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STREIFZÜGE/019: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 46, Juni 2009


Streifzüge Nummer 46 / Juni 2009

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALT

Andreas Exner: Einlauf

Peter Klein: Die Herrschaft der Beliebigkeit - Eine Demokratiekritik

Bruno Kern: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar" -
Energiewende zwischen infantilen Phantasien und Ernüchterung

Christian Lauk: Malthus Reloaded?

Ulrich Enderwitz: Natur

Annette Schlemm: Ist ein solarer Kapitalismus möglich?

Andreas Exner: Krise der Produktivität, Grenzen des Wachstums

Tomasz Konicz: Klimawandel: Umschlag in die Katastrophe?

Franz Schandl: Trinkbares Wasser, atembare Luft - Günther Anders zu
ausgewählten Fragen der so genannten Umweltproblematik

Andreas Exner: Sackgasse Grünpartei?

Reichtum und Ressource: Mit Beiträgen von Severin Heilmann,
Franz Schandl, Lorenz Glatz, Maria Wölflingseder

Birgit von Criegern: Alltag, zweidimensional -
Wider die Diktatur der Bilder

Julian Bierwirth: Geschmacks- und Herrschaftsfragen -
Anmerkungen zu Martin Scheuringers Beerdigung der Kritischen Theorie

Franz Schandl: Reanimation statt Aufbruch -
Katja Kipping hat ein Buch geschrieben

Kolumnen
Dead Men Ringing von Maria Wölflingseder
Immaterial World von Stefan Meretz
Rückkopplung von Roger Behrens

Rubrik 2000 abwärts
Julian Bierwirth (J.B.)
Martin Scheuringer (M.Sch.)
André Pluskwa (A.P.)

Raute

Einlauf

von Andreas Exner

Für den Kapitalismus ist die Welt nur ein lästiges Durchgangsstadium der Verwertung. Dummerweise vermehrt sich Geld nicht einfach so. Man muss dazu Rohstoffe und Energie gewinnen, Menschen kontrollieren, Waren produzieren. Eine Zeitlang mag es gelingen, Besitztitel auf Profite anzuhäufen, die künftighin der Warenproduktion entspringen sollen. Doch früher oder später ist damit Schluss.

Die Weltlosigkeit des Kapitals strafen seine Krisen immer wieder Lügen. Noch mehr aber strafen seine Krisen uns. Die Ahnung, dass der Kapitalismus an unsere Grenzen stoße, liegt in der Luft. Nur aussprechen will sie niemand. Dabei sind die Hinweise darauf sonder Zahl. Zwei stechen besonders ins Auge: vor 2008 die Verteuerung von Erdöl, Rohstoffen und Nahrungsmitteln. Und bis auf weiteres der durch den Kapitalismus verursachte Klimawandel.

Mit Händen ist es zu greifen: Der Kapitalismus ist ein totes Ende der Geschichte. Doch eine Konsequenz daraus sucht man noch vergebens. Autos fahren weiter, Staaten machen Schulden, Treibhausgase werden emittiert. Grüne wollen dealen. Vom Wachstum kommen die Abhängigen aller Couleur nach wie vor nicht los. Wie wir uns selbst das Joch der Geldvermehrung auferlegen, so auch der Natur. Uns zum Humankapital degradierend, degradieren wir die Welt, als wäre sie nur dazu da, dem Kapital zu dienen, als ein Rohstofflager und eine Deponie ohne Ende. Doch genau dies gibt die Welt nicht mehr allzu lange her: diese Ressource beginnt zu versiegen.

Nur wenige trauen sich erst zu sehen, was auf der Hand liegt: Die Geldwirtschaft verdammt uns zu wachsender Zerstörung; lösen wir uns davon nicht, so blüht uns keine Zukunft mehr. Eher wird von manchen, anstatt Kapital, Markt und Staat zu transzendieren, bereits der Mensch geistig ausradiert: es gäbe zu viele unserer Art. Und eher traut man den erneuerbaren Energien just das zu, woran das fossile System gerade scheitert: endloses Wachstum. Solcher Unsinn ist gefährlich. Wer bei uns nun komplizierte Lösungen sucht, wird freilich enttäuscht - Produktion für konkrete Bedarfe anstatt für Geld, that's all.

Raute

Die Herrschaft der Beliebigkeit

Eine Demokratiekritik

von Peter Klein

Die Demokratie herrscht mit großer Selbstverständlichkeit in den Köpfen der westlichen Menschen. So sehr, dass es kaum noch jemanden gibt, der es für nötig hält, sie zu legitimieren. Die Zeiten, in denen sie sich im Kampf befand, sind lange vorbei. Es gibt keine politischen Ordnungsvorstellungen mehr, die ihr ernsthaft Konkurrenz machen könnten. Die Demokratie ist schon für sich genommen zu einem Argument geworden. Sie zu stärken, mehr Demokratie zu wagen, ist sozusagen immer richtig. Wer in der politischen Sphäre ernst genommen werden will, muss sich als Demokrat ausweisen können. Die Frage, die gestellt wird, lautet allenfalls, ob jemand als Demokrat ernst zu nehmen ist. Ob das Bekenntnis zur Demokratie, das in der Politik weltweit zum guten Ton gehört, glaubwürdig ausfällt oder nicht.

Wie bei allen Bewusstseinszuständen, die es zu einer gesellschaftlichen Monopolstellung gebracht haben, ist natürlich auch mit diesem eine Gefahr verbunden. Es entsteht ein ideologischer Nebel, der es den Menschen schwer macht, die Härte und Grausamkeit, die mit der Ausübung jeglicher politischer Macht verbunden ist, deutlich wahrzunehmen. So sind etwa die vom Westen angezettelten Kriege der letzten Jahre trotz ihrer Unbeliebtheit auf bemerkenswert wenig Widerstand in der Bevölkerung gestoßen. Bomben, die im Namen der Demokratie und des Menschenrechts töten, machen anscheinend einen vernünftigeren und harmloseren Eindruck als das, was von "Hass" und "religiösem Fantatismus" angetriebene Attentäter tun - mag es militärisch gesehen auch noch so stümperhaft und unwirksam sein.


Demokraten sind einsam...

Überhaupt zeichnet sich die westliche Demokratie durch ein hohes Maß politischer Zumutungs- und Frustrationstoleranz aus. Bei allem Lob der Kritik, bei aller mit Nachdruck zelebrierten Offenheit und Streitkultur - sie hat sich im letzten halben Jahrhundert als ein Hort der politischen Ruhe und Stabilität bewährt. Und dieser Umstand scheint mir von grundsätzlicher Bedeutung zu sein. Er verweist auf die Tatsache, dass die Menschen des Westens, jeder einzelne für sich, ziemlich viel mit sich selbst zu tun haben. Dafür sorgt die politisch-rechtliche Grundstruktur, in der sie sich befinden. Die moderne demokratische Gesellschaft ist eine weitgehend individualisierte Gesellschaft. Das Volk, das herrscht, ist eine rechtliche Struktur, die auf das vereinzelte Individuum zugeschnitten ist. Die Menschen sind hier rechtlich voneinander unabhängige Subjekte, die ihr Leben in freier Selbstverantwortung zu gestalten haben. Was immer diesem selbstverantwortlichen Subjekt zustößt, es handelt sich zunächst einmal um seine eigene Angelegenheit und um sein eigenes Pech. Jeder ist hier seines Glückes Schmied, und das heißt im Umkehrschluss, dass er sich auch das Misslingen und das Unglücklichsein selbst zuzuschreiben hat. Das hämische "Selber schuld!" liegt mehr auf der Linie des verbreiteten Einzelkämpfertums als die Entwicklung von Solidaritätsgefühlen. Mit anderen Worten: Die Zeiten, in denen man noch politische Überzeugungen hegte und Opfer für sie brachte, sind in der überaus "coolen" Gesellschaft der westlichen Demokratie lange vorbei. Das Dasein als privater Egoist fristen zu müssen, ist schon anstrengend genug.


­...und ohne Ideale

Genau hierin scheint mir das eigentliche Problem zu liegen, das mit der Demokratie unserer Tage verbunden ist. In dem Maße, in dem die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft, Freiheit und Gleichheit, sich der sozialen Wirklichkeit bemächtigten, in dem sie zur Struktur und zum politisch-ökonomischen System wurden, mussten sie als etwas, an das man glauben kann, abdanken. "Und man merke wohl", schreibt Ortega y Gasset im "Aufstand der Massen", "wenn etwas, das ein Ideal war, zum Bestandteil der Wirklichkeit wird, hört es unerbittlich auf, Ideal zu sein." (S. 16) Diese Worte stammen aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als die bürgerlichen Prinzipien ihren ersten Jugendschmelz bereits verloren hatten. Heute, wo alle Parteien demokratisch und in beliebiger Kombination regierungsfähig sind, wo die Politik bloß noch als ein Streit um Zahlen betrieben wird, als ein Hin- und Herrechnen zwischen verschiedenen Steuersätzen und Subventionsmilliarden, gelten sie in noch viel stärkerem Maße.

Freiheit und Gleichheit besitzen keine Leuchtkraft mehr. Gerade weil sie allgegenwärtig sind und den Alltag des demokratisch vergesellschafteten Menschen prägen, haben sie die Position von Idealen, an deren Realisierung bestimmte Hoffnungen und Erwartungen geknüpft wären, eingebüßt. Perspektive, Zukunft, Fortschritt - all diese Denkfiguren, die bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein eine politisch bewegende Kraft besaßen, haben im Zusammenhang mit Freiheit und Gleichheit ausgedient. Man findet die Sprüche von Vision und Fortschritt allenfalls noch in Hochglanzbroschüren, mit denen neue Automodelle oder Computer beworben werden. Nichts charakterisiert die Lage des demokratischen Glaubensbekenntnisses besser als die jämmerliche Klage, die Wolfgang Lepenies, ein Demokrat alter Schule, aus Anlass einer Preisverleihung anstimmte: "Woran es mangelt, ist die Wärme, mit der wir uns zu unseren Werten bekennen. Ansteckend kann die Demokratie nur wirken, wenn sie nicht routiniert betrieben oder anderen mit Gewalt aufgezwungen, sondern mit Enthusiasmus gelebt wird." (Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2006, SZ vom 9.10.2006) Enthusiasmus, noch dazu massenhafter, das war einmal. Heute ist es die museale Atmosphäre von Preisverleihungen und Gedenktagen, wo Freiheit und Gleichheit noch gepflegt werden. Ansonsten dienen sie als ideologische Weichzeichner, mit denen der westliche Kapitalismus seine militärischen Abenteuer beschönigt.


Demokraten leben objektiv...

Was der Demokratie heute fehlt, ist jener Konservativismus der altständischen Herrschaften, neben dem sie eine ganze Epoche lang glänzen konnte. Dieses Kontrastprogramm einer Obrigkeit, die sich mit dem Allerhöchsten im Bunde wusste, ist ihr im Verlaufe der letzten zweihundert Jahre abhanden gekommen. An die Stelle der persönlich gefärbten Abhängigkeiten und Treueverhältnisse, die in Europa bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein der Stachel der sozialistischen Gleichheitsforderung waren, auch der nationalsozialistischen, ist die unpersönliche Form des Gesetzes getreten. Das Gesetz aber betrifft alle Menschen, die darum Staatsbürger heißen, in gleicher Weise. Es sorgt dafür, dass ihnen die vom Kapitalismus gesetzten Zwänge und Notwendigkeiten im unauffälligen Gewand der Objektivität begegnen. Der Privatstandpunkt, der sich komplementär zu dieser Objektivität entwickelte, musste sich notgedrungen auf den des vereinzelten Individuums verengen, das ja dabei aus allen vor- und außerstaatlichen Verbindlichkeiten entlassen wurde. Statt unmittelbar mit Menschen, hat dieses Individuum fast bloß noch mit objektiven, also rechtlich definierten und geregelten Funktionen zu tun, die mehr oder weniger gut, mehr oder weniger korrekt von Menschen ausgeübt werden. Es ist sozusagen umstellt von objektiven Gegebenheiten, und seine Freiheit besteht in dem Vergnügen, auf eigene Faust und auf eigene Rechnung mit diesen objektiven Gegebenheiten fertig werden zu müssen.

Dass dieses vereinzelte Individuum, angeblich ein Egoist, der nur seinem "eigenen Willen" gehorcht und den "eigenen Vorteil" berechnet, nicht dazu in der Lage ist, die ihm vorausgesetzte Objektivität zu hinterfragen, versteht sich von selbst. Was er vorfindet an Chancen und Gelegenheiten, ist für den demokratisch vergesellschafteten Menschen schlichtweg normal, und die Anstrengungen und Mühen, die er auf sich nimmt, sind diejenigen des Lebens selbst. Die Demokratie ist keine Sache des Bekenntnisses mehr, sie ist tief eingeschliffen in den Denkgewohnheiten und Handlungsmustern der modernen Gesellschaft. Sie ist das allgemeine Fluidum, in dem die Menschen fühlen, denken und handeln. Und das macht natürlich nicht ihre Schwäche aus, sondern ihre Stärke. Es bedeutet, dass sie auf die guten Wünsche von bekennenden Demokraten wie Wolfgang Lepenies gar nicht angewiesen ist.


­...und metaphysisch

Wie weit das herrschende Bewusstsein an die Gesellschaftsstruktur des demokratischen Kapitalismus angepasst ist, zeigt der bemerkenswerte Umstand, dass die Frage nach dem freien Willen, dem grundlegenden Bauelement dieser Struktur, inzwischen bei den Naturwissenschaftlern angelangt ist. Allen Ernstes haben sich einige Gehirn- und Verhaltensforscher in den letzten Jahren dazu veranlasst gesehen, das Thema "wissenschaftlich" zu bearbeiten. Mit großer theoretischer Gebärde führten sie den Nachweis, dass sich der freie Wille in den Synapsen und neuronalen Netzen nicht finden lässt, dass es ihn somit im Sinne der empirischen Wissenschaften "nicht gibt." Für ein Ordnungsprinzip, das Kant unter der Bezeichnung "regulative Idee" seiner nicht-empirischen Beschaffenheit wegen ausdrücklich der Metaphysik zurechnete, ist das ein schöner Erfolg. Es spricht für die Wirksamkeit und Allgegenwart dieses Prinzips, wenn Naturwissenschaftler heute das Bedürfnis empfinden, diesen nicht-empirischen Charakter erst noch beweisen zu müssen.

Auf ähnlich naive Weise, nämlich wie über ein Ding, das es geben oder nicht geben mag, haben die französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts über den Gott der Theologen geurteilt. Aber schon sie wurden historisch widerlegt - den Papst gibt es bekanntlich immer noch, wenn auch bloß als Museumsstück mit verminderter Autorität. Ein Begriff wie Gott, der in den Lebens- und Produktionsverhältnissen wurzelt, ist eben nicht in demselben Augenblick erledigt, in dem man ihn für nicht-existent erklärt. Das Gleiche ist heute über den freien Willen der Philosophen zu sagen, der, als Strukturprinzip der modernen Demokratie verstanden, in vieler Hinsicht die Nachfolge Gottes angetreten hat. Wenn die Gehirnforscher meinen, ihn einfach durchstreichen zu können, demonstrieren sie nur, dass ihr verdinglichendes Denken diesem "Ding", das eben keines ist, das vielmehr ein gesellschaftliches Verhältnis ausdrückt, nicht angemessen ist. Eine Kritik kann man das leider nicht nennen.


Es ist Zeit...

Eine Kritik der grundlegenden Elemente der Demokratie scheint mir aber dringend erforderlich zu sein. Die Krise des kapitalistischen Weltsystems, die spätestens seit den spektakulären Bankenzusammenbrüchen der Jahre 2007 und 2008 für jedermann sichtbar geworden ist, wird selbstverständlich auch den demokratisch organisierten Staat in Mitleidenschaft ziehen. In den aus dem Weltmarkt ausgeschiedenen Elendsregionen dieser Erde ist der Prozess der Entstaatlichung schon seit längerem in Gang, inzwischen mehren sich die Zeichen der Verwahrlosung auch in den kapitalistischen Zentren. Die Summen, die im internationalen Finanzsystem als vermeintliches Kapital gebucht sind, sind schon seit einiger Zeit nicht mehr werthaltig. In dem Maße, in dem diese Tatsache ins Massenbewusstsein dringt, in dem der Glaube an die staatlichen Bürgschaften und Rettungspakete schwindet, dürfte sich auch der Trend zur Verwahrlosung und sozialen Desintegration verstärken. Das Gerüst von rechtsgültigen Verträgen und Institutionen, in dem sich die Menschen bei ihrem privaten pursuit of happiness soeben noch sicher bewegten, wird dann nicht mehr viel taugen. Die harmlosesten Gewohnheiten werden plötzlich in der Luft hängen. Es ist klar, dass eine solche krisenhafte Situation umso mehr die Züge einer Katastrophe annehmen muss, je weniger die Menschen darauf vorbereitet sind, je weniger sie sich zu den gewohnten Strukturen eine Alternative vorzustellen vermögen.

"Krise ohne Alternative" - das Wort stammt von dem Althistoriker Christian Meier, der es auf die Situation der späten Römischen Republik zur Zeit Julius Caesars angewendet hat. Eine ganze Epoche von Bürgerkriegen brauchte es, bis die Einrichtungen und Wertvorstellungen der res publica hinlänglich zerschlissen waren und sich mit dem Prinzipat des Augustus endlich eine neue politische Organisationsform von einiger Stabilität etabliert hatte. Genauso passt das Wort aber auf die Krise des mittelalterlichen Weltbildes im 16. und 17. Jahrhundert, die in das entsetzliche Gemetzel der Religionskriege mündete. Der in Glaubensdingen neutrale Staat des Absolutismus, die Vorform des modernen Rechts- und Verfassungsstaates, erwies sich schließlich als die Lösung des historischen Problems. Und nicht zuletzt wird man bei dem Wort von der "Krise ohne Alternative" an die beiden Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts denken. Auch diese Umbruchzeit hat uns eindrucksvoll vor Augen geführt, welche Folgen es haben kann, wenn Millionen Menschen den Boden unter den Füßen verlieren und die Welt nicht mehr verstehen. Zig Millionen Opfer, niedergemetzelt in einem Anfall nationalistischen und rassistischen Wahnsinns - und der historische "Sinn" der ganzen Veranstaltung lag möglicherweise nur darin, dass der ständisch und national beschränkte Kapitalismus des 19. Jahrhunderts für die von ihm selbst hervorgetriebenen Produktivkräfte zu eng geworden war und an seine Stelle die moderne Massendemokratie zu treten hatte - mit ihrem flexiblen, im globalen Kapitalismus überall einsetzbaren Individuum, das für Geld, ohne groß zu fragen, so ziemlich alles macht.

War das nötig? Im Nachhinein drängt sich das Nein als Antwort geradezu auf. Das Resultat einer Epoche sieht immer sehr viel weniger spektakulär aus als die Leidenschaften und Glaubenssätze, die die Menschen bei seiner Herstellung bewegten. Erst hinterher, wenn die ehedem gültigen Glaubenssätze sich hinlänglich blamiert haben, wenn die Gläubigen sich oft genug die Köpfe eingerannt haben, wenn die unumstößlich feststehende Wahrheit umgestoßen worden ist, lichtet sich der Nebel. Und die späteren Generationen können sich über die vorangegangenen erhaben dünken und sich wundern über die dogmatische Enge und Verbohrtheit, mit welcher das, was inzwischen ein Aberglaube geworden ist, seinerzeit für die Wahrheit gehalten wurde.


­...die Demokratie aufzugeben

Wenn das Nein zur Abwechslung einmal etwas früher auftreten und sich obendrein auch noch Gehör verschaffen könnte, wäre dies in Anbetracht der historischen Erfahrungen sicher von Vorteil. In diesem Sinne möchte ich den hier vorliegenden Versuch einer Demokratiekritik verstanden wissen. Die Krise, mit der wir konfrontiert sind, besitzt nach meiner Auffassung fundamentalen Charakter, das Ende einer ganzen Epoche zeichnet sich ab. Je deutlicher wir uns diese Situation bewusst machen, je besser wir mental darauf eingestellt sind, desto weniger Schmerzen wird uns der Übergang in die postkapitalistische Ära bereiten. Hinter den immergleichen Formeln und Floskeln wie hinter den Gitterstäben eines Käfigs hin- und herzustreifen, ist das Letzte, was uns Not tut. Es kommt im Gegenteil darauf an, diese Gitterstäbe zu durchschauen und zu überwinden. Der Abschied von der kapitalistischen Epoche fällt in dem Maße leicht, in dem sich die Einsicht verbreitet, dass das zu Verabschiedende überflüssig ist wie ein Kropf, dass es gut und nützlich ist, wenn man es hinter sich lassen kann. Der Abschied wird zur Qual ohne Ende, wenn man sich an den gewohnten Maßstäben und Denkformen um jeden Preis festzukrallen versucht.

Die Tatsache, dass sich die westlichen Menschen allesamt für Demokraten erklären, scheint mir eben ein solches Festkrallen zu sein. Es gilt demgegenüber zu begreifen, dass die Demokratie nichts weiter ist als das In-Geltung-Setzen und In-Geltung-Halten jener Subjektform, für welche die kapitalistischen "Sachzwänge" eben den Rang zeitloser Objektivität besitzen. Es handelt sich bei dieser Subjektform um den abstrakten Menschen des Menschenrechtes, der keinesfalls mit den real existierenden Menschen und ihren je konkreten Bedürfnissen verwechselt werden sollte. Mit der Etablierung dieser Subjektform ist dem demokratischen Kapitalismus ein Kunststück gelungen, das bis heute nicht nur seinen ideologischen, sondern vor allem auch seinen mentalen, in der Charakterstruktur der kapitalistisch vergesellschafteten Menschen verankerten Rückhalt bildet. Das Kunststück besteht darin, dass sich in dieser Subjektform, soweit wir sie verinnerlicht haben, die Unterwerfung unter die kapitalistischen Zwänge und Zumutungen als die Betätigung eines freien Willens vollzieht. Oder um es mit den Worten Karl Mannheims zu sagen: "Die größere Wirksamkeit der demokratischen Methoden liegt eben gerade darin, dass sie dort, wo autoritäre Methoden nur Gehorsam erzwingen, Zustimmung und freiwilliges Mitgehen zu erreichen vermögen." (Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Darmstadt 1958, S. 319)

Dieses "freiwillige Mitgehen" in möglichst großem Umfange zu erzeugen, muss man wohl als den geheimen Sinn jenes Projektes ansehen, das seit dem 18. Jahrhundert als Aufklärung, Modernisierung und Demokratisierung abgelaufen ist. Mannheim hat unter anderem die "Erzeugung des erforderlichen Arbeitswillens" im Auge. Angesichts des modernen, von leistungsbeflissenen Zwangsneurotikern betriebenen Kapitalismus muss man zugeben, dass diese "Erzeugung" geglückt ist. Die dazu passende theoretische Überschrift hat der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel beigesteuert, sie lautet: "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit." Mit diesen Worten wird in der Tat die gesamte geistige Entwicklung seit der Reformation abgedeckt. Der Appell an die Einsicht und an das eigene Gewissen markiert die grundlegende Wende, die die vormodernen von den modernen Zeiten unterscheidet. Er schlägt im bürgerlichen Menschen viel tiefere Wurzeln, als es die zweitausend Jahre lang vorgetragene Aufforderung zur Demut und zum Gehorsam bei den Menschen der Antike und des Mittelalters hatte tun können. Erst von hier ab hört die Metaphysik auf, ein wundertätiger Gott zu sein, an den man glauben muss, und es öffnet sich der Weg zur modernen Metaphysik, die es fertig gebracht hat, zum dominierenden Bestandteil des modernen Ich-Bewusstseins zu werden.

Die Geschichte der Demokratisierung ist die Geschichte der Durchsetzung und Verbreitung dieser auf den Standpunkt des vereinzelten Individuums beschränkten Bewusstseinsform. Die modernen westlichen Menschen sind als das Resultat dieser Geschichte anzusehen. Sie sind aktiv, schnell und leistungsbereit, aber auf Pawlowsche Art leider so konditioniert, dass sie nur auf die systemspezifischen Reize zu reagieren vermögen. Nur solche Dinge können sie wertschätzen und überhaupt wahrnehmen, die einen Preis haben und viel kosten, die sich also in der Warenform präsentieren. Und ihre Verantwortung reicht nicht weiter als bis zu den genau definierten Grenzen jener Funktion, die sie per Arbeitsvertrag und also freiwillig übernommen haben. Wofür ich nicht bezahlt werde, das geht mich nichts an, dafür ist jemand anders zuständig. Diese millionenfach verbreitete Mentalität überlässt sogar die Sorge für den eigenen Körper und das eigene Wohlbefinden, von den eigenen Kindern zu schweigen, den "dafür" ausgebildeten Spezialisten, die es objektiv und damit besser wissen müssen.

Es ist schon viel gewonnen, wenn es uns gelingt, zu dieser Konstellation mental und bewusstseinsmäßig auf Distanz zu gehen. Letzten Endes sollte die demokratische Vernunft aber als das aus unsichtbaren Mauern bestehende Gefängnis verstanden werden, das den modernen Menschen daran hindert, seine existenzielle Befindlichkeit ernst zu nehmen und sich auf eine unbefangene Debatte darüber einzulassen.

Raute

"Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar"(*)

Energiewende zwischen infantilen Phantasien und Ernüchterung

von Bruno Kern

Das Ende des fossilen Zeitalters ist inzwischen endgültig eingeläutet. Das hat sich heute bis in die Chefetagen der Mineralölkonzerne herumgesprochen. Der "Peak" der Erdölförderung dürfte inzwischen erreicht worden sein. Dass das Wegbrechen der fossilen Energiebasis die Grundfesten unserer Industriegesellschaften insgesamt erschüttern könnte - über diese Konsequenz versucht man sich krampfhaft hinwegzutäuschen.


Ökokapitalistische Illusionen

Die Illusionisten bestimmen heute immer noch den geistigen Mainstream. Ihr Credo ist das der technischen Beherrschbarkeit, der Wohlstandssicherung und -vermehrung mit intelligenteren Mitteln. Die heute im öffentlichen alternativen "Energiediskurs" maßgebenden Hofpropheten, angefangen bei Ernst Ulrich von Weizsäcker über Hermann Scheer bis zu Franz Alt, reden uns seit Jahren ein, dass die nötigen Reduktionsziele (bis zum Jahr 2050 etwa eine Reduktion des CO2-Ausstoßes in den OECD-Ländern um 90 Prozent) ohne Wohlstandseinbußen, ja sogar noch mit erheblichen Wohlstandsgewinnen, erreichbar seien - durch mehr Energieeffizienz und den Einsatz erneuerbarer Energien.

Die gedanklichen Kapriolen, die man schlägt, um der schlichten Einsicht zu entgehen, dass unser Wohlstandsniveau drastisch abgesenkt werden muss, sind abenteuerlich. Die ach so verheißungsvolle Effizienzrevolution hat Fred Luks mit einer einfachen Rechnung ad absurdum geführt: Wenn der Ressourcenverbrauch in den Industrienationen bis 2050 um einen Faktor 10 sinken soll (was weitgehend Konsens ist), und wenn man gleichzeitig ein bescheidenes Wirtschaftswachstum von 2 Prozent jährlich unterstellt, dann müsste die Ressourcenproduktivität (also die Menge an Gütern und Dienstleistungen pro Einheit einer bestimmten eingesetzten Ressource) um den Faktor 27 wachsen! Ein Wirtschaftswachstum von 3 Prozent setzt bereits eine 43-fache Energie- und Ressourceneffizienz voraus. Um diese Absurdität zu verschleiern, beschränken sich die ökologisch-kapitalistischen Heilspropheten in ihren Bestsellern immer nur auf beeindruckende Einzelbeispiele.

Die intellektuelle Redlichkeit wird dabei schamlos einem Pragmatismus der politischen Durchsetzbarkeit geopfert. Anstelle einer ehrlichen Bestandsaufnahme dessen, was mit welchen Mitteln zu welchem Preis wirklich erreichbar ist, werden alle Überlegungen der Frage untergeordnet, was man dem europäischen Wohlstandspublikum zumuten darf. In diesem Sinne tritt der ehemalige Attac-Aktivist und Neugrüne Sven Giegold in jüngster Zeit dafür ein, den Widerstand gegen die Massenautomobilisierung und den Flugverkehr endgültig als aussichtslos aufzugeben. Stattdessen müsse man eben auf technische Lösungen setzen, auf Elektroautos und auf mit Brennstoffzellen betriebene Flugzeuge. (Sven Giegold, Freiheit, Auto, Nachhaltigkeit, in: Le Monde diplomatique, 13.9.2009) Die genauere Nachfrage, ob das denn - ehrliche Energiebilanzen vorausgesetzt - überhaupt möglich ist, erspart er sich lieber.

Ernst Ulrich von Weizsäcker spricht offen aus, worum es geht: "Europäern, Amerikanern und Japanern zu empfehlen, sich in Sack und Asche zu kleiden und auf Wohlstand und Fortschritt zu verzichten, ist eine zum Scheitern verurteilte Strategie. Also sollte die neue Wirtschaftsweise den Charakter eines 'neuen Wohlstandsmodells' haben, um politisch durchsetzbar zu sein." (1992, S. 12)

Hier wird übrigens auch überdeutlich, für wen dieses neue Wohlstandsmodell gilt und für wen nicht. Weltweit gesehen nimmt eine kleine Elite für sich in Anspruch, die immer knapper werdenden Ressourcen auch noch für den letzten Teil ihrer Wohlstandsparty einzusetzen. Der ressourcensparende, intelligente, ökologiekompatible Wohlstand ist bei Licht besehen chauvinistische Brutalität. Bereits jetzt sind es global gesehen nur 6 Prozent der Menschheit, die jemals in einem Flugzeug gesessen sind, während in Nigeria unter Lebensgefahr Ölpipelines angezapft werden und im Sudan der erste Klimakrieg tobt. (Welzer 2008, S. 94-99)


Ein nüchterner Blick auf die Realität

In jüngster Zeit kann man allerdings auch eine Tendenz zur Ernüchterung feststellen. Gegenüber den Illusionen der ökologischen Hofpropheten nehmen sich die definierten politischen Ziele sehr bescheiden aus. Der ehrgeizige Obama-Plan etwa hat sich zum Ziel gesetzt, dass bis zum Jahr 2025 insgesamt 25 Prozent des US-amerikanischen Elektrizitätsbedarfs aus erneuerbaren Quellen stammen werden. Man darf die Frage stellen, wie es um die restlichen 75 Prozent steht.

Auch in Deutschland werden die skeptischen Stimmen lauter, gerade von Seiten derer, die selbst das größte Interesse am Ausbau erneuerbarer Energien haben. Dietmar Schütz etwa, der Präsident des Bundesverbandes erneuerbarer Energien, gab zu Protokoll, dass man bis zum Jahr 2020 200 Mrd. kWh mittels erneuerbarer Energien produzieren könne. Das entspricht, wenn man einen leichten Verbrauchsrückgang unterstellt, etwa 35 Prozent des deutschen Stromverbrauchs. (die tageszeitung, 24.4.2008) Selbst bei Leuten wie Fritz Vahrenholt, ein Hersteller von Windkraftanlagen, ist der ursprüngliche Enthusiasmus einer Ernüchterung gewichen: "Ich bin durchaus optimistisch, dass wir bis zum Jahr 2050 die Hälfte unserer Energieversorgung mit erneuerbaren Energieträgern bewältigen können. Aber selbst dann ist die Frage: Was machen wir mit den anderen 50 Prozent?" (die tageszeitung, 7.10.2006) Die Einsicht in das begrenzte Potenzial erneuerbarer Energien führte Fritz Vahrenholt - ebenso wie James Lovelock - dazu, zum Befürworter der Atomenergie zu mutieren.

Wer die Situation unvoreingenommen betrachtet, wird sich vier fundamentalen Problemen stellen müssen:

(1) Das Potenzial erneuerbarer Energien ist grundsätzlich beschränkt. Erneuerbar heißt eben nicht unerschöpflich.

(2) Neben der knapper werdenden Energie aus fossilen Quellen haben wir es gleichzeitig auch mit einer Verknappung von Rohstoffen zu tun, die dem Ausbau der technischen Voraussetzungen und der nötigen Infrastruktur für erneuerbare Energien zusätzliche Schranken setzt.

(3) Das uns zur Verfügung stehende Zeitfenster ist schmal. Es ist fraglich, ob wir angesichts der knapper werdenden Zeit, in der uns die fossile und Rohstoffbasis immer schneller wegbricht, die theoretisch vorhandenen Potenziale wirklich umsetzen können.

(4) Ein Problem für sich stellt die Organisation unserer Mobilität dar, die in der uns bekannten Form ohne die fossile Energiebasis kaum vorstellbar ist und die gleichzeitig für unsere global durchgesetzte kapitalistische Industriegesellschaft essenzielle Bedeutung hat.


Machbar oder lebensfähig? Die Erneuerbaren als "Parasiten" der Fossilen

Die so genannten erneuerbaren Energien (im Wesentlichen Solarenergie und Biomasse) werden in ihren Möglichkeiten oftmals so hoch veranschlagt, dass es doch sehr erstaunt, warum sie sich nicht längst schon durchgesetzt haben. Ist tatsächlich nur die bitterböse Atomlobby schuld? Die präsentierten Rechnungen sind in der Tat höchst unseriös. Die Energiebilanzen beschränken sich in der Regel auf den laufenden Betrieb. Nicht miteinbezogen werden die Produktionsvoraussetzungen und die gesamte erforderliche Infrastruktur. Wer etwa die Energiebilanz einer Photovoltaikanlage ehrlich erstellen will, der muss - wie in jeder Kostenrechnung auch - anteilsmäßig bei der Produktion der Bagger anfangen, die den Sand zur Siliziumherstellung fördern.

Einer der wenigen, die so bilanzieren, ist Howard T. Odum, der dann auch prompt für die Photovoltaik (auf der Basis von monokristallinem Silizium) eine negative Energiebilanz errechnet. Mit Recht klagt die Anti-Atom-Bewegung in ihrer Auseinandersetzung mit den Atomkraftwerksbetreibern eine solche ehrliche Bilanz ein, um das Argument zu entlarven, Atomstrom sei der Ausweg aus der Klimakatastrophe.

Allerdings müsste man dann auch die intellektuelle Redlichkeit besitzen, diese Rechnung ebenso für die "Erneuerbaren" aufzumachen. Der Ökonom N. Georgescu-Roegen unterscheidet in diesem Sinne zwischen "machbaren" und "lebensfähigen" Energien. "Lebensfähig" sind nur jene Energiequellen, die sich selber reproduzieren können. Das heißt, Photovoltaik wäre in dem Maße lebensfähig, als die Produktionsbasis mit all ihren Komponenten und deren zyklische Erneuerung selbst wieder mit Photovoltaikstrom hergestellt werden könnten.

Dabei wäre zu bedenken, dass die Herstellung selbst der einfachen Halbleiterzellen Temperaturen von 400 bis 1.400 Grad Celsius erfordert. Richard Heinberg stellt eher skeptisch fest: "Sicherlich können konventionelle Siliziumzellen bisher im Vergleich zu der für ihre Herstellung nötigen Energie nur einen geringen späteren Ertrag aufweisen, obwohl die Anhänger dieser Technologie auch hier standhaft mit günstigen Zahlen werben (im Allgemeinen berücksichtigen sie bei ihren Berechnungen nicht die für den Transport und die Herstellung der Produktionsanlagen aufgewandte Energie..." (Heinberg 2004, S. 239) Auch die neueren Techniken etwa von Dünnschichtsolarzellen auf der Basis von nichtkristallinem Silizium oder lichtempfindlichen Farbpigmenten etc. helfen nicht viel weiter. Bei einem Wirkungsgrad von maximal 7 Prozent wird ihnen wohl nur ein Nischendasein beschieden sein.

Einzig die Windenergie (die aber für die Erzeugung der Stromgrundlast nicht taugt) scheint zweifelsfrei eine positive Energiebilanz aufzuweisen. Die entsprechenden Bilanzen bewegen sich freilich in einem breiten Spektrum und veranschlagen einen EROEI (Energy Returned on Energy Invested, das heißt Energiegewinn im Verhältnis zur eingesetzten Energie) von 2 bis 50. (Das heißt, innerhalb eines Lebenszyklus einer Anlage gewinnt man das Zwei- bis Fünfzigfache an eingesetzter Energie.)

Hier stellt sich allerdings das Problem der Speichertechniken. In Deutschland etwa steht die Windenergie insgesamt nur 16 Prozent der Zeit zur Verfügung. Die bisher bekannten bzw. derzeit erprobten Speichertechniken sind allesamt nicht unproblematisch. Pumpspeicherkraftwerke mit einem sehr hohen Wirkungsgrad gehen mit einem enormen Landschaftsverbrauch einher, für Druckluftspeicherkraftwerke fehlen vielfach die Voraussetzungen, weshalb bislang weltweit nur zwei existieren, und die Speicherung mittels Wasserstoff weist bislang einen bescheidenen Wirkungsgrad von etwa 20 Prozent auf.

Auf das Problem der schwindenden Rohstoffbasis , die dem Ausbau erneuerbarer Energien zusätzliche Schranken auferlegt, hat unter anderem Thomas Krupka, der Chef von "Solon", aufmerksam gemacht: Die Verteuerung von Rohstoffen wie etwa Kupfer und Stahl im Lauf des Jahres 2008 hat einen Vorgeschmack dafür geliefert, was deren absolute Verknappung in absehbarer Zeit bedeuten könnte. Mit Hinweis auf diese Problematik hat Krupka übrigens gerade die großflächige Stromproduktion durch Solarkraftwerke in der Sahara als Hoffnungsträger verworfen. Er wies etwa auf das schnelle "Erblinden" der Module durch Sandstürme, die dadurch bedingte drastische Ertragsminderung und den entsprechend kürzeren Lebenszyklus hin. (die tageszeitung, 13.11.2008)

Die Problematik des Rohstoffbedarfs betrifft solarthermische Anlagen, die neuesten Photovoltaiktechniken ebenso wie die Windenergie. Gerade in jüngster Zeit haben Studien auf die Knappheit von seltenen Metallen wie Indium, aber etwa auch des für Batterien eingesetzte Lithium hingewiesen. (Vgl. dazu SPIEGEL ONLINE, 10.4.2009) Auch in Bezug auf die Windenergie gibt James Howard Kunstler zu bedenken: "Wie schaffen wir die seltenen Erze, Chrom, Titan, von den wenigen Stätten ihres Vorkommens zu den Produktionsstätten, wo die Metalllegierungen hergestellt werden, um Windturbinen zu erzeugen? Und was benutzen wir, um die Hochöfen zu betreiben?" (Kunstler 2005, S. 128)

Die Problematik des immer schmaler werdenden Zeitfensters lässt sich ebenfalls anhand der Windenergie gut verdeutlichen. Die hochgerechneten theoretischen Potenziale sind teilweise beeindruckend. In den USA etwa gehen die optimistischsten Schätzungen davon aus, dass man mittels Windenergie ca. die Hälfte des Gesamtenergieverbrauchs erzeugen könnte. Doch es klafft eine große Lücke zwischen diesem theoretischen Potenzial und dem Status quo. Weltweit wird bislang etwa 1 Prozent der Elektrizität mittels Windenergie erzeugt. Richard Heinberg weist darauf hin: Wenn man in den USA bis zum Jahr 2030 etwa 20 Prozent der Elektrizität durch Windkraft gewinnen wollte, dann müsste man bis dahin jährlich (!) etwa 20.000 dem neuesten Stand der Technik entsprechende Windkraftanlagen aufbauen, vom nötigen Ausbau der übrigen Infrastruktur (Leitungskapazitäten) ganz zu schweigen.

Das würde eine beträchtliche Umschichtung ökonomischer Ressourcen in einer relativ kurzen Zeit und unter hohem Energieaufwand bedeuten - einem Energieaufwand unter dem Vorzeichen der immer schneller wegbrechenden fossilen Basis: "Betrachtet man nun aber diese Energieinvestition, die man für den Bau all der Windturbinen und andere für den Übergang auf erneuerbare Energien notwendige Infrastrukturmaßnahmen braucht, und bedenkt, dass gleichzeitig das Erdöl immer knapper wird, erkennt man, dass dann keine überschüssige Energie mehr zur Verfügung stünde, um den bisherigen Bedarf der Wirtschaft weiterhin decken zu können." (Heinberg 2004, S. 233)


Eine Million Elektroautos oder die Rechenkünste eines Exministers

Überdeutlich wird der illusionäre Charakter der aktuellen Diskussion beim Thema "Mobilität". Verwundert reibt man sich die Augen, wenn man in gleich zwei Ausgaben des SPIEGEL hintereinander zu lesen bekommt, dass die Biomasse der Erde sieben- bis achtmal größer ist als die Menge, die nötig ist, um den alternativen Treibstoff für unser heutiges Mobilitätsniveau zu sichern.

Leider ist diese Aussage nicht weiter belegt. Aber der Unsinn liegt ohnehin auf der Hand. Die hohen Verluste an fruchtbarem Ackerland durch Bodenerosion, die Ausdehnung der Wüsten etc. sind jedem auch nur oberflächlich Informierten bekannt. Selbstverständlich steht die Erzeugung von Biomasse in unmittelbarer Konkurrenz zur Ernährung der Weltbevölkerung. Der gegenwärtige weltweite Boom beim Anbau von Plantagen für pflanzliche Treibstoffe bedeutet letztlich, dass weltweit gesehen 800 Millionen Autobesitzer (mit entsprechend mehr Kaufkraft) gegen die 2 Milliarden Menschen konkurrieren, die heute unter der Armutsgrenze leben.

Selbst das Wall Street Journal eignet sich in Bezug auf die Produktion von Biotreibstoffen inzwischen die Sichtweise kritischer Ökologen an und weist unter Berufung auf David Pimentel darauf hin: "...die Ausweitung der Produktion von Mais für Biokraftstoffe würde die Wasserressourcen erschöpfen und den Boden durch den Gebrauch von Kunstdüngern und anderen Chemikalien verschmutzen. Das würde auch den Verbrauch von großen Mengen konventioneller Energie erfordern - für die Landwirtschaftsmaschinerie und für die Anlagen zur Konversion von Mais zu Ethanol. Dieser Preis könnte den Vorteil aus der Produktion des weniger umweltverschmutzenden Kraftstoffs zunichte machen." (Wall Street Journal, 5.12.2006) Nicht berücksichtigt ist dabei, dass auch die Herstellung von Düngemitteln und anderer Agrarchemikalien den Verbrauch einer großen Menge von fossilen Brennstoffen und anderen nicht erneuerbaren Ressourcen erfordert. Schon in früheren Studien wurde der EROEI von Ethanol aus Mais auf nur 1,3 bzw. 1,1 berechnet, der von Palmöl auf lediglich 1,06. (Heinberg 2004, S. 152f.)

Die bundesdeutschen "Grünen" biedern sich derzeit bis zur Peinlichkeitsgrenze als Retter der Autoindustrie an. Als einen Bestandteil des "Green New Deal" hat man die Vision formuliert, bis zum Jahr 2020 eine Million Elektroautos auf deutschen Straßen zu haben. Jürgen Trittin, Ex-Bundesumweltminister und seinerzeit williger Vollstrecker des Autokanzlers Schröder, antwortete auf die Frage, woher denn dafür der Strom kommen soll: "Bis dahin werden 50 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien erzeugt, da haben wir ja schon die Hälfte." (Interview am 9.5.2009 im Fernsehkanal Phoenix )


Energie in flüssiger, leicht transportierbarer und gut handhabbarer Form ist unabdingbare Voraussetzung zur Aufrechterhaltung der Mobilität in bisherigem Stil. Wasserstoff galt lange als der ideale Ersatz für flüssigen Treibstoff. Eine wasserstoffgetriebene Brennstoffzelle hat tatsächlich einen Wirkungsgrad von 60 Prozent und übertrifft damit Benzinmotoren deutlich. Aber Wasserstoff ist keine Energiequelle, sondern ein Speichermedium.

Grundsätzlich sind zwei Wege der Wasserstoffproduktion gangbar: die Herstellung aus Kohlenwasserstoffen, heute konkret Methan, oder mittels Elektrolyse aus Wasser, wobei es natürlich auch möglich wäre, das Elektrolyseverfahren mittels Energie aus erneuerbaren Quellen durchzuführen. Bei diesen zwei Verfahren beträgt der Stromverbrauch etwa 5 kWh pro Kubikmeter, bei der anschließenden Stromerzeugung aus Wasserstoff geht ebenfalls Energie verloren.

Für den Fall, dass der Strom aus regenerativen Quellen stammt, wirft Benjamin Dessus die Frage auf, welche Gesamtleistung sich damit überhaupt realisieren lässt, wenn man bedenkt, dass die großtechnische Herstellung von Wasserstoff permanente Energiezufuhr in erheblichen Mengen erfordert. (Le Monde diplomatique, 14.1.2005) Richard Heinberg betont in diesem Sinn: "Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik legt fest, dass Wasserstoff immer ein Nettoverlierer sein wird, da bei jeder Umwandlung ein Teil der nutzbaren Energie verloren geht ... Angesichts der von vornherein recht niedrigen Nettoenergie aus erneuerbaren Quellen sowie der Nettoenergieverluste bei der Umwandlung von Strom in Wasserstoff und der anschließenden Rückwandlung von Wasserstoff in Elektrizität kommt man kaum an der Erkenntnis vorbei, dass die von wohlmeinenden Visionären propagierte 'Wasserstoffwirtschaft' notwendigerweise mit weit weniger Energie auskommen muss als die Wirtschaft, die wir bisher gewöhnt sind." (Heinberg 2004, S. 245)

Dazu kommen noch die erheblichen Infrastruktur- und Sicherheitsprobleme, für die kaum Lösungen in Sicht sind. Aufgrund des extrem hohen Drucks braucht ein Wasserstoffauto mit Brennstoffzellentechnik einen mit äußerst starken Kohlestofffasern verstärkten Tank. Ein Sicherheitsrisiko sind dabei vor allem die Bleiverbindungsstellen. Wasserstoff ist leicht entflammbar und korrosionsaggressiv. Jeder Tankvorgang würde nicht nur ein erhebliches Sicherheitsrisiko bedeuten, sondern mit zusätzlichem Energieverschleiß verbunden sein. Der relative Energieverbrauch allein für den Transport (in Tanklastwagen mit hohem Kompressionsdruck) im Verhältnis zur transportierten Energie würde Wasserstoff bei fast jeder Entfernung unwirtschaftlich machen.

Es führt einfach kein Weg daran vorbei: Da jede Form von Energie endlich ist und dem physikalischen Gesetz der Entropie unterliegt, da auch scheinbar im Überfluss vorhandene Energie erst mühsam und selbst wieder unter hohem Energieaufwand verfügbar gemacht werden muss, werden wir ein anderes Verhältnis zur Mobilität insgesamt gewinnen müssen. Es entspricht vermutlich nicht menschlichem Maß, innerhalb von 24 Stunden an fast jedem beliebigen Punkt der Erde sein zu können.


Eine Ökonomie des "Genug"

Wer die Lebensgrundlagen weltweit sichern will, der muss eine Ökonomie und Kultur des "Genug" anstreben und sich vom parasitären Charakter unseres Scheinwohlstands verabschieden. Um im Bild zu sprechen: Man kann eben nicht gleichzeitig die Abschaffung der Legebatterien fordern und an Joseph Goebbels' Forderung nach dem Frühstücksei für jeden Deutschen festhalten wollen. In erfrischendem Gegensatz zum ökologischen Wohlstandschauvinismus eines Ernst Ulrich von Weizsäcker macht Jeremy Rifkin klar, dass nicht weniger als unsere Industriegesellschaft und die damit verbundenen Lebensgewohnheiten auf dem Spiel stehen:

"Diejenigen, die sich ... von den Illusionen des industriellen Zeitalters nicht lösen können, ... werden sich dagegen wehren, dass Großstadtleben, industrielle Produktionsweisen und der gesamte Komfort, der den so genannten 'amerikanischen Traum' genährt hat, im Widerspruch zum Solarzeitalter stehen sollen. Ökologen und Wirtschaftswissenschaftler ... haben jedoch mehr als deutlich gemacht, dass wir uns der historischen Realität nicht länger entziehen dürfen, dass falsche Zukunftserwartungen ein überaus gefährliches Abenteuer bedeuten, vielleicht eine irreversible Katastrophe. Ganz gleich, welchen Weg wir auch einschlagen, der bevorstehende Wendepunkt wird uns Opfer und Verzicht nicht ersparen." (Rifkin 1985, S. 213 f.)

Eine nachhaltige, die elementaren Lebensgrundlagen sichernde Wirtschaft darf jedoch nicht nur nicht wachsen, sie muss schrumpfen mit dem Ziel, ein verträgliches Niveau des "steady state", das heißt eines stationären Gleichgewichts, zu erreichen. Natürlich ist dies mit der dem Kapitalismus eingeschriebenen Wachstumslogik nicht mehr zu vereinbaren. Die erforderliche ökonomische Abrüstung kann nur in bewusster Planung erfolgen. (In Auseinandersetzung mit Herman Daly, Harry Shutt, den "Marktsozialisten", Elmar Altvater und anderen hat dies vor allem Saral Sarkar in seinen beiden unten angeführten Büchern aufgezeigt.)

Die Rohstoff- und Energieverknappung und das Einhalten ökologischer Mindeststandards führen unweigerlich zum Wegbrechen ganzer Industriebranchen. "Marktkonforme" Steuerungsgesetze müssen hier zwangsläufig versagen. Die (begrenzten) Steuerungsmechanismen des Marktes funktionieren nur unter der Voraussetzung hoher Produktivität und eines genügend großen Ressourcenangebots. Die fiskalische Lenkung der Nachfrage etwa durch Besteuerung kann nur die soziale Kluft verschärfen und dazu führen, dass "unökologisches" Verhalten eben einer reichen Elite vorbehalten bleibt. Der freie Handel mit limitierten Verschmutzungsrechten kann unter kapitalistischen Bedingungen nur zu krassen Fehlallokationen führen.

Eine Steuerung des Ressourcenangebotes, Mengenregulierungen für Energie und Rohstoffe müssen mit Preiskontrollen und einer Rahmenplanung einhergehen, die Produktion und Verbrauch lenkt. Was, wie und wie viel produziert wird, kann nicht länger dem Chaos partikulärer Profitinteressen überlassen bleiben, sondern muss - auf möglichst demokratische und partizipative Weise - bewusst organisiert werden. Die mit viel medialer Unterstützung geschürten Illusionen in Bezug auf Energieeffizienz und erneuerbare Energien muten wie die hilflosen Abwehrversuche der sich aufdrängenden Konsequenz eines ökologischen Sozialismus an.

(*) Ingeborg Bachmann


Literatur

Heinberg, Richard, 2004: The Party's Over. Das Ende der Ölvorräte und die Zukunft der industrialisierten Welt, München.

Kunstler, James Howard, 2005: The Long Emergency. Surviving the End of Oil, Climate Change, and Other Converging Catastrophes of the Twenty-First Century, New York.

Sarkar, Saral, 2009: Die Krisen des Kapitalismus. Eine andere Studie der politischen Ökonomie, Köln/Mainz (zu beziehen über die Initiative Ökosozialismus, www.oekosozialismus.net; Bruno Kern, Mombacher Straße 75 A, 55122 Mainz; Tel.: 06131/236461; E-Mail: fackelkraus@gmx.de).

Sarkar, Saral, 2001: Die nachhaltige Gesellschaft. Eine kritische Analyse der Systemalternativen, Köln (zu beziehen über die Initiative Ökosozialismus, s.o.).

Sarkar, Saral/Kern, Bruno, 2008: Ökosozialismus oder Barbarei. Eine zeitgemäße Kapitalismuskritik, Köln, Mainz (Broschüre, zu beziehen über die Initiative Ökosozialismus).

Luks, Fred, 1997: Der Himmel ist nicht die Grenze, in: Frankfurter Rundschau, 21. Januar 1997.

Odum, Howard T., 1996: Environmental Accounting. Emergy and Decision Making, New York.

Rifkin, Jeremy, 1985: Entropie - ein neues Weltbild, Frankfurt/Berlin.

Weizsäcker, Ernst Ulrich von, 1992: Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt, Darmstadt.

Welzer, Harald, 2008: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt.

Raute

2000 Zeichen abwärts

Linke Ökologie?

Mit der Ökologie stehen viele Linke auf Kriegsfuß. Sie gilt ihnen als rein technische Frage, im Unterschied zum gesellschaftlichen Anliegen der Emanzipation. Davon abgesehen, so können wir hören, laufe das alles auf Verzichtsethik hinaus - und damit "lässt sich doch kein Hund hinterm Ofen vorlocken", wie eine Aktivistin im Vorfeld des Klimacamps 2008 einer Mobilisierungszeitung zu Protokoll gab. Gleiche Lebenschancen für alle bedeute eben auch, "dass der chinesischen Wanderarbeiterin zugestanden werden muss, den auf chinesischen Werkbänken produzierten VW-Golf zu fahren!"

Ganz so, als wäre der auf chinesischen Werkbänken produzierte VW-Golf bereits ein Ausblick auf die befreite Gesellschaft. Dem allerdings ist mitnichten so. Das Auto stinkt und vereinzelt. Es gehört einer Epoche an, in der Mobilität das Konsumvergnügen von Warenmonaden bedeutet. Hier hat sich eine Gesellschaft, die auf Vereinzelung und rastloser Bewegung beruht, in der Technik niedergeschlagen. Die Abwicklung dieser Art von Technik ist Teil der sozialen Herausforderung.

Aber nicht nur das: Richtig ist nämlich auch, dass es ein alter Trick der Literatur war, soziale Utopien auf kargen Planeten anzusiedeln. Ursula K. Le-Guins "Planet der Habenichtse" etwa spielt auf einem rohstoffarmen Mond. Das Zusammenleben der Menschen dort wird bestimmt von den Anforderungen, die ihre raue Umgebung an sie stellt. Menschliche Selbstbestimmung ist da nur sehr begrenzt denkbar.

Was solche Romane als Fiktion entwickeln, praktiziert der Kapitalismus jedoch gerade als reales Phänomen. Wenn durch den Klimawandel die Wüstenbildung zunimmt und durch den Wachstumszwang des Kapitals Rohstoffe vergeudet werden, dann verschlechtert dies die Voraussetzungen für ein emanzipiertes Leben jenseits von Ware, Wert und Kapital. Ganz davon abgesehen, dass er bereits jetzt die Lebensbedingungen vieler Tausend Menschen ruiniert.

J.B.

Raute

Malthus Reloaded?

Über natürlich-technologische Möglichkeiten und Grenzen der Nahrungsmittelproduktion

von Christian Lauk

Im Laufe der letzten Dekade deutet sich eine Richtungsänderung in der weltweiten Ernährungssituation an, und zwar eine äußerst unangenehme. Während nämlich der Anteil Unterernährter an der Bevölkerung der Entwicklungsländer bis zu Beginn unseres Millenniums zurückging (zwischen 1991 und 2004 von 20 auf 16 Prozent), stieg dieser im Zeitraum 2004 bis 2008 wieder rapide an. Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO zufolge waren letztes Jahr fast eine Milliarde Menschen unterernährt, so viel wie seit vielen Jahren nicht mehr.

Zu befürchten ist, dass sich dieser negative Trend zumindest in den nächsten Jahren nicht umkehren wird. Zwar sanken die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel in den letzten Monaten wieder, nachdem diese im ersten Halbjahr 2008 auf dem höchsten Stand seit Langem waren. Doch lokal blieben die Preise teilweise relativ hoch, während die Wirtschaftskrise die Löhne und damit die Kaufkraft der Arbeiter für Nahrungsmittel reduziert. Es kann sein, dass hinter den sinkenden Preisen eher eine rückläufige Nachfrage steht.

Die Frage, warum Menschen verhungern, gleichzeitig aber ein anderer Teil der Bevölkerung in unübersehbarem Reichtum lebt, begleitet den Kapitalismus seit Beginn. Bereits im Jahr 1798 veröffentlicht Thomas Robert Malthus seinen "Essay on the Principle of Population", der im Wesentlichen auf eine naturgesetzliche Begründung des damals in Großbritannien grassierenden Hungers hinausläuft. Während die Bevölkerung exponentiell wachse, könne die Nahrungsmittelproduktion nur linear ansteigen. Die entstehende Lücke zwischen Produktion und Bedarf führe unweigerlich zu Hunger.

Populär wurde eine ähnliche Argumentation, ausgehend vom englischen Sprachraum, inzwischen jedoch mit globaler Reichweite, wieder ab Ende der 1960er Jahre. 1967 veröffentlichten die Brüder William und Paul Paddock das Buch "Famine, 1975!", ein Jahr später folgte der Biologe Paul Ehrlich mit "The Population Bomb". Diese Autoren prophezeiten, dass bei weiter wachsenden Bevölkerungszahlen in den folgenden Jahrzehnten große Hungersnöte bevorstünden. Die "Tragfähigkeit" (carrying capacity) der Erde sei bereits überschritten und eine Reduktion der Bevölkerungszahlen unvermeidlich, ob durch Hungertode oder eine staatliche Bevölkerungskontrolle, die sich dem Ernst der Lage entsprechend vor Zwangssterilisationen nicht scheuen sollte. Den gesellschaftlichen Kontext für diese Position lieferte eine massive Hungersnot in Indien 1966 und 1967, die mit den bis zu diesem Zeitpunkt steigenden Wachstumsraten der Weltbevölkerung kurzgeschlossen wurde.

Widerspruch kam damals vor allem von jenen, die an die Segnungen des Kapitalismus glaubten, allen voran dem neoliberalen Ökonom Julian Simon. Die Debatte um das Bevölkerungswachstum hängt eng mit den Möglichkeiten der Nahrungsmittelproduktion zusammen. Merkwürdigerweise wurde und wird sie bis heute im Wesentlichen zwischen Neoliberalen und Neo-Malthusianern geführt. Übrigens behielten Simon und Co. mit ihrer Zuversicht, dass mit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus der Hunger zurückgehen würde, von den 1970er bis in die 1990er Jahre durchaus Recht. Wenn Hungersnöte nun wieder zunehmen, so ist allerdings zu befürchten, dass das Erklärungsmuster der Neo-Malthusianer neuen Aufwind bekommt.

Die Behauptung, dass der Welthunger Resultat "natürlicher Grenzen" sei, erfordert eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie viele Menschen mit der gegenwärtigen agrarischen Technologie ernährt werden können. Bereits Friedrich Engels, der sich 1844 in "Umrisse zur Kritik der Nationalökonomie" ausführlich mit Malthus auseinandersetzte, zitierte den Mediziner William Pulteney Alison als Advokaten der Möglichkeit, die Kornproduktion in England mit der damaligen Technologie zu versechsfachen. Engels wollte damit Malthus widerlegen. Ob er Recht hatte, sei dahingestellt. Tatsächlich kommt man aber auch heute in einer kritischen Auseinandersetzung mit den Nachfolgern von Malthus nicht um die Frage herum, wie viel Nahrung global produziert werden kann.


Grenzen des Wachstums, Wachstum der Grenzen

Dass es kaum möglich ist, ein eindeutiges Maximum der Nahrungsmittelproduktion anzugeben, zeigt bereits die weite Spanne von Angaben zur global möglichen Bevölkerung. Der US-amerikanische Demograph Joel E. Cohen stellt in seinem Buch 30 solche Angaben aus den letzten Jahrzehnten zusammen. Während die niedrigste bei nur 500 Millionen bis 1 Milliarde Menschen liegt, also behauptet, dass dauerhaft nur ein kleiner Teil der heutigen Weltbevölkerung ernährt werden kann, entspricht die höchste Angabe einer 1 mit 16 bis 18 Nullen, das heißt bis zu einer Milliarde mal einer Milliarde Menschen. Im Prinzip kann man sich also je nach Bedarf auf einen der Autoren beziehen. Der ganz überwiegende Teil der Angaben liegt allerdings bei 8 bis 64 Milliarden Menschen.

Eine besonders niedrige Schätzung stammt von dem Neo-Malthusianer David Pimentel, der viel zur Frage der Energieabhängigkeit der Landwirtschaft publizierte. In einem Artikel aus dem Jahr 1999 spricht er von einer dauerhaft möglichen Bevölkerungszahl von 2 Milliarden Menschen. Seine Herleitung dieser Zahl ist einigermaßen simpel: Etwa 0,5 Hektar Ackerland, so meint Pimentel, sind pro Person notwendig, um eine "vielfältige, gesunde und nahrhafte Ernährung" zu gewährleisten. Legt man dies auf die globale Ackerfläche um, so kommt man zu einer maximalen Bevölkerung von 3 Milliarden. Pimentel nimmt an, dass ein Teil des Ackerlandes wegen der Degradierung der Böden, zurückzuführen auf die zu intensive Landwirtschaft, verloren geht; ein anderer Teil wird für die Produktion erneuerbarer Energien (z. B. Biotreibstoffe) benötigt. Pimentel und Kollegen ziehen deshalb 1 Milliarde ab und kommen somit zum Schluss, maximal könnten 2 Milliarden Menschen dauerhaft ernährt werden.

Es stellt sich hier natürlich die Frage, wie es dann kommt, dass bereits heute genügend Nahrung für an die 7 Milliarden Menschen produziert wird - die heutige Unterernährung wäre durch eine andere Verteilung aus der Welt zu schaffen. Tatsächlich wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass die Einschätzung von Pimentel nicht haltbar ist. In Deutschland zum Beispiel kommen aktuell auf eine Person nur etwa 0,2 Hektar landwirtschaftliche Fläche und nicht die von Pimentel kolportierten 0,5 Hektar. In Regionen mit mehreren Ernten pro Jahr, wie etwa in weiten Teilen Ost-Chinas, dürfte dieser Wert noch niedriger liegen.

Außerdem gehen Pimentel und Kollegen von der europäischen bzw. US-amerikanischen Nahrungszusammensetzung aus. Durch den hohen Anteil an Tierprodukten in der Nahrung braucht dieser Ernährungstyp aber eine besonders große Fläche. Den hohen Fleischkonsum der reichen Länder als unabänderlich anzunehmen und gleichzeitig die Unvermeidlichkeit einer Bevölkerungsreduktion zu vertreten, ist allerdings zynisch.

Eine bessere Methode als die von Pimentel besteht darin, das mögliche agrarische Produktionspotenzial zu modellieren. Der Ertrag auf einer bestimmten Fläche bestimmt sich im Wesentlichen durch drei Faktoren. Zwei davon sind vorrangig natürlich bedingt: Erstens das Klima, also vor allem Temperatur und Niederschläge im Laufe des Jahres, zweitens der Bodentyp. Der andere Faktor ist gesellschaftlich bestimmt und betrifft die landwirtschaftliche Technologie. Dabei geht es in erster Linie um das Ausmaß des Düngemitteleinsatzes, die Saatgutwahl und die künstliche Bewässerung. Für Klima- und Bodenverhältnisse existieren globale Karten. Diese ermöglichen es, für jeden Fleck der Erde das Ertragspotenzial unter Annahme einer bestimmten agrarischen Technologie zu ermitteln und daraus auf die maximal mögliche Produktion zu schließen.

Eine relativ aktuelle Modellierung dieser Art, die holländische Agrarwissenschaftler durchgeführt haben, kommt zum Ergebnis, dass mit heutiger agrarischer Technologie bis zu 150 Milliarden Menschen ernährt werden könnten. Das ist allerdings mit extremen Bedingungen verbunden, die entweder nicht wünschenswert oder unrealistisch sind.

Erstens müssten sich dann alle Menschen weitgehend vegan ernähren. Zweitens wäre erforderlich, praktisch die gesamte nutzbare Landfläche - einschließlich dort, wo heute noch Wälder stehen - so intensiv wie möglich landwirtschaftlich zu nutzen, wo möglich mit mehreren Ernten pro Jahr. Drittens wäre auf jeder Fläche jeweils die Feldfrucht anzubauen, die nahrungsenergetisch den maximalen Ertrag bringt. Und viertens schließlich müssten alle Fließgewässer vollständig für die landwirtschaftliche Bewässerung genutzt werden, noch dazu mit maximal möglicher Effizienz (z. B. durch Tröpfchenbewässerung).

Würde sich dagegen der für industrielle Staaten typische Konsum von Tierprodukten globalisieren, so könnten unter diesen Extrembedingungen immer noch knapp 66 Milliarden Menschen ernährt werden. Diese Berechnung zeigt also auch schlagend, wie flächenintensiv eine Ernährung ist, in der Tierprodukte eine große Rolle spielen. Bereits heute werden 40 Prozent des global produzierten Getreides an Tiere verfüttert.

Schränken wir unsere Bedingungen realistischerweise etwas ein und nehmen wir an, dass die heutigen Waldflächen erhalten bleiben sollten. Das ist nicht nur zum Schutz der Biodiversität geboten, sondern auch, um den Klimawandel nicht weiter anzuheizen. Denn Wälder speichern gewaltige Mengen an Kohlenstoff, der bei ihrer Abholzung in Form des Treibhausgases Kohlendioxid in die Atmosphäre entweicht. Knapp 17 Prozent des fruchtbaren Landes sind global von Wald bedeckt. Verringert man das Nahrungsmittelpotenzial entsprechend, so wären noch immer 129 Milliarden Menschen (bei veganer Ernährung) bzw. 55 Milliarden Menschen (bei Globalisierung des Ernährungstyps der reichen Länder) möglich.

Freilich, selbst wenn man den Wald von agrarischer Nutzung ausspart, so bleiben in dem besagten Modell noch einige technokratische Annahmen, die so nicht unbedingt anzustreben sind. Dazu gehört vor allem, sämtliche Fließgewässer vollständig zur Bewässerung zu nutzen. Tatsächlich macht Bewässerung für das globale Produktionspotenzial einen großen Unterschied, 40 Prozent laut Daten der FAO.

Weitere Annahmen dieser Modellrechnung sind ebenso zu hinterfragen: Kann überall maximale Effizienz bei der Bewässerung erreicht werden? Wird jemals auf jedem Punkt der Erde genau jene Feldfrucht angebaut, die den in Nahrungsenergie gerechnet besten Ertrag erzielt? Können sämtliche Flächen so intensiv wie möglich landwirtschaftlich genutzt werden, ohne dass dabei ökologische Schäden drohen? Wird jemals sämtliche Nahrungsenergie, die auf dem Feld geerntet wird, auch genutzt werden? Ist es realistisch anzunehmen, dass alle dazu brauchbaren Flächen in Ackerland umgewandelt werden, auch wenn es dort heute noch relativ unproduktive Weideflächen gibt? Braucht es nicht einen Puffer zwischen maximalen Produktionsmöglichkeiten und Bedarf, um die in jeder Gesellschaft auftretenden unvorhergesehenen Ereignisse (z. B. Dürren) aufzufangen?

Jeder mag sich diese Fragen selbst beantworten. Es scheint allerdings nicht übertrieben, bei Berücksichtigung dieser Faktoren das Potenzial nochmals um zwei Drittel zu reduzieren.

Damit kommen wir zu folgendem Schluss: Unter Ausnutzung der heute verfügbaren landwirtschaftlichen Technologie könnten weltweit etwa 18 Milliarden Menschen ernährt werden. Bei weitgehend veganer - jedoch ausreichend proteinreicher - Ernährung sogar 43 Milliarden. Das ist, wenn man sich die obigen Überlegungen vor Augen hält, durchaus vorsichtig geschätzt.

Heute leben knapp 7 Milliarden Menschen auf der Erde, die Wachstumsrate geht global gesehen zurück. Setzt sich dieser Trend fort, so stabilisiert sich die Weltbevölkerung den Projektionen der UN zufolge in etwa dreißig Jahren bei knapp 8 bis gut 11 Milliarden Menschen. Dass Menschen hungern ist also weder heute noch in absehbarer Zukunft eine Folge natürlich-technologischer Grenzen. Ganz im Gegenteil wird Hunger durch die Art und Weise verursacht, wie unsere Gesellschaft Entscheidungen über Produktion und Verteilung der Nahrungsmittel trifft.


Nach den Fossilen die Sintflut?

Doch auch wenn wir damit den ein oder anderen Neo-Malthusianer überzeugen würden, folgendes Argument, das belegen soll, dass die heutige Weltbevölkerung nicht zu halten ist, lauert schon hinter der nächsten Ecke: Die industrielle Landwirtschaft sei abhängig von fossiler Energie, deren jährliche Förderungsraten jedoch in naher Zukunft zurückgehen ("Peak Oil"). Mit dem Ende der Fossilenergie werde auch das Ende der industriellen Landwirtschaft eingeläutet und damit sei eine Reduktion der Bevölkerung unvermeidlich. So ist in einem Fachartikel des US-amerikanischen Geologen Walter Youngquist, der sich auch in der Erforschung von "Peak Oil" hervorgetan hat, zu lesen: "Ein sehr großer Anteil der Weltbevölkerung ist abhängig von Nahrung aus hohen landwirtschaftlichen Erträgen, die durch die Nutzung von Fossilenergie erreicht werden. Es mag sein, dass die Welt nur 3 Milliarden ohne diesen Einsatz zu ernähren in der Lage ist."

Zweifellos richtig ist, dass die heutige Hochertragslandwirtschaft mit der Fossilenergie eng verbunden ist: Einerseits, um die Landmaschinen anzutreiben; andererseits, um die eingesetzten Maschinen, synthetischen Düngemittel und Pestizide zu produzieren. Der Einsatz von Treibstoff für die Landmaschinen (Traktoren und Erntemaschinen) macht dabei etwa ein Drittel, die Produktion der Produktionsmittel etwa zwei Drittel des gesamten Energieeinsatzes aus. Es ist auch in der Tat wahrscheinlich, dass wir in naher Zukunft mit abnehmenden Förderraten von Erdöl und Erdgas rechnen müssen, möglicherweise "Peak Oil" bereits erreicht haben. Es ist aber ganz falsch zu glauben, dass mit dem Ende des fossilen Zeitalters die Landwirtschaft unweigerlich in einen vorindustriellen Zustand zurückfällt.

Denn erstens geht nur ein sehr kleiner Teil der genutzten Fossilenergie auf das Konto der Landwirtschaft. In Österreich verbrauchen zum Beispiel sämtliche in der Landwirtschaft eingesetzte Traktoren etwa 250.000 Tonnen Diesel, das sind ziemlich genau 2 Prozent des inländischen Verbrauchs flüssiger Treibstoffe bzw. 0,8 Prozent des gesamten Energieverbrauchs. Berücksichtigt man die Energie für die Herstellung der Produktionsmittel (Maschinen, Düngemittel etc.), so dürfte der Anteil der Landwirtschaft am gesamten Energieverbrauch Österreichs, also eines Landes mit einer vollständig industrialisierten Landwirtschaft, bei etwa 3 Prozent liegen. Erdöl und Erdgas versiegen zudem nicht vollständig von heute auf morgen. Es bleibt also ein Zeitfenster, in dem genügend Fossilenergie zur Verfügung steht, um diese Form der Landwirtschaft noch eine Weile aufrecht zu erhalten.

Natürlich: Irgendwann versiegen die Quellen des schwarzen Goldes vollständig. Bis dahin aber wäre genügend Zeit, um auf eine Hochertragslandwirtschaft umzustellen, die ohne Fossilenergie auskommt. Technologisch steht dem schon heute nichts im Weg. Stickstoffdünger, Pestizide und Landmaschinen könnten auch mit Hilfe von erneuerbaren Energien produziert werden. Der für die Produktion des Stickstoffdüngers stofflich benötigte Wasserstoff könnte, statt wie heute aus Erdgas, durch Elektrolyse hergestellt werden, für die Wind oder Sonne die nötige Energie liefern.

Und auch Landmaschinen könnten durchaus mit Strom betrieben werden, der aus erneuerbaren Energiequellen gewonnen wird. Ökologische Methoden schließlich könnten Stickstoffdünger und Pestizide ersetzen, so wie dies die biologische Landwirtschaft heute bereits tut. Dann allerdings würde das Potenzial wegen der geringeren Flächenerträge und dem Flächenbedarf für den Anbau der Pflanzen, die man für die Gründüngung im Ökolandbau braucht, um ein gutes Drittel niedriger liegen. Das Ertragspotenzial derart einzuschränken ist in manchen Weltregionen, vor allem in Südostasien, allerdings kaum möglich.

Jedenfalls ist sicher: Die Behauptung, dass ohne fossile Energien nur noch ein Teil der heute lebenden Menschen ernährt werden könnten, ist Unsinn. Es ist zwar selbstverständlich, dass die physisch mögliche Weltbevölkerung durch die Natur im Zusammenspiel mit der zur Verfügung stehenden Technologie begrenzt ist. Diese Grenzen werden aber auch bei wachsender Bevölkerung und der heute zur Verfügung stehenden Technologie in absehbarer Zukunft global nicht erreicht.


Worauf es ankommt

Tatsächlich könnte bereits heute eine andere Verteilung den Hunger beenden. Das war durchaus nicht schon immer so. In den vergangenen 50 Jahren hat sich die durchschnittlich pro Person konsumierte Nahrungsenergie deutlich erhöht, von noch unter 2.300 Kilokalorien zu Beginn der 1960er Jahre auf etwa 2.800 Kilokalorien zu Beginn unseres Jahrtausends. Die kapitalistische Dynamik führte bis dato zu einer im Verhältnis zum Bevölkerungswachstum überproportionalen Steigerung der Nahrungsmittelproduktion. Überdies resultierte sie in einer absolut und relativ zur Weltbevölkerung abnehmenden Unterernährung. Angesichts der ausreichenden Nahrungsmittelproduktion ist es selbstredend beschämend, dass noch immer in weiten Teilen der Welt Hunger zur Tagesordnung gehört und in den letzten Jahren sogar wieder zunimmt.

Doch der Verweis auf die Verteilung allein ist zu kurz gegriffen. Um die zukünftige Versorgung mit Nahrungsmitteln zu sichern, braucht es auch eine Steigerung der Produktion, da die Weltbevölkerung bis 2040 voraussichtlich um ein Drittel wächst und der Konsum von Tierprodukten zunimmt. Dafür ist vor allem eine Modernisierung der Landwirtschaft in Drittweltländern notwendig, verbunden mit dem vermehrten Einsatz von Hochertragssorten und Düngemitteln.

In vielen Ländern Afrikas liegen heute die Erträge unter anderem deshalb so niedrig, weil den Bauern der Zugriff auf moderne Technologien durch ihren Geldmangel verwehrt ist. Lokales Wissen um ökologische Möglichkeiten zur Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit - zum Beispiel durch den vermehrten Einsatz von Leguminosen und die bessere Integration von Tierhaltung und Pflanzenbau - könnten Düngemittel teilweise ersetzen oder ergänzen. Eine besondere Rolle spielen außerdem der Aufbau und die Verbesserung von Bewässerungssystemen. Das ist allerdings mit einem relativ hohen Aufwand verbunden und muss zudem überregional, das heißt unter den gegebenen Verhältnissen: durch staatliche Institutionen, koordiniert werden.

Die Notwendigkeit, auf eine moderne Landwirtschaft mit hohen Erträgen umzustellen, ist allerdings regional höchst unterschiedlich. Denn auch die globale Verteilung fruchtbaren Landes und der Bevölkerung ist ungleich.

Einige Regionen kommen wahrscheinlich selbst dann, wenn sie ihre Landwirtschaft maximal intensivieren, zukünftig nicht mehr ohne den Import von Nahrungsmitteln aus. Das gilt insbesondere für die Ölstaaten, aber auch für manche dicht besiedelte südostasiatische und europäische Länder wie Bangladesh, Südkorea oder die Niederlande. Auch unter den Bedingungen industrieller Landwirtschaft wird zudem ab einem gewissen Intensivierungsgrad das Gesetz abnehmenden Grenznutzens schlagend. Selbst wenn es physisch möglich ist, auf eigenem Territorium alle nötige Nahrung zu produzieren, so wird dies doch immer teurer.

Auch für eine wachsende Weltbevölkerung gibt die Erde also genügend Nahrung her. Voraussetzung ist allerdings in vielen Regionen der Einsatz moderner Technologie. Wenn Menschen verhungern, so ist das keinesfalls irgendwie natürlich, sondern darauf zurückzuführen, dass der Zugriff auf die notwendigen Technologien oder die damit produzierten Nahrungsmittel den Besitz einer ganz besonderen "Materie" zur Bedingung hat: Geld. Auf der Tagesordnung steht deshalb nicht die Begrenzung des Bevölkerungswachstums, sondern der Aufbau einer solidarischen Ökonomie, in der die Produktion und Verteilung sich an den Bedürfnissen aller Menschen orientiert.


Literatur

FAO (2002): World Agriculture: Towards 2015/2030. Online: http://www.fao.org/docrep/004/Y3557E/Y3557E00.HTM

FAO (2008): The State of Food Insecurity in the World. FAO, Rome. Online: http://www.fao.org

Penning de Vries, F.W.T.; Rabbinge, R.; Groot, J.J.R. (1997): Potential and attainable food production and food security in different regions. Philosophical Transactions of the Royal Society of London B, Volume 352, pp. 917-928.

Pimentel, D.; Bailey, O.; Kim, P.; Mullaney, E.; Calabrese, J.; Walman, L.; Nelson, F.; Yao, X. (1999): Will limits of the earth control human numbers? In: Environment, Development and Sustainability, Volume 1, pp. 19-39. Online: http://ron-griffin.tamu.edu/ag/others/pimentelEtal.pdf

Raute

Natur

von Ulrich Enderwitz

Dank sei Buddha, Dank sei Brahma!
Wenn nicht Butter, nun dann Rama,
Wenn nicht Rama, nun dann Butter,
die Natur ist unsere Mutter.

I

Dieser von Christa Reinig mit Ranküne ersonnene "kultische Spruch" bescheidet sich nicht damit, "ein schönes Zeugnis ... von der religiösen Toleranz der alten Inder (zu geben)", er belegt darüber hinaus höchst anschaulich die heillose Krise gleichermaßen des Naturbegriffs und des Naturverhältnisses der Moderne. Er beschwört noch einmal den emphatisch totalen Stoffwechsel mit der Natur, so wie ihn das 19. Jahrhundert programmiert und durchgesetzt hat, aber er beschwört ihn in Gestalt schon nicht mehr der Totalität, sondern nur mehr der Egalität. Und zwar einer Egalität, die selber bloß die wurstig entschärfte Lesart und zynisch neutralisierte Darstellung der dem totalen Stoffwechsel längst eigenen abgründigen Widersinnigkeit ist, seines Changierens zwischen ebenso exklusiven wie untrennbaren Sphären, ebenso kontradiktorischen wie komplementären Systemen von Butterberg und Butterersatz, Überfluss und Rationierung, Friedenswirtschaft und Kriegsproduktion. Dass ein solch abgründiger Widersinn des totalen Stoffwechsels, ein solch zirkulärer Konflikt in der Stoffwechseltotalität selbst, durchaus seine nicht-natürlichen Ursachen hat und alles andere als ein totalitätsimmanentes Strukturmerkmal, ein autogenes Stoffwechselspezifikum ist diese möglicherweise entscheidende Einsicht tritt in der doppelten Danksagung eingangs des Spruches zwar auf, aber nur, um im abschließenden kategorischen Urteil, in der finalen Glaubensformel von der Mutter Natur effektiv und restlos zu verschwinden. Dabei hat offenbar die Form, in der der Spruch die Einsicht auftreten lässt, von vornherein nichts sonst als ihr Verschwinden zum Ziel. Indem in der Spruchform die Einsicht die nicht-natürlichen, gesellschaftlichen Ursachen zu übernatürlichen, kosmischen Urhebern erhebt und ihren die Gattung entzweienden, widersprüchlich bestimmten Charakter zur austauschbar unbestimmten Doppelnatur der einen Gottheit erklärt, nivelliert sie diese gesellschaftlichen Ursachen der widersinnigen Stoffwechseltotalität in einer Weise, die die folgende Egalisierung des Widersinns selbst überhaupt erst ermöglicht und die in der Tat höchst zielstrebig den Grund legt für die den Spruch kultisch krönende und beschließende Eskamotierung und Ersetzung der beiden Ursachen durch den einen Ursprung, der den Widersinn materialiter verschuldenden beiden gesellschaftlichen Kräfte Kapital und Arbeit durch die den Widersinn formaliter versöhnende eine kosmische Macht Mutter Natur. Dadurch, dass er auf seine formalisierend-neutralisierende Weise die Frage nach Wesen und Grund des in aller Totalität widersinnigen Stoffwechsels stellt und beantwortet, bereitet der Spruch den Boden für jene abstrakte Allheilung der Stoffwechselkrankheit durch Rückführung auf die Naturmacht, jene unvermittelte Allheiligung der widersinnigen Totalität durch Rekurs auf die große Mutter, worin seine kultische Leistung besteht und wodurch er zu einem - in all seiner Ironie und karikaturistischen Abstrusität - authentischen Zeugnis moderner Naturideologie wird.


II

Der Preis, den das moderne Bewusstsein für diese kraft Naturbegriff allheilend formale Homogenisierung, diese mittels Naturkult allheiligend ideologische Sanktionierung des aus ganz anderen als natürlichen Ursachen in seiner Totalität sich selber ad absurdum führenden gesellschaftlichen Stoffwechsels zahlt, ist die Hypostasierung der Natur zur Ursprungsmacht, zur großen Mutter. So wie die gesellschaftlichen Ursachen, deren Bewältigung und vielmehr Verschleierung die Beschwörung des Naturtopos dient, selbsttätig wirkende Kräfte hinter dem Stoffwechsel sind und den Charakter eigenständiger Subjekte haben, so muss auch der beschworene Naturtopos selbst die Züge eines autonomen Subjekts, einer als Ursprung der Erscheinungen selbstmächtig produzierenden Instanz annehmen. Für die faschistischen Nährständler wie für die friedliebenden Rohköstler, für Ranke-Graves wie für die Amazonen des Matriarchats ist Natur emphatisch mehr als bloß die reaffirmierte Totalität des gesellschaftlichen Stoffwechsels selbst, ist sie der die Totalität gleichermaßen gebärende und enthaltende Ursprung, die den Stoffwechsel gleichermaßen hervorbringende und umfangende Mutter. Nur insofern die Natur Ursprung ist, kann sie die widersprüchlichen nicht-natürlichen Ursachen, gegen deren Erkenntnis sie aufgeboten wird, tatsächlich im Bewusstsein ersetzen und vertreten. Nur insofern die Natur Mutter ist, können die unversöhnlichen gesellschaftlichen Kräfte, zu deren formeller Versöhnung oder Neutralisierung sie gebraucht wird, sich ideologisch ernsthaft hinter ihren Rockschößen verstecken oder in ihrem Schoße bergen. Dabei ist das Moment von lippenbekennerischem Unglauben und zynischer Routine, das nicht nur bei den Veranstaltern, sondern auch und sogar bei den Gläubigen die moderne Identifizierung der Natur als Ursprungsmacht und große Mutter zu begleiten tendiert, durchaus kein Argument gegen die logisch-formelle Notwendigkeit dieser Identifizierung, höchstens und nur ein Einwand gegen ihre praktisch-reelle Haltbarkeit.


III

Mit seiner Fassung der Natur als quasi-subjektive Ursprungsmacht und schöpferische Substanz scheint das moderne bürgerliche Bewusstsein an Traditionen aus der bürgerlichen Frühzeit, an Bruno, Bacon, Leibniz wieder anzuknüpfen. Indes darf der Schein von formeller Kontinuität über den tatsächlichen funktionellen Gegensatz nicht hinwegtäuschen. In den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft wird Natur als schöpferische Macht, natura naturans, gebraucht, um die noch nicht ausgebildeten gesellschaftlichen Antriebskräfte für den von der bürgerlichen Gesellschaft intendierten totalen Stoffwechsel mit der Natur theoretisch immerhin zu antizipieren und zu vertreten. Das moderne Bewusstsein hingegen braucht die Natur als Ursprungsmacht, magna mater, um, wie gesagt, die in all ihrer zerstörerischen Widersprüchlichkeit inzwischen längst ausgebildeten Antriebskräfte ideologisch wenigstens zu homogenisieren und zu ersetzen. Paradigmatisch für diesen modernen Gebrauch des Naturtopos steht der faschistische Naturkult. Mutter Natur, Mutter Erde vindiziert und garantiert ihrer auserwählten Menschenrasse, ihrer eingeborenen Volksgemeinschaft unterschiedslos und uniform Butter und Buna, deutschen Wald und deutsche Autobahnen, ukrainischen Weizen und Kruppkanonen. In all ihrer agrikulturellen Unschuld, ihrer bauernschlauen Einfalt ist sie ideologischer Inbegriff und objektives Symbol der als Sammelbecken uniformierenden politischen Bewegung selbst: ideologischer Schoß und symbolische Matrix einer glücklichen Koinzidenz von deutschem Unternehmertum und deutschem Arbeitsfleiß, deutschem Wehrstand und deutschem Nährstand, deutscher Erntehilfe und deutschen I.G. Farben. Schoß allerdings, in feste Bande schlagender Kosmos, eng umschließende Gebärmutter muss die Natur sein, will sie den Stoffwechsel in seiner widersinnigen Totalität ideologisch tatsächlich noch einmal homogenisieren und legitimieren. Nicht mehr am Busen, höchstens noch im Schoße der Natur vergisst und verliert sich der die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion stigmatisierende Konflikt der Kräfte. Nicht mehr durch eine romantisierende Berufung auf die spendenden Brüste der Natur, höchstens noch durch einen kraftmeierischen Appell an ihr generatives Zentrum lässt sich der gesellschaftlichen Reproduktion jener mythologische Anschein von allheilender Homogenität und allheiligender Totalität geben, den mit seiner als Entmythologisierung und Materialisierung gemeinten Rede vom Stoffwechsel Marx in objektiver Ironie bereits auf den Begriff bringt.


IV

Dass indes dieser wie auch immer faschistisch eng geschlossene Kontrakt zwischen natürlicher Ursprungsmacht und symbolisch in ihr aufgehobener gesellschaftlicher Reproduktion, zwischen mütterlichem Schoß und ideologisch in ihm versöhntem totalem Stoffwechsel empirisch eigentlich unhaltbar ist, liegt angesichts der den Stoffwechsel in Wirklichkeit erschütternden Kontraktionen, der die Reproduktion tatsächlich zerreißenden Konflikte auf der Hand. Empirisch droht dieser totale Stoffwechsel beständig, den ihn zu homogenisieren gedachten, naturmütterlich ideologischen Rahmen zu sprengen, die ihn zu sanktionieren bestimmten, ursprungsmächtig kosmischen Bande zu zerreißen, um in all seiner zwischen Hypertrophie und Kollaps changierenden, gesellschaftlich bedingten Widersinnigkeit wieder hervorzutreten und zu Bewusstsein zu kommen. Dieser objektiv ideologiezerstörenden Tendenz begegnet der Faschismus damit, dass er sie durch ebenso mörderische wie willkürliche Verschiebungs- und Ersatzleistungen antizipiert, das heißt damit, dass er die in der Stoffwechseltotalität zutage tretende sprengkräftige Widersprüchlichkeit und naturwidrige Anarchie zum ausschließlichen Charakteristikum bestimmter topischer oder systematischer, wirklicher oder erfundener Teilbereiche des Stoffwechsels erklärt, um dann den solcherart sei's als "angelsächsischer Wirtschaftsliberalismus" eingegrenzten und isolierten, sei's als "jüdische Rasse" zur Naturmonstrosität partikularisierten und verschobenen Widerspruch mit ebenso mörderischem Nachdruck wie propagandistischem Aufwand aus dem mütterlichen Naturschoß auszustoßen. Indes braucht es für eine solche "Auflösung" des empirisch überwältigenden Widerspruchs gegen die zur Geltung gebrachte Naturideologie eine ganze totalitäre Staatsmaschinerie, eine ganze Terrororganisation in Staatsform. Daran aber ist gegenwärtig nicht beziehungsweise noch nicht wieder zu denken. So gibt es denn auch keine Möglichkeit, den nach dem großen Potlatch, mit dem der Nationalsozialismus seine Karriere beschließt, wieder in Gang gesetzten und auf Touren gebrachten gesellschaftlichen Stoffwechsel in der alten Manier Mutter Natur kosmologisch einzuverleiben und ideologisch anzuverwandeln. Ohne jede Aussicht auf ideologische Allheilung und kosmologische Allheiligung durch die Ursprungsmacht Natur entfaltet sich gegenwärtig der totale Stoffwechsel in all seinem krisenträchtigen Widersinn und seiner zerstörerischen Widersprüchlichkeit.


V

Kaum aber, dass Mutter Natur aufgehört hat, als ein den gesellschaftlichen Stoffwechsel egal homogenisierender ideologischer Strukturrahmen und total sanktionierender kosmologischer Seinsgrund in Betracht zu kommen, fängt sie stattdessen nun an, die Rolle eines den Stoffwechsel diametral konfrontierenden alternativen Seins und radikal kritisierenden Gegenentwurfs zu spielen. Konfrontiert mit einem Zustand der gesellschaftlichen Reproduktion, den in all seiner Widersprüchlichkeit keine von Staats wegen verordnete, faschistische Naturideologie mehr verschleiert und dem Bewusstsein vorenthält, rekurriert ein Großteil der Kritiker dieses Zustands in zunehmendem Maß auf eben jene abgelegte faschistische Naturideologie - nicht um mit ihr als transzendentaler Einheitsstiftungsfunktion in der alten Manier das Kranke gesundzubeten und das Unheil heilig zu sprechen, sondern um mit ihr als residualem Widerstandsbegriff dem Kranken Heiles entgegenzusetzen und dem Unheil das Heil gegenüberzustellen. In dieser neuen Funktion ist Mutter Natur nicht mehr der tragende Grund, auf dem man als entfesselter Kraftmensch alles bauen und, was man will, anstellen kann, sondern nur mehr die entweihte Erde, in der man angesichts dessen, was man auf ihr gebaut und angerichtet hat, als entdecktes Rumpelstilzchen stante pede versinken möchte; nicht mehr die als imperialer Volksraum eroberte und erschlossene Rohstoff- und Kornschatzkammer, sondern nur mehr das als hinterwäldlerische Hofstelle aufgelassene und bezogene Rückzugs- und Zonenrandgebiet. So verschieden - weltanschaulich-phänomenologisch betrachtet - die Natur als Frieden gewährender transzendenter Kräh- und Schmollwinkel von der Natur als Einheit stiftendem transzendentalem Entfaltungs- und Lebensraum ist, so sehr erfüllt sie - politisch-ideologisch gesehen - in beiden Fällen doch die ungefähr gleiche Funktion: Als vom gesellschaftlichen Stoffwechsel abstrahierende und sich separierende residuale Sphäre ebenso wie als ihn homogenisierender und sanktionierender totaler Kosmos erfüllt Mutter Natur die in etwa gleiche Aufgabe einer ideologischen Bewältigung und politischen Neutralisierung der dem Stoffwechsel als gesellschaftlichem eigenen Widersprüchlichkeit und Sprengkraft. Bringt der faschistische Naturideologe die innere Widersprüchlichkeit der Stoffwechseltotalität dadurch zum Verschwinden, dass er das Widersprüchliche naturalisiert und als kraft Naturmacht geeint und versöhnt behauptet, so schafft sie sich der postfaschistische Naturapostel dadurch aus den Augen, dass er das Widersprüchliche aus dem Naturheiligtum exkommuniziert und für mit ihm toto coelo zerfallen und unvereinbar erklärt. Den Widerspruch als einen in der Natur der Gesellschaft sich entfaltenden wahrzunehmen und gesellschaftskritisch zu realisieren, versäumt der Letztere nicht weniger als der Erstere.


VI

Natürlich kann die von Letzterem dekretierte gnostische Scheidung zwischen der Residualkategorie einer heilig-heilen Welt der Natur und dem Pauschalbegriff einer heillos-naturwidrigen Gesellschaftssphäre nicht ernsthaft Bestand haben. Da hier Mutter Natur nichts anderes darstellt als die vom materialen Ganzen des gesellschaftlichen Stoffwechsels, der seinen heillosen Widersprüchen überlassen bleibt, abgezogene und befreite reine Form der Einheit und tautologische Ganzheit, da sie also das Produkt einer kategorischen Entmischung und Hypostasierung ist, ist sie beständig in Gefahr, von eben dem gesellschaftlich Wirklichen, eben dem materialen Ganzen, dessen Verwerfung und Austreibung sie ihr Entstehen verdankt, wieder eingeholt und ad absurdum geführt zu werden. Ohnmächtig müssen ihre Anhänger zusehen, wie Mutter Natur, ein Rückzugsgebiet auf dem Rückzug, von ihren gesellschaftlichen Widersachern infiltriert und verseucht, eingeholt und zur Strecke gebracht wird, wie Wälder vergast werden, Wattenmeere versauern, die Erde unter der Schwermetalllast zusammenbricht. Dass angesichts dieser umfänglichen Bedrohung schließlich Paranoia aufkommt und Mutter Natur dort, wo der gesellschaftliche Stoffwechsel sich ausnahmsweise einmal nicht gefahrbringend in ihr breit macht, von sich aus bedrohlich zu werden und als ein hochgiftige Schimmelpilze oder akut schädliches Cholesterin produzierender Gefahrenherd eigener Provenienz sich herauszustellen beginnt, kann schwerlich überraschen. Am Ende bleibt nur noch die Trotzreaktion und von dezisionistischem Pathos getragene Resolution, die aus der folgenden, der Ausgabe des Volksblatts Berlin vom 13.9.83 entnommenen Schlagzeile spricht: "Enge Bindung zur Mutter wichtig - Kinderärzte empfehlen trotz Schadstoff-Konzentrationen weiterhin das Stillen."


VII

Eben dies Ende markiert aber auch den Punkt, an dem die von der Stoffwechseltotalität gebeutelte und ebenso sehr ad absurdum geführte wie heimgesuchte Mutter Natur ihren separatistisch-alternativen Geist aufzugeben beziehungsweise ihre autonomistisch-grüne Seele auszuhauchen neigt und sich aus einem jenseits des gesellschaftlichen Stoffwechsels angesiedelten transzendenten Reservat und Randgebiet in eine immanente Grenzbestimmung und Randbedingung eben dieses Stoffwechsels selbst zurückzunehmen, aus einer zu ihm alternativen Sphäre, einer Gegenwelt, in einen zu ihm komplementären Bereich, seine Umwelt, zu transformieren bereit ist. Kraft Infiltration und Unterwanderung durch den gesellschaftlichen Stoffwechsel gleichermaßen in ihrer mythologischen Haltbarkeit und ideologischen Brauchbarkeit widerlegt, unterwirft sich Mutter Natur ihrem Überwinder und lässt sich von ihm her ebenso strukturell grundlegend rekonstruieren wie funktionell gründlich revidieren. Sie verwandelt sich aus einem chimärischen Kontrahenten, der in eigener Person und paradigmatisch zu demonstrieren taugt, wann und wo die per definitionem zerstörerische Macht der Stoffwechseltotalität ihre vorläufige Grenze findet, in ein chemisches Reagens, das am eigenen Leib und symptomatisch zu indizieren dient, wann und wo die Macht der Stoffwechseltotalität definitionsgemäß zerstörerisch zu werden beginnt. Als die dem Stoffwechsel eigene und auf ihn hin topisch bezogene Umwelt reduziert sich Mutter Natur auf einen Kontrollbereich, der der Stoffwechseltotalität den Punkt zu signalisieren verspricht, an dem im Zuge ihrer Entwicklungsdynamik ihre innere Widersprüchlichkeit sichtbar und ihre latente Sprengkraft manifest zu werden beginnt und an dem sie deshalb gehalten ist, um ihrer Selbsterhaltung nicht weniger als um der Konservierung jenes Kontrollbereichs willen sich selber Schranken aufzuerlegen und Einhalt zu gebieten. Dabei besteht allerdings der Beitrag zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Stoffwechseltotalität, den in ihrer Eigenschaft als kritische Prüfinstanz Mutter Natur zu leisten dient, nicht sowohl darin, dass sie den Stoffwechsel in natürlichen Grenzen hält, als vielmehr darin, dass durch die Schranken, die als seine natürlichen sie ihm setzt, sie den Stoffwechsel in eine Reflexionsbewegung hineintreibt, die seiner Expansion neue Wege, seiner Entfaltung neue Betätigungsfelder eröffnet und ihn damit - für einige Zeit jedenfalls - vor den katabolisch direkten Folgen seiner Entwicklungsdynamik bewahrt. Indem Mutter Natur als Umwelt die Stoffwechseltotalität dazu bringt, einen Teil ihrer technischen Energien und ihres ökonomischen Potentials jener fälschlich als Umweltschutz deklarierten ökonomischen Eigenkontrolle und energetischen Selbststeuerung zuzuwenden, entlastet sie - fürs Erste wenigstens - die Totalität von jenem selbstproduzierten Überschuss an Kraft und Eigendynamik, der sie zu sprengen beziehungsweise in den Zusammenbruch hineinzutreiben droht. Aus einem apokalyptisch expandierenden Universum, einem sich eigenhändig aus der fragilen Balance bringenden und in Stücke sprengenden zerstörerischen Mechanismus wird so kraft Umweltzauber die Stoffwechseltotalität zum kybernetisch reflektierten Kosmos, zum sich selber in Bande schlagenden und im prekären Gleichgewicht haltenden dialektischen Automaten. Blieben da nicht Symptome wie das der Rüstungsproduktion und das factum brutum einer dennoch fortlaufenden ökonomischen Krise - die durch die Kreation der Umwelt ermöglichte Therapie der gesellschaftlichen Stoffwechselkrankheit könnte als der Stein der Weisen scheinen.


VIII

In welcher Rolle den spätbürgerlichen Gesellschaften Natur auch immer erscheint: ob als bergender Schoß, als Zonenrandgebiet oder als Umwelt - auf jeden Fall und unter allen Umständen ist ihre Stellung zur Gesellschaft die eines konfrontativ gleichzeitigen Gegenstands, eines die Gesellschaft betreffenden und herausfordernden Objekts spezifischer Prospektion und Aneignung. Als eine der menschlichen Gesellschaft zugrunde liegende Substanz, ein die Gesellschaft bestimmendes und motivierendes Reservoir generischer Intention und Entwicklung scheint Natur demgegenüber nicht mehr existent. Wie sollte sie auch? Damit sie als Gattungssubjekt in einem Verhältnis intentionaler Solidarität und evolutionärer Gleichsinnigkeit mit dem Subjekt menschliche Gesellschaft erscheinen könnte, müsste ja wohl das Letztere überhaupt so etwas wie Intention und Entwicklung haben. Eben daran aber fehlt es den spätbürgerlichen Gesellschaften durchaus. Und zwar aus den gleichen Gründen, aus denen ihr Stoffwechsel mit der Natur die oben konstatierte, zwischen Hypertrophie und Kollaps changierende krankhafte Haltlosigkeit und Widersprüchlichkeit aufweist: nämlich aus Gründen jenes allgegenwärtigen Konflikts der Kräfte und allbeherrschenden Widerspruchs der Intentionen, den sie offenbar weder beizulegen noch auszutragen, mithin partout nicht zu lösen vermag und den sie stattdessen mit allen Mitteln in seinen praktischen Äußerungen sozialstrategisch zu kontrollieren und zu beschwichtigen beziehungsweise in seinen empirischen Folgen politisch-ideologisch zu manipulieren und zu verschleiern bemüht ist. Wenn die spätbürgerlichen Gesellschaften überhaupt eine Intention haben und eine Entwicklung aufweisen, so in der Tat nur eine Intention, die auf die immer effektivere Beschwichtigung jenes sie zu zerreißen drohenden Kräftekonflikts gerichtet ist, und eine Entwicklung, die in der immer perfekteren Verschleierung jenes sie ad absurdum zu führen geeigneten Widerspruchs in der Zielsetzung aufgeht. Aber damit ist, was sie intendieren, eben nur die Aufrechterhaltung ihrer im ungelösten Kräftekonflikt bestehenden intentionalen Lähmung, ist, was sie entwickeln, eben nur ihre Technik, in einem dank des fundamentalen Widerspruchs in der Zielsetzung um jede Entwicklungsperspektive gebrachten Status quo zu überdauern.


IX

Das Opfer, das die spätbürgerlichen Gesellschaften für dieses ihr Insistieren auf dem Status quo, dieses ihr systematisches Festhalten an einem historisch unhaltbaren Zustand bringen müssen, liegt auf der Hand: Sie opfern ihre historische Kontinuität, ihre Geschichte. Dafür, dass sie aus politisch zur Norm erhobener Konfliktscheu und ideologisch eingefleischter Angst vor dem Widerspruch nichts als eine Situation äquilibristischer Nichtentwicklung intendieren und nichts als einen Zusammenhang eskamotistischer Intentionslosigkeit entwickeln, zahlen unsere Gesellschaften mit dem Verlust gleichermaßen ihrer Zukunft und ihrer Vergangenheit. Die Zukunft geben sie preis: Denn die könnte unter den Bedingungen des herrschenden gesellschaftlichen Entwicklungswiderspruchs und intentionalen Konflikts ja nur in eben der krisenhaften Zuspitzung und entscheidenden Auseinandersetzung bestehen, der doch auszuweichen und zu entrinnen gerade ihre einzige Intention und Entwicklungsvorgabe ist. Und ebenso sehr auch die Vergangenheit müssen sie drangeben: Denn die könnte nach den Regeln historiologischer Prozessführung - aller Vermeidungshaltung und Verhinderungsstrategie der Gegenwart zum Trotz - als ihre wirkliche Bestimmung und objektive Konsequenz ja nur eben diese zukünftige Krise, eben diese als die Zukunft ausstehende Entscheidung im Sinn und zum Inhalt haben. Was anstelle der fallen gelassenen Zukunft und fahren gelassenen Vergangenheit den spätbürgerlichen Gesellschaften am Ende zurückbleibt, sind in alle Zukunft und in die fernste Vergangenheit immer nur sie in ihrer dimensions- und perspektivlosen Gegenwärtigkeit selbst. An die Stelle der als Krise inakzeptablen Zukunft tritt die Gegenwart selbst in der für alle Zukunft futuristisch-abrupt oder sciencefictionförmig-beziehungslos wiederholten Funktion einer Krisen abwendenden und Zukunft vertagenden, allzeit bereiten Insistenz. Und an die Stelle der als Krisengeschichte intolerablen Vergangenheit tritt die Gegenwart selbst in der bis in die fernste Vergangenheit historisch-diskret oder geschichtswissenschaftlich-distanzlos reproduzierten Gestalt einer Intentionen abfangenden und Entwicklung tilgenden, immer gleichen Permanenz. Wie sollten die so ihre Geschichte auf zynische Selbstbehauptung gegen die Zukunft und chronische Selbstbestätigung in der Vergangenheit reduzierenden Gesellschaften noch auf Natur als generische Substanz sich berufen und an Natur als historisches Potential anknüpfen können? So wenig diese Gesellschaften ein als Bestimmungsgrund richtungweisendes historisches Ziel vor sich haben, so wenig können sie auch auf eine als Triebgrund bahnbrechende natürliche Motivation Rekurs nehmen. Mit ihrer Geschichte eben jenes tertium comparationis beraubt, das allein sie in intentionaler Solidarität und entwicklungsmäßigem Konsens mit der Natur erscheinen und verharren lassen könnte, treten sie dem Naturzusammenhang mit dem verdinglichenden Blick dessen gegenüber, der den Mangel an generischer Erfahrung durch ein Übermaß an spezifischer Information zu kompensieren bemüht ist, und begegnen dem Naturzusammenhang mit der entfremdeten Praxis dessen, der die ihm verloren gegangene substantielle Realität durch das Stoffwechselprodukt materieller Objektivität zu ersetzen strebt. Jenes trigonometrischen Punkts einer zukunftweisenden Geschichte beraubt, der allein sie in einer gemeinsamen Orientierung und übereinstimmenden Perspektive mit der Natur verhalten könnte, und also herausgerissen aus aller intentionalen Homogenität und entwicklungsmäßigen Kontinuität mit dem Naturzusammenhang, fallen sie in fluchtartiger Kehrtwendung auf eben diesen ihnen entfremdeten Naturzusammenhang zurück, um wenn schon in ihm keinen orientierenden Rückhalt, keine disponierende Substantialität, kein motivierendes Potential, kurz, keinen Verstand und Fortschrittsgaranten mehr zu finden, so wenigstens doch an ihm einen stabilisierenden Halt, eine konsolidierende Objektivität, ein okkupierendes Material, kurz, einen Gegenstand und Stoffwechsellieferanten zu haben.


X

Was unter diesen Bedingungen eines selbstverschuldet geschichtslosen Status quo der spätbürgerlichen Gesellschaften von der Natur als generischer Substanz und historischem Potential übrig bleibt und überdauert, ist jener ebenso verknöcherte wie amorphe Restposten, jener ebenso fixe wie versprengte Residualbestand, den die Verhaltensforschung theoretisch betreut und wissenschaftlich verwaltet. In publico des gesellschaftlichen Ganzen ihrer Funktion als generischer Gärstoff und historisches Substrat, ihrer Rolle als ebenso spezifische wie universale Basis des historischen Prozesses beraubt, reduziert sich Natur auf einen zur archaischen Erb- und biologischen Konkursmasse in petto der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft abgeklärten, ebenso stereotypen wie partikularen Bodensatz des geschichtslosen Status quo. In diesem Bodensatz mit spitzem Finger herumzurühren und die von der Gegenwart eigenhändig gesetzten Zeichen der Zeit zu lesen, ist die Verhaltensforschung treuherzig an der Arbeit. Dabei stürzt sie nun allerdings die natürliche Zweideutigkeit oder orakelhafte Natur der aus dem Bodensatz zu entziffernden Zeitzeichen und zu schöpfenden Wahrsagungen in ein ihre ganze Arbeit stigmatisierendes Dilemma: ob sie den überdauernden Bodensatz nämlich als in Ansehung der gegenwärtigen Verhältnisse affirmativ oder subversiv, als den Status quo substantiierend oder aber unterminierend interpretieren soll. Kreatur ihrer Zeit, die sie ist, möchte sie diesen Naturrest gern eindeutig für das die Gegenwart beherrschende Status-quo-Denken und Krisenmanagement in Anspruch nehmen, möchte sie ihn gern als anthropologisches Realfundament der der Gegenwart eigenen äquilibristischen Selbstbehauptung und eskamotistischen Durchhaltetechnik geltend machen. So gilt er ihr denn erst einmal als Ausgleichs- und Vertragsnatur, eine Keimzelle von im Dienste des Zusammenlebens gebrochenen Intentionen und im Interesse des Überlebens umfunktionierten Evolutionen, kurz, als eine Quelle der Ritualisierung. Repräsentiert er aber einerseits das Konfliktbeschwichtigungsprogramm und Krisenmanagement der spätbürgerlichen Gesellschaften, so kann er in der Tat gar nicht umhin, andererseits auch den die Gesellschaften beherrschenden Konflikt selbst, die sie bedrohende Krise als solche zu reflektieren. Ohne dass sie weiß, wie ihr geschieht, erkennt deshalb die Verhaltensforschung diesen Naturrest genau umgekehrt auch als Ausbruchs- und Triebnatur, eine Brutstätte zerstörerischer Irrationalismen und mörderischer Instinkte, kurz, als eine Quelle der Aggression. Eben in dieser seiner Zweideutigkeit aber, die ihn gleichermaßen als Aggressionspotential, als Aggregat zerstörerischer Triebregungen, und als Ritualisierungsmacht, als Konglomerat präservierender Verhaltensformen, erscheinen lässt, ist und bleibt jener generische Naturrest, dem die Verhaltensforschung wie einer im sozialen Intimbereich überlebenden Idiosynkrasie nachspürt, ein getreuer Ausdruck der Widersprüchlichkeit der Gesellschaften selbst - ist und bleibt er genauer Reflex einer Gesellschaft, die nicht los wird, sondern stets von neuem beschwören muss, was sie nicht löst, sondern stets nur zu beschwichtigen sucht; die nicht hinter sich bringt, sondern unaufhörlich in Gang zu halten gezwungen ist, was sie nicht durchsteht, sondern beständig nur abzuwenden sich müht; die also dem sie okkupierenden Konflikt nur um den Preis ausweichen kann, dass sie in toto zu seinem Potential sich macht, der ihr bevorstehenden Krise nur um den Preis zu wehren vermag, dass sie in ihren permanenten Herd sich verwandelt.

Raute

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Irrtümlich zu Fuß gegangen

Auf Reisen tu ich manchmal so, als wäre es anderswo besser. Also bin ich am Rand der Ausgrabungen von Ostia Antica ausgestiegen, um zum Ort hinaufzugehen statt an den Lido weiterzufahren und dann mit der Bahn wieder zurück. Öffentlich geht es nur so. Ist gut fünf Kilometer Umweg für einen. Ich gehe daher zu Fuß. Bloß ist das nicht vorgesehen. Der Spazierweg am Zaun der Scavi entlang ist bloß ein frommer Wunsch von mir. Nach fünfzig Metern drängt mich die Betonbarriere am Straßenrand 200 Meter ab nach links, neben zwei Spuren dichten Verkehrs. Dann kommen endlich die üblichen Leitplanken. Ich steige drüber und gehe im ebenso dichten Gegenverkehr 200 Meter zurück nach rechts. Die autisti (so heißen die Fahrer auf Italienisch) nehmen's gelassen - vielleicht sehen sie hier täglich zwei, drei so (Ver)Irr(t)e - und weichen aus, so gut es geht. Die Straße krümmt sich Richtung Ostia Antica. Jetzt sind es drei Straßen, Planke an Planke, wo die Autos in sechs Spuren fahren. Ich zähle sie beim Gehen in meiner Wut. In der Minute weit über hundert, d.h. gut zweitausend, bis wenigstens ein Gehsteig kommt.

Zu Hause passiert mir das kaum. Da weiß ich, dass die direkte Verbindung ohne Motor samt Zubehör wie Lärm, Gestank und Gift nicht zu haben ist. Das weiß doch jeder: Wenn eins zu Fuß gehen will, dann ist das für die Gesundheit und nicht einfach zur Fortbewegung von A nach B. Und für erstere fährt man mit dem Auto nach Schönbrunn und joggt oder mit der Tramway nach Neuwaldegg und wandert - meistens ein vorgegebnes Pensum. Zu wenig nicht und nicht zu viel.

Wenn man bloß wohin muss, weil es Beruf ist, oder zu Einkauf und Konsum, dann ist man möglichst vom ersten Meter an motorisiert. Auch und gerade auf dem Land. Meine Cousine wandert gern, wie man's dem Body schuldig ist, im großen Kreis durch Wiesen, Wald und Feld. Wenn sie aber um Erdäpfel oder dergleichen zum ADEG will, dann fährt sie die 150 Meter mit dem Auto.

L.G.

Raute

Ist ein solarer Kapitalismus möglich?

von Annette Schlemm

Was haben wir uns da nur eingebrockt. Wir sind Entäußerungen eines Widerspruchs, zweigeteilt und doch in einem einzelnen Menschen drin. Dabei ist die Frage, um die es geht, überlebenswichtig - nicht nur, weil der Klimawandel die Existenz der Menschheit in Frage stellt, sondern weil wir bis dahin täglich unser Brot verdienen müssen.

Die eine von uns arbeitet, erstmals nach der "Wende", wieder in ihrem Beruf als Physikerin in der Solarindustrie. Die andere sieht nach wie vor die Perspektiven der kapitalistischen Entwicklung sehr kritisch. Bei der Frage, ob es einen solaren Kapitalismus geben kann, lässt sich der Streit nicht mehr vermeiden. Um einer unreflektierten Doppelzüngigkeit zu entgehen, wird es Zeit, das auszudiskutieren. Also los:

A: Weißt Du noch, das neue Jahrtausend begann für uns mit der Auseinandersetzung um die Weltausstellung EXPO 2000 in Hannover, bei der das neue Jahrtausend als verheißungsvolle Entfaltung eines "nachhaltigen" Kapitalismus vorgestellt wurde. Das war irre: Die traditionellen Linken und die Ökos trabten nach wie vor auf sich nicht berührenden Einbahnstraßen vor sich hin und die Weltenlenker besetzten das Thema "Zukunftsfähige Entwicklung" mit ihren Illusionen.

E: Nun ja, nicht alles war Illusion. Du hast damals in einer ABM eine Analyse über die Aussichtslosigkeit der erneuerbaren Energien, speziell der Photovoltaik geschrieben. Du dachtest, der Kapitalismus können nicht mehr die Kraft aufbringen, so eine neue Industrie anzukurbeln. Das erste 1.000-Dächer-Förderprogramm der Bundesrepublik in den 1990ern hat auch nicht so recht etwas gebracht. Du bist daraufhin sogar wieder in die Arbeitslosigkeit gegangen, anstatt Fördermittel für Deine Beteiligung an der Entwicklung der Photovoltaik zu beantragen. Kurz drauf, nämlich im Jahr 1999, wurde in der BRD das 100.000-Dächer-Programm begonnen, mit dem sich in nur drei Jahren die Solarindustrie in Deutschland verzehnfachen konnte, wovon ich heute mit meinem Job profitiere.

A: Aber das Ganze lebt immer noch von Subventionen bzw. Investitionsanreizen.

E: Na und? Kein großer Technologieschub im Kapitalismus hat sich jemals allein durch die Marktkräfte gegen seine Vorläufer durchgesetzt, gleich gar nicht durch demokratische Selbstbestimmung der Menschen. Wenn die Anschubförderung nun einmal für Technologien erfolgt, die ich gut vertreten kann, warum sollte ich nun ausgerechnet dagegen sein?

Im Übrigen gibt es einen beinahe lustigen Streit innerhalb der Solarbranche selbst: Einige Unternehmen wollen natürlich, dass die Betreiber von Photovoltaik-Anlagen so lange wie möglich hohe Vergütungen für den von ihnen ins Netz eingespeisten Strom erhalten. Dann können sie ihre Anlagen weiter teuer verkaufen. Andere dagegen sind durchaus sehr einverstanden, dass die Einspeisevergütung bisher Jahr für Jahr um fünf und ab 2009 erstmalig sogar gleich um neun Prozent sank.

Sie sagen, dass durch die seit Anfang des Jahrtausends ermöglichte Massenfertigung enorme Kostensenkungen möglich waren und weiter sind. Je größer der Druck ist, diese Kosteneinsparungen auch über Preissenkungen an die Kunden weiter zu geben, desto mehr Druck gibt es, weiter Kosten einzusparen und nur dadurch bleibt die deutsche Solarindustrie auf dem Weltmarkt führend. Deshalb ist verrückterweise der vorausdenkende Teil der Industrie sogar selbst gegen zu hohe Förderungen.

A: Was natürlich auch nur mit ihrem Interesse zu erklären ist, Firmen, die nicht so schnell wie sie selbst die Kosten senken können, wegzukonkurrieren...

E: Aber es zeigt, dass es gerade die von Dir so kritisierten Eigengesetzlichkeiten der kapitalistischen Marktwirtschaft sind, die neben Destruktivkräften auch einige sinnvolle Produktivkräfte entwickeln können.

A: Auf diese Produktivkraftentwicklungsgeschichte sind wir lange genug herein gefallen. Diesmal aber ist Schluss. Ich stelle mir gerade vor, wie wohl in weiteren 20 Jahren nach der "Wende" die Bilanzen in der Welt nach dem versuchten Sozialismus und dem zu lange gelungenen Kapitalismus aussehen werden. Die horrenden Zerstörungen an Menschlichkeit, der verschwenderische Umgang mit unseren Ressourcen, die Zerstörung der Klima- und der ökologischen Stabilität - vielleicht ist dann gar niemand mehr da, die Rechnung aufzumachen.

E: Nun ja, aber da bis dahin wohl auch die große Revolution nicht stattfinden wird, haben wir keine andere Hoffnung als vielleicht die "List der Vernunft". Vielleicht klappt es ja wieder, dass auch die Kapitalisten aus einem Eigeninteresse heraus sich für die Ökologie und den Klimaschutz einsetzen. Vielleicht müssen wir sogar dem Teufel Kapitalismus unsre Hand reichen, um die Welt zu retten.

A: Ja, das ist eine Position im derzeitigen Streit anlässlich der Vorbereitung der Aktionen zum oder gegen den Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009. Es geht darum, ob man den Kyoto-Prozess konstruktiv begleiten oder bekämpfen soll. Ich denke, die Hoffnung auf eine Ökologisierung des Kapitalismus ist eine verhängnisvolle Illusion...

E: Das dachten wir auch 1984, als wir annahmen, der Kapitalismus könne im Umweltschutz viel weniger erfolgreich sein als der Sozialismus, weil in ihm die Kapitalisten in einzelnen Unternehmen unkoordiniert vor sich hin produzieren, während im Sozialismus die geplante Wirtschaft auch die Einbeziehung des Umweltschutzes ermöglichen würde...

A: Aber diesmal ist es anders. Es werden wieder politische Leitlinien vorgegeben, die zum großen Teil sogar im Interesse derjenigen Kapitalfraktion sind, die am Umweltschutz oder eben auch am Klimaschutz verdient. Aber diesmal können es sogar jene, die es wollen und die daran verdienen, nicht schaffen.

E: Wieso denn das? Ich erlebe doch den Boom der erneuerbaren Energien. Wir sehen die Windräder; ich kenne die Zahlen des Photovoltaik-Booms der Wirtschaft, die zwar durch die Krise etwas einknicken, aber wohl eher nur zu einer Marktbereinigung führen und den Innovativen einen Vorsprung verschaffen. Auf jeden Fall lässt sich auch an erneuerbaren Energien verdienen, das könnten doch vielleicht sogar die großen Energiekonzerne kapieren und umschwenken. Denen geht's doch nur ums Geld.

A: Ja, deshalb wundert es mich, dass so wenige Leute mitrechnen. Die Solaranlage auf dem Victoria Market in Melbourne hat extrem viel gekostet, der produzierte Strom kann aber nur zu dem Preis verkauft werden, den auch der Kohlestrom in Australien kostet. Die Anlage müsste deshalb 182 Jahre lang arbeiten, bis ihre Kosten wieder eingespielt sind!

E: Diese Zahlen kann ich jetzt nicht prüfen. Tatsächlich ist es so, dass derzeit die Kosten von Photovoltaik-Anlagen noch derart hoch sind, dass der mit ihnen produzierte Strom so teuer ist wie von keiner anderen Energiequelle. Aber die Preise, speziell für Solarmodule, fallen gerade sehr stark. Es wird erwartet, dass der Strom aus Solarpanels in den Jahren von 2010 bis 2020 zuerst in Süd- und dann auch in Mitteleuropa nur noch so viel kostet wie der Strom aus der Steckdose.

A: Wieso soll das jetzt so schnell gehen? Solarzellen gibt's doch schon seit den 1970ern, da hatten die doch genug Zeit, die Preise zu senken.

E: Zeit ja, aber keine Produktionserfahrung. Zwar gab es z. B. für die Raumfahrt schon lange funktionierende Solarzellen, aber da kam es auf Kosten nicht an. In den 1980er Jahren stagnierte die ganze Photovoltaik dann weltweit und auch in den 1990ern ging es erst ganz langsam aufwärts. Erst im neuen Jahrtausend zog speziell in Deutschland das 1999 eingeführte "Erneuerbare Energiengesetz" (EEG) mit den rentablen Einspeisevergütungen.

Erst jetzt entstand eine Massenproduktion von Solarzellen und den entsprechenden Anlagen dazu. Auf Grundlage dieser Großindustrie können jetzt Technologien optimiert und neue Solarzellenkonzepte ausprobiert werden, die nicht nur kostengünstiger sind, sondern auch den Wirkungsgrad stark verbessern. Das beeinflusst übrigens auch die Energie-Payback-Time, also die Zeit, in der eine Solarzelle die zu ihrer Herstellung verwendete Energie wieder aus dem Sonnenlicht heraus gezogen hat.

A: Ja, das ist der zweite Kritikpunkt: Photovoltaische Stromerzeugung hat zwar als Quelle die fast unendliche Fülle des Sonnenlichts - aber um es einzufangen, muss man ziemlich viel Aufwand in den Anlagenbau stecken. Es kursieren noch Zahlen, die behaupten, dass eine Solarzelle mehr Energie verschlingt als sie ausspuckt.

E: Ja, diese Zahlen sind total veraltet. Bei einer Verwendungsdauer von ca. 25 Jahren werden für monokristalline Solarzellen mittlerweile 4,6 Jahre für die Energierückzahlzeit angegeben, für multikristalline - die am häufigsten verwendet werden - 3,2 Jahre und für die neueren Solarzellen auf Dünnschichtbasis aus Kupfer-Indium-Selenid-Schichten sogar nur 1,3 Jahre. Dazu muss allerdings noch ca. ein Jahr hinzugerechnet werden für alles, was nicht direkt Solarzelle ist, wie das Montagesystem und der Konverter.

A: Und was ist mit der Emergie?

E: Emergie, was soll denn das sein? Davon hab ich in meinem Physikstudium nie etwas gehört.

A: Bei der Emergie wird nicht nur geschaut, was direkt in die Produktion der Solarzelle einfließt, sondern es wird zusätzlich berechnet, was für die Herstellung der Fabriken, der Ausrüstungen, des Bergbaus für die Rohstoffe und die Instandhaltung und Wartung verbraucht wird. Demnach soll ein Solarmodul ein Viertel der Lebenszeit nur für die bei seiner Herstellung verbrauchte Energie arbeiten.

E: Ich bin mir nicht sicher, ob solch eine Berechnung wirklich Sinn macht. Solch ein "Energiegedächtnis" könnte man dann natürlich für jedes Objekt bis zurück zum Urknall berechnen und da jedes Objekt mit einer gewissen Ordnung von Energiezufuhr und Entropieabfuhr lebt, kommt man dann zurück zum Urknall. Von dem zehren schließlich alle Energieumwandlungsprozesse...

A: Aber Du musst zugeben, dass die Photovoltaik von allen Energietechniken den höchsten kumulierten Energieaufwand pro erzeugter Energiemenge hat.

E: Das stimmt. Das liegt daran, dass die Sonneneinstrahlung im Vergleich zu anderen Energieformen eine geringere Energiedichte hat und der Herstellungsaufwand für Photovoltaik-Anlagen doch recht hoch ist. Wenn ich dann in dem Vergleich aber noch den Brennstoffeinsatz hinzunehme, sind die fossilen Energiequellen schlechter dran, weil die ja eine ständige Brennstoffzufuhr brauchen.

An der Energiebilanz ändert sich aber auch grad einiges. Obwohl es primär um Kosteneinsparung geht, merken die Hersteller natürlich, dass die Energie stark auf die Kosten schlägt. Vor allem bei der Herstellung des Siliziums für die Siliziumwafer, die über 90 Prozent aller Solarzellen ausmachen. Da kann Energie bei der Herstellung des Siliziums gespart werden, es kann überhaupt Silizium eingespart werden, indem die Wafer dünner gemacht werden und auch wenn die Wirkungsgrade gesteigert werden, wird pro erzeugter Energieeinheit weniger Material gebraucht.

A: Dabei denkt man, dass Silizium die wenigsten Probleme macht, denn das kann aus Quarz hergestellt werden und das gibt's schließlich wie Sand am Meer.

E: Nun ja, es soll schon besserer Quarz sein. Und um aus diesem brauchbare Wafer zu machen, wird in der Schmelze und in verschiedenen chemischen Reinigungsschritten viel Energie gebraucht. Übrigens gab es seit 2004 sogar einen Mangel an ausreichend reinem Silizium für die Photovoltaik-Industrie, was nun inzwischen zu einer Ausweitung der Produktionskapazitäten geführt hat, in denen nicht mehr nur das Elektroniksilizium auch für Solaranlagen verwendet wird, sondern mit neuen Technologien echtes Solarsilizium hergestellt wird.

Das Schöne daran ist, dass Solarsilizium nicht so rein zu sein braucht wie Elektroniksilizium und auch sonst energiesparende neue Techniken eingeführt werden. Es wird erwartet, dass sich dadurch die Energie-Payback-Zeiten noch einmal halbieren. Auf diese Weise war eine Knappheit mal wieder Innovationsantrieb. Und es gibt Synergieeffekte zwischen Kostendruck und verbesserter Energieeffizienz. Was will man mehr?

A: Trotzdem ist das alles noch erdölbasierte Energie. Der Aufbau der erneuerbaren Energie wird getragen von dieser Grundlage.

E: Ja, eine Übergangszeit ist notwendig. Zwar nimmt gegenwärtig die Photovoltaik fast mit einem exponentiellen Wachstum zu, aber letztlich wird erst ab ca. 2050 erwartet, dass wirklich ein Großteil der Energie auf Erneuerbaren, und davon nur ein Teil auf Photovoltaik, beruht. Nach dem Greenpeace-Energiekonzept "Plan B" soll sich von 2004 bis 2020 der Anteil der Erneuerbaren an der Bruttostromerzeugung von 9 auf 33 Prozent erhöht haben, dafür fällt die Kernenergie ganz weg und das ökologisch recht günstige Erdgas wächst auch von 10 auf 25 Prozent.

Grundsätzlich sollte es auch möglich sein, die Produktionsstandorte besser zu optimieren. Im Moment klappt es zufällig gut, dass es in Südnorwegen extrem guten Quarz gibt, der dann auf Grundlage des hohen Wasserkraftanteils in Norwegen dort auch günstig weiter bearbeitet wird. Von dieser Fabrik geht dann auch noch die Abwärme in die Nachbarstadt Kristiansand.

A: Ach ja, da kamen wir ja im Urlaub vorbei und Quarze gehören auch zu meinen Mitbringseln... Aber man erkennt, wenn man sich genau damit beschäftigt, eben doch, dass die Behauptung, die Ausgangsstoffe für Solarmodule gäbe es wie Sand am Meer, nicht stimmt. Ich habe gehört, dass die Photovoltaik einen besonders hohen Rohstoffverbrauch hat. Da steht sie schlechter da als die konventionellen Energietechniken und auch schlechter als die anderen Erneuerbaren.

E: Da hast Du leider Recht. Durch die Aluminiumaufständerung ist z. B. der Bauxitverbrauch recht hoch, woran man sonst gar nicht so denkt.

A: Hier ist auch wieder viel Energie im Spiel bei der Aluminiumherstellung. Rohstoffmäßig hab ich gehört, dass es nicht nur beim Silizium, sondern auch bei Glas und Graphit Probleme geben wird?

E: Ja, durch das enorme Wachstum der Branche wird der Anteil am Gesamtverbrauch, den die Photovoltaik benötigt, nun doch an vielen Stellen merklich groß und die entsprechenden Anbieter merken es nicht oder wollen es erst einmal nicht merken um die Preise in die Höhe zu treiben. Insgesamt haben sich die Vorhersagen bzw. Befürchtungen des "Club of Rome" aus dem Bericht "Die Grenzen des Wachstums" aber nicht bewahrheitet. Die haben damals gedacht, die Vorkommen an Rohstoffen seien bald aufgebraucht, wenn der Verbrauch exponentiell wächst.

A: Aber irgendwann müssen die Reserven doch mal aufgebraucht sein und die Preissteigerungen zeigen doch auch eine Knappheit an, oder?

E: Das stimmt so nicht über sehr lange Zeiträume. Zwar kann niemand genau sagen, was in 10 oder 20 Jahren sein wird, aber deshalb gibt es auch eine Unterscheidung der Begriffe "Ressource" und "Reserve". Ressourcen sind diejenigen Mengen eines Rohstoffs aus dem natürlichen Vorkommen, die zwar nachgewiesen sind, deren Extraktion jedoch gegenwärtig wirtschaftlich oder technologisch noch nicht angezeigt oder möglich ist. Reserven dagegen sind Ressourcen, die gegenwärtig bereits wirtschaftlich gewinnbar ist. Und das Verrückte ist: Die Reserven nehmen tendenziell oft eher zu als ab, sie werden nicht "aufgebraucht".

Denn der technische Fortschritt macht erfolgreiche Erkundungen und auch Extraktionen möglich, die es jeweils vorher noch nicht gab. Das ist nicht einfach nur eine Frage des Energieaufwandes, dass also immer mehr Energie aufgewendet werden muss um schwindende Ressourcen nutzbar zu machen. Nein, oft gibt es qualitative Verbesserungen und technologische Neuerungen, die nicht mit mehr Energie, sondern mit "mehr Köpfchen" herangehen. Um die Investitionen dafür anzuregen, braucht es zwar einen Preisanstieg als "Motivation" - aber nach entsprechenden Investitionen fällt der Preis auch wieder.

A: Aber kritische Rohstoffe gibt es doch. Zumindest wird für Dünnschichtsolarzellen so ein seltenes Material wie Indium verwendet.

E: Von den eher klassischen Stoffen könnte Graphit ein Engpass werden, das wird als Tiegelmaterial für metallurgische Prozesse gebraucht und auch für viele Prozessschritte in Vakuumkammern. Auch Glas erkennen die Solarzellenhersteller als Problem, worauf sie bereits mit dem Errichten eigener Glasfabriken reagieren. Kupfer wird zwar viel gebraucht, aber da gibt es kein grundsätzliches Mangelproblem und außerdem funktioniert hier das Recycling recht gut.

A: Und wie steht es nun mit dem Indium für die Dünnschichtzellen? Ich hab gehört, das reicht eh nur noch wenige Jahre, da macht es gar keinen Sinn, eine ganze Industrie darauf aufzubauen.

E: Tja, das ist ziemlich undurchsichtig. Es gibt Tabellen, wo als Ressource 2.800 Tonnen eingetragen sind, woanders dann wieder 16.000 Tonnen. Allein im Erzgebirge will man im letzten Jahr 1.000 Tonnen gefunden haben. Auch in Wikipedia wird Entwarnung gegeben. Indiumerzeuger versprechen natürlich eine weitere Versorgung entsprechend der Nachfrage. Auf jeden Fall wird diese Ressourcenfrage aufmerksam verfolgt. In der Forschung und Entwicklung werden auch jeweils Alternativen untersucht, also gesucht, welche Stoffe eventuell ersatzweise verwendet werden können.

A: Wir könnten uns nun natürlich mit jedem Rohstoff ziemlich lange beschäftigen. Aber mich bringt das auf einen anderen Gedanken: Ist es nicht auffallend, wie viel Energie Photovoltaik braucht und dass sie die Energietechnik mit dem höchsten Ressourcenverbrauch, wenn wir von den Brennstoffen der konventionellen absehen, ist? Bringt das nicht auch Umweltschäden mit sich oder sogar klimaschädliche Emissionen, die ja bei einer Bewertung der Energietechniken auch zu berücksichtigen sind?

E: Ja, da hast Du absolut recht. Dafür gibt's die so genannten Life-Cycle-Analysen (LCA), die auch diese Schäden bzw. Folgekosten mit berücksichtigen. Seit Ende der 1990er haben sich die Regeln und auch Softwareprogramme dazu konsolidiert. Problematisch war vor allem, dass lange Zeit ziemlich veraltete Zahlen aus den 1980ern verwendet wurden und die Aussagen dazu schwirren auch heute noch in den Debatten herum. Spannend sind die LCAs vor allem auch deswegen, weil man recht gut herauslesen kann, ob sie von Befürwortern der Photovoltaik gemacht wurden oder von Leuten, die deren Nachteile herausstreichen um ausgerechnet die Kernenergie als "nachhaltige" Energie wieder ins Spiel zu bringen.

A: Und hat das einen sachlichen Hintergrund?

E: Leider ja. Aufgrund des hohen Energieverbrauchs schleppen die derzeitigen LCAs immer die Nachteile des jetzigen Energiemixes mit. Erst wenn der Anteil an Erneuerbaren im Energiemix steigen wird, kann sich dies verbessern. Ein anderer kritischer Punkt ist die Verwendung von "Klimakillern" z. B. zum Ätzen in verschiedenen Produktionsschritten.

Aber die vorliegenden Analysen stammen noch von den aller ersten Fabriken, die noch keine ausreichenden Emissionsverhinderungsmaßnahmen hatten. Das hat sich schon geändert und außerdem wird massiv daran gearbeitet, andere Stoffe zu verwenden bzw. die Technologie so zu verändern, dass nichts Gefährliches mehr gebraucht wird. Auch die neuen Siliziumtechnologien können bestimmte Emissionen noch halbieren. Im Bereich der klimarelevanten Emissionen wird dadurch eine Senkung um ca. 80 Prozent erwartet. Damit liegen die Werte dann endlich auch unter denen der Kernkraftwerke, die in einigen KKW-freundlichen Studien sonst immer besonders gut im Vergleich zur Photovoltaik wegkommt.

A: Bei den so genannten externen Kosten sind die Unterschiede in den Darstellungen besonders auffallend. Warum eigentlich?

E: In den externen Kosten sollen alle nicht im Herstellungsprozess als Kosten auftauchende Folge- oder Nebenschäden monetär bewertet werden. Hier entsteht natürlich ein enormer Unterschied, je nachdem wie hoch man die Folgen eines eventuellen Unfalls speziell bei der Kernkraft einschätzt. Ich denke, da brauchen wir uns nicht weiter drüber unterhalten.

A: Also könnte es wirklich gelingen, neben den klassischen Energiequellen die Erneuerbaren hochzuziehen, bis sie eines Tages die Oberhand gewinnen?

E: Hab ich Dich überzeugt, dass die Photovoltaik doch nicht gar so schlechte Aussichten hat? Leider muss ich selbst Einiges zu denken geben. Es gibt noch ein fundamentales strukturelles Problem: Wenn es dabei bleibt, dass fossile und Kernenergien die "Grundlast" bedienen, also die Netzbelastung, die während eines Tages in einem Stromnetz nicht unterschritten wird, und die Stromnetze auf zentralisierte Energieversorger eingerichtet sind, kann nur eine begrenzte Menge an erneuerbar erzeugter Strom zusätzlich ins Netz aufgenommen werden (ca. 30 MW Solarstrom).

Eine Fortschreibung und "Modernisierung" der fossilen Energietechnik blockiert also den Übergang zu einem Energieszenario auf Grundlage erneuerbarer Energien. Der Übergang zu einem solchen Szenario würde den großflächigen Neubau von neuen, auf Dezentralität beruhenden, "intelligenten" Stromnetzen erfordern und außerdem ein völlig neues Lastmanagement. Eigentlich gibt es dafür gerade ein "Fenster der Möglichkeiten", weil gerade ungefähr die Hälfte der Kraftwerke erneuert werden muss und auch die Stromnetze einer Erneuerung bedürfen. Aber der strukturelle Widerspruch zwischen konventionellen und erneuerbaren Energien wird kaum diskutiert, z. B. auch nicht im Greenpeace-"Plan B", geschweige denn in Angriff genommen...

A: Ich muss mich also entscheiden: Entweder doch massiv auf erneuerbare Energien setzen, oder die Struktur beibehalten, in denen nur konventionelle und Kernkraftwerke als Grundlast funktionieren können...

E: Und diese Entscheidung von Dir und von möglichst vielen Wählerinnen und Wählern wird diesmal sogar etwas verändern, denn die Machtverhältnisse in den nächsten Jahren werden Weichen stellen, und die jeweilig herrschende Tendenz wird infrastrukturmäßig so zuzementiert, dass sich die "Fenster der Möglichkeit" bald wieder schließen...

A: Das macht mir ja Angst...

E.: Ja, das muss uns auch Angst machen, sonst verlieren wir jede Hoffnung.

A: Aber ich muss noch weiter fragen: Du meinst also, es wäre sinnvoll und möglich, die konventionellen Energieträger nach und nach durch optimierte und verbesserte erneuerbare Energien zu ersetzen, also auch die Photovoltaik. Was macht das mit dem Kapitalismus bzw. kann der Kapitalismus das?

E: Jetzt kommen wir zu dem wirklich Spannenden. Meine Antwort darauf ist: Die Menschen können es, aber nicht in einem Wirtschaftssystem, das auf wachsendem Energieverbrauch basiert. Leider gibt es von den vielen Energieszenarien für die Zukunft nur wenige, bei denen der absolute Energieverbrauch sinkt.

A: Das hat was mit dem Kapitalismus zu tun. Kapitalismus beruht auf Kapitalakkumulation und diese Basis begründet auch das Profitstreben bzw. den "Glauben an das Wirtschaftswachstum". Und dieses Wachstum ist eng mit materiellem und energetischem Aufwand verbunden. Alle Hoffnungen auf eine "Dematerialisierung" des Wachstums sind seit längerer Zeit ad absurdum geführt worden. Auch die Energieeffizienzsteigerungen, die tatsächlich erreicht werden, werden regelmäßig überkompensiert durch ein absolutes Verbrauchswachstum.

E: Natürlich, da sind wir uns einig. Ich kann auch fast aus der Physik heraus begründen, warum es trotz Ausbaus der erneuerbaren Energien nicht möglich sein wird, derart viel Energie mit so wenig Aufwand wie im Ölzeitalter wirtschaftlich nutzbar zu machen. Der Grund liegt in der geringen Energiedichte von solarer Energie und von ihrer geringeren Energiequalität.

Außerdem gibt es noch eine Grenze des Wachstums des Energieverbrauchs: Wir können nicht auf der Erde, die in einem energetischen Fließgleichgewicht mit ihrem kosmischen Umfeld steht, sehr viel Energie in historisch sehr kurzer Zeit "verbrennen". Ganz unabhängig vom Treibhauseffekt würden wir bei einem weiteren Wachstum unseres Energiehungers die Atmosphäre mit der dabei immer entstehenden Abwärme "aufheizen". Das würde zwar nicht in den Zeiträumen passieren, in denen der Klimawandel befürchtet wird, aber einige Jahrzehnte später dann doch.

A: Physikalismus ist nicht unbedingt eine gute Basis für eine politische Position. Ist es nicht viel überzeugender zu zeigen, dass mehr Energieverbrauch nur bis zu einem gewissen Maß auch die Lebenszufriedenheit der Menschen steigern kann? Wir brauchen nicht immer mehr Energie, um gut zu leben - genau so wie wir den Kapitalismus nicht brauchen.

E: Ja, eine andere, zufriedenstellende und ökologisch zumindest verträgliche neue Wirtschafts- und Lebensweise ist nicht mehr nur wünschbar, sondern überlebensnotwendig. Wir brauchen dazu natürlich möglichst optimal entwickelte Techniken für erneuerbare Energien, die den dann ausreichenden Energiebedarf sicherstellen und vor allem den jeweiligen regionalen Bedingungen angepasst sind, ohne auf intelligente Vernetzung zu verzichten. Wir brauchen auch neue Produktionstechnologien, mit denen Menschen ohne Mühsal und Qual kreativ tätig sein können, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.

A: Am dringendsten sind aber nicht die technischen Erfindungen, sondern die sozialen. Wie können Menschen selbstbestimmt so mit der Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse umgehen (wozu selbstverständlich auch die Bedürfnisse nach einer erträglichen bzw. lebenswerten Umwelt gehören), dass nicht mehr ökonomische Profitinteressen im Mittelpunkt stehen, sondern die größte Lebensqualität aller Menschen in einer schöpferischen "Allianz mit der Natur"?

Dazu haben wir auch Ideen; wir wissen aber nicht, wie wir sie umsetzen können und mit wem. Aber wir sind auf dem Weg. Wir können dabei auf erneuerbare Energien und Photovoltaik setzen, aber nur für unsere menschlichen Bedürfnisse, nicht als Gelddruckmaschinen.


Eine ausführlichere Darstellung des Themas von derselben Autorin in: "Die neuen Grenzen des Wachstums, Teil I ODER Ist Photovoltaik umwelt- und klimaverträglich?" auf www.streifzuege.org

Raute

Krise der Produktivität, Grenzen des Wachstums

von Andreas Exner

Ökologen thematisieren die Grenzen des Wachstums ebenso wie viele Linke. Doch während die einen bloß stofflich-energetische Grenzen sehen, wollen die anderen nur Grenzen des Werts und Mehrwerts erkennen. Tatsächlich sind beide Positionen integriert zu betrachten, um die Perspektiven des Kapitalismus und einer Alternative richtig einzuschätzen.


Ganz offensichtlich ist der Kapitalismus auf Wachstum aus. Geht es dabei um mehr Waren, also um Güter und Dienste für den Markt? Dem widerspricht, dass die Ware als Ding oder Leistung den Kapitalisten gar nicht interessiert. Weder lässt er für seine persönlichen Leidenschaften produzieren noch für konkrete Bedürfnisse seiner Mitwelt, sondern eben Waren.

Die Ware ist in zweierlei Hinsicht formbestimmt. Sie ist ein Gut oder Dienst mit einem Preis. In Begriffen gesagt, die Marx von den klassischen Ökonomen übernimmt: sie ist ein bestimmter Gebrauchswert von spezifischem Nutzen; andererseits jedoch abstrakter Wert, der sich im Tauschwert darstellt. Als Gebrauchswert steht sie lediglich mit der jeweiligen Nutzerin in Beziehung. Was der einen nützlich, kann für die andre nutzlos sein. Sie muss irgendein spezifischer Gebrauchswert sein für irgendwen, der zahlen kann. Als solcher aber ist sie zugleich und für alle in gleicher Weise etwas anderes: Wert. Die Gebrauchswerte sind heterogen, der Wert ist im Gegensatz dazu eine homogenisierende Qualität.


Wertgröße, Mehrwert und kapitalistische Produktivität

Als Springpunkt seiner Analyse bezeichnet Marx die Unterscheidung von konkreter und abstrakter Arbeit. Während die konkrete Arbeit Gebrauchswerte erzeugt, bildet die Substanz des Werts die abstrakte Arbeit. Mit abstrakter Arbeit ist nicht gemeint, dass Arbeit im Kapitalismus sehr häufig monoton ist. Vielmehr drückt der Begriff auf paradoxe Weise aus, dass als Substanz des Werts nur eine abstrakte Gleichartigkeit von "Arbeit als solcher" in Frage kommt. Damit abstrahiert abstrakte Arbeit von jeder konkreten Bestimmung einer Tätigkeit, von Unterschieden in Geschick, Qualifizierungsniveau und Kompliziertheit konkreter Arbeit.

Nur abstrakte Arbeit, die gesellschaftlich durchschnittlich notwendig ist, um eine zahlungsfähige Nachfrage nach einer bestimmten Ware zu befriedigen, bildet Wert. Aus der Gleichsetzung aller Waren als Produkte abstrakter Arbeit folgt, dass sich die Wertgröße einer Ware als Durchschnitt über alle Waren der betreffenden Sorte ergibt. Abstrakte Arbeit ist freilich nicht anhand der Zeitdauer und Intensität der Verausgabung von Arbeitskraft zu messen. Abstrakte Arbeit kann nur in abstrakter Arbeitszeit "gemessen" werden. Es ist nicht möglich, abstrakte Arbeit, also jenen Teil der konkreten Arbeit, der als gesellschaftliche Arbeit anerkannt wird, durch die Uhrzeit zu "messen". Dies geschieht allein über den Tausch, mittels des Geldes.

Nur abstrakte Arbeit schafft Wert. Sie ist mithin die einzig denkbare Quelle von Mehrwert, das innere, allein auf theoretischem Wege sichtbare Band der empirisch so verschiedenen Einkommensquellen Unternehmergewinn, Zins, Dividende und Grundrente. Den Mehrwert bildet folglich unbezahlte Arbeitszeit - jene Arbeitszeit, die über die für die Reproduktion der Arbeitskräfte notwendige Arbeitszeit hinausgeht. Abstrakte Arbeit bildet Wert, abstrakte Mehrarbeitszeit den Mehrwert.

Der Kapitalismus schafft vergrößerte Warenmengen und auf immer größerer Stufenleiter akkumulierten Wert. Dies jedoch nicht durch Reproduktion unter denselben Bedingungen, sondern im Verlauf ständiger Revolutionierung der technischen und sozialen Verhältnisse und ihrer Verbindung, der Technologie. Führt die technisch-soziale Revolutionierung dazu, dass mit weniger Arbeit mehr Ware hergestellt werden kann, dann wächst zwar sinnlich-konkreter Reichtum, also Gebrauchswert im Verhältnis zur Arbeitszeit. Eine Aussage hinsichtlich der kapitalistisch einzig anerkannten Reichtumsform, des Werts, ist damit aber noch nicht gemacht.

Die Bedingungen des Kapitalwachstums macht erst eine Theorie begreiflich, die den Inhalt der gesellschaftlichen Form "Wert" benennen kann. Denn die Steigerung der Produktivität im Kapitalismus ist als eine Vergrößerung des Mehrwerts bestimmt. Mehrwert kann entsprechend seinem sozialen Gehalt, abstrakter Arbeit, auf zwei Arten gesteigert werden: entweder durch Ausdehnung und Intensivierung der Arbeit, was Marx die Produktion absoluten Mehrwerts nennt; oder durch Entwertung der Konsumtionsmittel der Lohnabhängigen, durch Steigerung relativen Mehrwerts. Je weniger die Lohnabhängigen für sich arbeiten müssen, desto länger können sie für den Kapitalisten arbeiten, auch wenn Länge des Arbeitstags und Intensität der Arbeit unverändert bleiben.

Der Fortschritt in der Produktivität der Arbeit bedeutet für den einzelnen Kapitalisten einen Konkurrenzvorsprung - sein Motiv für den Einsatz neuer Maschinen ist, die Ware unter ihrem gesellschaftlichen und über ihrem individuellen Wert verkaufen zu können. Ersteres schafft einen Konkurrenzvorteil, zweiteres Extraprofit. Gesamtgesellschaftlich steigert dies den Mehrwert in dem Maß, wie die Entwertung die Konsumgüter der Arbeiterklasse erfasst.

Bestimmt abstrakte Arbeitszeit die Wertgröße einer Ware, so bedeutet Reduktion der Arbeitszeit bei gleichbleibender Warenmenge notwendig eine Verbilligung der einzelnen Ware. Produktivitätssteigerung im Sinn einer Steigerung der sinnlich-konkreten Warenmenge, die eine Einheit abstrakter Arbeit erzeugt, hat daher den paradoxen Effekt, dass der abstrakte Reichtum pro Ware abnimmt, während der sinnlich-konkrete Reichtum zunimmt. Es wird mehr freie Zeit ermöglicht, doch die Summe von in der Ware wiedererscheinenden Lohnkosten und zugesetztem Neuwert, das Wertprodukt also, sinkt.


Die Entwicklung der Mehrwertmasse

Claus-Peter Ortlieb (2008) zeigt, dass bei wachsender Produktivität der Mehrwertanteil im Produkt ab einer bestimmten Mehrwertrate abnimmt. Bei einem großen Verhältnis von Mehrwert m zu Preis der Arbeitskraft v, das heißt einer hohen Mehrwertrate (m/v), senkt die Produktivitätssteigerung den Gesamtwert der Ware stärker als sie den Mehrwert erhöht. Ortlieb schließt daraus, dass die gesamtgesellschaftliche Mehrwertmasse m nach Erreichen dieses Umschlagspunktes abschmilzt. Und er meint, der Umschlagspunkt sei überschritten. Als Anhaltspunkt dafür dient ihm die Lohnquote (Lohn/Profit bezogen auf das Volkseinkommen) für Deutschland.

Offen bleibt, ob er diese als Maß der globalen Mehrwertrate heranzieht oder nur für die Mehrwertproduktion des in Deutschland engagierten Kapitals. Der Rückschluss von einer nationalen auf die globale Mehrwertrate jedenfalls wäre problematisch. Man muss erwarten, dass die Mehrwertrate in hoch industrialisierten Regionen entsprechend der höheren Produktivität, Intensität und Kompliziertheit der Arbeit größer ist als an der Peripherie. Eine Arbeitsstunde komplizierter Arbeit eines Angestellten in Deutschland gilt als ein Vielfaches einfacher Arbeit von Näherinnen in türkischen oder vietnamesischen Sweatshops.

Ortlieb verfolgt mit seiner Argumentation den Anspruch, "die finale Krisendynamik" des Kapitalismus, die er im Theorem der abschmelzenden Mehrwertmasse begründet sieht, "mit der ... Tendenz des Kapitals zur Umweltzerstörung in Beziehung zu bringen" (S. 1). Die Problematik dieser Argumentation ist nicht darin zu sehen, dass das Kapital - wie schon häufig festgestellt - die Umwelt zerstört. Auch nicht darin, dass der Wert einer einzelnen Ware mit fortschreitender Produktivität der Arbeit beständig sinkt. Vielmehr wird ihre Voraussetzung der kapitalistischen Realität nicht gerecht. So stellt das Abschmelztheorem zwar richtig fest, dass nach dem Umschlagspunkt der Anteil des Mehrwerts am Wert einer einzelnen Ware bzw. stofflichen Einheit sinkt. Über die Mehrwertmasse insgesamt aber, und genau darum geht es, ist damit noch nichts gesagt.

Konstante Qualifikation der Arbeitskräfte, Arbeitsintensität und Länge des Arbeitstags vorausgesetzt, ergibt eine bestimmte Zahl an Arbeitskräften, die unter dem Kommando des Kapitals arbeiten, immer dieselbe Menge abstrakter Arbeit. Dass angesichts dieser Faktoren die Menge abstrakter Arbeit weltweit abnimmt, erscheint unwahrscheinlich, wäre jedenfalls empirisch erst einmal plausibel zu machen.

Juliet B. Schor etwa weist dagegen für die USA nach, "dass nicht nur mehr Menschen arbeiten, sondern dass diese mehr arbeiten" (1991, S. 29). Sie belegt auch eine zunehmende Intensität der Arbeit in den 1980er und 1990er Jahren. Zumindest der Intensivierungstrend ist sicherlich verallgemeinerbar. Stefan Krüger gibt an, dass sich das Arbeitsvolumen in Deutschland seit den 1950er Jahren reduziert, allerdings: "Die Veränderung des Verhältnisses von einfacher Arbeit zugunsten komplizierter Arbeiten sowie die internationale Höhergewichtung der nationalen Gesamtarbeit sind unter diesen Bedingungen für die Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Wertgröße verantwortlich" (2007, S. 135).

Trotz steigender Produktivität durch Einsatz neuer Maschinen wird Arbeitskraft in Summe nicht notwendig wegrationalisiert, da sie zugleich durch Erweiterung der produktiven Kapazität erneut nachfragt wird. Die Akkumulation des Kapitals weist nicht nur einen Rationalisierungseffekt, sondern auch eine Beschäftigungswirkung auf. Erst das Verhältnis beider Momente ergibt die Gesamtnachfrage nach Lohnarbeit.

Dass der Beschäftigungseffekt tendenziell überwiegt, zeigt sich unter anderem daran, dass sich Produktivitätssteigerungen nicht zwingend in mehr Freizeit umsetzen. Nach Anschaffung neuer Maschinerie erweitert sich weder für den einzelnen Arbeiter noch für die Gesellschaft die arbeitsfreie Zeit, sondern der Warenausstoß, oft noch begleitet von einer im technologischen Paradigma des Kapitalismus begründeten Verdichtung der Arbeit durch erhöhte Kontrolle der Arbeitenden. Die Mehrwertmasse wächst dann im Ganzen.

Die Ursache dieser perversen Dynamik, die gern mit einer Tretmühle verglichen wird, liegt in der Logik des Werts und seiner Verwertung begründet. Neue Maschinerie verbilligt die einzelne Ware nicht nur, sie erlaubt auch einen größeren Warenausstoß pro Zeiteinheit. Ein Kapitalist, der diese Kapazität nicht ausnutzt, ist erstens gegenüber der Konkurrenz im Nachteil und verstößt zweitens gegen das einzig sinnvolle Ziel kapitalistischer Produktion, nämlich die Maximierung von Mehrwert. Der Zwang der Konkurrenz wird noch verschärft, je teurer die einzelne Maschine ist und je rascher die Modernisierung insgesamt verläuft. Denn jede Investition bedeutet ein Risiko. Je rascher die neue Maschinerie ihren Wert auf die Waren überträgt, desto eher ist ihr eigener Wert wieder eingespielt.

Das Abschmelztheorem ist zuerst von Robert Kurz in den 1980er und 1990er Jahren formuliert worden, um die Krise des Fordismus zu erklären, und es lieferte ihm die Basis, um eine "Endkrise" des Kapitals zu prognostizieren. Das Abschmelztheorem behauptet also empirische Relevanz. Diese muss jedoch darüber hinausgehen, Phänomene wie Arbeitslosigkeit, den Bedeutungsgewinn der Finanzmärkte oder Wachstumsschwäche zum Beweis dafür zu erklären, dass die Reduktion der Mehrwertmasse dahinter steckt. Denn für eine Erklärung dieser Phänomene bieten sich verschiedene marxistische Theorien an. Ortlieb hat den Mechanismus des Abschmelzens der Mehrwertmasse präzise formuliert, erst eine empirische Prüfung aber erlaubt, seine Relevanz richtig einzuschätzen.

Gemäß dem logisch unterschiedlichen Status von Wert- und Geldgrößen ist es nicht möglich, die gesamtgesellschaftliche Mehrwertmasse m mit der Profitmasse p gleichzusetzen. Allerdings müssen sich beide Größen gleichsinnig, in gleicher Richtung und mit derselben Geschwindigkeit entwickeln. Andernfalls könnte die Profitmasse zunehmen, obwohl die Mehrwertmasse abnimmt, und umgekehrt - ein unsinniger Gedanke, da Mehrwert die soziale Substanz des Profits, nämlich die Menge unbezahlter abstrakter Arbeit, darstellt.

Ortlieb selbst wendet deshalb ein Verfahren an, worin er die Mehrwertrate (m/v) durch die Lohnquote (Lohn/Profit im Volkseinkommen) indiziert. In gleicher Weise lässt sich die Entwicklung der Mehrwertmasse m durch die Profitmasse p indizieren. Es zeigt sich anhand üblicher Statistiken, dass die Lohnquote in den OECD-Ländern seit den 1970er Jahren sinkt (z.B. Husson 2008). Bereinigt man die Lohnquote um die steigende Zahl von Lohnabhängigen, sinkt sie noch stärker. Nachdem das monetäre Gesamtprodukt als Summe der Abschreibung von konstantem Kapital c (Maschinen usw.), neu zugesetztem c, Mehrwert m und variablem Kapital v (Löhne) gewachsen ist, wie vom Wachstum des BIP indiziert, so wuchs folglich auch die Profitmasse in den Jahren vor der gegenwärtigen Krise. Bei zugleich sinkender Lohnquote (vergrößertem Profitanteil am Volkseinkommen) sogar umso stärker.

Empirisch gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Mehrwertmasse vor dem Krisenausbruch 2007 schrumpfte. Stefan Krüger etwa zeigt, dass in Deutschland die Profitmasse seit der Mitte der 1990er Jahre zwar langsamer wächst als noch in den 1980er Jahren, nicht aber, dass sie abnimmt (2007, S. 138). Natürlich sinken in der aktuellen Krise die Profitrate (nicht unbedingt die Mehrwertrate) und die Mehrwertmasse - das bestimmt diese Situation ja gerade als eine der Krise. Doch wurde die Krise nicht durch ein Abschmelzen der Mehrwertmasse verursacht. Ihre Ursachen reichen vielmehr bis an das Ende der 1960er Jahre zurück und ordnen sich in ein langfristiges Muster von Überakkumulationskrisen, die im Verlauf der rund 500-jährigen Geschichte des Kapitalismus tiefe Brüche seiner Entwicklung markierten, ein (Arrighi 1994).


Produktivität, Mehrwertmasse, Akkumulation

Die Profitrate p', in Wertgrößen ausgedrückt, ergibt sich aus Mehrwert m zur Summe aus konstantem Kapital c (Maschinen, Rohstoffe) und variablem Kapital v (Löhne). Wächst c im Zuge des Produktivitätsfortschritts durch Maschineneinsatz, so fällt unter Umständen p'. Allerdings wirkt die Steigerung der Produktivkraft auch auf den relativen Mehrwert. Sofern steigendes c mit sinkendem v einhergeht, indem die Produktionszeit der Konsummittel der Lohnabhängigen sinkt, so nimmt der Mehrwert m zu. Die Profitrate p' kann dann, je nach dem Verhältnis der Änderungen von c und v, steigen oder konstant bleiben.

Tatsächlich wuchsen die Sachkapitalkosten seit dem Zweiten Weltkrieg. Zwar verbilligten sich parallel dazu auch die Konsummittel der Lohnabhängigen, doch gewinnt die Verteuerung des maschinellen Apparats ab dem Ende der 1960er Jahre die Oberhand. In dieser Periode beginnt ein Abfall der Produktivitätssteigerung, was die Balance der beiden Tendenzen zusehends stört. Dieser zeigt sich in einer sinkenden monetären "Kapitalproduktivität" (Output/Sachkapital): Mehr Maschinerie ergibt immer weniger zusätzlichen Output. Eine Steigerung des Profitanteils am monetären Output (Profitquote) durch Lohnsenkung bricht sich anfangs der 1970er Jahre an der Stärke der Gewerkschaften. Nur jene hätte die Profitrate stabilisieren können.

Armstrong et al. umreißen den Ursachenkomplex für den Profitratenfall wie folgt: "Sinkende Produktivitätszuwächse der Mechanisierung, Schwierigkeiten, die Arbeitsorganisation produktiver zu gestalten und die Arbeitsintensität zu erhöhen, steigende Rohstoffkosten, der internationale Kostensenkungswettbewerb und insbesondere der rasche Anstieg der Investitionskosten spielten wahrscheinlich alle eine gewisse Rolle" (1991, S. 184).

Die Profitrate ist das Maß für die Verwertung des Kapitals. Weil das Kapital seine Verwertung maximiert, ist die Profitrate sein Erfolgsmaß. Bei sinkenden Profitraten nimmt der Anreiz zu investieren folglich ab. Während die Profitrate die entscheidende Größe für das Investitionsklima darstellt, ist die Profitmasse von maßgeblicher Bedeutung für den grundsätzlich möglichen Umfang der Investitionen. Diese finanzieren sich gesamtgesellschaftlich allerdings nicht nur aus der kreditär umverteilten Profitmasse, sondern auch über Kredit, den die Banken ex nihilo "schöpfen". Die stofflich-energetischen Möglichkeiten der Akkumulation gegeben, beschleunigt das Kreditsystem daher die Expansion des Kapitals über das durch die Reinvestition der Profitmasse mögliche Niveau hinaus. Wie Glyn et al. (1991, S. 83ff.) zeigen, erklärt die Profitrate statistisch besser als die Entwicklung der Profitmasse den Umfang der Investitionen. Es verwundert daher nicht, dass der Fall der Profitraten zu Anfang der 1970er Jahre auch die Investitionen nach unten zieht.

Parallel zur ökonomischen Krise entwickeln sich politische Krisentendenzen. Zum einen erodiert der gesellschaftliche Konsens des Fordismus, der die Grundlage für eine steigende Verdichtung der Arbeit und eine die Akkumulation stabilisierende produktivitätsorientierte Lohnpolitik gebildet hatte. Zum anderen stehen die USA vor der Herausforderung verstärkter internationaler Konkurrenz. Zu Beginn der 1970er Jahre löst sich deshalb auch die US-dominierte internationale Wirtschaftsregulation des Bretton-Woods-Systems auf.

Dem langfristigen Muster von Hegemonie- und Akkumulationskrisen im kapitalistischen Welt-System entsprechend, versucht der ökonomisch und politisch angegriffene US-Hegemon seine Vormachtstellung durch den Aufbau einer finanziellen Vorherrschaft zu sichern. Dies gelingt mit dem Wechsel zu einer neoliberalen Politik. Eckdaten dafür sind 1979, als Paul Volcker, Chef der US-Zentralbank, das Zinsniveau drastisch anhebt und Margaret Thatcher die britische Regierung übernimmt, sowie 1981, das Jahr des Amtsantritts von US-Präsident Ronald Reagan. Dieser Wechsel kombiniert die fortschreitende Liberalisierung der sich globalisierenden Finanzmärkte mit einer restriktiven, anti-inflationären Geldpolitik und einer Steigerung des absoluten Mehrwerts.

Die keynesianische Strategie des deficit spending versagt in den 1970ern, weil der Fall der Profitrate nicht aus unausgelasteten produktiven Kapazitäten, sondern aus den steigenden Sachkapitalkosten bei verlangsamtem Produktivitätswachstum resultiert. Nicht die Nachfrage, das Angebot ist das Problem. Die keynesianische Krisenreaktion verzögert jedoch den Angriff des Kapitals auf die Arbeiterklasse: Im Setting des Korporatismus führt der Kampf um den Wert bei rückläufigem Wachstum zu steigender Inflation.

Die neoliberale Wende macht mit dem fordistischen Sozialpakt endgültig Schluss. Dafür ist die Verbindung zweier Entwicklungen wesentlich. Erstens stoppt die Anhebung der Zinsen in den USA die Inflation und begünstigt zugleich Vermögensbesitz gegenüber warenproduktiven Investitionen. Dies stellt die Wettbewerbsfähigkeit der USA auf einer neuen Ebene, als einen Hafen für das sich globalisierende Geldkapital, wieder her. Die anschließende Schuldenkrise der Dritten Welt ermöglicht dem globalen Norden den Zugriff auf die Ressourcen des Südens vermittels der Strukturanpassungsprogramme des IWF zu verstärken. Der Zwang zu Exporten für Devisen senkt die Rohstoff- und Energiepreise.

Zweitens schnürt die Restriktion der Kreditvergabe den grenzproduktiven Kapitalien die Luft ab, unrentables Kapital wird entwertet. Zugleich schnellt die Arbeitslosigkeit in die Höhe. Die Gewerkschaften müssen sich deshalb von den Bastionen des Booms der 1960er Jahre endgültig zurückziehen. Damit ist der Boden für einen Angriff auf die Löhne und eine Verdichtung der Arbeit bereitet. Die Reallöhne bleiben hinter dem Wirtschaftswachstum zurück, Steuern auf Vermögen und Kapitaleinkommen werden gesenkt, Sozialleistungen gekürzt. All dies führt zu einer Erhöhung der Mehrwert- und Profitmasse (nach Steuern).

Diese zwei Entwicklungen ergeben das finanzdominierte Akkumulationsregime der neoliberalen Periode. Darin schließt sich die Orientierung am Shareholder-Value, die Drohung mit der Exit-Option und der Wettbewerb der Währungsräume mit einer verschärften Ausbeutung der Arbeitskraft zusammen. Die Profitrate steigt in der Folge wieder an, Wirtschaftswachstum und Akkumulationsrate allerdings verharren auf relativ niedrigem Niveau (Husson 2004, 2008).

Die Profite, die der Warenproduktion entspringen, werden in abnehmendem Ausmaß in diese reinvestiert und fließen in vermehrtem Umfang in finanzielle Anlagen. Die USA fördern die Bildung spekulativer Blasen, denen aufgrund der sich erholenden Profitrate enorme finanzielle Mittel zuströmen. Die Überakkumulation von Geldkapital und die steigende Staatsverschuldung bilden eine Push-and-Pull-Situation: die Staaten sind aufgrund rückläufiger Investitionen in die Warenproduktion, die zu steigender Arbeitslosigkeit und sinkenden Einnahmen führen, gezwungen, Geldkapital am Finanzmarkt nachzufragen (Pull), das davon weiter profitiert, womit das Zinsniveau hoch und die Investitionen in die Warenproduktion gering bleiben (Push), sodass der Teufelskreis sich verstärkt.

Wachsender Sachkapitaleinsatz bei rückläufigem Produktivitätswachstum bildet die grundlegende Krisentendenz des Kapitals seit dem Ende der 1960er Jahre. Sie dauert in der Phase der neoliberalen Restrukturierung an. Anfänglich als großer Hoffnungsträger eines neuen Aufschwungs der Realwirtschaft oder aber als der Totengräber des Kapitals begrüßt, hält die Mikroelektronik, weit davon entfernt, eine "dritte industrielle Revolution" zu vollziehen, nicht, was sie zu versprechen scheint (Husson 2004). Das finanzdominierte neoliberale Akkumulationsmodell hat sich in einer positiven Rückkoppelungsschleife von absoluter Mehrwertsteigerung und Wachstum fiktiven Kapitals verfangen, die erst vom Platzen der Immobilienblase 2007 gebrochen wird.


Fiktives Kapital

Ein augenfälliges Merkmal des finanzdominierten Akkumulationsregimes ist die Akkumulation fiktiven Kapitals. Wird ein Kapital in den Produktionsprozess investiert (Aktie) und nimmt es zugleich die Form eines Besitztitels auf Mehrwert (Wertpapier) an, so entsteht neben dem reellen auch ein fiktives Kapital. Der Besitztitel scheint Kapital zu sein und vollzieht am Finanzmarkt eine eigene Preisbewegung. Diese kann sich partiell von der Bewegung des reellen Kapitals, das der Besitztitel repräsentiert, entkoppeln. Wird ein Kapital konsumtiv verausgabt und deshalb als reelles Kapital vernichtet (Staatskonsum, vorgezogene Käufe von Haushalten), so kann es dennoch als ein "papierenes Duplikat", als Anspruch auf einen Wertstrom weiter existieren (etwa in Form von handelbaren Krediten oder Staatsanleihen). Auch dieses Kapital ist fiktiv.

Zugleich mit der Zunahme des fiktiven Kapitals kennzeichnet die neoliberale Periode ein Anstieg der Verschuldung. Schulden gehören allerdings nur zum Teil zum fiktiven Kapital. Kredite, die in Produktionsprozesse investiert worden sind, sind reelles Kapital. Stellen sich solche Investitionen als unrentabel heraus, so sind die entsprechenden Kapitalien entwertet. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Kapitalien fiktiv, sondern lediglich, dass die erwarteten Profite Fiktion gewesen sind. Konsumentenkredite sind bloße Schulden und überhaupt kein Kapital, solange es beim einfachen Kreditverhältnis bleibt. Nur die "papierenen Duplikate" von Krediten, die am Finanzmarkt entweder ein Doppel- oder ein Geisterleben führen, je nachdem, ob sie in Produktionsprozesse investiert oder konsumtiv verausgabt worden sind, bilden fiktives Kapital.

Die Masse reeller Profite wird durch das fiktive Kapital nur zum Teil berührt. Den Gewinnen aus spekulativen Transaktionen stehen entsprechende Verluste gegenüber. Insgesamt ist diese Art der Vermehrung fiktiven Kapitals ein Nullsummenspiel. Sofern der Preis fiktiven Kapitals nicht am Finanzmarkt in Geldform realisiert wird, etwa durch Verkauf von Aktien, vermehrt es in einer Hausse zwar das Vermögen, trägt jedoch nicht zur Profitmasse bei. Sofern fiktive Kapitalien Geldeinnahmen realisieren, die aus Löhnen (verbriefte Konsumentenkredite) oder Steuern (Staatsanleihen) stammen, bedeuten sie eine Umverteilung von Wert. Sie erhöhen dann die Profitmasse um einen bestimmten Teil, der nicht weniger reell ist als der Profit, den Kapitalien aus der Absenkung von Löhnen oder von Steuern auf Kapitaleinkommen ziehen.


Zurück zum Abschmelztheorem

Das neoliberale Akkumulationsregime ist also nicht auf einen Rückgang der Mehrwert- und Profitmasse zurückzuführen. Seinen Vorlauf bildet vielmehr ein Fall der globalen Profitrate, dessen systemische Konsequenzen von den relativ starken oppositionellen Bewegungen der 1970er Jahre verschärft werden. Vermittelt durch zuerst keynesianische Programme des deficit spending, dann neoliberale Offensiven der asset inflation verhindern jene indirekt den Ausbruch der Krise in Form einer massiven, weltweiten Kapitalentwertung.

Das Abschmelztheorem stellt wesentlich auf eine enorm gesteigerte Produktivität durch den Einsatz von Mikroelektronik seit den 1980er Jahren ab. Empirisch deutet jedoch nichts darauf hin. Der Produktivitätszuwachs ist ganz im Gegenteil niedriger als in den 1960er und 1970er Jahren (Armstrong et al. 1991, Krüger 2007, Husson 2008). Hauptursache dieses "Paradoxons" ist die geringe Rate der Akkumulation (Kapitalerweiterung/Kapitalstock). Sie hemmt die Durchsetzung der Mikroelektronik. Wahrscheinlich spielt auch der abnehmende "Stachel" der Löhne eine Rolle: Relativ billige Arbeitskraft vermindert den Anreiz zur Modernisierung der Maschinerie. Tatsächlich verschärft sich damit die Basiskrise des Fordismus, temporär sistiert, unter veränderten Bedingungen weiter: die Kapitalkosten steigen schneller als die Produktivität. Nur bei stagnierenden Reallöhnen und intensivierter Ausbeutung ist dann Verwertung im globalen Maßstab einigermaßen bruchlos weiter möglich.

Selbst wenn wir global den Umschlagspunkt der Mehrwertsteigerung überschritten hätten, so reichte dies allein nicht aus, um eine Akkumulationskrise zu begründen. Diese träte erst ein, wenn auch der Warenausstoß nicht mehr gesteigert werden könnte. Das sieht offenbar auch Claus-Peter Ortlieb so. Er zitiert Michael Heinrich, der mit Bezug auf die Mehrwertmasse richtig feststellt: "Ob sich der Mehrwert/Profit auf eine kleinere Zahl von Produkten mit hohem Wert oder auf eine größere Zahl von Produkten mit niedrigem Wert verteilt, ist dabei unerheblich". (S. 17) Ortlieb hält diesen Satz für "doch zumindest sehr gewagt. Er läuft darauf hinaus, der Volkswagen AG beispielsweise könne es egal sein, ob sie 4 Millionen oder 15 Millionen Autos im Jahr produzieren und verkaufen muss, um denselben Mehrwert/Profit zu realisieren. Insbesondere auf bereits gesättigten Märkten könnte sich hier ein Absatzproblem auftun mit der Folge einer Vernichtungskonkurrenz, wie sie auf dem Automarkt in der Tat seit Jahren im Gange ist" (a.a.O.).

Ortlieb macht an diesem Punkt also eine Unterkonsumtionskrise aus. Bis in die 1980er Jahre hätte das Wachstum des Massenkonsums auf Basis von Reallöhnen, die in Höhe des Produktivitätswachstums stiegen, das Sinken der Mehrwertmasse je stofflicher Einheit kompensieren können: "Dieser Prozess ließ sich aber bei ständig weiter wachsender Produktivität und allmählicher Sättigung der Märkte für die neuen Produktionszweige (etwa Automobile und Haushaltsgeräte) nicht dauerhaft aufrechterhalten" (S. 19).

Davon abgesehen, dass damit nicht erklärt ist, warum ein weiteres Wachstum der Reallöhne nicht mehr möglich war, reicht die Konsumtion in keinem Fall aus, den Mehrwert zu realisieren. Der Mehrwert ist ja gerade jener Bestandteil des Wertprodukts m + v, der den Lohnbestandteil, anders gesagt also die Konsumfähigkeit der Arbeiterklasse übertrifft. Die Schlüsselgröße für seine Realisierung ist die Nachfrage nach Investitionsgütern, die ihrerseits wesentlich von der Profitrate im warenproduzierenden Sektor und ihrer erwarteten Entwicklung sowie dem Vergleich mit der Profitrate in der finanziellen Sphäre abhängt.


Krise mit offenem Ausgang

In der Krise werden Ungleichgewichte bereinigt, Renditeerwartungen gestutzt, Schuldenpyramiden eingeebnet, fiktives und reelles Kapital vernichtet. Während sich das Kapital verbilligt, erleichert die Ausweitung der Arbeitslosigkeit eine Absenkung der Reallöhne und eine Intensivierung der Arbeit: c und v sinken, m steigt. Die Profitrate erholt sich und mit ihr die Akkumulation. Soweit das idealtypische Modell.

Tatsächlich ist aber weder eine lange Boom- noch eine große Krisenphase allein auf ökonomische Faktoren zurückzuführen. Immer spielen politische und soziale Momente eine entscheidende Rolle. Die einzige Formkrise, die der gegenwärtigen hinreichend ähnelt, um Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, ist die Große Depression der 1930er Jahre. Gerade sie aber zeigt, dass die Entwertung von Kapital allein nicht für einen neuen Aufschwung der Akkumulation ausreicht. Für eine zumindest temporär stabile oder sich (wieder) beschleunigende Akkumulation des Kapitals sind mehrere Faktoren nötig, die allesamt politisch-soziale Komponenten aufweisen: eine konstante oder wachsende Profitrate und eine wachsende Masse des Profits; eine hohe Quote der Reinvestition von Mehrwert in die Warenproduktion (Akkumulationsquote); eine Gesamtnachfrage, die mit dem Produktivitätswachstum Schritt hält.

Entscheidendes Moment ist die Profitrate. Sie bestimmt wesentlich den Investitionsanreiz. Von der Profitmasse hängt der objektive Spielraum der Akkumulation ab, während die tatsächliche Akkumulationsquote vor allem durch den Vergleich der Profitraten in der Warenproduktion und im Finanzsektor bestimmt ist - weist der Finanzsektor höhere Profitraten auf, so werden warenproduktive Investitionen reduziert (vgl. Duménil et Lévy 2000). Der wichtigste Teil der Gesamtnachfrage ist die Nachfrage nach Investitionsgütern - vor der Konsumgüternachfrage und dem unproduktiven Teil der Staatsnachfrage. Die Investitionsgüternachfrage wiederum hängt vorrangig von der Profitrate ab, womit diese tautologische Ursachenkette zugleich den Selbstzweck der kapitalistischen Produktionsweise beschreibt.

Die aktuelle Krise ist nicht per se durch eine Zunahme der Produktivität begründet. Umgekehrt: Sie ist eine Krise der kapitalistischen Produktivität. Ihre Ursache ist das prekäre Verhältnis zwischen dem Zweck der Profitmaximierung und dem nicht-intendierten Effekt der eingesetzten Mittel. Während der Zweck den vermehrten Einsatz von Sachkapital erfordert, schlägt dies unter bestimmten Bedingungen auf ihn zurück.

Die ökologische Krise wird den Kapitalismus deshalb dort am stärksten treffen, wo sie den Produktivitätszuwachs weiter angreift und die Sachkapitalkosten vermehrt. Ökologen haben darauf hingewiesen, dass der Verbrauch fossiler Energie fast im Gleichschritt mit der Zunahme der Produktivität gewachsen ist (Cleveland et al. 1984, Hall et al. 1986, S. 44; vgl. Cleveland et al. 2000). Die in den fossilen Stoffen verdichtete Sonnenenergie erlaubt eine hohe Energiezufuhr bei geringem Arbeits- und Energieaufwand für ihre Gewinnung. Ohne fossilen Energie- und Stoffinput wäre die Produktivitätssteigerung des 19. und 20. Jahrhunderts nicht möglich gewesen. Kapitalistische Produktivitätszunahme bedeutet den Ersatz von Arbeitskraft pro stofflicher Einheit durch Maschinerie, die Arbeit scheint sich selbst auf eigener Grundlage zu "produktivieren", indem sie und ihr Wissensprodukt sich in Produktionsmitteln verkörpern. Weil nur Arbeit Wert und Mehrwert bildet, scheint nicht der Energieinput als solcher an den Waren auf, sondern allein die in der Gewinnung der Energie eingesetzten Produktionsmittel und verausgabte Arbeitskraft. Nur deshalb kann der Eindruck entstehen, dass im Verlauf der letzten 150 Jahre kraft menschlichen Geistes mit immer weniger "Input" immer mehr "Output" hergestellt worden ist.

Nach dem Erreichen des Fördermaximums bei Erdöl setzt eine zur bisherigen gegenläufige Bewegung ein: Der gesellschaftliche Aufwand an lebendiger und toter Arbeit zur Gewinnung von fossiler Energie und petrochemischen Ausgangsstoffen steigt an, während die gesamte förderbare Menge an Erdöl abnimmt. Nachdem erneuerbare Energiesysteme im Vergleich zum fossilen System einen höheren Aufwand an lebendiger und toter Arbeit erfordern (Trainer 2007, Li 2008), bei tendenziell geringerem Nettoenergieertrag (Hall et al. 2009), geringerer Energiedichte (Cleveland 2006) und schlechterer Speicherfähigkeit (Trainer 2007), sinkt die Produktivität der Arbeit, während das vorzuschießende Kapital weiter anwächst.

Die Krisentendenzen der 1970er Jahre - Abnahme des Produktivitätszuwachses bei steigendem Kapitaleinsatz - sind nach dem neoliberalen Intermezzo nun auf höherer Stufe wieder aufgebrochen. Nur kurz kamen in den Jahren vor der Wirtschaftskrise die Tendenzen der ökologischen Krise zu Bewusstsein. Sie werden sich als wieder ansteigende Energie- und Rohstoffpreise bei gleichzeitigem Einbruch der Investitionen für den Umstieg auf erneuerbare Stoff- und Energiesysteme früher oder später erneut bemerkbar machen. Aus dem Fall des Produktivitätszuwachses wird dann ein Fall der Produktivität.


Literatur

Armstrong, P.; Glyn, A.; Harrison, J. (1991): Capitalism since 1945. Basil Blackwell.

Arrighi, G. (1994): The Long Twentieth Century. Money, Power, and the Origins of Our Times. Verso.

Cleveland, C.J.; Costanza, R.; Hall, C.A.S.; Kaufmann, R. (1984): Energy and the U.S. Economy: A Biophysical Perspective. Science 225: 890-897, http://www.ker.co.nz/pdf

Cleveland, C.J.; Kaufmann, R.K.; Stern, D.I. (2000): Aggregation and the Role of Energy in the Economy. Ecological Economics 32: 301-317.
http://www.bu.edu/cees/people/faculty/cutler/articles

Cleveland, C.J. (2006): Energy Quality, Net Energy and the Coming Energy Transition.
http://www.aspo-usa.com/fall2006/presentations/pdf/cleveland_c_boston _2006.pdf

Duménil, G.; Lévy, D. (2005): The real and financial components of profitability (USA 1948-2000).
http://www.jourdan.ens.fr/levy/dle2004g.pdf

Glyn, A.; Hughes, A.; Lipietz, A.; Singh, A. (1991): The Rise and Fall of the Golden Age. in: Marglin, Stephen A.; Schor, Juliet B.: The Golden Age of Capitalism. Reinterpreting the Postwar Experience. Clarendon Paperbacks.

Hall, C.A.S.; Cleveland, C.J.; Kaufmann, R. (1986): Energy and Resource Quality. The Ecology of the Economic Process. John Wiley & Sons.

Hall, C.A.S.; Balogh, S., Murphy, D.J.R. (2009): What is the Minium EROI that a Sustainable Society Must Have? Energies 2009, 2: 25-47. http://www.mdpi.com/1996-1073/2/1/25/pdf

Husson, M. (2004): Der Kapitalismus nach der "neuen Ökonomie", in: Zeller, Christian: Die globale Enteignungsökonomie, Westfälisches Dampfboot.

Husson, M. (2007): Onde longue et crise contemporaine, in: Rasselet, Gilles: Dynamique et transformations du capitalisme. L'Harmattan, http://hussonet.free.fr/onde2003.pdf

Husson, M. (2008): The Upward Trend in the Rate of Exploitation, International Viewpoint, Nr. 397, http://hussonet.free.fr/parvaivp.pdf

Krüger, S. (2007): Konjunkturzyklus und Überakkumulation. Wert, Wertgesetz und Wertrechnung für die Bundesrepublik Deutschland. VSA-Verlag.

Li, M. (2008): The Rise of China and the Demise of the Capitalist World-Economy. Pluto Press.

Ortlieb, C.-P. (2008): Ein Widerspruch von Stoff und Form, http://www.exit-online.org

Schor, J.B. (1991): The Overworked American. The Unexpected Decline of Leisure. Basic Books.

Trainer, T. (2007): Renewable Energy Cannot Sustain a Consumer Society. Springer. Vgl. http://ssis.arts.unsw.edu.au/tsw/

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Lob des Fahrrads

Fahrrad fahren ist rundum gut. Wenn der Radler seinen Körper durch die erfrischende Luft bewegt, passiert viel Erbauliches: Seine Muskeln werden bei Gelenke schonender Anstrengung mit frischem Sauerstoff zu kräftigenden Lebenszeichen animiert und erinnern sich ihres Daseinszwecks, sein Kreislauf wird in Schwung versetzt, verströmt in pulsierender Manier erquickende Behaglichkeit von der Zehe bis zum Scheitel und erfreut sich am belebenden Gelingen seiner Einrichtung, und zum Höhepunkt wird der Sitz des kritischen Bewusstseins mit dem die Ganglien erfrischenden Lebenselixier in höchst ausreichender Menge umflutet, sodass der reflektierende Radfahrer sogar die Brücken zwischen Theorie und Praxis schneller zu schlagen vermag.

Einiges ist nicht nur Max Weber nach einem anstrengenden Spaziergang in sauerstoffschwangerer Luft clare et distincte vor das Gesichtsfeld getreten,sodass er es mit klärenden Begriffen in einen novum ordinem phaenomenorum eingliedern konnte. Können Sie sich die schnell begreifende sokratische Maieutik in einer modernen stark luftverschmutzten Stadt durchgeführt von sich träge herumschleppenden, schwergewichtigen Intellektuellen vorstellen?

Wie viele große Ideen wurden nach körperlicher Anstrengung in die Welt geworfen? Das wäre eine wissenschaftsgeschichtliche Fragestellung, die die Rolle des Sports in der leider oft körperverachtenden scientific community in einem anderen Licht erhellen könnte.

Die Sentenz mens sana in corpore sano kommt nicht von ungefähr!

Nicht nur uns selbst tun wir Gutes, wenn wir Strecken mit dem Rad zurücklegen, auch die Natur bedankt sich mit schönen Blumen am Straßenrand, die zu neuen olfaktorischen Genüssen anregen. Wie sauber wäre die Luft in den Städten der Welt, würde eine Mehrheit ihre täglichen Wege zu Fuß oder mit dem Drahtesel zurücklegen! Stellen Sie sich die Straßen vor, benutzt nur von Fußgängern, Radlern, Öffis und Lieferanten. Eine Idylle wäre das fast schon! Wer hilft mir beim Verwirklichen?

M.Sch.

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Klimawandel: Umschlag in die Katastrophe?

von Tomasz Konicz

Barack Obamas wissenschaftlicher Berater John Holdren wollte in seinem ersten Interview seit dem Amtsantritt des Präsidenten nicht ausschließen, dass die US-Administration sich eines Tages zur groß angelegten Klimamanipulation gezwungen sehen könnte. "Wir müssen uns diese Ideen zumindest anschauen. Konzepte einfach vom Tisch zu fegen, dazu sind wir derzeit nicht in der Lage", sagte Holdren. Manipulationstechniken des "Geo-Engineerings" würden in Erwägung gezogen, wenn die Regierung "verzweifelt genug" dafür sei.

"Entsetzlich" nannte Holdren die Dynamik der globalen Klimaerwärmung in dem halbstündigen Interview für die Nachrichtenagentur AP. Es drohe das Überschreiten von "tipping points" (Kipp-Punkten), was "tatsächlich intolerable Konsequenzen" nach sich zöge, so der Professor für Umweltpolitik an der Universität Harvard. Eine dieser grundlegenden Veränderungen des Klimasystems, die nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten, sei der komplette Verlust der arktischen Eisdecke im Sommer. Dieser Kipp-Punkt würde das Klima "in unvorhersehbarer Weise verändern". Laut Holdren könnte es bereits in sechs Jahren soweit sein.


Geo-Engineering

Den Klimawandel verglich der promovierte Physiker mit einer Fahrt in einem Auto, "das mit kaputten Bremsen im Nebel auf einen Abgrund" zurast. Sollte die Reduktion der Treibhausgas-Emissionen so langsam vonstatten gehen, dass das Überschreiten eines "tipping points" eines Tages nicht anders zu verhindern wäre, käme laut Holdren als "extreme Maßnahme" z.B. das "Verschießen" von Schmutzpartikeln oder Schwebeteilchen in der oberen Atmosphäre in Frage; die Teilchen würden einen Teil der Sonnenstrahlen reflektieren. Holdren betonte, dass solch eine Technik des "Geo-Engineerings" nur als "letzte Möglichkeit" zur Anwendung käme.

Die Bemerkungen des Präsidentenberaters haben in der US-amerikanischen Öffentlichkeit für ziemlichen Wirbel gesorgt. Holdren ist in einem Folgeinterview mit der New York Times zurückgerudert. Er betonte, einen eigenen Standpunkt vertreten zu haben, nicht den der US-Administration. Das "Geo-Engineering" sei innerhalb der Regierung zwar "diskutiert", nicht aber "ernsthaft in Erwägung" gezogen worden. Es sei im Übrigen "unbedingt vorzuziehen, das Problem durch die Reduktion der Treibhausgas-Emissionen" zu lösen. Fraglich, ob dieser Weg überhaupt realistisch ist. Ein von der US-Regierung auf den Weg gebrachtes Klimaschutzpaket, das die Reduzierung des Treibhausgas-Ausstoßes um 20 Prozent bis 2020 und 80 Prozent bis 2050 vorsieht, trifft im US-Kongress auf erheblichen Widerstand.

Allerdings hat der Vorstoß ungewöhnliche Befürworter gefunden. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des konservativen "Cato Institute" erklärte, "sehr wenige Menschen würden Geo-Engineering rundweg ablehnen". Das "American Enterprise Institute", ein republikanischer "think tank", entwickelt bereits Programme zur Klimamanipulation, die es als "durchführbar und kosteneffektiv" bezeichnet. Bezeichnenderweise waren es gerade diese konservativen amerikanischen "Denkfabriken", die mit den Geldern der Ölindustrie lange jede öffentliche Diskussion des Klimawandels erfolgreich torpediert haben.

Viele Institutionen haben sich bereits mit den Möglichkeiten und Gefahren des "Geo-Engineerings" befasst, darunter in den USA die "National Academy of Science" (Akademie der Wissenschaften) und die "American Meteorological Society" (Meteorologische Gesellschaft), aber auch das britische Parlament. Der von Holdren wieder ins Gespräch gebrachte Begriff geht auf eine 2006 geäußerte Idee des Nobelpreisträgers für Chemie, Paul Crutzen, zurück, der mit Hilfe von Schwefelpartikeln in der Stratosphäre die Sonnenstrahlung reflektieren wollte. Damit würde praktisch "der Effekt von Vulkanausbrüchen" nachgeahmt, so Holdren.

Ähnlich argumentierte Mitte vergangenen Jahres der Australier Tim Flannery. Der einflussreiche Zoologe ergänzte, dass solche Maßnahmen "die Farbe des Himmels ändern würden" - in ein Schwefelgelb. Das sei die "letzte Barriere vor dem Klimakollaps". Für sein Engagement in Klimafragen wurde Flannery zum "Australian of the Year 2007" gewählt. Die Reduktion von Treibhausgasen reicht seiner Meinung nach nicht aus. Dafür hält er den Klimawandel für zu weit fortgeschritten: "Alles entwickelt sich in die falsche Richtung, die Zeitspannen werden kürzer, die Ausmaße der Verschmutzung in der Atmosphäre wachsen." Die mittlerweile erreichte Konzentration an Treibhausgasen in der Atmosphäre sei ausreichend, um "einen katastrophalen Klimawandel auszulösen".

Konkretere Planungen zum "Geo-Engineering", das uns einen malerischen Schwefelhimmel bescheren könnte, liegen in Moskau bereits vor. Juri Israel, Direktor des "Instituts für globales Klima und Umweltschutz" der Russischen Akademie der Wissenschaften, stellte bereits Mitte 2007 ein Maßnahmenpaket zur Klimamanipulation vor. Unter anderem sollten Flugzeuge "in einer Höhe von bis zu 14 Kilometern über der Erde eine dünne Aerosol-Schicht aus schwefelhaltigen Teilchen mit einem Durchmesser zwischen 0,25 und 0,5 Mikrometer" versprühen, wie RIA-Nowosti damals meldete. Eine Million Tonnen des mit Schwefelteilchen präparierten Aerosols könne Juri Israel zufolge in der Atmosphäre versprüht werden, um die durchschnittlichen Temperaturen kurzfristig um 1,5 Grad Celsius zu senken. Sobald die Schwefelteilchen zur Erde herabsinken würden, müsste "nachgesprüht" werden.

All diese Maßnahmen basieren auf dem Phänomen des "global dimming" (globale Verdunkelung), das schon heute die Klimaerwärmung abmildert. Durch die mit zunehmender Industrialisierung einhergehende Luftverschmutzung hat sich die Sonneneinstrahlung stark verringert. Staub- und Schmutzpartikel, Aerosole und Kondensstreifen von Flugzeugen absorbieren einen Teil des Sonnenlichts. Hans Joachim Schellnhuber, Klimaberater der Bundesregierung, bezifferte die Wirkung dieses Schleiers aus Schmutzpartikeln Ende März in einem dpa- Interview: "Wenn man die heutige Treibhausgaskonzentration einfrieren und den Schmutzschleier wegziehen würde, dann würde dies wahrscheinlich schon zu einer Erwärmung um 2,4 Grad führen."

Die Bedeutung der "tipping points" für die Dynamik des Klimawandels wird bereits seit einigen Jahren innerhalb der Wissenschaft diskutiert. Der US-amerikanische Klimawissenschaftler James E. Hansen kann getrost zur akademischen Elite seines Landes gezählt werden. Er ist Professor für Erd- und Umweltwissenschaften an der renommierten Columbia University und steht bei der US-Raumfahrtagentur NASA dem "Goddard Institute for Space Studies" vor. In den 1980er Jahren war Hansen einer der ersten Wissenschaftler, die eindringlich vor den Folgen der Erderwärmung warnten.


Rückkopplungseffekt

In einer im Mai 2007 publizierten Arbeit entwickelt Hansen den Begriff des "schnellen Rückkopplungseffekts" (fast-feedback-effect), den er am Beispiel der sprunghaft schwindenden Eisdecke in der Arktis erläutert. Demnach schmilzt das Eis an den Polen nicht langsam und graduell über die Jahrhunderte, sondern schlagartig, binnen kürzester Zeit. Das gesamte arktische Klimasystem würde entsprechend schlagartig "kollabieren", d.h. von einem Zustand (geschlossene Eisdecke Polarmeer) in einen anderen (eisfrei im Sommer) umschlagen. Dieser Ansicht hat sich inzwischen ja auch der wissenschaftliche Berater des Präsidenten angeschlossen. Ursprünglich ging die Klimawissenschaft davon aus, dass solche Prozesse graduell und langsam - parallel zum langsamen und graduellen Anstieg der Treibhausgaskonzentration - über einen längeren Zeitraum ablaufen würden.

Schon im Juni 2008 warnte Hansen in einer Rede vor dem US-Kongress, dass die Zeit zu handeln äußerst knapp bemessen sei. "Elemente eines perfekten Sturms" seien nachweisbar, eine "globale Katastrophe" stehe kurz bevor. Auch Hansen geht - ähnlich wie Flannery - davon aus, dass die erreichte Konzentration von CO2-Partikeln in der Atmosphäre bereits zu hoch sei. Das Klima könnte sehr bald diesen "Punkt des Umkippens" erreichen. Sei dieser Punkt überschritten, würde es sich mittels positiver Rückkopplungen "dynamisch jeglichen Kontrollversuchen der Menschheit entziehen".

Was Hansen, Holdren und andere Wissenschaftler hier (wieder-)entdeckt haben, ist eine alte Gesetzmäßigkeit materialistischer Dialektik. Die geht seit Marx' Zeiten davon aus, dass beständige, quantitative Änderungen in einem komplexen System - wie in diesem Fall der Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre - ab einem bestimmten Punkt zu einem plötzlichen, qualitativen Sprung führen, der das System in einen gänzlich anderen Zustand überführt. Wie dieses "Umschlagen von Quantität in Qualität" vonstatten geht, kann jeder seit 1878 im "Anti-Dühring" und seit 1883 in der "Dialektik der Natur" nachlesen. Im gewissen Sinne entdeckt die Naturwissenschaft gerade die Marx'sche materialistische Dialektik neu - freilich, ohne dies zu bemerken.

Der "quantitative Zusatz" in unserem Klimasystem ist die permanent steigende CO2-Konzentration, die eben beim Erreichen eines bestimmten Punktes das Umschlagen des Klimasystems mit sich bringt. Das Problem liegt nur darin, dass keinesfalls klar ist, wie weit ein solcher qualitativer Umschlag gehen würde. Neben der akut vom Verschwinden bedrohten Sommereisdecke in der Arktis macht die Wissenschaft noch andere "tipping points" des Weltklimas aus wie den Permafrostboden im hohen Norden, das gefrorene Methanhydrat in den Weltmeeren - das sich ebenfalls in der Arktis konzentriert - und die drohenden Dürren im Regenwaldgürtel, die zu dessen Absterben und Abbrennen führen würden.

Es ist durchaus denkbar, dass allein schon das Verschwinden der Sommereisdecke in der Arktis den von Hansen prognostizierten "schnellen Rückkopplungseffekt" so weit treiben wird, dass auch große Teile des Permafrostbodens in Sibirien und im nördlichen Kanada auftauen und das bereits jetzt sich lösende, gefrorene Methanhydrat massenhaft in die Atmosphäre abgegeben wird. Hierdurch würde eine große Menge an Methan emittiert, dessen Klimawirksamkeit größer ist als die von CO2. Der Effekt könnte den des bislang im Zuge der Industrialisierung freigesetzten CO2 übersteigen. Das Klimasystem würde sich tatsächlich "dynamisch jeglichen Kontrollversuchen der Menschheit entziehen", wie es Hansen formulierte. Sollten tatsächlich Holdrens Befürchtungen wahr werden und die Arktis in sechs Jahren im Sommer eisfrei sein, dann wurde dieser "tipping point" bereits jetzt überschritten. Das Klimasystem reagiert sensibel, aber auch - nach menschlichem Ermessen - langfristig und träge auf den Klimawandel. Bis alle Auswirkungen der bislang eingeleiteten Erderwärmung vollständig im Klimasystem greifen, können Dekaden vergehen. So dauerte es beispielsweise sehr lange, bis die unteren Wasserschichten der Ozeane überhaupt vom bereits eingeleiteten Klimawandel erfasst worden sind. Dies bedeutet auch, dass selbst bei einem totalen Stopp jeglicher Treibhausgasemissionen die Klimaerwärmung noch über Dekaden fortschreiten würde.

Auch die Weltwirtschaftskrise wird aller Voraussicht nach keine Verlangsamung der Dynamik des Klimawandels mit sich bringen. Laut jüngsten Zahlen der US-Regierung sind beispielsweise die Emissionen von Treibhausgasen aus der Verbrennung fossiler Energieträger in 2008 aufgrund des Wirtschaftseinbruchs zwar um 2,8 Prozent in den USA zurückgegangen, aber der globale Vergleich trübt die Hoffnung auf eine starke, durch die Krise bedingte Reduktion der CO2-Emissionen.

Das weltweite Bruttosozialprodukt (BSP) ist im vergangenen Jahr trotz der einsetzenden Krise noch um 2,5 Prozent gestiegen. Dennoch war dieses Wachstum längst nicht mehr so stark wie in 2007, das eine globale Zunahme des BSP um 3,2 Prozent verzeichnete. Folglich hätte sich auch die Zunahme der CO2-Konzentration in der Atmosphäre verlangsamen müssen. Tatsächlich ist das genaue Gegenteil der Fall: Die CO2-Konzentration stieg 2008 um 2,3 auf inzwischen 385 Moleküle pro Million Molekülen in der Atmosphäre (ppm), während der durchschnittliche Anstieg der CO2-Konzentration in den vergangenen Jahren bei nur 2,0 ppm lag. Die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre ist im vergangenen Jahr also übermäßig stark gestiegen, obwohl das globale Wirtschaftswachstum bereits deutlich schwächer ausfiel als 2007!

Es wird befürchtet, dass Wälder, Ozeane und andere Treibhausgas-Senken bald gesättigt sind und kaum noch CO2 speichern können, sodass auch hier bereits ein "tipping point" erreicht sein könnte, der einen Rückkopplungseffekt auslösen würde. Vor 50 Jahren nahmen Vegetation und Meereswasser von jeder Tonne emittierten CO2 immerhin 600 Kilogramm auf, derzeit sind es nur noch 550 Kilogramm.

Es verwundert somit nicht, dass zumindest der Klimaberater der US-Regierung und die amerikanischen konservativen Denkfabriken inzwischen "verzweifelt genug" sind, um solch drastische Maßnahmen wie das "Geo-Engineering" in Erwägung zu ziehen.

Raute

Trinkbares Wasser, atembare Luft

Günther Anders zu ausgewählten Fragen der so genannten Umweltproblematik

von Franz Schandl

"Die Menschheit als Ganzes ist tötbar", schreibt Günther Anders im 1956 veröffentlichten ersten Band der "Antiquiertheit des Menschen". (AI, S. 243) Zeitlebens ist das "apokalyptische Monstrum der Atomgefahr" (P, S. 6) sein Thema gewesen. Seit 1945 bestimmte es sein Fühlen, Denken und Handeln.

Was er liefern wollte, war nichts weniger als eine Kritik der Grenzen der Menschheit. (AI, S. 18) Als moralisch kann nur gelten, wer "die Konsequenzen der Konsequenzen der Konsequenzen seiner Handlungen im Auge behält". (KO, S. 35) In einem gleichnamigen Artikel sprach Anders auch vom "Globozid" und die Redaktion des Wiener FORVM versah den Heftschwerpunkt Atomkraft mit dieser Überschrift. Natürlich lag sein Augenmerk mehr auf der Atombombe im Speziellen als auf der Atomkraft im Allgemeinen. Trotzdem hat er auch Einiges an Ausführungen und Notizen zur so genannten friedlichen Nutzung der Kernenergie hinterlassen. Er hält fest: "Mit Kraftwerken beschießt man die Menschheit." (GAA, S. 128) "Die Gleichsetzung von Atomwaffen und Atomkraftwerken ist legitim; der Ausdruck 'friedliche Nutzung der Kernenergie' ist eine Lüge." (GAA, S. 127)


Nach Tschernobyl

Scharf ins Gericht ging er mit den Protagonisten der Kernenergie: "Und die Fürsprecher der Atomkraftwerke, vor allem aber der Wiederaufbereitungsanlagen, sind heute, nach Tschernobyl, da niemand mehr den Ignoranten spielen kann, zu bewussten potenziellen Verbrechern geworden. Da die Katastrophe durch einen zufälligen Riss im Metall oder durch ein zufälliges menschliches Versagen eintreten kann, also unvorhersehbar und unermesslich ist, darf es diese Verwendung nicht geben. Das Unvorhersehbare und das Unermessliche haben tabu zu bleiben. Denn es ist völlig gleich, ob wir durch Atomraketen oder durch so genannte friedliche Kraftwerke zugrunde gehen - beides ist gleich mörderisch." (GAA, S. 141) Dem Motto "Tschernobyl ist überall" erteilte Anders ausdrücklich seine Zustimmung. (GAA, S. 137, 143f.)

Dass die Anti-Atom-Bewegung, aber auch die Ökologiebewegung keine mehr sei, die sich an Klassen orientieren könne, war für Günther Anders jedenfalls ausgemachte Sache. "Wenn Arbeiter mitmachen, machen sie nicht mit als Arbeiter, geschweige als Proletarier, sondern aus klassenunabhängiger Einsicht." (GAA, S. 94) Diese Einsicht ist demnach ein Schlüssel zukünftiger Emanzipation, nicht das Festhalten und Durchsetzen angestammter Interessen sozialer Charaktermasken. "Auch ich, der ich scharf links stehe, empfände es als dumm und unwahrhaftig, heute einfach mit den Schlagworten des vorigen Jahrhunderts [gemeint ist das neunzehnte, Anm. F.S.] zu antworten." (GAA, S. 93) In den Entwürfen zum dritten Band der "Antiquiertheit" heißt es: "Aufs erfolgreichste 'apokalypseblind' gemacht, hatten sie mehr Angst davor, ihren heutigen Arbeitsplatz einzubüßen, als davor, ihr morgiges Dasein und die übermorgige Welt zu verlieren. (...) Den Fundamentalproblemen von heute haben sich die Arbeiterschaften von heute nicht als 'gewachsen' erwiesen." (AIII-III, S. 52)

Nicht nur Arbeitsbedingungen und Arbeitslöhne wären zu bestreiken, sondern vor allem die Produkte selbst. An vielen Stellen seines Werkes spricht er von der Notwendigkeit eines Produktstreiks (insb. D, S. 136-167). "Wahr ist vielmehr, dass die Produktion die Produkte als Ausschuss von morgen erzeugt, dass Produktion Erzeugung von Ausschuss ist. Von Ausschuss freilich, zu dessen Wesen es gehört, dass er sich vorübergehend im Status der Verwendbarkeit aufhalte." (AII, S. 40) Der so genannte Gebrauchswert der Ware rückt also ins Zentrum der Kritik.

Auch darüber hinaus machte er sich so seine Gedanken, und selbst wenn sie nur en passant geäußert wurden, gehören seine Überlegungen etwa zur Frage des Mülls resp. dessen Lagerung zu den erhellendsten, die wir kennen. "Die Hauptaufgaben sind (oder scheinen) vielmehr die negativen: Nämlich wie wir etwas abschaffen, und zwar endgültig. Nicht das Konstruieren von noch so enormen, sondern das Loswerden der schädlichen Abfälle der Produktion. (...) Wir verfügen über keinen abliegenden Ort mehr, in den wir die 'Residuen' verbannen könnten, ohne diesen (und auch uns selbst) mit zu vergiften: keinen 'Ab-ort', dem wahrhaft unphilosophischen Worte kommt hier ein universeller philosophischer Sinn zu. (...) Die vorhin aufgestellte These 'Es gibt keinen »Abort« mehr', muss durch eine, dieser scheinbar entgegengesetzte und widersprechende ergänzt werden: nämlich durch die Antithese: 'Nun ist alles »Abort« geworden' - was bedeutet: Da die Effekte unserer Tätigkeiten heute immens groß sind, 'überborden' sie. (...) Unser 'Fluch' besteht mithin nicht mehr, wie noch vor kurzem, darin oder nur darin, dass wir zur Endlichkeit des Daseins, also zur Sterblichkeit verdammt sind; sondern umgekehrt darin, oder auch darin, dass wir die Unbegrenztheit und die Unsterblichkeit (der Wirkungen unseres Tuns) nicht eindämmen oder abschneiden können. Wie widerspruchsvoll das auch klingen mag: Dasjenige, was uns begrenzt (...), ist die Unbegrenztheit der Effekte unseres Tuns. Omnipotenz ist unser fatalster Defekt." (G, S. 136-139)

Den entstehenden neuen sozialen Bewegungen stand Günther Anders positiv gegenüber. Er sagt: "Durch sie allein sind wir nicht zu retten. Ohne sie freilich auch nicht. Wenn wir Menschen überhaupt überleben sollen, halte ich es für absolut unerlässlich, die totale Einbetonierung unserer Welt mindestens zu dosieren, das Trinkwasser trinkbar und die Luft atembar zu erhalten." (GAA, S. 65) "Die Öko-Bewegung ist unverzichtbar. Aber mir widersteht es, eine 'Weltanschauung' aus ihr zu machen. Das erinnert mich zu sehr an Wandervogel und Fidus." (GAA, S. 65) Der Philosoph identifizierte sich mit den Anliegen auf inhaltlicher Ebene, ohne jedoch die ideologischen Prämissen oder die praktischen Beschränkungen zu teilen.


Das Enorme und die Gewalt

Insbesondere an den Formen des Widerstands entzündete sich eine scharfe Kritik, eben weil sie sich auf Happenings (AII, S. 356ff.) beschränken und so die Ernsthaftigkeit der Gefahr bagatellisieren. "Dann gibt es Würschtl, Tschernobyl mit Würschtl. Und dann kommen die Gitarren. Und wo die anfangen, da fängt auch der emotionale Schwachsinn an. Denn die meisten Gitarrenspieler bedienen sich nur dreier Akkorde, die jeden Hörenden oder Mitsingenden trivialisieren, dass sie nicht mehr fähig sind, das Ungeheuere, das sie zusammengetrieben hat, wirklich zu spüren." (G, S. 27-28)

In seinen letzten Lebensjahren sprach er eindringlich von einer neuen Qualität des Widerstands, in der auch Gewalt als zu befürwortendes Mittel genannt wurde: "Wir Atomgegner bekämpfen also wie gesagt, einen Verteidigungskampf gegen so enorme Bedroher, wie es deren nie zuvor gegeben hatte. Also haben wir das Recht, Gegengewalt auszuüben, obwohl hinter dieser keine 'amtliche' und 'rechtmäßige' Macht, also kein Staat, steht. Aber Notstand legitimiert Notwehr, Moral bricht Legalität." (G, S. 93) "Gewaltlosigkeit gegen Gewalt taugt nichts. Diejenigen, die die Vernichtung von Millionen Heutiger und Morgiger, also unsere endgültige Vernichtung vorbereiten oder mindestens in Kauf nehmen, die müssen verschwinden, die darf es nicht mehr geben." (G, S. 105) "Aber Frieden ist mir nicht Mittel, sondern Ziel. Und deshalb kein Mittel, weil Frieden das Ziel ist." (G, S. 108) "Macht diejenigen kaputt, die bereit sind, Euch kaputt zu machen." (G, S. 153) Ganz kategorisch wurde dieser Standpunkt vorgetragen, etwa in einem Artikel in der deutschen taz vom 9. Mai 1987: "Wir werden nicht davor zurückscheuen, diejenigen Menschen zu töten, die aus Beschränktheit der Phantasie oder aus Blödheit des Herzens vor der Gefährdung und Tötung der Menschheit nicht zurückscheuen."


Radikal und konservativ

Es ist schon frappant. Da spricht einer vom Töten, dem es eigentlich die ganze Zeit um das Leben geht. "Die Menschheit erhalten zu wollen, ist nicht nur keine Schande, umgekehrt die Pflicht. Neben der andere Ziele (...) einfach läppisch sind." (K, S. 299) Anders hätte sich sicher dagegen gewehrt, als Philosoph des Untergangs bezeichnet zu werden, im Gegenteil, er selbst sah sich als vehementen "Untergangsgegner" (D, S. 70). Hier liegt die zentrale Motivation seiner Philosophie und aller Einmischungen. Das Überleben der Menschheit war die alles überbordende Frage, nicht eine unter vielen, sondern jene, der alles unterzuordnen ist. Er ging sogar so weit zu sagen: "Ich glaube, wir haben diese Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Verbesserung zu sistieren, weil wir uns in einer Situation befinden, in der wir nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Entfaltung zu suchen haben. Und obwohl ich ja als Radikaler gelte, nenne ich mich nicht grundlos einen 'Konservativen', weil wir, wie ich finde, erst einmal dafür sorgen müssen, dass die Welt, die wir wirklich verändern könnten, überhaupt erst einmal gesichert werde. Alle bisherige Philosophie, bis hin zu Adorno, geht von der Selbstverständlichkeit des Weiterbestands der Welt aus. Zum ersten Mal wissen wir von der Welt, in der wir leben, nicht, ob sie weiterbleiben wird." (GAA, S. 77)

Allerdings muss der Einwand gestattet sein, ob eine Entscheidung nach einem Zuerst und einem Danach nicht in die Irre führt. Ob der Kampf zur Erhaltung der Welt von einem Kampf für die Veränderung derselben getrennt werden kann resp. soll. "Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt", ließ Erich Fried in seinem Gedicht "Status quo" (Gesammelte Werke, Gedichte 2, Berlin 1993, S. 523) einst wissen. Tatsächlich kann es nicht darum gehen, einen Status quo, also das Zwischenergebnis einer falschen Entwicklung gegen eine noch schlechtere Zukunft zu verteidigen, sondern Tendenz und Resultat wären gemeinsam in Frage zu stellen. Die Bremse allein reicht nicht. Man kann nicht die Folgen beseitigen, ohne sich der Ursachen zu entledigen. Veränderung ist also ein Gebot der Stunde und sollte daher nicht verschoben werden.

Um die Welt in Form zu halten, wird man um die Transformation nicht herumkommen. Und Transformation meint mehr als Reform, sprachlich wie substanziell. Möglicherweise hätte Anders dem auch zugestimmt. Ganz entschieden war er ein Feind (nicht bloß Gegner!) des Sozialdarwinismus, den er als "eine Übertragung des kommerziellen Konkurrenzprinzips auf das Ganze der lebenden Natur" (BI, S. 25) bezeichnet. Klar ist für ihn: "Der Komparativ, das Prinzip des Fortschritts und der Konkurrenz, ist sinnlos geworden." (D, S. 99) "Das Zeitalter des Komparativs ist vorüber" (GAA, S. 147), sagt Anders. An uns sollte es liegen, aus dieser normativen Aussage eine deskriptive zu machen, um von der quantitativen Eiferei des Wachstums und der gegenseitigen Missgunst, die ja wiederum nur eine Reaktion auf den Komparativ ist (vgl. AIII-V, S. 65), in eine Zeit qualitativer Selbstbestimmungen zu springen. Wir sollten nur noch anstellen, was wir uns vorstellen können und was wir uns vorgestellt haben. Die Konsequenzen sollten die Phantasie nicht desavouieren. (AII, S. 324)


Metaphysische Valenz

Dazu bedarf es allerdings eines Bruchs mit zentralen abendländischen Dogmen, einer grundlegenden Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Welt, um nicht den merkwürdigen Begriff Umwelt zu verwenden. "Ich finde, es ist eine furchtbare Anmaßung zu glauben, dass ausgerechnet wir, die wir nun einmal Menschen sind, eine andere metaphysische Valenz haben als die Millionen anderen creata, die anderen Geschöpfe und geschaffenen Dinge, die es in der Welt gibt." (GAA, S. 99) Die Menschen sind für Anders keineswegs die "Krone der Schöpfung" (K, S. 346), "eine Schnapsidee ist es nicht nur, das wir der Mittelpunkt der Welt seien, sondern dass es so etwas wie deren Mittel- oder Zielpunkt überhaupt gebe" (I, S. 54), schreibt er.

Und doch gibt es eine Diskrepanz, die nicht einfach weggezaubert werden kann. Gemeint ist die Selbstschöpfungsfähigkeit der Menschen, die sowohl konstruktiv wie destruktiv weit über die natürlichen Anlagen hinausgeht. Sobald wir denken und sobald wir handeln, greift ein impliziter Anthropozentrismus. Daher ist die Frage zu stellen, ob man sich diesen aussuchen, also frei wählen, kann, ob nicht die Menschen durch ihre Gesellschaftlichkeit zu einer Sonderstellung verurteilt sind. Anders schreibt selbst, dass es das "Machen ausschließlich als menschliche Aktionsweise gibt". (K, S. 39) "Machen ist etwa im Unterschied zum Wachsen oder zum Konsumieren, eine Aktivität, die, soweit wir wissen, uns Menschen vorbehalten ist, also ein anthropologisches Monopol. (Oder vielleicht, da wir auf Machen pausenlos angewiesen sind, Symptom eines 'Defektmonopols')." (Ebenda)

Das zentrale Problem scheint mir nunmehr nicht zu sein, ob das der Fall ist, sondern was aus dieser Sonderstellung resultiert. Denn auch wenn diese Differenz von entscheidender Bedeutung wäre, ist dieses "anders" als ein "höher" einzustufen? - Wohl kaum. Es geht weniger um eine metaphysische Valenz als um eine praktische Differenz. Letztere begründet keine Erstere, sondern demonstriert nur, dass es hier Unterschiede gibt, die uns jedoch keinen wie immer gearteten Freibrief gegenüber unserer Mitwelt ausstellen. Im Gegenteil, was sie erhöhen, ist bloß die Verantwortung, da wir als einzige Spezies nicht auf das Natürliche reduzierbar sind.

Zweifellos, Menschen können etwas, das andere Wesen nicht können. Dieses Vermögen ist ein zufälliges Geschenk der Evolution und keine Legitimation zur Herrschaft. Die spezifische Potenz mag ein Faktum sein, aber es ist ein historisches Faktum, kein überhistorisches. Factum non fatum est! Daraus ist bestenfalls Sorgfalt oder Fürsorge zu folgern, keineswegs Unterwerfung, geschweige denn Arroganz oder Präpotenz gegenüber unserer Umwelt. Vergessen wir nicht: Auch andere Wesen können etwas, das Menschen nicht können. Hunde können besser hören, Katzen können besser sehen, Vögel können fliegen, Fische können unter Wasser leben, und die radioaktive Strahlung (um hier brachial aus dem Tierreich ins Reich der Atome zu wechseln), die kann sogar unsichtbar sein.

Wie Günther Anders gehe ich davon aus, dass hier kein besonderer Wert (Anders mochte dieses Wort sowieso nicht leiden, K, S. 131) konstituiert wird, sondern bloß ein merkwürdiges Faktum, eines aber, das es den Menschen ermöglicht, Überlegenheit eines vermeintlich Stärkeren zu demonstrieren, das Außer-uns-Seiende zu degradieren. Das entspricht auch dem alttestamentarischen "Macht Euch die Erde untertan" (Genesis 28), das eine strikte Hierarchie der Wesen postuliert. "Die Art menschlicher Weltverwalterschaft ist unbedingte Überlegenheit", schreibt etwa der vom Wiener Kardinal Schönborn gerne zitierte Hans Walter Wolff in seiner "Anthropologie des Alten Testaments" (München 1974, S. 239). Rechenschaftspflicht richtet sich demnach in erster Linie gegen Gott, in zweiter gegen andere Menschen und erst in dritter gegenüber allem Anderen, das da unter dem fragwürdigen Sammelbegriff "Umwelt" firmieren muss.

Resümieren wir noch einmal: Die spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Menschen sich geschaffen haben, sind jenseits der Natur. Selbst Wald und Wiese, Weg und Feld sind Kultur, nicht Natur. Menschliche Bestimmung geht über präformierte Beschaffenheit hinaus, Kultur reicht qualitativ über Natur hinweg. In einem späten Aufsatz schreibt Anders: "Denn Natur kennt keine Natur. Und zwar deshalb nicht, weil die nichtmenschlichen Lebewesen keine 'animalia fabri' sind, weil es nicht zu ihrer 'Natur' gehört, statt in der 'vorhandenen' Welt in einer zweiten, von ihnen selbst hergestellten, also künstlichen Welt zu leben, mindestens nicht, diese täglich neu durch neue Produkte zu verändern. Weil sie also nicht in einer Welt leben, die sich von der 'Natur' abhöbe oder von der sich die 'Natur' abhöbe. Das Konzept 'Natur' ist also ein Monopol des homo faber, der dieses Konzept allein deshalb prägen kann, weil er nicht nur 'Natur' ist; und der nun in seinem Größenwahn alles dasjenige, was er nicht selbst hergestellt hat (so als wäre diese überwiegende Masse des ohne ihn Existierenden ein bloßer Rest) unter dem Titel 'Natur' zusammenfasst - eine Kindischkeit, über die sich zu beschweren Mikroben ebenso wie Milchstraßen ein Recht hätten." (B, S. 26)


Notstände abschaffen

Die Negation der metaphysischen Anmaßung ist allerdings nicht ein metaphysischer Nihilismus. Was theoretisch nicht gelöst werden kann, muss praktisch angegangen werden. "Notstände sind nur abschaffbar, nicht widerlegbar" (AI, S. 323), heißt es. Die theoretische Geringschätzung der Menschen kombinierte sich bei Anders mit einer warmherzigen wie sympathischen Menschenliebe. Fatalismus oder Resignation war seine Sache nicht. Aktivität war geboten. Gegen Martin Heidegger gewandt, sagt er: "Denn wir haben nicht darauf zu warten, was das Sein schickt - wer schickt, sind wir, die wir diese Welt mit ihren entsetzlichen Konsequenzen produziert haben; und dass wir, wir Menschen, dieses Schicksal des Nichtseins nicht erfahren, liegt hoffentlich in unserer Hand." (H, S. 364)

Diese Praxis, die er vorschlägt, darf aber kein blinder Aktivismus sein. "Was wir vor allem nötig haben, ist Interpretation, d.h. Theorie, weil allein sie wirkliche Praxis möglich macht." (V, S. 179) Und an derselben Stelle notiert er: "Praxis ohne Theorie ist nicht minder stur und nicht minder leer, vielleicht sogar sturer und leerer als Theorie ohne Praxis." Und doch propagiert er keine Einheit von Theorie und Praxis, im Gegenteil: Die Diskrepanz von Theorie und Praxis, ihre Zweiheit war immer Gegenstand der Reflexionen: "Als moralisch Aktive haben wir dümmer zu sein als wir sind." (GAA, S. 98) "Wissen müssen wir die Wahrheit. Aber obwohl wissend, haben wir so zu handeln, als wüssten wir sie nicht." (HI, Einleitung XXXII) Es war eine contrafaktische Setzung wider die eigene Prognose, damit diese ja nicht Wirklichkeit werden sollte. Es ging ihm nie darum, Recht zu behalten, im Gegenteil, er wollte sich durch Praxis widerlegen.

Alarmieren wollte er zweifellos. Die Diagnose sollte Aufruf, ja Aufstachelung sein. Um heute überhaupt wahrgenommen zu werden, muss eins übertreiben, doch eine Konsequenz daraus ist, dass stetige Erregung Indifferenz zeitigt. Unablässiger Lärm, also Skandalisierung führt dazu, den berechtigten Alarm zu überhören oder ihn gar nicht mehr ernst zu nehmen. Anders war sich dessen bewusst. Die Unfähigkeit, unterscheiden zu können, ist eine, wenn nicht die Basis der grassierenden Indifferenz. Günther Anders spricht in einem Interview mit Mathias Greffrath (1982) von einem "Zeitalter der Massenindifferenz" (GAA, S. 63). Eins will nicht so recht wissen, was ist, wohl nach dem Alltagsspruch: "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß." Es gilt sich jedoch der Angst bewusst zu werden, sie nicht zu verdrängen. "Die meisten Leute haben Angst vor der Angst" (GAA, S. 148), sagt er. Die Angst zuzulassen, hieß für ihn nicht, sich permanent zu ängstigen, im Gegenteil. Eines seiner bekanntesten Zitate, niedergeschrieben in den 1959 veröffentlichten "Thesen zum Atomzeitalter", lautet ja: "Wenn ich verzweifelt bin, was geht's mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!" (D, S. 105)


Zitierte Literatur von Günther Anders

AI: Die Antiquiertheit des Menschen, Band I, München 1956.

AII: Die Antiquiertheit des Menschen, Band II, München 1980.

AIII-III: "Sprache und Endzeit" (III). Aus dem Manuskript zum dritten Band der "Antiquiertheit des Menschen", FORVM Nummer 428/429, August/September 1989, S. 50-55.

AIII-V: "Sprache und Endzeit" (V). Aus dem Manuskript zum dritten Band der "Antiquiertheit des Menschen", FORVM Nummer 432, Dezember 1989, S. 62-67.

B: Blindschleiche und Parzival. Natur und Kultur in meiner Kindheit, FORVM, Nummer 444, Dezember 1990, S. 23-33.

D: Die atomare Drohung, München, 5. Aufl. 1986.

G: Gewalt - ja oder nein. Eine notwendige Diskussion, München 1987.

GAA: Günther Anders antwortet. Interviews & Erklärungen, Berlin (West) 1987.

H: Über Heidegger, München 2002.

HI: Hiroshima ist überall. München 1982.

I: Die Irrelevanz des Menschen, FORVM, Nummer 415/416, Juli 1988, S. 54-64.

K: Ketzereien, München 1982.

KO: Die Konsequenzen der Konsequenzen der Konsequenzen. Jedes Kraftwerk ist eine Bombe; FORVM, Heft 280/281, April/Mai 1977, S. 35.

P: Philosophische Stenogramme, München 1965.

R: Reicht der gewaltlose Protest?, taz, 9. Mai 1987.

V: Visit beautiful Vietnam. ABC der Aggression heute, Köln 1968.

Raute

KOLUMNE Dead Man Ringing

Globaler Freilandversuch

von Maria Wölflingseder

Der weltweite Handy-Verkauf ist krisenbedingt zum ersten Mal geschrumpft. Im ersten Quartal um 8,6 Prozent. Hochgerechnet auf ein Jahr wären das immer noch 1,076 Milliarden verkaufte Handys. Während in Europa die Penetrationsrate vielerorts bereits über 100 Prozent liegt - in Litauen ist sie mit 170 Prozent am höchsten -, sind die Märkte anderswo noch lange nicht ausgeschöpft. Außerdem rücken ständig neue Modelle wie Kamerahandys und Multimedia-Geräte vor - was wesentlich leitungsstärkere und somit strahlungsintensivere Sendemasten zur Folge hat.

Seit 20 Jahren nimmt die Zahl der Quellen, die elektromagnetische Wellen aussenden, explosionsartig zu. 2005 schlug die Österreichische Ärztekammer Alarm. Längst erwiesen sind Veränderungen der Zellentwicklung (einfache und doppelte Brüche von DNS-Strängen - diese gentoxischen Effekte sind das Schlüsselereignis bei der Entstehung von Tumoren und Alzheimer). Hochfrequente elektromagnetische Strahlung spielt auch bei der Öffnung der Gehirn-Blut-Schranke eine Rolle, wirkt sich auf das Immun-, das Nerven- und das Hormonsystem, auf die Blutwerte, auf die EEG-Abläufe und auf die Fertilität des Mannes nachteilig aus. "Früher haben wir mit dieser Mikrowellenstrahlung Geburtenkontrolle - sprich Sterilisation - betrieben, heute telefonieren wir damit. Sehr schön!", sagte Huai Chiang, Professor der Zheljing Universität Hangzhou auf einer Konferenz in Salzburg im Juni 2000. Es gibt auch keinen Zweifel darüber, dass Kinder, die in der Nähe von Hochspannungsmasten leben, häufiger an Leukämie erkranken.

Die Vertreter der einschlägigen Industrien bestreiten jedoch noch immer kategorisch, dass elektromagnetische Strahlung, insbesondere hochfrequente, eine Gefahr für die Gesundheit darstellt. Dass diese mit Krebs in Zusammenhang stehen könnte, wurde aber bereits in den 1950er Jahren vermutet, als nach der Einführung der UKW-Sender die Krebssterblichkeit signifikant anstieg. Trotzdem wurde jegliche Forschung unterbunden und es galt dann 40 Jahre lang in der Medizin die Lehrmeinung, jene Strahlung sei viel zu schwach, um das Erbgut zu schädigen.

In Buch "Nebenwirkung Handy" des Arztes Erik Randall Huber und der Publizistin Michaela Knirsch-Wagner, 2007 im Verlagshaus der Ärzte erschienen, wird der Kniefall der Politik vor der Industrie vielfach harsch kritisiert. Ebenso die mit allen Mitteln versuchte Diffamierung von Kritikern sowie die Gewährung immenser Summen an so genannte wissenschaftliche Beiräte, um die "Wahrheit der Industrie" zu verbreiten. "Denn der Markt muss wachsen - wenn nötig auch auf Kosten der Gesundheit." (S. 58) Die Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Alexandra Obermaier in München schrieb im Dezember 2001 in einem offenen Brief an den damaligen deutschen Umweltminister Jürgen Trittin: "Mit dem politischen Kurs bezüglich Mobilfunks wird kriminelle Profitgier legalisiert zu Lasten des Allgemeinwohls von Millionen von Menschen unter der Aufgabe des Rechtsstaats." (S. 18)

Gesetzliche Grenzwerte für die hochfrequenten Netze gibt es keine. Auf der Homepage des Gesundheitsministeriums wird auf "Referenzwerte" verwiesen (euphemistisch "geltende Grenzwerte" genannt), die nicht überstiegen würden. Ärzte und andere, die sich mit der Materie eingehend befasst haben, erachten diese Werte aber als weit überhöht. Deutsche Baubiologen empfehlen maximal 5 Mikrowatt pro m² für hochfrequente Strahlung als zulässigen Höchstwert. Lediglich im Bundesland Salzburg gab es vor einigen Jahren einen Grenzwert, der dieser Empfehlung nahe kam: 10 Mikrowatt pro m². Der "Referenzwert" des Gesundheitsministeriums hingegen beträgt bei GSM 1800, UMTS oder WLAN 10 Watt pro m². Das ist das Millionenfache! Mittlerweile haben jedoch die Mobilfunkanbieter in Salzburg ihre Vereinbarung wieder aufgekündigt. Auch wäre es technisch möglich, Handys zu produzieren, die viel geringer in den Kopf abstrahlen. Anstatt dahingehend zu handeln, gibt es die Brachenübereinkunft, keine Werbung für strahlungsarme Handys zu machen.

Die Ärztekammer empfiehlt u.a.: "Generell nur in dringenden Fällen und dann sehr kurz telefonieren. Kinder unter 16 Jahren sollten Handys nicht benutzen. In Fahrzeugen (Auto, Bus, Bahn) sowie bei schlechtem Empfang nicht telefonieren, da hier das Handy mit höherer Leistung strahlt. Keine Spiele am Handy. Das Handy in der Hosentasche oder SMS unter der Schulbank versenden, könnte die Fruchtbarkeit bei Buben und Männern beeinträchtigen und sollte daher unterlassen werden." - Die Realität spricht dem Hohn! Ebenso das Faktum, dass jeder ständig und an jedem Ort hochfrequenter Strahlung ausgesetzt ist! Auch die viel empfindlicheren Kinder! Und wer nicht hochpreisig vom Festnetz zum Handy telefonieren will, ist sogar gezwungen, sich auch eines anzuschaffen.

Es gibt zwar schon lange einschlägige Informationen über die Problematik dieser Strahlung von Ärzten und Bürgerinitiativen, aber die Diskrepanz zwischen öffentlich zugänglicher Aufklärung im Internet und in Büchern einerseits und andererseits ihrer Diskussion in Printmedien, Radio, TV und unter den Betroffenen selbst, scheint außergewöhnlich groß zu sein. Als ich vor mehreren Jahren sowohl bei kritischen ZeitgenossInnen als auch bei Umweltschutzorganisationen diesbezüglich nachfragte, verhielten sich alle, als ob ich etwas höchst Unanständiges gesagt hätte.

Auch die schwerwiegenden Folgen des Metallabbaus in Afrika (v.a. von Coltan, das für Handys, Laptops etc. benötigt wird) scheinen nur wenige zu kümmern. Einerseits werden mit den Gewinnen die Kriege in Ruanda und im Kongo finanziert. Anderseits wird der Dschungel zerstört und die Tierwelt ausgerottet: "Da die 10.000 Minenarbeiter im Nationalpark im Kongo kaum mit Lebensmitteln versorgt werden, machen sie Jagd auf Wildtiere. Besonders betroffen sind die Grauer-Gorillas, von denen 7.000 Tiere getötet wurden, sowie die Elefanten des Parks: Von ehemals etwa 3.600 Elefanten ist Berichten zufolge kein einziger mehr am Leben.", schreibt Pro Wildlife auf seiner Internetseite.

Mobilfunk wird von Medizinern als der größte und riskanteste Freilandversuch bezeichnet. Langzeituntersuchungen über seine Wirkung zu machen, wird bald unmöglich sein, weil es niemanden mehr geben wird, der davon unbeeinflusst ist und somit die Vergleichgruppe abgeben könnte. - Welchem Verwertungsgebot mit solcher Gesundheitsgefährdung wurde je so gierig, freudig, blindlings gehorcht?

Raute

Sackgasse Grünpartei?

von Andreas Exner

Den Charakter der politischen Partei prägt ihre Orientierung auf den Staat. Sie nimmt die Interessen, die der Kapitalismus setzt, in sich auf, formiert sie, tariert Antagonismen wie jenen zwischen Kapital und Arbeit aus und setzt den resultierenden Kräftevektor in Staatshandeln um. Die von einer Partei formierten Interessen zielen grundsätzlich darauf, den Kapitalismus aufrechtzuerhalten: Lohnabhängige wollen Lohnarbeit und wollen ergo Lohn; Kapitalisten wollen Agenten des Kapitals bleiben und ergo Profit. Alle wollen Wirtschaftswachstum, denn ohne Akkumulation von Kapital läuft im Kapitalismus nichts.

Nur im Kapitalismus trennt sich der Lebenszusammenhang in die Sphären von Ökonomie und Politik. Wie sich der ökonomische Zusammenhang der Menschen in Form des abstrakten Werts von ihnen abspaltet, so spaltet sich die politische Gemeinschaftlichkeit in Form des Staates ab. Der kapitalistischen Gesellschaft steht die staatliche Gewalt als politische Klammer eines durch Konkurrenz und Herrschaft geprägten sozialen Lebens gegenüber.

Der Staat ist politische Form der kapitalistischen Gesellschaft. Er hängt von Steuereinnahmen ab, die nur die Akkumulation des Kapitals generiert, und er ist auf gesellschaftlichen Konsens angewiesen, der die Integration der Mehrheit in das Lohnsystem erfordert.


Stimmen-Kapitalismus

Die Partei ist strukturell gesehen ein Stimmenmaximierungs-Apparat. Die Bedingung seiner Möglichkeit ist die Abtrennung der Einzelnen von ihren Entscheidungsmöglichkeiten. Die Abgabe der Stimme bei der Parteienwahl ist ein Mechanismus, mit dem der Staat sich Legitimität verschafft. Es ist kein Mechanismus der kollektiven Selbstbestimmung. Umgekehrt ist die Abtretung von Stimmen an eine Partei kein Mechanismus der Delegation von Entscheidungen zwecks Komplexitätsreduktion. Ihr Ergebnis ist vielmehr Repräsentation der Entscheidungsbefugnis, die den Wählenden per Wahl entzogen wird. Realiter liegt diese beim Staat, in dessen Apparaten die Entscheidungsbefugnis, nun vor dem Durchschlagen oppositioneller Bedürfnisse auf den Apparat geschützt, wieder erscheint (repräsentiert wird).

Dort, wo Menschen genossenschaftlich produzieren, das heißt ihre Angelegenheiten selbst bestimmen können, gibt es keine abgespaltene Ebene der Politik und keine Partei, die als Fluchtpunkt antagonistischer Interessen an der Aufrechterhaltung des Kapitalismus fungiert.

Die Partei ist auf der Ebene der Politik in etwa das, was ein Unternehmen in der Ökonomie darstellt: ein repressiver Kommandoapparat. Die Wahl ist, anders als einem kapitalistischen Unternehmen, der Partei angemessen, da es keine Betriebswirtschaft der Stimmen-Maximierung und den entsprechenden unmittelbaren Sachzwang gibt. Die abstrakt-selbstzweckhafte Stimmen-Ökonomie der Partei ist weit mehr als die Geldvermehrung auf subjektive Einschätzungen der Lage am politischen Markt angewiesen. Ihrer Form entspricht in dieser Hinsicht mehr die Wahl als das Kommando.

Die relative Bedeutung parteiinterner Wahlen liegt noch in einem anderen Erfordernis begründet. Da die Partei Interessen bündeln und Antagonismen ausgleichen muss, um Stimmen zu maximieren, sind interne Prozeduren erforderlich, die diese Funktionen garantieren. Während ein striktes Kommandosystem die Gefahr in sich birgt, der Despotie und Willkür einzelner Interessen oder individuellen Macken des Führungspersonals Tür und Tor zu öffnen, erleichtert die interne Wahl die parteiliche Willensbildung als Querschnitt eines möglichst breiten Spektrums von Meinungen und Interessen.

Die innerparteiliche Wahl inkorporiert das Marktprinzip in den parteipolitischen Prozess. Wie eine Partei im Ganzen nach außen hin im Konkurrenzkampf mit anderen ein illusionäres Image kreiert, so kreiert auch jeder Funktionär der Partei eine imaginäre Person, die er im Verlauf interner Wahlen in Stellung bringt. Einzig in Zeiten des Wahlkampfs agiert eine Partei im Regelfall wie eine Truppe - die Drohung des Abstiegs und die Verlockung des Machtgewinns spornen die Parteimitglieder an, sich gegenüber dem politischen Feind und angesichts der Medien in einer Image-Front zusammenzuschließen. Während des innerparteilichen Tagesgeschäfts jedoch wirkt eine allgegenwärtige, von Seilschaften und Zweckbündnissen durchzogene Konkurrenz.

Der repressive Charakter einer Partei sticht nicht ins Auge, da das parteiliche Engagement im Unterschied zur Lohnabhängigkeit der freien Entscheidung unterliegt. Wer sich nicht reprimieren lässt, wird einer Partei nicht beitreten oder wird früher oder später entfernt - wenn er nicht rechtzeitig ausgetreten ist. Dort, wo eine Partei zur Einheitspartei wird wie im realen Sozialismus, schlägt ihr erstickender Charakter allerdings sofort für alle spürbar durch.

Der Partei geht es nicht wesentlich um die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern um deren effiziente Ausnutzung zur Maximierung der eigenen Macht und Mittel. Ebenso wie der Markt dazu führt, dass sich TV-Programme angleichen, Zeitungen immer ähnlicher werden und Waschmittel nur an der Verpackung zu unterscheiden sind, tendiert jede Partei zur Mitte. Die Wirtschaftspolitik von SPÖ, ÖVP, Grünen, FPÖ und BZÖ differiert marginal. Die marginale Differenz wird dadurch bestimmt, der anderen Partei nicht zu ähnlich sein zu dürfen. Mit der Austauschbarkeit der Parteien kontrastiert die Heftigkeit des politischen Kampfes. Um die vom Image erforderte Differenz im Korsett einer parteiübergreifenden Harmonie der Affirmation von Kapital, Markt und Staat zu setzen, sind imaginäre Bruchlinien umso wichtiger.

Freilich, es ist denkbar, dass eine Partei dieser Handlungslogik, die in ihr als sozialer Form angelegt ist, explizit widerspricht. Die Grünparteien der Anfangsjahre sind dafür ein Beispiel. Gerade sie zeigen allerdings auch, dass sich die Logik der Partei selbst in einer fundamentaloppositionellen Parteiarbeit letztlich durchsetzt.

Ebenso wenig wie das Kapital auf dem bösen Willen der Kapitalisten gründet, beruht die strukturelle Bornierung der Parteien auf dem bösen Willen ihrer Funktionäre. Sie ist, sofern sie erfolgreiche Partei im Sinn der Parteienlogik sein will, strukturell dazu gezwungen, stimmen-maximierend und kapitalkonform zu agieren.

Nur starker sozialer Druck von außen kann Parteien dazu bewegen, emanzipatorische Forderungen in gewissem Ausmaß aufzunehmen. Und natürlich gibt es in Parteien Einzelne, die gegen die Parteilogik handeln; umso mehr, je eher man sich in Randgebieten, Nischen und Basiszirkeln einer Partei bewegt.

Ebenso wichtig wie antikapitalistische Betriebsräte oder (selbst)kritische Unternehmer in Betrieben sind solche staatskritischen Akteure in Parteien und im Staat. Soziale Bewegungen müssen Brückenköpfe in Staat und Parteien erringen. Anders ist eine Einschränkung staatlicher Gewalt, die einer emanzipatorischen Perspektive entgegen steht, kaum denkbar. Solche Brückenköpfe sind Dissidente in Institutionen und Parteien, die sich nicht einer Parteiräson und der Stimmenmaximierung, sondern der Menschlichkeit und einer emanzipatorischen Alternative verpflichtet fühlen.


Die neuen Dealer

Die Grünpartei entstammt historisch der außerparlamentarischen Linken. Von daher hat sie die Bedürfnisse und Wünsche der sozialen Bewegungen der 1970er Jahre in sich aufgenommen. Im Prozess der Parteibildung veränderten sich nicht nur die Akteure von Rebellen zu Konformisten, sondern auch die Inhalte. Anstatt sich für die Überwindung des Kapitalismus einzusetzen, begann man rasch, den Kapitalismus reformieren zu wollen.

So klug die Glieder der Partei auch sind, die Partei ist strukturell borniert. Dennoch: man muss sich über das Konzept des "Green New Deal" wundern. Dass es überhaupt Zuspruch erfahren kann, ist ohne den jahrzehntelangen Abbau ökologischen Denkens unerklärlich.

Spätestens seit der Rio-Konferenz 1992 und dem Nachhaltigkeitsgerede im Gefolge "wussten" Ökobewegte aller Couleurs, dass es um "Win-Win-Situationen" geht - die Umwelt kann gewinnen, während das Kapital Profit produziert. Seit dem vollen Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 überschneidet sich nun die falsche Einschätzung der Krise mit den falschen ökologischen Rezepten: "Wir brauchen ein internationales Programm für massive Investitionen in erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Bildung. Das wird Millionen neuer Jobs schaffen, den Klimawandel bekämpfen und aus der ökonomischen Krise führen", meint der Grüne Sven Giegold, Initiator der Facebook-Gruppe "For a Green New Deal!".

Nach dem Gipfelpunkt der Erdölförderung gehen die Ressourcen für den Wechsel auf ein erneuerbares Stoff- und Energiesystem zurück. Es ist abzusehen, dass der globale Norden versuchen wird, die knappen Ressourcen für sich zu kanalisieren: Agrosprit statt Lebensmittel, Erdöl als Energieinvestition für den Aufbau erneuerbarer Energien, Solarenergie in der Sahara, Windparks am Kaukasus und so fort. Weil bei Verknappung der Ressourcen die für den Lebensstandard der Lohnabhängigen gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zunehmen wird und weniger für die Akkumulation von Kapital überbleibt, wird der Staat auch versuchen, den Lebensstandard abzusenken.

Insoweit die Grünparteien kapitalismuskonform agieren, verantworten sie dies mit. Sie vermeiden es, das Ende des fossilen Zeitalters in den Blick zu nehmen, und ignorieren, dass Effizienzsteigerungen ein inhärentes Merkmal der kapitalistischen Wirtschaftsweise darstellen und als solches nicht zur Einsparung von Ressourcen führen. Die Effizienz steigt stetig, doch wird sie durch die Akkumulation des Kapitals (über)kompensiert. Die Idee, der ökologische Umbau könnte Vollbeschäftigung generieren, blendet aus, dass zeitgleich mit einigen Jobs im Bereich erneuerbarer Energie- und Stoffsysteme eine Unzahl von Branchen zum Großteil stillzulegen ist.


Die Auflösung der Partei in die Gesellschaft

Die Logik der Partei wirkt nicht von selbst. Sie beruht auf einem Set von Filtern, die antikapitalistische Inhalte neutralisieren. Der erste Filter ist die Zivilgesellschaft. Dabei kommt den Medien herausragende Bedeutung zu. Als kapitalistische Unternehmen verstärken sie vor allem kapitalkonforme Positionen, als staatliche Apparate die Hörigkeit. Eine Partei zielt auf ein möglichst großes Stimmenreservoir, weshalb sie, um von den Medien ernst genommen zu werden, auf antikapitalistische Inhalte tendenziell verzichtet.

Alle auf den Staat ausgerichteten Institutionen bilden in ihrem Inneren wie in einem Mikrokosmos die Spaltung zwischen Gesellschaft und Staat in Form der Spaltung zwischen Basis und Spitze ab. Auch eine egalitäre Partei wird deshalb früher oder später Hierarchien und Kommandostrukturen einziehen und eine Führung ausbilden.

Die Führung einer noch nicht regierungsfähigen Partei wird, selbst wenn sie sich selbst als radikal oppositionell versteht, durch den ständigen Kontakt zu Medienvertretern, Wirtschaftsleuten und Angehörigen der Regierungsparteien zur Konformität erzogen. Die Basis äußert Unmut, kann eine solche Entwicklung jedoch nicht wesentlich verändern. Die Führung selektiert ihren Nachwuchs nach den Kriterien der Führungsfähigkeit. Und ihr Nachwuchs rekrutiert sich aus den Führungswilligen. So schließt die Partei sich strukturell als kapital- und staatskonformes, selbstbezügliches Gehäuse ab.

Der zweite Filter ist die Regierung selbst. Spätestens sobald eine Partei an der Staatsmacht beteiligt ist, wirkt auf sie der Zwang, Steuermittel durch Förderung der Kapitalakkumulation zu lukrieren und Staatsausgaben entsprechend zu beschränken. In einer Krise schlägt dieser Zwang unmittelbar auf die Lohnabhängigen zurück.

Die Parole "Green New Deal" der Grünen ist Resultat dieser beiden Filterwirkungen. Einerseits gibt das Parteiprogramm vor, eine wirkliche Ökologisierung und die Kapitalakkumulation seien kompatibel, ja, es suggeriert sogar, die Letztere sei auf erstere angewiesen. Andererseits signalisiert der "Green New Deal" Regierungsfähigkeit, indem er eine Lösung für die Krise der Akkumulation vorspiegelt.

Die freilich wird es so nicht geben. Ein massives Investitionsprogramm wäre nur durch Verschuldung finanzierbar. Angesichts der bereits ungeheuren Staatskredite wäre der Rückzahlungsbedarf enorm. Da die Erneuerbaren eine Absenkung der Arbeitsproduktivität nach sich ziehen, wären diese Mittel nur durch langfristige Absenkung des Lebensstandards aufzubringen. Die absehbare Verteuerung fossiler Ressourcen, die auch ohne Aufschwung eintreten wird, würde über kurz oder lang in die nächste Krise münden. Soll ein Aufschwung überhaupt denkbar werden, müsste zuerst nicht mehr verwertbares Kapital in Masse vernichtet werden. Das ist ohnehin die nach wie vor wahrscheinlichste Entwicklung.

Wohlgemerkt: Am "Green New Deal" ist nicht zu kritisieren, dass Geldmittel für erneuerbare Energiesysteme ausgegeben, die Effizienz gesteigert und der öffentliche Verkehr verbessert werden sollen. Zu kritisieren aber ist die gefährliche Illusion, damit das ökologische Problem oder die Wirtschaftskrise zu lösen.

Die Einsicht in die Borniertheit der Parteienlogik heißt jedoch nicht, die Parteien aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Ganz im Gegenteil ist von allen Akteuren einzufordern, sich der Realität zu stellen. Profit- und Machtproduktion sind keine legitimen Argumente. Dissidente in den Grünparteien sind explizit zu stärken und als Auflösungspunkte der Parteiform, das heißt notwendiger Teil einer emanzipatorischen Perspektive zu unterstützen.

Raute

Reichtum und Ressource

Mit Beiträgen von Severin Heilmann, Franz Schandl, Lorenz Glatz und Maria Wölflingseder

Richtig Reich...

­...war A. Onassis bedauerlicherweise nicht. Vielmehr ein armer Mann mit viel Geld, gemäß eigener Einschätzung. Hierin ist die heikle Ambivalenz von Reichtum auf den Punkt gebracht. Denn Geld und Ware sind nur in einer Welt der Knappheit denkbar. Sie gründen auf Mangel und treiben Mangel hervor.

Wir leben so zwar in der Fülle, erleben permanent jedoch Knappheit. Bringen mit einem Maximum an Ressource stets nur Mangelware hervor. Betreiben einen gigantischen Maschinenpark, mit dem es ein Leichtes wäre, Arbeit als unbekömmlichen Broterwerb für immer hinter uns zu lassen, fordern aber gleichzeitig unsere bedingungslose Unterwerfung unter ihr drückendes Joch. Wir leben gleichsam im Paradies und backen unbehelligt davon unsere Brötchen weiterhin im Schweiße unseres Angesichts.

Kaum können wir uns noch vorstellen, dass es auch anders ginge. Denn wann immer wir versuchen nach vorn zu schauen, blicken wir doch nur durch den Rückspiegel unserer Erfahrung und entdecken erschrocken aber konsequent das Bisherige: Knappheit an Geld, Ressourcen, Energie, Nahrung; sehen Müllberge, Sachzwänge, Armut und Krieg. Unser ängstlicher Blick in die Zukunft nennt sich realistisch, klammert sich dabei jedoch eisern an die Denkstrukturen des Mangels und der Knappheit.

Dabei wissen wir doch gar nicht, wie reich, wie begütert und behütet wir eigentlich sind? Wir haben es ja noch nie ausprobiert: Durch welch unschätzbare Fülle an nützlichen Dingen sich unser aller Leben bereichern ließe, ist die ultimative Bedingung für ihr Vorhandensein - ihre Finanzierbarkeit oder Verwertung - gebrochen. Was an Energie, an Ressourcen disponibel würde, deren größter Teil heute in Produkte fließt, die gemäß jener Verwertungsbedingung für die Müllhalde bestimmt sind! Wie viel freie Zeit, wenn mit ihnen auch die in ihnen gebundene Arbeit verschwunden ist und die nötige gemeinschaftlich aufgeteilt! Was für ungeahntes Potenzial, was für Fähigkeiten, Fertigkeiten und Talente würden hierdurch wiederum freigesetzt, die gegenwärtig im Dienst der Geldvermehrung regelrecht vernichtet werden! Vielfalt der Ideen, Erfindungen, Entdeckungen, kreative, technische Hervorbringungen, sobald Patentschutz, Wissensverknappung, der kannibalische Konkurrenzwahn und lähmende Existenzangst der Vergangenheit angehören! Was zu tun, zu denken und fühlen wir vermögen, wenn wir uns direkt aufeinander beziehen und nicht über den mörderischen Fetischismus der Zahlen; dieser nicht mehr darüber gebietet, was machbar ist und was nicht, sondern ausschließlich das Wollen intrinsisch motivierter Menschen! Eine Positiv-Spirale wechselseitiger Befruchtung und Unterstützung würde in die Gänge kommen und ließe unsere allmählich verblassende kapitalistische Veranstaltung so erbärmlich aussehen, wie sie es ist.

Das alles wäre vielleicht mit einem Fingerschnippen zu bewerkstelligen, wir aber glauben so fest an die Dummheit der anderen und die eigene Ohnmacht, dass uns alles andere als das Bestehende, nicht möglich erscheint. Darin liegt unser eigentliches Unvermögen. Was aber, wenn wir das erstickende Denkkorsett des Mangels ablegen, mit der kleinmütigen Erbsenzählerei aufhören und uns stattdessen der Fülle und Vielfalt des Lebens gewahr zu werden trachteten und uns dann darauf verlegten, sie allen zuteil werden zu lassen? Dann hätten wir ihn alle, den anderen, den richtigen Reichtum.

Severin Heilmann


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Reich und Gut

Reichtum war für mich immer ein ausgesprochen positiver Begriff. Selbst in Zeiten, wo ich die Reichen mit den Bösen gleichsetzte, waren mir Reichtum und Luxus, die ich nie hatte, nicht fremd. Zumindest insgeheim, offiziell nötigte ich mir (und auch anderen) gelegentlich ML-artige Bekenntnisse ab, die schwer ideologietrunken Enthaltsamkeit propagierten. Aber das ist lange her.

Ein Lob der Armut ist so ziemlich das Letzte, was man aussprechen soll oder gar empfehlen kann. Armut kotzt wirklich an. Armut ist abzuschaffen. Ersatzlos. Die Leute sollen reich sein. Durchaus auch im Sinne von verfügen und haben. Das ist eine Bedingung, um ein gutes Leben bewerkstelligen zu können. Materielle Probleme sind, anders als andere, grundsätzlich lösbar, und sie sollten auch gelöst werden. Die Angst, unter die Räder zu kommen, oder das soziale Elend, die sind wirklich in historische Ausstellungen zu überführen.

Reichtum ist - anders als das individuelle Glück - kollektiv herstellbar. Analog zu Marx könnte man sagen: der Reichtum der freien Assoziation ist keine "ungeheure Warensammlung", der die Ware als Elementarform zugrunde liegt, sondern der entfaltete und zugängige Einsatz und Schatz menschlicher Fähigkeiten, Tätigkeiten und Resultate. Wie diese sich konkret entwickeln und darstellen, hat Ausdruck und Folge selbstbestimmter (Ver-)Handlungen zu sein. Ökologische Verträglichkeit ist dabei eine vorausgesetzte Selbstverständlichkeit. Reichtum meint ideell wie reell Mannigfaltigkeit und Möglichkeit, meint Erlebnis und Erfahrung, meint Schönheit und Lust. Gut essen, gut trinken, gut reden, gut schlafen, gut bumsen, gut denken, gut wandern, gut wundern...

Es geht ums Gut, nicht um den Wert. Dieses Gut kennt viele, viele Facetten, es verweist nicht nur auf die Güter oder eine prinzipielle Einstellung. Gut sein heißt nicht gutmütig, duldend oder gar leidend zu sein. Im Gegenteil, nicht selten gilt es vielmehr, ausgesprochen scharf zu sein, sinnig wie sinnlich. Dumm stellen statt dumm sein, gehört ebenfalls dazu. Das alles und vieles andere ist mit inbegriffen, ansonsten wird das Gute ob seiner Rücksicht und Klugheit ranzig.

Reich ist, wer viel Zeit hat, wer viele Freunde und Freuden hat, wer vor allem sich selbst hat. Die Verlorenheit hat verloren zu gehen. Dass da etwas ist, auf das man bauen kann, auf das man sich verlassen kann, auf das man vertrauen kann. Die Ressourcen, uns solchen Reichtum zu bescheren, sind vorhanden, denken wir jene nur etwas anders als dies gemeinhin der Fall ist. Wir müssen nur zugreifen, die größte Ressource ist die menschliche Kommunikations- und Kooperationskraft, heute ist diese immense Produktivkraft schwer gestört durch das Gegeneinander der Konkurrenz. Was wir dafür zu opfern haben, sind lediglich die Fetische, denen wir heute dienen. Um die ist es allerdings nicht schade.

"Viel soll es sein und leicht soll es gehen, und vielleicht geht es", lassen wir die Marie in unserem Theaterstück sagen.

Franz Schandl


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Reich sein oder gut leben?

Dass unsere Atmosphäre sauerstoffreich, die des Mars hingegen daran arm sei, ist für beide kein Problem. Auch dass ein Lebensraum fischarm, ein anderer fischreich sei, kann ein Vergleich sein, der wenig über beider Qualität sagt. Dass es aber in einer menschlichen Gemeinschaft Reiche und Arme gibt, ist seit Anbeginn ein Ärgernis, ein Skandal.

Reichtum ohne Armut ist so wenig wie Hitze ohne Kälte. Ob eins das will oder nicht: Wer Reichtum will, nimmt Armut in Kauf. "Wär' ich nicht arm, wärst du nicht reich" (Brecht), stimmt. Es lässt sich nicht damit lösen, dass alle reich würden. Nicht bloß wegen der Sprachlogik. Auch wegen der Funktionsweise. Mit dem Reichtum ist es nämlich wie mit der Herrschaft. Die können auch nur wenige haben. Sonst ist sie nämlich keine. Cupido profunda imperi et divitiarum (Sallust), abgrundtiefe Gier nach Herrschaft und Reichtum, gehören schon in antiker Kritik an den herrschenden Zuständen ganz zu Recht zusammen.

Was Reich-sein-Wollen erstrebt, ist nicht einfach gutes Leben, liegt nicht im Kreislauf von Bedürfnis und Sättigung, sondern ist ein ewiges Mehr der einen auf Kosten der anderen, ohne auch nur die einen zu befriedigen. Reichtum findet früh im Geld seine adäquate Form und wird später im Kapital zum gesellschaftlichen Zwang zu Armut und ökologischem Desaster. Reichtum ist als Ausschluss anderer, als Eigentum und Herrschaft in die menschliche Geschichte getreten und ist von Anfang an bekämpft worden, weil er die Lebensgrundlagen der Gemeinschaft untergräbt.

Seine Eigendynamik entkoppelt auch den Reichen vom Wohlbefinden, dampft die sinnliche Lust am Genuss des Umgangs mit Mitmensch und Natur ein zum "verfluchten Hunger nach Geld", nicht erst in modernen Zeiten, sondern schon bei Vergil. Viel, nein mehr muss man haben, was auch immer es ist.

Reichtum und gutes Leben grundsätzlich in einen Topf zu werfen, ist in unseren Zeiten ein Essential demokratischer Weltanschauung. Armut ist ein Versagen in der Ausnützung natürlicher und menschlicher, vor allem der eigenen Ressourcen. Reichtum ist das, was wir (uns) zu leisten haben und doch nie so recht erreichen, ein Bedarf, der selbst bedürftig, immer neu sich herstellt, idealiter als Sucht, deren Stoff sich günstig produzieren und (ver)kaufen lässt. Dauerrausch (vom Alko- bis zum Workoholik) als Glück und Antidepressiva für den Wachzustand, so sieht ein reiches Leben nicht selten aus.

Dem gegenüber hat gutes Leben heute wenig Platz, es ist im Wortsinn utopisch. Es ist vor allem etwas, woran es mangelt: Zeit haben, Zeit lassen, genießen, was und so lange es uns Freude macht, tun und geben, teilen und empfangen, so viel von allem, wie uns bekommt, Rausch und Erwachen, Leidenschaft und Ruhe, allein und geborgen. Entwicklung und Fortschritt, Neugier und Forschung als wachsender und gelingender Umgang der Menschen miteinander und mit der Natur. Und vieles, von dem wir träumen, es am Morgen aber nicht mehr wissen. Es gilt, eine geänderte Welt zu verstehen.

Lorenz Glatz


*


Arm oder reich oder...?

Meine Freundin Gabi hat zwar nicht studiert, aber einen guten Job. Anspruchsvoll, sicher nicht schlecht bezahlt. Und eine Tochter hat sie auch, hübsch und gescheit, die letztes Jahr maturiert hat. Als ich Gabi neulich zufällig traf, hatte sie gerade Ausgang von ihrer stationären Behandlung. Sie hat ein schweres Burn-out und kann schon seit langem nicht mehr arbeiten.

Maria, meine Freundin seit Jugendtagen, hat auch einen gut bezahlten Job. Mit ihrem Mann und ihrer Tochter, die noch zur Volksschule geht, bewohnt sie heute ein schickes Haus in der besten Gegend Salzburgs. Aufgewachsen ist sie im Lungau mit acht Geschwistern auf dem Bauernhof. Ihr Mann ist mit Leib und Seele Musiker, aber seine Verdienstmöglichkeiten sind nicht riesig. Die Raten fürs Haus sind hoch und müssen noch lange bezahlt werden. Obwohl meine Freundin sehr kunstsinnig ist, hat sie selten Zeit und Muße, auch nur ein Buch zu lesen. Sie beneidet mich darum, in meinem Leben großteils das gemacht zu haben, was ich gerne mache: Lesen, denken, schreiben, organisieren, was mir wichtig erscheint, und natürlich auch Beziehungen verschiedenster Art zu pflegen, mit Menschen aus ganz unterschiedlichen "Milieus". Ja, darüber bin ich der Tat glücklich! Aber der Preis dafür ist hoch: wenig Geld, Schikanen seitens des Arbeitsamts und keine Altersvorsorge. Aber wer wird denn so anspruchsvoll sein? Fast so etwas wie "Selbstverwirklichung" und finanzielles Auslangen und gar noch Gesundheit?

Apropos finanzielles Desaster: Viele haben ihren oft hart erarbeiteten Reichtum nicht nur via Aktien verloren, sondern auch beim Versuch, sich wegen hartnäckiger Arbeitslosigkeit "selbständig" zu machen. Das Gastgewerbe eignet sich dafür besonders gut. So erging es auch Martin im ersten Wiener Gemeindebezirk. Nicht nur Arbeitslose werden behandelt, als ob sie etwas verbrochen hätten. Auch jene, die im wahrsten Sinn des Wortes alles geben, ihr ganzes Vermögen finanzieller, körperlicher, geistiger und seelischer Natur, um dem Verwertungszwang Genüge zu tun, werden, wenn die Geschäfte nicht gewinnbringend sind, wie Schwerverbrecher behandelt. Wenn du gar nix mehr hast, wird dir sogar noch das Bankkonto und die Unterhose genommen.

Ivo erging es ähnlich mit seinem Lokal im achten Bezirk. Er arbeitete jahrelang von früh bis spät, nur um die Miete (lediglich die fürs Lokal) zahlen zu können. Die hohe Summe für die Renovierung hat Milanka, seine Frau, mit ihren ganzen Ersparnissen bezahlt. Auch die sind nun weg, weil er keinen Nachfolger fand. Einen Kredit stottert sie heute noch von ihrem Gehalt ab, das für drei reichen muss. Milanka hat übrigens wie so viele AkademikerInnen in Österreich, die aus der Türkei, aus slawischen, afrikanischen oder anderen vermeintlichen Underdog-Ländern kommen, einen "unterqualifizierten" Job.

Wer in der Gastronomie wenn schon nicht reich werden, so doch erfolgreich sein will, der läuft dann mitunter jahrelang 14 Stunden pro Tag, sieben Tage pro Woche, 52 Wochen im Jahr. Trotz oder wegen der tollen Ideen zur Bereicherung der Esskultur. Bis dann selbst bei jemand so Großem und Starkem wie Mirko in Berlin das Rückgrat vier Monate lang komplett versagt, und der dann erst langsam wieder sitzen und gehen lernen musste. Weder Martin noch Ivo oder Mirko wird sich trotz seines so benannten Berufsstatus als besonders "selbständig" gefühlt haben. "Frei" und "unabhängig" heißt "selbständig" heute mitnichten.

Und reich oder arm, was heißt das schon? Wo doch alles höchst schräg und maßlos verquer ist!

Maria Wölflingseder

Raute

KOLUMNE Immaterial World

Information

von Stefan Meretz

Nach dem Logischen (Streifzüge Nr. 43/2008) und dem Allgemeinen (Nr. 44/2008) soll es nun in der kleinen Serie über Grundbegriffe der "immaterial world" um die Information gehen. Man sollte annehmen, dass die Informatik die berufene Disziplin ist, eine genaue Fassung des Begriffes zu liefern, handelt es sich bei der Information doch um jenen Begriff, der Informatik als Wissenschaft konstituierte. Dem ist jedoch nicht so.

In der Informatik und verwandten Disziplinen wetteifern einige Dutzend Ansätze um alleinige Geltung. Die Lage ist so verwirrend, dass sich die bundesdeutsche "Gesellschaft für Informatik" auf eine bloß pragmatische Definition zurückgezogen hat: Information ist das, was wir auf dem Computer verarbeiten. - Aus Platzgründen muss ich die Kritik der gängigen Informationsauffassungen hier auslassen und komme daher gleich zur Skizze eines aus meiner Sicht angemessenen Begriffs der Information.

Information ist nichts Dingliches [oder: kein Ding], sondern stets eine Beziehung, ein Verhältnis zwischen einem Informanten und einem Informierten. Nur in diesem Verhältnis existiert die Information, oder noch deutlicher: Sie besteht nur aus diesem. Streng genommen ist also die Rede von einem "Etwas" als Information unzureichend. Aber in Verhältnissen zu sprechen ist schwierig. Es sei im Folgenden versucht.

Etwas ist dann ein Informant, wenn es das zu Informierende informiert. Das zu Informierende wird dann informiert - die Information wird also realisiert bzw. etwas ist tatsächlich ein Informant -, wenn aus der Information für den Informierten etwas folgt. Eine Folge kann eine Aktivität oder ein Prozess sein, der umgesetzt wird, wenn die Information vorliegt, wenn also die Beziehung von Informant und Informiertem realisiert wird.

So hat eine Gensequenz die Synthese eines Proteins zur Folge, die allerdings nur durch eine entsprechende Biomaschinerie der Proteinsynthese realisiert werden kann, die die Gensequenz liest und in Synthese-Prozesse umsetzt. Die Information besteht also nur im Verhältnis von Gensequenz und korrespondierender biotischer Proteinsynthese-Maschinerie. Ein isolierter Genbaustein hingegen ist bloße chemische Struktur, aber kein Informant und damit keine Information.

Der Verhältnis-Charakter der Information wurde etwa beim Human Genom Project "übersehen", als man nach der kompletten Sequenzierung des menschlichen Erbgutes feststellte, dass man trotz vollständiger "Information" noch gar nichts wusste, da die jeweils zuständigen und zugeordneten Syntheseprozesse im Dunkeln lagen. Schnell trat zu Tage, dass die Zuordnungen von Informant und Informiertem wesentlich komplexer sind als bloße Eins-zu-eins-Abbildungen.

Eine Information hat also drei Bestandteile: Informant, Informiertes, Folge. Die Folge ist nun nicht als bloße Wirkung aufgrund einer Ursache zu verstehen, sondern als Anstoß, der eine ganze Kette von weiteren Prozessen auslöst. Diese Prozessketten treten nicht zufällig auf, sondern sind systematisch mit der Information verbunden. Sie dienen auch der Reproduktion des Dreiecks von Informant, Informiertem und Prozessfolge. Solche Formen strukturidentischer Selbstreproduktion sind ein notwendiger Bestandteil biotischer Prozesse, also des Lebens.

Daraus folgt, dass Formen nicht-biotischer Realität keine Information kennen, da sie keine Informant-Informiertes-Prozessfolge-Verhältnisse bilden können. Ein Stein "informiert" keinen zweiten Stein, auf den er fällt, selbst wenn danach eine Lawine abgeht. Ursache-Wirkungs-Relationen sind kontingent und nicht systematisch und nicht selbstreproduktiv.

Information ist also an das Leben gebunden - eine Information, die zumeist bestritten wird. So wie sich das Leben historisch ausdifferenziert hat, so auch die Information. Als weitere qualitative Entwicklungsstufen können hier nur kurz benannt werden: das Psychische als signalvermittelte Lebenstätigkeit; das Individualgedächtnis als Speicherung von Individuum-Umwelt-Relationen; das Soziale als Informanten-Informierte-Beziehungen zwischen (tierischen) Individuen; das Gesellschaftliche als hergestellte Vermittlungsstruktur zwischen Mensch und Welt.

Auf der Stufe der signalvermittelten Lebenstätigkeit, also des Psychischen, wird aus der Folge die Bedeutung als Aktivitätsrelevanz. Das Informationsverhältnis wird damit erweitert: Ein Signal oder Informant wird als Bedeutung nur dann realisiert (und also zur Information), wenn sich der Organismus in einem bedeutungsbereiten Zustand befindet. Zwischen Organismus und Umwelt-Signal tritt nun als weitere Vermittlungsinstanz der innere Zustand - gefasst als Emotionalität - hinzu.

Über die weiteren Stufen der Entwicklung lässt sich nun zeigen, dass die Vermittlungsdistanz und die inhaltliche Vermittlungskomplexität der Information systematisch zunimmt. Auf menschlich-gesellschaftlichem Niveau schließlich werden die Bedeutungen (mithin Informationen) nicht bloß vorgefunden, sondern in gesellschaftlicher Kooperation hergestellt. Bedeutungen werden so "in" den Dingen vergegenständlicht und verweisen aufeinander. Ungegenständliche Symbolsysteme entstehen, die auf die hergestellten Bedeutungen verweisen und sich schließlich ihrerseits (als Sprachen, Mathematik, Ideologien etc.) historisch verselbstständigen.

Verarbeiten nun Computer Informationen? Nein, sie operieren ausschließlich auf der Ebene von Zeichen und können die Ebene der Information nicht erreichen. Sie können nur die Rolle des Informanten einnehmen, der den Nutzer dann informiert, wenn das Ergebnis diesem etwas "sagt". Auch hier wird die Information nur im Verhältnis von Computer-Output und Nutzer realisiert.

Entwickelt sich der Kapitalismus zu einem informationellen Kapitalismus? Jeder Kapitalismus basiert wie jede andere gesellschaftliche Form auf Informationen. Insofern präzisiert ein zusätzliches Prädikat den besonderen Charakter der gegenwärtigen Entwicklungsetappe des Kapitalismus nicht. Allerdings verändert sich die Rolle der Nutzung und Verwertung von Informationen qualitativ: Waren die Informationen zuvor Teil der alltäglichen Vermittlungsverhältnisse, so werden diese nun separiert, privatisiert und kommodifiziert - sei es in Form von Beratung (die richtigen Informationen an der richtigen Stelle) oder von digitalen Informanten (Software, Musik etc.) als privatisierte Universalgüter.

Raute

Alltag, zweidimensional

Wider die Diktatur der Bilder

von Birgit von Criegern

1

Kein Zufall: Die flachste Zeitung des Landes ist Bild betitelt.

2

Berlin-Mitte, U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße, aschgrauer Tag und Regenhimmel, wenige Schritte vom U-Bahnhof-Ausgang hinüber nach einem Wohnblock, dabei auch Plattenbauten, gehst du auf einen begrünten stillen Hof. Es ist unweit der Spree mit ihren Touristenlokalen. Hier triffst du überraschend auf einen Bärenkäfig. Wahrzeichen der Stadt oder vielmehr plumpe atmende Wirklichkeit, graubraun und massig: Das an Wälder gewohnte Tier schnauft müde, zeigt dir volle Breitseite, ein Junges dabei - mitten im Großstadtalltag. Vielleicht sagst du dir, du solltest diesen Augenblick mit Staunen füllen - noch erstaunlicher, dass eine Gruppe Gutgelaunter, neben dir vor dem Gitter stehend, andächtig die kleinen rechteckigen Apparate gezückt und die blau leuchtenden Flächen vors Aug gehalten hat. Wenn sie das Tier auf die Displays - zwei mal drei Zentimeter - ihrer Telefonierapparate kriegen, werden sie zufrieden sein wie durch einen Besitz. Das Erleben ist wieder dem Abbilden geopfert - doch fast sieht es aus, wenn die AusflüglerInnen in ihren Regenjacken die Handys auf Augenhöhe mit gradem Arm dem Tier entgegenhalten, als wollten sie die Wirklichkeit Obannen.

3

Sie haben ganze Vorräte von Herzensbildern darin verstaut, als wären ihre Herzen viereckig, metallicfarben, elektrisch aufgeladen, sie zeigen dir den kleinen Lukas, der schon so groß ist, wie er im Kindersitz sitzt (2 x 3 Zentimeter), den Hund Susi, den Freund Ron vor seinem Studio-Appartement in London, das letzte Wochenendhaus in Meck-Pomm (Seeblick) und freuen sich außerdem über die hohe Auung. Vielleicht ist es ihnen ihr tragbarer Lebenslauf (in Bildern), in der Tasche tragbar, aber was veranlasst sie, mit ihrem Eigensten so geizig zu sein, auch gegen sich? Was veranlasst sie, dass sie das Erzählen aufgeben zugunsten des Zeigens, dass sie dir, und sich selbst, nichts mehr erzählen?

4

Das Bild wurde ihnen Gebot, es geht also natürlich nicht um die Frage, ob Bilder zu stürmen seien, sondern: wie sich in der neuen Armut behauptet werden kann, die die Armut des Fühlens, des Gedankens, der Erzählung ist. Homer war blind.

5

Na schön, "das edelste der Sinnesorgane" (das Auge), für die leviathanischen AufklärerInnen, die auf Aristoteles sich beriefen und die bis heute (mehrere niedergemetzelte Revolutionen später) darauf sich berufen, dass der Staat den Menschen, "diesen Wolf", immer noch kontrollieren müsste. Aber ihre Argumente, sprich Bilder, sind nur für kindliche Sicht geeignet, wenn man kein Gift argwöhnt und nur nach dem Bunten begehrt: Die prallen riesigen Schalen der Hybridfrüchte im Supermarkt, die großformatigen Plakate der Strom- oder Talkline-Konzerne an den U-Bahnhöfen, die Displays der Handies: Sie sind allgegenwärtig, aber sie überzeugen nicht.

6

Die interessantesten Maler die, die sogar dem Bild misstrauten. Rembrandt, Turner, später Duchamp, Magritte. In einen fetten, pulsenden Schatten neben der Aristotelesgestalt in "Aristoteles betrachtet die Büste Homers" malte Rembrandt mehr lebendiges Ungestüm hinein als Caravaggio auf eine präzis gezeichnete Arschbacke. Die, die sich mit dem Trug und vermeintlichem Abbilden befassten, ahnten schon zu Hobbes' Zeit, entgegen seiner Philosophie, diese Gefahr: dass wir zu Augenidioten werden könnten. Keine Moral, sondern Drang, weiterzukommen: Von ihrem Instrument des Malens streckten sie sich nach etwas anderem, nach dem, was sie im Leben, was sie im Ganzen erfuhren, nicht nur mit dem Auge - der gestaffelte Wolkenhimmel Courbets, die "vierte Dimension" Duchamps lassen das ahnen oder anmelden.

Eine Malerei, die großartig die eigenen Betrügereien thematisierte, wäre heute noch interessant, aber ist grad gar nicht en vogue. Nur etwas Op-Art nach der Mode der sechziger Jahre, etwas Pornografie, das ist gefragt, und die Werbeindustrie kauft sich die Kunst, die ihr hilft "zu überzeugen" - das heißt, den selbständigen Gedanken fernzuhalten.

7

Foto: Ihre Verschwendung von Bildern, von Schnappschüssen (sie leben von Schnappschuss zu Schnappschuss). Nun gehen sie längst durch den Tag mit dem Daumen am Knopf. Keine Selbstverständlichkeit ist, was die VertreterInnen westlicher Kultur als Wirklichkeitsmedium anderen aufdrängen. Das Bild bedeutet noch immer Kontrolle (die Kameras kraft höherem, staatlichen Diktat an Straßenecken und U-Bahnhöfen, verdeutlichen es), da muss sich gewappnet werden, ganz individuell. Verteidige jedeR, was möglich ist, gegen das Auge! Eine persönliche Erfahrung, als ich durch den Iran reiste: Der Schnappschuss war da unbekannt. Als ich vor meinen GastgeberInnen die Kamera zückte, arrangierten sie, ärmliche MarktverkäuferInnen wie auch moderne Geschäftsleute, erst den Augenblick, in aller Bereitwilligkeit: Man musste sich erst vorbereiten, in Position stellen, lächeln. Die Frauen legten ihr bestes Kopftuch an und legten Lippenstift auf. Die Ablichtung - ein besonderer Moment. Die Forderung westlicher Bilder-ProduzentInnen, jedes Foto in jedem Moment von jedem zu kriegen, was ist sie anderes als die Forderung, das eigene Konzept durchzusetzen? So wird Virtuelles hergestellt, aber mit Abbildung der Wirklichkeit, gar Kommunikation hat das nichts zu tun.

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Elias Canetti über "Den Blinden" in seinen fünfzig Charakteren ("Der Ohrenzeuge"): Dieser Blinde ist kein physisch Blinder, aber einer, der alles auf Fotografien bannen und präsentieren will und (zwanghaft) muss.

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Vielleicht hätte der Kapitalismus nicht so lange gedauert, wenn wir alle augenlos geboren wären. Die Täuschung des Ohres, fällt sie so leicht wie die Täuschung des Auges, und was können wir von den physisch Blinden alles lernen, wie viele von ihnen sind in Parlamenten, Konzernen, aber auch in Bürgerinitiativen überhaupt vertreten? Es gibt keine Studien über den Zwang zum Outfit: Ein körperbetontes Kostüm, ein paar modische Turnschuhe, Krawatte und Anzug wirken noch immer argumentlos Wunder. Fiele das alles weg, bliebe wenig mehr übrig, als das Argument, um zu überzeugen, doch es steht nicht zur Debatte - wenn die Bereitschaft zum Outfit nicht da ist. Zwar gibt es im Kapitalismus auch die Wörter, wie "Effizienz", "Sicherheit", die sich ihren eigenen Flor umlegen, so wie der lichtblaue Flor um Personen und Parolen auf den Abbildungen der Parteienwerbungen. Aber wer sich auf sein Gehör verlässt, blind, durchdringt wohl auch diesen Flor mit geschärften Sinnen bis auf das Mark der Stimmen, die da sprechen, und auf die Chronik der Ereignisse, die im Gedächtnis bleiben. Es ist wohl nicht ganz so leicht, mit der Stimme zu lügen, wie mit einer Krawatte. Dass die PolitikerInnen, die Aufsichtsräte logen, dass die Versprechen leer blieben, dass mit mechanischen Stimmen uns die Konsolidierung, die Beseitigung der Krisen versprochen werden, hätten wir früher durchschauen können, wenn wir so viel gelernt hätten wie sie - die Blinden. Also lasst uns die Augen schließen und hören.

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Ich glaube den zeitgenössischen BildverehrerInnen ihre stimmige, ihre ungetrübte Weltsicht erst, wenn sie HungerkünstlerInnen geworden sind. Denn ihre Bilder kommen dem Magen und seiner Logik stets zuvor. Es können immer nur SiegerInnen sein, die das Foto, den Trailer kultivieren, den anderen fehlt das Interesse zu so etwas. Wahnwitzig ist die beruhigende Kraft von TV - wenn nur gezeigt wird, was nicht mit Leben zu tun hat, ja im Gegenteil: wenn das Grummeln und Zwitschern von den Talkshows sich wie ein Pflaster auf die Existenzkämpfe der Leute diesseits des TV-Monitors legt, wenn Frau Z. zugleich in der engen Wohnung zuhause bügelt oder Herr X. im Krankenhaus sich langweilt. Am deutlichsten die Kochsendungen, die derzeit so sehr boomen und die zugleich bemänteln und stimulieren: Zu den Pastas mit Garnelen, zu dem besonderen Tafelwein bei Biolek haben Zigtausende hierzulande nicht das Geld, aber wohl noch ein ästhetisches Verlangen. Sie schenken selbst diesen Bildern noch ein Vertrauen, das nur von anderen Krücken, vom letzten geborgten Kredit oder anderem Sicherheitsgefühl, noch gestützt sein kann. "Guten Appetit" wünscht der Sender Arte, wenn "wir bei einer andalusischen Familie zum Ragout eingeladen sind" und die Bäuche der AsylbewerberInnen und auch mancher Erwerbsloser knurren. Das Bild lebt von der Zufriedenheit, aber es verhilft nicht lange zu dieser.

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Glaube keiner Institution, die nicht ohne Bildplakate auskommt!

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Aber oft sind es sie, die AnbeterInnen der Bildertechnik, die dir von Realität reden: dann, wenn du ohne Bilder bei ihnen antanzt, wenn du von der neuen Armut sprichst, von der Ausgrenzung der Flüchtlinge hierzulande (kaum Fotos und Filme kursieren von ihnen, die Asylbewerberheime in Wäldern und Industriegebieten machen sie unsichtbar, das ist Kalkül), wenn du sagst, gewisse Arbeitsbedingungen seien unhaltbar. Sie fordern direkt oder indirekt, du müsstest deinen Standpunkt erstmal präsentieren im Bilderkampf, so wie sich ihre Firma, ihre Partei, ihre Chefetage präsentiert - mit einem Slogan, einem Model, einem ausgesuchten Design und ausgesuchten Farben auf Websites, im TV. Sie ahnen wohl, dass sich noch etwas anderes täglich abspielt als das allgemein Präsentierte, aber beunruhigend und unüberschaubar wäre es ihnen, sich damit zu befassen - die Bildlosen hingegen sind das neue Lumpenproletariat, und: sie werden immer mehr.

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Erst im 20. Jahrhundert wurde das Bild ja Sache der ProletInnen auch - ich denke da etwa an die Arbeiter Illustrierte Zeitung in der Weimarer Republik, die, mit Fotos und Fotoreportagen vollgestopft, von den Unterschichten berichtete, und für diese. Den Ärmsten, die zum Lesen ungeschult oder zu erschöpft waren, lieferte sie die Neuigkeiten, die für sie Belang hatten. Jahrhunderte zuvor durften sich die UntertanInnen vom Bild erzählen lassen, welch edel gesonnener Feldherr Konstantin war oder wie tugendreich und schmuck die Familie des Herrn Senator. Heute steht es vielleicht wieder ähnlich, da das Monopol auf die weitest verbreiteten Bilder immer noch bei den Springer und Konsorten, bei den Bertelsmann und Kirch verbleibt - und die regieren das Denken. Es ist kein Sieg der Demokratie, wozu das Foto genutzt wurde, im Gegenteil.

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Und doch gibt es Bilder, die nicht täuschen, sondern entlarven. Wenn in den TV-Talks Menschen mit goldbraunen Gesichtern, blondgefärbten Haaren, geworfen in Anzug-und-Krawatte, reden: über Faulheit und Auf-der-Tasche-Liegen Erwerbsloser, da fragt sich, warum wir uns das gefallen lassen. Es ist auch sehr viel strategische Dummheit in der Bilderpolitik, da deren BefürworterInnen für nichts andres mehr Sinne haben.

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Botschaften. Gewiss verfügt jedes Bild über eine Botschaft, aber wie viel davon ist suggeriert, also unaufrichtig? Und wenn selbst das Bild eine Botschaft hat, ist doch nicht sichergestellt, ob die/der BildproduzentIn eine hat.

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Video: Von den Zwölf- bis Neunzehnjährigen, heißt es, hätten 92 Prozent ein Handy, und wen wundert's: Junge Leute sind konformistisch, wollen dazugehören, wollen überhaupt erst sein und tätig werden, halten sich an das, was ältere ihnen vormachen. Letztere schaffen damit eine Bezugsebene in pädagogischen Projekten, das Bild schleift sich ein als schulisches Medium. Die SchülerInnen dürfen Videos drehen über gesunde Ernährung, über Antirassismus etc. Für den letzteren Zweck, ein Projekt in Frankfurt/Main, kamen die Handies der SchülerInnen zum Einsatz. Bemerkenswert ist an solchen Projekten, dass diese die Möglichkeit haben, selbst als BotschafterInnen zu agieren, wenn sonst von Staat und Konzernen bis zum Überdruss mit Bildern gebotschaftet wird. Wenn sie sich dabei nur nicht das Filmkonzept der Autoritäten zu eigen machen! Mögen sie staatskritisch den glatten bunten Trailer über ein moralisches Motto, sprich die Propaganda, auseinandernehmen und mit etwas Ungereimtem erwidern. Mögen sie eigene Erfahrung gegen mediales Klischee setzen, nur nicht zu PropagandakünstlerInnen werden, die reibungslos plotten. Es wäre viel verloren, wenn sie sich zu IllustratorInnen des gesellschaftlichen Konsenses machen ließen. Und wenn nur die Autoritäten keine solchen glatten Ergebnisse von ihnen erwarten! Das würde heißen, Heranwachsende auf das virtualisierte, kommerzialisierte Selbstbild unserer Gesellschaft einzustimmen - das niemals dem Leben entspricht. In Filme sind bereits fertige Positionen gebannt. Kann man sich mit Filmen überhaupt auf das Leben vorbereiten? Der Konflikt, das Ringen um Haltung, die Weigerung oder das wütende Suchen brauchen Raum, also die dritte Dimension - das alles spielt sich vor der Fläche der Projektionen ab. Hingegen die FilmemacherInnen, die mit viel Routine durch die Gegenden streifen, "cannes-reife" Szenen zusammendrehen und unsere Stadt zur Kulisse erklären - sie erscheinen nur wie Erzengel zwischen Oben und Unten, Erleben und Klischee.

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Zeitgenössisch ist das Drängen nach Anschaulichkeit, und zwar in jeglichem Bereich. Das ist, als würden wir uns pausenlos in Fabeln unterhalten. Nicht einmal das, denn zur Fabel muss mensch noch Phantasie hinzunehmen, den Raben und den Fuchs sich selbst vor Augen führen. Mit dem fraglichen Medium geht es anders: Filmreportagen zeigen deinen Augen alles, und dein Gehirn schweigt. Und dabei musst du glauben, dass es sich nur um diesen einen Raben und um diesen Fuchs dreht. Das ist der Fall, wenn du dich an die medial verhandelten Tagesthemen hältst. Von gewissen Ereignissen, den Überlebenskämpfen der ArbeiterInnen auf brasilianischen Palmölplantagen oder auf den Baumwollfeldern der westlichen Textilfirmen in Malawi, geht ohnehin kein Rauschen über die Bildschirme.

Fatale Entwicklung in der Augen-Zulieferindustrie, in den Reportagen: Selbst noch die kurzen TV-Clips über Menschennöte in den Gebieten, in denen die Nato Krieg führt oder eine neue Flutkatastrophe die Ärmsten heimsuchte, finden Gewöhnung. Zunächst forderte die Öffentlichkeit ein anschauliches Corpus Delicti zu allem, und das Bild zu jedem Bericht sollte die BürgerInnen in Erregung versetzen. Die Bilder strömten ohne Unterlass. Mittlerweile wurde das Anschauliche zum Beruhigungsmittel, kein Übel ist mehr glaubhaft. Es scheint, als würden wir alles Verhängnis in 2-D bannen, um es uns vom Leib zu halten. Der Wahnwitz ist: Was sich nicht auf 2-D abspielt, interessiert schon gleich gar nicht.

Aber ich sollte schleunigst davon loskommen. Ein Bild kann mir Signal sein, doch nicht mehr. Ich sollte Berichte lesen, Fragen stellen, Sachverhalte aufspüren und abwägen. Ich habe zudem Phantasie nötig, mir vorzustellen, was da vor sich geht - mir die lebendige Dimension zu den Zahlen, Statistiken, Satzfetzen aus der Ferne herzuschaffen. Gerade auch was die Nöte betrifft, die dort, außerhalb meines Lebensumfelds, vor sich gehen. Die Wirklichkeit ist nicht anschaulich, sondern vorstellbar. Sie muss sich immer neu vor Augen geführt werden - bis zur möglichen Anteilnahme. Anderenfalls würde ich vollendete Zuschauerin - was Schlimmeres könnte mir passieren?

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2000 Zeichen abwärts

Nie wieder angestellt!

Manchmal sind es die seltsamsten Umstände, die einem mal wieder verdeutlichen, was man ist oder/und sein will und was nicht. Unlängst war Elternabend, meine beiden Töchter sind in der ersten Klasse. Umzingelt von eigentlich doch erwachsenen Leuten, die ihr ewiges Angestelltenverhältnis, aus dem sie alles Selbstverständnis und Wissen um die Welt und ihre Menschen zu schöpfen scheinen, in diesen gruseligen, architektonischer Scheinindividualität verpflichteten Einfamilienhausringen um die Stadt herum leben, wurde die von mir hochgeschätzte Lehrerin von jenen mit Fragen und Forderungen bombardiert, die den denkenden Teil der Elternschaft erst zum Schmunzeln, dann zur Besorgnis brachten. Zu wenig Disziplin, zu wenig Ordnung, zu wenig Leistungsnachweis usw. "Wo steht mein Kind denn in der vierten Klasse, wenn es jetzt noch keine Ordnung am Arbeitsplatz lernt?", war meine Lieblingsfrage des Abends. Nächsten Tags bringe ich der Lehrerin eine Ausgabe der Streifzüge vorbei, das muntert sie auf, da bin ich sicher. Erst hatte ich überlegt, das Heft einigen jener Eltern zu übergeben, aber dann, sollten sie tatsächlich ernsthaft darin lesen, dürfen die Kinder bestimmt nicht mehr zusammen spielen...

Um einem drohenden Angestelltenverhältnis (ich war mal in einem und weiß, wie das ist - nie wieder!) und der damit verbundenen Abhängigkeit zu entgehen, habe ich (mal wieder) eine Firma gegründet. Die bringt zwar mit Sicherheit auch nichts ein (na ja, viel Zeit für mich, die Meinen und alles, was lieb und wichtig ist :-)), beschäftigt die andere Seite aber erst mal wieder eine Zeitlang.

Bloß immer weiter machen! Und wenn wir zu Lebzeiten nichts Wesentliches mehr geändert kriegen, unsere Kinners werden es uns und solchen Lehrern wie der oben erwähnten danken. Und die schwedenmöbelbunten Carport-statt-Garten-Vorstadtgulags werden wieder verfallen, solange man zu verhindern weiß, dass Hänschen lernt, dass Stillsitzen und Nicken was mit wirklichem Erfolg zu tun hätte.

A.P.

Raute

Geschmacks- und Herrschaftsfragen

Anmerkungen zu Martin Scheuringers Beerdigung der Kritischen Theorie

von Julian Bierwirth

Als ich im Juli 2008, also ziemlich direkt während der Fußball-Europameisterschaft, die Streifzüge aufschlug, da war ich zunächst recht begeistert. "Endlich schreiben die mal was über die Hintergründe der elendigen Fahnenschwenkerei!", dachte ich bei mir, als ich Martin Scheuringers "Rausch ohne Rechnung! Fußball, Ökonomie, Pädagogik und Begeisterung" zum ersten Mal erblickte. Die Begeisterung war jedoch schnell verklungen. Statt einer scharfsinnigen Kritik traf ich hier auf die Auslassungen von einem, dessen Wunsch, auch mal dabei sein zu dürfen, unübersehbar war. Dass er doch tatsächlich beim Siegestor mitfiebert, wird ihm zum Ausgangspunkt dafür, dass "von der schweren Last des reflexiven Denkens erleichterte Momente" einfach auch total schön sind und wir sie deshalb genießen sollten. "Leidenschaft" nennt er das - und genau da will er hin. Leben, einfach Leben und das Leben genießen - ist das nicht der Sinn des "kommunistischen Begehrens" (Bini Adamczak)? Dass Pädagogik und aufklärerische Vernunft das überlegte Handeln in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellen, wird so zum Anlass, sich einfach mal gehen zu lassen: "Beim Mitfiebern mit der Nationalmannschaft werde ich alles vergessen und genießen. Ich werde begeistert sein und ohne Rücksicht auf ökonomische Verluste konsumieren."

Dabei verwundert es schon, wie er sich ernsthaft einbilden kann, mit dem Geschimpfe auf eine Kommerzialisierung des Fußballs, die diesem alles Authentische raube, würde er irgendwie etwas zur Befreiung beitragen. Derartige Entwicklungen stehen immer mal wieder in der Kritik - allerdings nicht von links. Der völkische Stumpfsinn fühlt sich bedroht durch die Kommerzialisierung der Umgangsformen. Der altbackene Fußball-Adel kämpft auf diesem Spielfeld für gewöhnlich gegen die moderne Soccer-Bourgeoisie. Letztere will "kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung" (Marx und Engels im Kommunistischen Manifest). Obwohl Nation und Ökonomie schon immer aufeinander verwiesen waren, geraten sie heute in einen Widerspruch: zwei Seiten einer Medaille, die nicht ohne einander, aber scheinbar auch nicht miteinander können. Sich für eine Seite dieser Medaille zu entscheiden ist dabei allerdings gar nicht nötig. Beide wollen den Sport, die Kultur, das Leben der Menschen für einen höheren Zweck einspannen. Beide wollen die Einzelnen der Gemeinschaft unterordnen - entweder als Standortsicherung oder als nationalen Selbstzweck. Dieser Unterschied zwischen aufgeklärtem und borniertem Nationalismus ist beileibe keiner ums Ganze. Es ist eher der Streit zwischen zwei Parteien, deren Zeit eigentlich mal gekommen wäre Platz zu machen für eine Welt, in der der Mensch im Mittelpunkt der Gesellschaft steht.

Was Scheuringer mit dem trotzigen Ausruf "Ohne kritische Theorie schmeckt's besser!" einfordert, hat mit Emanzipation schlichtweg nichts zu tun. Es ist vielmehr tiefstes Ressentiment. Sicherlich, in Einigem hat er recht: Kritik greift Menschen in ihrer Subjektivierung an. Alles das, was sie bislang dargestellt haben, steht plötzlich zur Disposition. Wer möchte sich da schon gerne drauf einlassen? Weshalb Kritik tatsächlich immer vor dem Problem steht, die an die Wurzel gehende Analyse so darzustellen, dass die Kritisierten tatsächlich auch die Möglichkeit haben, einen Schritt zurückzutreten und sich auf den Gedanken einzulassen. Das alles spricht aber nicht gegen Kritik, sondern formuliert allerhöchstens Ansprüche an die Art und Weise, wie sie daherkommt.

Denn der Remit dem Scheuringer hier jede Kritik an ihm zurückweist, ist allseits bekannt. Wann immer Menschen die Grenzen ihrer Mitmenschen überschreiten, ihre körperliche oder seelische Integrität antasten - sie beharren darauf, dass sich das alles so furchtbar authentisch angefühlt hätte. Richtig oder gar vertretbar wird es dadurch allerdings noch lange nicht. Es gehört kritisiert, keine Frage.

Aus dem Blick männlicher, weißer Heterosexueller wird hier allerdings für gewöhnlich affirmiert statt kritisiert. Sie spielen ja mit. Sie sind es, die sich die Welt untertan machen dürfen, zumindest soweit die bornierten Formen das zulassen. Und so projiziert Scheuringer dann auch seine männlich-heterosexuelle Sprecherposition auf den Rest der Menschheit: "Kritisches Wissen verdirbt nicht nur die Erektion, sie richtet ihn auch nicht wieder auf, und wenn du glaubst, mit deinen intellektuellen Spielereien kannst du eine Frau ... lassen wir das."

Der Kritiker, das ist für Scheuringer ein Mann. Er ist sexuell aktiv und erfährt die Welt mittels seiner Erektion. Darüber hinaus richtet sich sein Begehren stets auf die Frau, die für ihn bloßes Objekt ist und die weniger auf "intellektuelle Spielereien" denn auf echte männliche Erektionen steht. Mir dünkt, da ist der Wunsch der Vater des Gedanken.

Das alles spricht nun aber weder gegen Sexualität als solche noch gegen den Versuch, sich das Leben angenehm zu gestalten. Sicher ist Askese keine Lösung. Aber es richtet sich gegen bestimmte Vorstellungen von Sexualität, die passive Frauen begehrende aktive Männer zur Norm setzen. Und es richtet sich gegen bestimmte Formen der Unmittelbarkeit, die im praktischen Ausleben des Herrschaftsverhältnisses vergessen, dass unreflektiertes Handeln nicht einfach neutral, sondern häufig (aus emanzipatorischer Perspektive) kontraproduktiv ist. Wer Nationalfahnen schwenkt, der oder die verhält sich nicht einfach unreflektiert. Hier wird nicht apolitisch gefeiert, hier wird politisch agiert. "Unpolitisch sein", schrieb einst Rosa Luxemburg, das heiße lediglich "politisch sein, ohne es zu merken." Und so einfach sollten wir es uns dann doch nicht machen.

Wenn nun Scheuringer, wie er schreibt, Askese auf Anraten einiger theoretischer Tiefflieger jahrelang praktiziert hat, so wäre diesen ebenso Einhalt zu gebieten. Das reine Aufgehen in der Theorie ist ebenso falsch wie das reine Aufgehen im unreflektierten Handeln. Gerade die Vermittlung von gesellschaftlichem Erleben und theoretischem Denken wäre das anzustrebende Ziel emanzipatorischen Handelns. Das ließe sich tatsächlich von Adorno lernen, der sich bekanntlich stets schwer damit tat, sich einfach für eine der gängigen Varianten zu entscheiden.

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KOLUMNE Rückkopplungen

Yes

Vor vierzig Jahren, am 25. Juli 1969, erschien das erste Album der ein Jahr zuvor gegründeten Band Yes. Zusammen mit dem im Oktober desselben Jahres veröffentlichten Album "In the Court of the Crimson King" von King Crimson gilt es als genre- und stilprägend für Progressiven Rock, also Musik, die - in welcher Weise auch immer - Fortschritt behauptete. Gleichwohl bewegte sich Yes mit dem Debüt noch in einer merkwürdigen Zwischenklangwelt aus Coverversionen, Beat-Elementen, "Klassik"-Adaptionen und ornamentalen Spielereien: Der Rock-Ästhetizismus, für den Yes dann mit Alben wie "Fragile" (1971), "Close to the Edge" (1972) oder "Tales from Topographic Oceans" (1973) bekannt wurde, war noch weitgehend ungestaltet, offen und provisorisch; gemessen an den nachfolgenden Veröffentlichungen sind die Arrangements auf dem Debütalbum relativ bescheiden, aber auch suchend - und damit im Übrigen durchaus auch experimenteller als spätere Arrangements. Gleichwohl haben Yes schon auf diesem Album den für sie typischen Klangraum eröffnet, der bereits auf den epischen, mythisch anmutenden Illusionismus der kommenden Alben verweist. Genau dieser Illusionismus ist es aber, der schließlich jeden Anspruch auf Progressivität und Kunst konterkariert, für den die Band rock-geschichtlich kanonisiert wurde: Im Illusionismus kristallisieren sich die Paradoxien des Fortschritts und seiner Ideologie. Was hier nämlich überhaupt Fortschritt heißen könnte, hat keine Richtung, keine Linie, keine geschichtliche Bewegung und auch kein Subjekt.

Die Idee war, den Rock 'n' Roll, der Mitte der fünfziger Jahre seinen prolen Siegeszug begonnen hatte, gegen sich selbst zu verteidigen: Das 1956 von Chuck Berry skandierte "Roll over Beethoven" wurde revidiert, indem man die bürgerliche Kunstmusik, in deren Zentrum selbstverständlich noch immer Beethoven zu hören ist, auf die neue Popmusik applizierte: Mit Beethoven und "Klassik" sollte bewiesen werden, dass die Popmusik eben keine Popmusik ist - sondern ernst zu nehmende, künstlerisch wert- und ästhetisch gehaltvolle Musik. "Klassik" als Maßstab indes ist nun alles andere als "fortschrittlich", sondern Leitbild eines Kulturkonservatismus, den der Progressive Rock übernahm. Das Progressive wurde derart zunächst negativ bestimmt: Rock sollte fortschrittlich sein, weil Pop es eben nicht sei.

Ohnehin hatte sich der Fortschritt in der Geschichte der Moderne mehr als blamiert: Nach fünfundvierzig von Fortschritt zu sprechen, behält einen zynischen Beiklang, auch und gerade dort, wo man sich auf die enormen Entwicklungen der Technik beruft. Fortschritt meint seither nicht die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft, sondern die technologische Revolution, die im besten Fall stabilisierend auf die tendenziell regressive Gesellschaft zurückwirkt. Fortschritt heißt im zwanzigsten Jahrhundert Optimierung der Integration, Anpassung, Einfügung in den Lauf der Dinge. Am meisten Fortschritt gibt es dort, wo die Gesellschaft stehen bleibt und alles so aufrechterhalten werden kann, wie es nun einmal ist. Die Kulturindustrie hat das immer mit einem gewissen Ernst vertreten und politisch als Demokratisierung, ökonomisch als Konsumvielfalt verteidigt: Das Angebot "Jeder darf mitmachen" wurde zum Befehl "Jeder muss mitmachen". Die Popkultur hat das Prinzip - wahrscheinlich sogar unbeabsichtigt, ohne ökonomisches Kalkül - radikalisiert: Wenn man schon mitmachen muss, dann wenigstens laut, wild und lustvoll; dann wenigstens in einer Haltung, die suggeriert, dass man eigentlich gar nicht mitmachen muss, dass man es zumindest nicht will. Im Progressive Rock opponiert man dem Protiv technisch und virtuos in einer Trotzhaltung, als wollte man durch die versierte Musik gleichsam belegen, dass der wirtschaftliche Erfolg ästhetisch-künstlerisch begründet sei (während die übliche Popmusik genau umgekehrt operiert: "50.000.000 Elvis Fans Can't Be Wrong").

Revolution, Avantgarde, Fortschritt - Konzepte, die in der Ära der Kulturindustrie der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch auf die Geschichte verwiesen waren, konnten in der Popkultur als Mode im Sinne der ewigen Wiederkehr des Neuen realisiert werden. Geht es um Mode, ist es für die Behauptung, fortschrittlich zu sein, gleichgültig, in welche geschichtliche Richtung dieser Fortschritt weist: Es gibt in der Mode kein Telos. Das bestätigt auch die letzte Textzeile auf dem Debütalbum von Yes: "And we're all going somewhere". Der Fortschritt blieb hier gleichsam auf der Oberfläche: Die Covergestaltung hatte Alan Fletcher übernommen, einer der versiertesten Grafikdesigner seiner Zeit. Er hatte durch eine einfache, "Yes" sagende Comic-Sprechblase die junge Band im aktuellen Umfeld der Pop-Art situiert: Das passte ins Swinging London. Und vielleicht war das sogar ein Versuch, die Musik der britischen Mod-Bewegung (Mod als Abkürzung für Modernists, die Modernen) schmackhaft zu machen; auf dem amerikanischen Markt erschien das Album nämlich mit einem ganz anderen Cover, auf dem ein Foto die Band als Hippies zeigte.

Dass Yes tatsächlich mit ihrer Idee des Fortschritts in die Vergangenheit wollten, wurde schließlich seit dem Album "Fragile" durch die Covergestaltungen von Roger Dean klar: Dessen Pseudosurrealismus verwunschener Landschaften und fliegender Inseln verweist in eine Vergangenheit, die sich als emotionale Urzeit des spätbürgerlichen Subjekts entpuppt, und geht so mit der Musik endlich konform: Das Authentische meinte hier immer "Je weiter von der Gesellschaft weg, desto echter und wahrhaftiger". Thematisch sind die Songs irgendwo zwischen christlichen und fernöstlichen Mythen angesiedelt. Es ist übrigens durchaus bemerkenswert, dass es bei Yes - vom Achtziger-Jahre-Erfolg "Owner of a lonely Heart" abgesehen - keine Liebeserzählungen gibt, die in irgendeiner Weise Alltagserfahrungen dokumentieren; alles ist in einem Traumreich situiert, in einer Utopie, die kaum ins Diesseits verweist. Schon das erste Stück auf dem Debütalbum heißt "Beyond and Before", der Text ist romantisch-kitschige Naturlyrik.

Keine zehn Jahre später hatte sich der Illusionismus von Yes erschöpft: "Tormato" von 1978 zeigt auf dem Cover einen Wünschelrutengänger; auf dem Foto kleben vermatschte Tomaten, als sei das Album mit ihnen beworfen worden; wie wenig Yes' Idee des Progressiven in die Popwelt passte, zeigte sich eben daran, dass die Band auf alles, was in den Siebzigern fortschrittlich war, eben Punk, Disco und New Wave, nicht wirklich zu reagieren vermochte...

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Reanimation statt Aufbruch

Katja Kipping hat ein Buch geschrieben

von Franz Schandl

Worte sind schneller als Gedanken. Bevor wir den Inhalt rezensieren, besprechen wir doch Titel und Untertitel. Kauf, Politik und Demokratie, drei Schlüsselbegriffe werden hier genannt und in Beziehung gesetzt. Verwendet werden sie als plakative Postulate. Katja Kipping, 31 Jahre jung, Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Parteivorsitzende der Partei "Die Linke", weist sich sofort als eine Politikerin aus, die fest auf den Grundlagen des bürgerlichen Systems und seiner Werte steht. Fürchten, dass die Autorin eine verkappte Revolutionärin ist, braucht sich niemand. Ihr geht es um das Obligate: Um Kaufkraft, Mittelstand, Staatsbürger, Nachfrage, Bezahlbarkeit und immer wieder Gerechtigkeit. "Die Linke versteht sich ausdrücklich als Partei der sozialen Gerechtigkeit." Noch immer wärmt dieses flüchtige Abstraktum die Seele der Menschen.

"Die junge Politikerin Katja Kipping unterzieht die eigene Zunft einer kritischen Analyse und ruft zur Reanimation der politischen Kultur", heißt es im Werbefalter des Verlags. Genau das versucht sie. Felsenfest glaubt sie an die Prämissen ihrer Profession. Politik, so ihr Credo, dürfe sich nicht so billig hergeben. Da sie ihr teuer ist, muss jene sich teuer verkaufen. Die Politikerin versucht sich als Animationskünstlerin an einem Organismus, den sie in keiner Weise hinterfragen möchte. Sie identifiziert sich mit ihm, auch persönlich: "Zweifelsohne kann Arbeit für viele Menschen Selbstverwirklichung bedeuten - etwa für eine Bundestagsabgeordnete oder eine Journalistin...", schreibt sie. Ob da nicht einmal mehr das Verwirklichte mit dem zu Verwirklichenden verwechselt wird und sich Realismus nennt, sei unterstellt.

Schuld an der Misere der Politik sind jedenfalls die Politiker, die politische Klasse habe "ihre eigene Glaubwürdigkeit untergraben", behauptet sie. Warum die Politik weltweit so einfach kapituliert hat, wird hingegen nicht erklärt. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass Politik (polity, politics und policy) sich nur noch ausverkaufen lässt, dass sie der Ramsch ist, den die Leute in ihr vermuten, dass lediglich das kulturindustrielle PR-Spektakel, sprich Event und Campaignin, sie am Leben erhält. Dass hier ein letztes Angebot und Aufgebot steht, das von der Krise der Form kündet und nicht von falscher Politik oder schlechten Politikern. Während viele, wenn auch intuitiv, nicht mehr glauben wollen, schlägt Kipping vor, einfach weiter zu glauben. "Dieser Entwicklung dürfen wir nicht tatenlos zusehen", so das herzhafte Stoßgebet, das freilich schon die letzten Jahrzehnte unerwünschte Resultate so gar nicht zu erschüttern vermochte.

Die Abwertung, die die Politik erfahren hat, sei eine "Selbstabwertung". Aufwerten ist also angesagt. Aber wie soll das gehen? Wer soll das tragen? Und warum soll es funktionieren? Hartnäckig hält sich das Vorurteil, der aktuelle Status der Politik sei Folge politischer Fehlentscheidungen gewesen, die man jederzeit durch selbstermächtigende Beschlüsse korrigieren könne. Das nennt sich dann "andere Politik" und ist nicht nur ein Everred vieler Linker, sondern gerade dabei wieder Mainstream zu werden. Das gemeine Gerede von der "Allmacht der Wirtschaft" suggeriert andererseits, dass diese, worüber sie verfügt, auch herrscht.

"Die politische Klasse führt einen Entmachtungsfeldzug gegen sich selbst und gegen das demokratische System. Das Politische wird zur Magd des Marktes." Doch war die Politik je jenseits des Marktes? Schon allein, dass fast alle politischen Beschlüsse im Medium des Geldes ausgedrückt werden, sollte zu denken geben. Die Kostenfrage bildet stets den Fokus aller Politiken. Eine Volksabstimmung, die die Löhne verdoppelt und die Preise halbiert, das halten wohl zurecht alle für ein Hirngespinst. Das heißt aber zudem, dass Souveränität in der bürgerlichen Gesellschaft nicht außerhalb ökonomischer Prämissen liegt. Jene ist somit immer eine vorbestimmte und beschränkte.

Hilflos wirken in diesem Zusammenhang auch bildungspolitische Stehsätze wie: "Statt die Kinder aufs Konkurrenzdenken auszurichten, sollte Solidarität vermittelt werden". Indes, die ganze Gesellschaft ist auf Konkurrenz ausgerichtet. Das kann man in Frage stellen (was die Verfasserin allerdings nicht tut), die Schule aber zu contrafaktischer Erziehung aufzurufen, ist gelinde gesagt schräg. Wenn man positiv zum kommerziellen Wettbewerb steht, ist es Pflicht, den Nachwuchs dementsprechend zu wappnen.

Was für die Politik gilt, gilt Kipping natürlich auch für die Demokratie: "Denn es gilt, die Demokratie vor dem schleichenden Verfall zu retten. Sie muss wieder mit Leben erfüllt werden." Wieder? Wann war die Demokratie je erfüllter? In Adenauers Zeiten? In den Tagen Willy Brandts oder Helmut Kohls? Irgendwie schrammt die Autorin am Wesentlichen vorbei, gerade weil sie beharrlich und unentwegt mit dem Rosenkranz der Aufklärung fuchtelt. Kriterium dieser Erbauung ist das Bekenntnis, nicht die Erkenntnis. Der kritische Geist weicht den Gebeten, der "Andacht, deren Innerlichkeit in der Hymne zugleich Dasein hat", wie Hegel es in seiner "Phänomenologie des Geistes" ausdrückte.

Doch bedenken wir, dass vor allem Politiker der "Linken" angehalten sind, permanent Geständnisse abzulegen, um überhaupt satisfikationsfähig zu sein. Das haben sie nicht nur internalisiert, das betreiben sie ganz exzessiv, gelegentlich bis zur letzten analytischen Peinlichkeit. Vor lauter Demokratietrunkenheit wird nicht ernsthaft über Partizipation und Interesse, Legimitation und Organisation, Bürokratie und Freiheit bzw. deren Grenzen und Möglichkeiten gesprochen. Schlagwörter wie Transparenz werden nicht abgeklopft, sondern aufpoliert. Auf dass sie glänzen.

Den vorgegebenen Rahmen der Demokratie oder genauer: der Sozialdemokratie, den engen Raum verordneter Staatsbürgerkunde, den verlässt Kipping nie. Der Kommunismus hat hier nicht Kreide gefressen, er ist endgültig ad acta gelegt worden. Da mag die Autorin noch so jung sein, was sie vorlegt, schaut ziemlich alt aus. Und genau das ist in anderer Hinsicht auch zu fürchten. Es ist nicht auszuschließen, dass solch Politikansatz, sofern er nicht in den Zynismus kippt, früher oder später in der Verhärmung endet.

Politik ist nicht nur farbenblind (inzwischen sind lediglich Grautöne wahrnehmbar), Politik ist auch zusehends betriebsblind geworden. Das Niveau hohler Phrasen, unverbindlicher Stehsätze und polternder Ansagen ist dementsprechend entwickelt, was meint, es wird reklametüchtig antrainiert. Und die Exponenten nehmen dadurch keinen Schaden, weil das reklamesüchtige Publikum wiederum nicht gewohnt ist, in qualitativen Unterschieden zu denken, sondern bloß in Beliebigkeiten zu schwanken. Politiker haben kaum noch Zeit und Raum für Reflexionen, sie sind vielmehr permanent angehalten, unmittelbaren Stimmungen (Meinungsumfragen) nachzugeben und entsprechende Sachzwänge umzusetzen. Sie sind den Erfordernissen recht hilflos ausgeliefert, müssen aber andauernd so tun, als hätten sie alles im Griff und auch im Begriff.

Politiker schreiben Bücher nicht, weil sie etwas zu sagen haben, sondern weil sie so tun müssen, als hätten sie etwas zu sagen. Mag drinnen stehen, was will, ein Buch, das ist ein intellektueller Ausweis. Gelingt es den Verlagen die Wichtigkeit einer Publikation zu suggerieren, entsprechende Rezensionen anzuleiern und den Band gar auf Bahnhofskiosken zu platzieren, dann ist der Erfolg garantiert. Politisch Unverdrossene greifen zu, lesen es an und legen es ab. In ein bis zwei Jahren landet die Restauflage dann in den Ramschabteilungen der Diskonter oder im Papiermüll.

Katja Kipping liefert keine Kritik des Kapitalismus, sondern eine an den in ihm zu behebenden Missständen. Prototypisch daher die Aussage: "Menschen brauchen ein Einkommen". Tatsächlich? Menschen benötigen gar vieles: zu essen, zu trinken, zu kleiden, zu wohnen, zu reisen, aber Geld brauchen sie nur dann, wenn der soziale Stoffwechsel über Kaufen und Verkaufen erfolgt. Das ist kein Naturgesetz, sondern Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation.

Das Buch liest sich manchmal wie ein Rechenschaftsbericht, mit dem eine führende Parteipolitikerin ihre Existenz legitimiert. Indes wirkt alles nach einer Pflichtübung einer gebildeten Fachreferentin, die diese inklusive Fleißaufgaben vorbildlich löst. In den Ausschüssen, in denen sie tätig ist, wird sie wohl (so meine Vermutung) aufgrund ihrer Tüchtigkeit sehr geschätzt. Immer wieder finden sich viele praktische und vielleicht sogar unmittelbar praktizierbare Vorschläge, was wir jedoch vergeblich suchen, ist eine Perspektive, die jenseits des Hergebrachten Überlegungen anstellt. Das "klare Ja zur Transformation" ist eine leere Formel. Kein wirklich radikaler Gedanke entfleucht den vielen Seiten. Von Aufbruch, geschweige denn Bruch keine Spur.

Doch brechen wir den Verriss hier ab, er hat auch etwas Vermessenes und Strenges. Selbst wenn sich die Freude nie richtig einstellen wollte, hat sich das Leid bei der Lektüre in Grenzen gehalten. Selten ist das Buch langatmig, Konkretes und Abstraktes stehen in guter Proportion. Viele Passagen sind in sich schlüssig und solid argumentiert. Man könnte auch eine ausgesprochen wohlwollende Besprechung abliefern, dann, wenn man die von der Autorin ungewollte Immanenz aller Überlegungen als Maßstab anerkennt. Beziehen wir die Publikation auf dieses Metier der Politiker-Bücher, dann ist es dezidiert kein schlechtes. Im Gegenteil: müsste ich hundert solcher Machwerke vergleichen (was schon einer Bestrafung gliche), dann würde ich das gegenständliche recht weit vorne reihen.

Engagement kann man der Frau in keiner Weise absprechen. Sie ist fleißig, belesen, hat einiges zusammengetragen und bringt oft interessante Details. In etwa, dass das im Vergleich frühere Ableben der sozial schlechter Gestellten eine Subventionierung der Renten der Wohlhabenderen darstellt. Es gehört ja zu den beständigsten bürgerlichen Vorurteilen, dass die Reichen die Armen füttern und nicht die Armen die Reichen. Positiv hervorheben könnte man das Bekenntnis zur Lebenslust und ihre Kritik an der Arbeit, auch an der "zur Schau getragenen Arbeitswut" in der eigenen Partei. Sympathisch wirkt weiters das Plädoyer für die Langsamkeit, auch wenn gerade das Tempo keine Frage falscher Beschlüsse mündiger Wesen ist, sondern Ausfluss ökonomischer Zwänge.

Im hinteren Teil ist das Buch auch ein recht amüsantes Protokoll zur Vereinigung von PDS und WASG. Weniger als an inhaltlichen Differenzen drohte dieser Zusammenschluss an der Namensfrage oder an der ohnehin unverbindlichen Höhe des Mitgliedsbeitrages zu scheitern. Die Politikerin beschwert sich wohl zurecht darüber, dass die Frauen aus der Gründungsgeschichte der neuen Formation "Die Linke" gesäubert wurden, dass einige wenige männliche Parteiführer (Lafontaine, Gysi, Bisky) "zu Machern der Vereinigung hochstilisiert" werden. Auch dass man Frauen oft vorwirft, was man Männern kaum vorwirft, ist zweifellos grotesk, aber zumeist nicht, weil man es den Frauen vorwirft, sondern weil man es den Männern nicht vorwirft.

Katja Kipping
Ausverkauf der Politik. Für einen demokratischen Aufbruch
Econ Verlag, Berlin, 368 Seiten, geb. 20,50 Euro.

Raute

Zu uns!

Nun, dass es mit den Abos zur Zeit nicht so läuft wie es laufen sollte, steht schon auf der letzten Seite. Der Dringlichkeit halber steht es auch noch einmal hier im Eigeninserat. Erstmals seit 2001 verlieren wir wieder an Abos. Hatten wir Mitte des letzten Jahres noch 254, so sind es knapp vor der Drucklegung der Nummer nur noch 229. Wir haben also zum Vergleichszeitpunkt 25 Stück verloren und laufen Gefahr, dass wir heuer nicht einmal die 300er-Hürde packen. Das mag auch mit der ökonomischen Krise zu tun haben, allerdings möchten wir uns nicht auf diese herausreden. Auf keinen Fall können und wollen wir uns derartige Verluste auf Dauer leisten. Anders als unsere frisch herausgeputzte Website www.streifzuege.org - die ist seit einigen Monaten sehr gut besucht -, will der Ansturm auf die Abos nicht und nicht stattfinden. Warum, das sollten sich auch die geschätzten LeserInnen und UserInnen fragen.

Möglichkeiten, uns zusätzlich zu unterstützen, gibt es einige: Besonders möchten wir auf den hauseigenen Transformationsclub (kurz: Trafoclub der Streifzüge) hinweisen. Jedes neue Mitglied ist da herzlich willkommen, die Jahresmitgliedschaft kostet nur 120 Euro. Details stehen im Kasten. Weiters gibt es auch diverse Sonderangebote, wo ganze Papierladungen Streifzüge den Ort wechseln könnten. Und, um es nicht zu vergessen, man kann und darf uns auch aktiv unterstützen. Wer Interesse hat, Hand anzulegen und im Kreis mitzudenken und mitzuwirken, möge uns kontaktieren.

Die Streifzüge finanzieren sich ausschließlich aus Mitglieds- und Trafobeiträgen, Abos und Spenden. Öffentliche Förderungen (nicht einmal umgeleitete) gibt es nicht! Entschuldigt die Aufdringlichkeit. Aber insgesamt muss einiges zu uns kommen, auf dass das Werkel gedeihen kann. Danke.


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Trafoclub

Sehr als mehr freuen würde uns eine Mitgliedschaft im Transformationsclub der Streifzüge. Die Mitgliedschaft kostet monatlich 10 Euro, viertel-jährlich 30 Euro oder jährlich 120 Euro. Wer heuer noch beitritt, dessen Mitgliedschaft gilt für 2009/2010.

Der Mitgliedsbeitrag im Transformationsclub umfasst folgende Leistungen (Kriterienkatalog):

• Gratisbezug der Streifzüge
• Gratiszustellung von bis zu 5 Exemplaren der aktuellen Ausgabe (sofern gewünscht)
• Gratisnachbestellung aller alten Nummern (soweit vorhanden)
• Gratiszustellung bestimmter Bücher und Broschüren
• Sonderpreise für diverse Publikationen
• Einladungen zum Transformationsheurigen
• Wer übrigens aus dem Trafoclub (wieder) ausscheiden möchte, Nichtzahlung reicht, dann verwandelt sich die Trafomitgliedschaft in ein Dreijahresabo

Es ist also alles ganz unkompliziert, und die Anonymität der betreffenden Personen garantieren wir ebenfalls. Jeder Neuzugang darf sich auch einige Publikationen (vor allem krisis-Ausgaben aber auch anderes) aus unserem Sortiment aussuchen. Ein detailliertes Angebot teilen wir auf Nachfrage gerne mit.

Bei uns erhältliche Bücher und Broschüren finden sich auf www.streifzuege.org/buecher-und-broschueren. Einfach bestellen geht auch.

Raute

Magazinierte Transformationslust

von Franz Schandl

Was das? Nicht wenige werden sich über den neuen Untertitel unserer Zeitschrift gewundert haben. Indes, er ist so gemeint wie er konstruiert ist. Ganz ernst, nicht lustig, aber lustvoll.

Transformation? Als der Kritischer Kreis, der Herausgeber der Streifzüge, sich registrieren lassen musste, war diese Bezeichnung der Bundespolizeidirektion zu wenig aussagekräftig. Daraus könne man nicht auf den Vereinszweck schließen, teilte man uns sinngemäß mit. So war ein Zusatz fällig und der musste schnell gefunden werden. Aus dem Handgelenk, und mehr sich belustigend als absichtsvoll entstand die Bezeichnung "Verein für gesellschaftliche Transformationskunde", die wir seitdem im Untertitel führen.

Und siehe da, die Behörde war völlig zufrieden gestellt, denn sie wusste über etwas Bescheid, wovon wir selbst noch nicht einmal wussten. Die Polizei, allwissend, wohin die Reise geht, war ihrer Zeit mächtig voraus, denn fortan näherten und eigneten wir uns dem und den Begriff immer stärker an, gründeten sogar eine Art Förderverein namens Transformationsclub. Der Terminus war treffend, ja, er wurde immer treffender. Wir sind also Künder und Kunden der Transformation.

Magaziniert? Bei aller Kritik des Kampfes ist nicht zu vergessen, dass dieser damit nicht aus der Welt ist. Die Abweisung des Bekenntnisses geht nicht mit einer Entwaffnung einher, sie singt dieser Notwendigkeit von Kampf und Harnisch aber kein Lied. Hymnen, auch Arbeiterlieder (etwa diese absolut schreckliche "Internationale") haben wir nicht zu bieten. Die Spuren der Militanz sind nicht gelöscht, und die soll auch so benannt bleiben. Kampf und Milde, Entschlossenheit und Rücksicht schließen sich nicht aus. Es ist vielmehr eine Frage der Situation und des ihr entsprechenden Ensembles. So üben wir uns in Balance, die manchmal gelingt, manchmal misslingt. Alle Mittel heiligen den Zweck, die den Zweck heiligen.

Stabsmäßiges Funktionieren hat mit Kommunismus zwar nichts zu tun, aber es wird in Zeiten der Transformation nicht ganz darauf verzichtet werden können. Jenes ist kein antipolitisches, sondern ein politisches Instrumentarium, wenn auch, so's gelingt, gegen die ursprüngliche Intention gerichtet. Wir wollen dezent andeuten, dass wir gewappnet sind, dass wir einiges im Köcher haben. Daher sind wir gut zu bestücken.

Zum Aufmagazinieren gehört auch die nötige infrastrukturelle Ausstattung, die in einer bürgerlichen Gesellschaft nicht um das herumkommt, was es abzuschaffen gilt: Money! Nicht schon wieder, werden jetzt einige seufzen. Doch. Erraten. Leider. Geld brauchen wir, und es fließt nicht ganz so wie es sollte. Wichtig wäre die Synchronisierung zwischen Zuspruch und Zufluss, ansonsten wird das Getriebe beschädigt und das können wir uns nicht leisten. Die Abos stagnieren nicht nur, in den letzten Krisenmonaten haben wir mehr verloren als gewonnen. Das darf nicht akzeptiert werden, vor allem vom Publikum nicht. Insofern ist die Lage zwar nicht dramatisch, aber der Aufruf sehr wohl. Lesen ist gut, unterstützen ist besser. Wir können nur dienen, wenn wir bedient werden.

Lust soll es zweifellos bereiten, unser magaziniertes Magazin. Aufladung und Spannung und Befriedigung will es bieten, ohne Frage. Lust zum Denken, Lust zum Handeln, Lust zur Lust. Unlustig sein ist nicht unser Kennzeichen, obwohl gemeinhin eines der Linken, vor allem deren radikale Sorten sind geradezu von einem Bierernst umnebelt, der aufgrund seiner stickigen Atmosphäre jedes Klima vergiftet. Kein Wunder, dass niemand niemanden riechen kann. Wir möchten andere aromatische Noten setzen und wollen alles andere, als uns verduften. Verströmen möchten wir uns, das schon.

www.streifzuege.org

Raute

AutorInnen

Roger Behrens, geb. 1967, Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften, Mitherausgeber des Magazins testcard. beiträge zur popgeschichte und Redakteur der Zeitschrift für kritische Theorie. Lebt in Hamburg und Belo Horizonte.

Julian Bierwirth, geb. 1975, Studium der Sozialwissenschaften in Göttingen, engagiert in der Gruppe 180° - Für einen neuen Realismus, schreibt auf emanzipation-oder-barbarei.blogsport.de

Birgit von Criegern, geb. 1976 in München, sie studierte Germanistik, Islamwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin. Seit 2006 freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin, u.a. zu Anarchafeminismus, Gender- und Kommunikationstheorie.

Ulrich Enderwitz, geb. 1942, studierte Religionswissenschaft, lebt nahe Berlin, sitzt an einer siebenbändigen Studie: "Reichtum und Religion" (www.reichtum-und-religion.de)

Andreas Exner, geb. 1973, Studium der Ökologie, gesellschaftskritischer Publizist in Klagenfurt, engagiert bei www.social-in-novation.org und Grüne/UG Kärnten.

Lorenz Glatz, geb. 1948, 32 Jahre Latein- und Griechischlehrer in Wien. Pensionist, Hausmann eines lieben Weibes, praktizierender Großvater, Leser, Schreiber und Webmaster.

Severin Heilmann, geb. 1976 in Wien; Architekturstudium an der TU, seither beherzte Konstruktion und Dekonstruktion von Bauwerken und Gedankengebäuden.

Bruno Kern, geb. 1958, studierte Theologie und Philosophie und ist examinierter Gesundheits- und Krankenpfleger; derzeit arbeitet er freiberuflich als Lektor, Redakteur und Übersetzer; er gehört zu den Gründungsmitgliedern der "Initiative Ökosozialismus" (www.oekosozialismus.net)

Peter Klein, geb. 1947, lebt in Nürnberg; ist seid 1970 politisch in der Linken aktiv; von Anfang an bei krisis; Autor von "Die Illusion von 1917". Verheiratet, eine Tochter, Brotberuf Arzt.

Tomasz Konicz, geb. 1973 in Olsztyn/Polen, studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover sowie Wirtschaftsgeschichte in Poznan. Arbeitet als freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa. Er lebt unweit der westpolnischen Stadt Poznan.

Christian Lauk, geb. 1976 in Freiburg, lebt seit 2000 in Wien. Studium der Biologie in Freiburg, Glasgow und Wien. Seit 2005 Doktorand und freier Mitarbeiter am Institut für Soziale Ökologie der Universität Klagenfurt. Lehrbeauftragter am Technikum Wien.

Stefan Meretz, geb. 1962, Studium und Promotion der Werkstoffwissenschaften, Studium und Abschluss der Informatik. Schwerpunkte: Freie Software, Informatik und Technikentwicklung. Lebt in Berlin.

André Pluskwa, geb. 1972, Vater von 2 Töchtern, studierte Angewandte Kulturwissenschaften, arbeitete als Krankenpfleger, Speditionskaufmann, Werbetexter und Call-Center-Agent, um als Freier Autor dem Angestelltenverhältnis entkommen zu sein. (www.dankewirsindzufrieden.com)

Franz Schandl, geb. 1960, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft; Historiker und Publizist; verdient seine Brötchen als Journalist wider Willen in Wien.

Martin Scheuringer, geb. 1980, Studium der Soziologie und Philosophie, lebt in Wien. Analytisches Interesse für Sozialtheorie und Ökologie.

Annette Schlemm, geb. 1961, Physikerin und Philosophin, lebt in Jena und betreibt das virtuelle Philosophenstübchen im Internet (www.philosophicum.de). Aktiv in der Zukunftswerkstatt Jena (www.zw-jena.de) und der Ernst-Bloch-Assoziation (www.ernst-bloch.net).

Maria Wölflingseder, geb. 1958, Studium der Pädagogik & Psychologie; Publizistin in Wien. Schwerpunkte: Analyse & Kritik von Esoterik & Religion sowie Arbeit & Arbeitslosigkeit. Lyrik & Prosa.

AutorInnen aller Ausgaben siehe www.streifzuege.org unter "AutorInnen"

Raute

IMPRESSUM

ISSN 1813-3312

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und Maria Wölflingseder.
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Quelle:
Streifzüge Nr. 46, Juli 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2009