehrveranstaltungsreihe an der Universität Wien involviert. Raumsuche und Projektentwicklung werden fortgesetzt. Bei Interesse an KriSU: Email an krisu@riseup.net.

Raute

Auslauf

Unfreundliches zu real existierender linker Theorie und Praxis

von Ricky Trang

Immer schon errichtet der Besitz der Wahrheit Scheiterhaufen, verlangen heilige Bücher nach der Inquisition, schürt Ideologie blanken Vernichtungswillen. Der proklamierte Tod des alten Mannes tat dem keinen Abbruch. Real existierende Theorie hat ihn begraben - und seinen Thron bestiegen.

Es ist nicht die Theorie, die zur Wirklichkeit drängt, es sind ihre Vertreter auf Erden, die Theoretiker. In dem Gedränge bleibt die geschichtliche Aufgabe der Theorie unerledigt: radikal jede Ideologie als eine von den Ideen getrennte Macht und als Ideen der getrennten Macht zu kritisieren, zur gleichen Zeit also jedes Fortleben der Religion sowie das heutige soziale Spektakel, welches von der Masseninformation zur Massenkultur jede Kommunikation zwischen den in ihrer entfremdeten Tätigkeit gefangenen Menschen monopolisiert, zu demontieren, die Fehler der Vergangenheit nicht nur zu verdammen, sondern auch zu verstehen und dementsprechend jede revolutionäre Ideologie als die Unterschrift des Scheiterns des Projekts der Emanzipation aufzulösen. Stattdessen bleibt Theorie als Wahrheit das Privateigentum der neuen Spezialisten der Macht, die sich über das wirkliche Leben erhebt, auch wenn ihr Einfluss nur bis zum Denken und Vorstellen ihrer Jünger reicht. Anstatt die Ideologie aufzuheben, ist ihr einziges Bestreben, ihre Theorie zu ebendieser zu erheben. Und sich selbst zu ihren Hohepriestern. Theorie wird so im Handumdrehen zur Religion, zur einzig wahren Lehre. Und Unduldsamkeit gegen jede Form der Häresie zur obersten Pflicht ihrer Priester und Adepten. Es gilt nicht Differenzen auszuloten, vom Differenten zu lernen und mit Wissbegier zu diskutieren, sondern Ketzer zu eliminieren oder, da Scheiterhaufen - erfreulicherweise - nicht mehr in Reichweite der eigenen Impotenz sind, sie zumindest zur Unperson zu erklären, aus dem eigenen Leben zu tilgen und sie bei jeder Gelegenheit persönlich zu attackieren; einzig zwischen Freund und Feind kann noch unterschieden werden. Reale Gemeinsamkeiten und emanzipatorische Möglichkeiten sind nicht annähernd so verlockend wie ein neuer Kreuzzug. Es entsteht die paradoxe Situation, dass es gerade zwischen all denen, die Gemeinsames anstreben, schärfste Trennungslinien gibt, und dies bis zur Selbstzerfleischung.

Die Geschichte der Linken ist ganz wesentlich auch eine Geschichte der Grabenkämpfe und Schauprozesse. Von Kronstadt nach Barcelona nach ... ach! Dass sich im Vergleich dazu die heutigen Auseinandersetzungen - glücklicherweise - nur noch als erbärmliche Farce darstellen, ist dabei weniger dem mangelnden Vernichtungswillen als den fehlenden Möglichkeiten und den geschichtlichen Umständen zuzuschreiben.

Gefangen in der Überzeugung, den Weg, die Wahrheit und das Leben zu bringen oder zumindest zu kennen, sehen sie großteils auch heute, trotz der Erfahrungen der Vergangenheit, in den Kämpfen, denen sie und ihresgleichen immer wieder selbst erlagen, noch immer nicht die theologischen Zänkereien, die sie waren und sind. Ideologen sind eben leichtfertig genug, alle Illusionen für bare Münze zu nehmen, die sie sich über sich selbst machen. Und sollte sich wer erdreisten nicht mehr mitmachen zu wollen, bleibt immer schon und immer noch die Maxime: Drumb sol hie zuschmeyssen, wurgen und stechen heymlich odder offentlich, wer da kan, und gedencken, das nichts gifftigers, schedlichers, teufflischers seyn kan, denn eyn auffrurischer mensch, gleich als wenn man eynen tollen hund todschlahen mus.

So viel zur Freundschaft.

Raute

AutorInnen

Roger Behrens, 1967. Lebt in Hamburg, Weimar und Belo Horizonte. Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften. An mehreren Universitäten, bei testcard und Zeitschrift für kritische Theorie tätig. rogerbehrens.net

Julian Bierwirth, 1975. Lebt in Göttingen. Studium der Sozialwissenschaften. Weltverbesserer, z.B. bei Gruppe 180° - Für einen neuen Realismus und emanzipationoderbarbarei.blogsport.de.

Ilse Bindseil, 1945. Bis 2008 Lehrerin für Deutsch, Französisch, Philosophie in Berlin. Redakteurin von Ästhetik & Kommunikation. ilsebindseil.de

Andreas Exner 1973. Streifzüge-Redakteur.

Lorenz Glatz, 1948. Streifzüge-Redakteur.

Marianne Gronemeyer, 1941. Lehrerin, ab 1987 Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der FH Wiesbaden. Jüngstes Buch: Genug ist genug. Über die Kunst des Aufhörens (2008).

Severin Heilmann, 1976. Streifzüge-Redakteur.

Utta Isop, Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien der Uni Klagenfurt. Engagiert in sozialen Bewegungen, solidarischer Ökonomie, Anarchafeminismus. uni-klu.ac.at/uisop/wordpress

Massimo Maggini, philosophierender Buchhalter in Livorno. Verheiratet mit Sonia magica, Vater von Minusha (aus der Dritten Welt!). "Traforat der Streifzüge".

Dominika Meindl, 1978. Studierte Philosophin. Untertags freibeutende Schreibmaschine, abends Bloggerin und Poetry Slammerin in Linz. minkasia.blogspot.com

Stefan Meretz, 1962. Berliner. Informatiker. Schwerpunkte: Freie Software und Technikentwicklung. Aktiv u.a. bei Oekonux und Wege aus dem Kapitalismus; "Traforat der Streifzüge".

Peter Pott, 1937. Bis 2002 Professor für Politik und Philosophie an der FHS Bielefeld. Lebt in der Kommune Kleekamp in Westfalen. peter-pott.de, kommune-kleekamp.de

Franz Schandl, 1960. Streifzüge-Redakteur.

Annette Schlemm, 1961. Physikerin und Philosophin. Lebt in Jena. Aktiv u.a. in Philosophenstübchen, Zukunftswerkstatt Jena und der Ernst-Bloch-Assoziation.

Ricky Trang, Streifzüge-Redakteur.

Ulrich Weiß, 1948. In Berlin-Ost sehr staatsnah; dann Kapitalismuspraktikum in Firmen und PDS. Hausmann in Großfamilie mit vier Generationen. Bei Wege aus dem Kapitalismus. "Traforat der Streifzüge".

Maria Wölflingseder, 1958. Streifzüge-Redakteurin.

Petra Ziegler, 1969. Lebt in Wien. Beinahe im halbdunklen Dickicht der Rereguliererei verloren gegangen. Freie Referentin in vermittelnder Absicht. Diverse Veröffentlichungen, teilweise Mist. Seit kurzem Streifzüge-Redakteurin.

Raute

IMPRESSUM

ISSN 1813-3312

MEDIENINHABER UND HERAUSGEBER
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche
Transformationskunde,
Margaretenstraße 71-73/23, 1050 Wien.
E-Mail: redaktion@streifzuege.org
Website: www.streifzuege.org

DRUCK
H. Schmitz, Leystraße 43, 1200 Wien
Auflage: 1500

COPYLEFT
Alle Artikel der STREIFZÜGE unterliegen,
sofern nicht anders gekennzeichnet,
dem Copyleft-Prinzip: Sie dürfen frei verwendet,
kopiert und weiterverbreitet werden unter Angabe
von Autor/in, Titel und Quelle des Originals
sowie Erhalt des Copylefts.

OFFENLEGUNG
Der Medieninhaber ist zu 100 Prozent
Eigentümer der STREIFZÜGE und an
keinem anderen Medienunternehmen beteiligt.

Grundlegende Richtung: Kritik und Perspektive.

REDAKTION
(zugleich Mitglieder des Leitungsorgans des
Medieninhabers)
Andreas Exner, Lorenz Glatz, Severin Heilmann,
Franz Schandl, Martin Scheuringer, Ricky Trang
Maria Wölflingseder, Petra Ziegler
Covergestaltung: Isalie Witt.
Layout: Françoise Guiguet

KONTEN
Konto für Österreich: PSK, BLZ 60000
Kontonummer 93 038 948

Konto für Deutschland: Franz Schandl,
Postbank Nürnberg, BLZ 760 100 85
Kontonummer 405 952 854

Konto für Abos in andere EU-Länder:
Kritischer Kreis,
BIC: OPSKATWW
IBAN: AT87 60000 00093038948

ABONNEMENTS
Aborichtpreise für 3 Hefte pro Jahr.
1 Jahr 18 Euro, 2 Jahre 33 Euro, 3 Jahre 45 Euro.

Erstbeziehende bitten wir um schriftliche
Bestellung (Mail oder Brief), da seitens des
grandiosen Bankservices den Kontoauszügen nicht
immer die vollständige Adresse zu entnehmen ist.
Nachbestellende bitten wir um die Anführung der
Postleitzahl.

Das Abo endet, wenn es nicht durch Einzahlung
verlängert wird.


*


Quelle:
Streifzüge Nr. 48, April 2010
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
Margaretenstraße 71-73, A-1050 Wien
E-Mail: redaktion@streifzuege.org
http://www.streifzuege.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2010